
Erinnerung und Gerechtigkeit gehen für Kenya Cuevas Hand in Hand. Ihr Leben veränderte sich radikal am 30. September 2016, als sie den Mord an ihrer Freundin Paola Buenrostro miterleben musste. An jenem Freitag arbeitete sie zusammen mit anderen Frauen in der Avenida Puente de Alvarado, in Cuauhtémoc in Mexiko-Stadt. Als eine Person um sexuelle Dienstleistungen bat, lehnten die meisten ab. Paola jedoch beschloss, ins Auto zu steigen. Kurz danach hörte Kenya Hilferufe und ihren Namen. Sie rannte zum Auto und sah, wie der Mann dreimal auf Paola schoss. Als er auch auf Kenya schießen wollte, klemmte seine Waffe.
Kenya filmte die Szene und reichte das Video als Beweismittel bei der Staatsanwaltschaft ein. Doch weder wurde das Video berücksichtigt, noch wurde sie als Zeugin vernommen. Der Mörder ist bis heute auf freiem Fuß. Drei Jahre dauerte es, bis die Behörden den Fall offiziell als Transfeminizid anerkannten. Kenya prägte diesen Begriff, da Paola von den Behörden ursprünglich als Mann behandelt wurde.
Kenya Cuevas ist heute Geschäftsführerin der Casa de las Muñecas Tiresias A.C (Haus der Puppen Tiresias), ein Name, der sich auf einen Wahrsagerin bezieht, der*die in der griechischen Mythologie sowohl männlich als auch weiblich sein konnte. Seit der Gründung dokumentieren die Mitglieder die Straflosigkeit und die institutionelle Transfeindlichkeit gegenüber Opfern. Erst vor kurzem haben sie das erste Mausoleum zum Gedenken an trans Personen eröffnet. Die Organisation unterstützt außerdem obdachlose Menschen, HIV-Infizierte Personen, Sexarbeiter*innen, Migrant*innen, Opfer von Transfeminizden und alle anderen, die eine helfende Hand brauchen. Laut der Organisation Letra S ist Mexiko nach Brasilien das gefährlichste Land für trans Personen. Eine ihrer Studien zeigt, dass während der Amtszeit von Enrique Peña Nieto (2012-2018), in die auch der Transfeminizid an Paola fällt, insgesamt 473 Hassverbrechen registriert wurden, darunter 261 gegen trans Frauen. Fast ein Jahrzehnt nach Paolas Mord kam Kenya nun nach Deutschland, um aufzuzeigen, was die zahlreichen Proteste für Paloa auf den Straßen von Mexiko-Stadt bewirkt haben. Sie haben, sagt Kenya, „das System entlarvt.“ Sie nahm im Dezember 2024 an der vierten Konferenz der Koalition für Gleichberechtigung teil, organisiert vom mexikanischen und deutschen Außenministerium. Diese Koalition verfolgt das Ziel, Regierungen und Zivilgesellschaft dazu zu bewegen, gemeinsame Erklärungen für den Schutz der Menschenrechte und grundlegender Freiheiten der LGBTIQ+-Bevölkerung auf nationaler und internationaler Ebene zu unterzeichnen. An der Konferenz nahmen Regierungsvertreter*innen aus 48 Ländern, mehr als 150 Delegierte der Zivilgesellschaft und ein Dutzend internationaler Organisationen teil.
Auf Initiative Mexikos wurde zum ersten Mal in der Geschichte der Koalition auch ein Runder Tisch zur Würde und den Menschenrechten von trans Personen und genderdiversen Menschen veranstaltet. An dem Tisch nahmen neben Kenya auch Aktivist*innen aus Pakistan, Malta, und Samoa teil. Für Kenya war dies eine besondere Gelegenheit, vor Beamtinnen und Aktivist*innen aus dem Globalen Süden und Norden über ihren Aktivismus zu sprechen. Sie kritisierte die Rückstände in Ländern wie Deutschland, wo es bis heute keine gesetzliche Definition von Feminiziden als Mord an Frauen aus Hassgründen gibt. Noch viel weniger existiert eine rechtliche Anerkennung von Transfeminiziden, obwohl diese Verbrechen geschehen.
Zum Anlass ihres Deutschlandbesuchs sprachen die LN mit Kenya Cuevas über die weltweiten Herausforderungen für trans Personen:
Worüber hast du in deinem Vortrag gesprochen?
Mit meiner Geschichte möchte ich sensibilisieren. Ich spreche über Repräsentation und von den Möglichkeiten, die wir als trans Personen haben. Ich wurde im Alter von 9 Jahren in die Sexarbeit und Drogenabhängigkeit gedrängt. In diesem Alter vollzog ich meine Transition und lebte auf der Straße, bettelte 18 Jahre lang. Als ich 13 Jahre alt war, wurde ich mit HIV infiziert. Die Kriminalisierung als obdachlose Person und Drogenkonsumentin brachte mich ins Gefängnis. Ich wurde beschuldigt, Drogen verkauft zu haben und wurde zu 24 Jahren Haft verurteilt. Nach zehn Jahren und acht Monaten wurde mir dann gesagt: „Danke, Sie waren es nicht, entschuldigen Sie uns.“
All diese Herausforderungen, die ich irgendwie überwinden musste, waren nicht einfach. Doch durch meine Erzählungen zeige ich, wie ich zum Aktivismus gekommen bin und warum ich mich gegen Transfeminizide einsetze. Ich sprach über den Schutz von trans Personen, den Bau von Mausoleen zu ihrem Andenken, das Paola-Buenrostro-Gesetz, das Paola-Buenrostro-Schutzhaus – und generell die Frage, wie man das Leben von trans Personen würdigen kann und wie man ihr Andenken auch nach dem Tod bewahrt.
