FEMINISTISCHER NOTFALLPLAN JETZT!

#NiUnaMenos „Nicht eine weniger“ auf einer Demo in Caracas (Foto: Venezuelaanalysis)

Vor einigen Monaten nahm ich an einer nächtlichen Mahnwache teil, um Gerechtigkeit für alle Opfer von Feminiziden zu fordern. Es war eine kleine Versammlung. Als wir im Zentrum von Caracas zwei Hauptstraßen überquerten, wurden Aktivist*innen beschimpft. Sie hatten „Ni Una Menos“ (Nicht eine weniger) an den Fuß einer Statue geschrieben. Als ich die Szene beobachtete, wurde mir bewusst, wie viel Arbeit wir noch vor uns haben: Wir müssen eine Gesellschaft verändern, die sich immer noch mehr um Graffiti sorgt als um das Leben von Frauen.

„Historisch wurde Feminiziden in unserem Land nie viel Bedeutung beigemessen. Die Menschen waren immer schockiert über die Feminizide in Mexiko, aber sie wussten nicht, dass so etwas auch hier geschieht“, erklärt mir die venezolanische Anthropologin und feministische Aktivistin Aimee Zambrano. „Aber wenn man aufhört, diese Verbrechen als isolierte Ereignisse zu betrachten und anfängt, den gesamten Kontext zu sehen, dann werden sich die Menschen des Problems bewusst und erkennen, dass es im Patriarchat und in der Ungleichheit verwurzelt ist“, so Zambrano weiter. Laut Zambrano, die mit dem Portal Utopix einen Feminizidmonitor für Venezuela gegründet hat, braucht das Land dringend einen sogenannten feministischen Notfallplan. Dieser müsse alle staatlichen Institutionen, lokale und regionale Regierungen, Medien sowie das Justiz- und Bildungssystem einbeziehen. Im Rahmen dessen müsse es eine Dokumentation aller Formen von Gewalt gegen Frauen geben; eine landesweite Aufklärungskampagne, die sich mit schädlichen stereotypen Geschlechterrollen befasst; eines geschlechtergerechte Polizeiarbeit und Justiz sowie einen Zugang zu Unterstützungssystemen für Überlebende.

All das ist bisher nicht wirklich vorhanden. Die letzten offiziellen Daten zu Feminiziden in Venezuela wurden im Jahr 2016 erhoben, 122 Fälle waren es damals. Im vergangenen Jahr sprach Generalstaatsanwalt Tarek William Saab für die fünf Jahre zwischen August 2017 und November 2022 von über 1.201 Feminiziden, einschließlich Fälle versuchter Feminizide. Saab zufolge seien in diesem Zusammenhang 1.081 Personen angeklagt, aber nur 443 verurteilt worden. Im gleichen Zeitraum habe die Staatsanwaltschaft außerdem 322.456 Schutzmaßnahmen für Frauen in Gewaltsituationen erlassen. Auch diese Zahl vermittelt einen Eindruck von der Dimension der Gewalt. Im Jahr 2021 wurde eine staatliche Sonderstelle für Feminizide eröffnet. Die gesammelten Daten enthalten jedoch keine Informationen, die zu einer hilfreichen Kategorisierung führen könnten. Weder wurde zwischen unterschiedlichen Formen des Femizids unterschieden, noch nach erschwerenden Umständen. „Dass es hier an Kriterien und gut erklärten Indikatoren fehlt, erschwert die Informationserhebung und Lösungen“, erklärt Zambrano. Den Monitor Utopix habe sie 2019 ins Leben gerufen, um genau diese Lücken zu schließen.

In den vergangenen Jahren ist bei Utopix ein exponentieller Anstieg von Feminiziden in Venezuela zu erkennen: So verzeichnete der Monitor im Jahr 2019 bereits 167 Fälle und im darauffolgenden Jahr 256 Fälle, was einem Anstieg von 53 Prozent entspricht. Dieser ist darauf zurückzuführen, dass Betroffene von machistischer Gewalt während der Covid-19-Pandemie mit ihren Angreifern eingesperrt waren (siehe LN-Dossier 18). Im Jahr 2021 blieb es mit 239 Fällen bei einer hohen Fallzahl. Allein im Jahr 2022 wurden 236 Feminizide registriert, darunter ein Transfeminizid und zwei Feminizide an