Wie siehst du die Lage für trans Frauen weltweit und in Mexiko?
Die Lebenserwartung von trans Frauen beträgt 35 bis 40 Jahre. Seit 2018 gab es weltweit 6.000 Transfeminizide. Zwei lateinamerikanische Länder, Mexiko und Brasilien, stehen an der Spitze der Liste der Transfeminizide. Trans Personen sind global bedroht.
Gleichzeitig bin ich aber auch sehr dankbar und stolz, denn Mexiko hat in den letzten Jahren viele gesetzliche Fortschritte gemacht: Zahlreiche öffentliche Maßnahmen haben zu systematischen Veränderungen geführt. Doch das hat mit dem Druck zu tun, den wir Aktivist*innen auf die Regierung ausüben, wir Aktivist*innen mussten die Gesetze in Mexiko voranbringen. Mit denselben Gesetzen, die von Männern für Männer geschaffen wurden, haben wir es geschafft, die Staatsanwaltschaft von Mexiko-Stadt, die Opferkommission, all diese Institutionen, die die Menschenrechte eher verletzen, statt sie zu schützen, anzuprangern. Wir haben es auch geschafft, Institutionen strategisch vor Gericht zu bringen, was zu wichtigen Veränderungen geführt hat. Vor allem durch die Arbeit der Casa de las Muñecas haben wir bereits mehrere Institutionen verklagt und gezeigt, dass wir als LGBTQ+-Personen die gleichen Rechte haben.
In welchen Ländern Lateinamerikas ist der Rückstand bezüglich der Rechte von trans Personen noch am größten?
In El Salvador und allen zentralamerikanischen Ländern haben es trans Personen weiterhin am schwersten. Zwangsmigration ist ein großes Problem und die Migrationswege von LGBTQ+-Personen sind von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen und sexualisierter Gewalt geprägt. Wir wissen, dass es ein globales Problem der Vertreibung gibt – das hat sowohl mit rechten als auch mit linken Regierungen zu tun. Unsere Vision muss daher nicht nur auf gesetzlicher, sondern auch auf soziokultureller Ebene ansetzen.
Was denkst du fehlt Europa in dieser Hinsicht noch?
Europa sollte von den Menschen lernen, die an der Basis sind, von den Aktivist*innen, die auf der Straße Kondome verteilen und die Probleme aus nächster Nähe kennen. Wir müssen alle regionalen, kulturellen, religiösen, emotionalen, und bildungsbezogenen Überschneidungen verstehen, um miteinander diskutieren zu können. Dies dient nicht nur dazu, andere Formen des Aktivismus kennenzulernen und aus bewährten Praktiken zu lernen, sondern auch dazu, Leerstellen zu erkennen. In Regionen wie Südafrika oder Südasien fehlt es an Schutzmaßnahmen, und der gesamte globale Süden leidet weiterhin unter den Nachwirkungen imperialistischer Strukturen.
Was bedeutet der Bau von Mausoleen als Andenken für ermordete trans Personen für dich?
Ich sehe meinen Besuch in Deutschland als Gelegenheit, das Bewusstsein hier darüber zu schärfen, dass nicht nur der Globale Süden mit Problemen zu kämpfen hat. Es ist kein Zufall, dass rechte Parteien in Deutschland an Einfluss gewinnen. Als ich gestern die jüdische Gedenkstätte sah, fühlte ich mich sehr verbunden. Ich dachte an all den Schmerz, der in diesem Land eingeschlossen ist. Dieses Mausoleum vermittelt ein Gefühl von Machtlosigkeit. Diese Machtlosigkeit ist das, was die Opfer gefühlt haben müssen. Man kann die Stimmung spüren, wenn man es betritt. Für mich war das sehr heilsam.
Und ich erinnere mich, dass ich die ganze Zeit nervös war, als wir vor etwa anderthalb Jahren an dem Mausoleumsprojekt gearbeitet haben. Als es schließlich fertiggestellt war, kam ich dort an, setzte mich hin. Und zum ersten Mal seit Paolas Tod konnte ich aufatmen. Ich spürte, wie die Kenya von 2016 zurückkam. Ich fühlte ein Kribbeln, eine Entspannung – ich war endlich wieder ich selbst. In diesen Momenten, in denen ich die Drohungen rund um Paolas Fall erlebte, hatte ich das Gefühl, meine Seele sei verschwunden. Doch nun kehrte sie zurück. Ich konnte wieder richtig atmen, die Luft in meinen Lungen spüren – es war wie eine verdammte Heilung. Ich begann zu weinen, denn endlich war es geschafft. Es war der Abschluss eines Versprechens und der Beginn der Erinnerung an meine trans Schwestern.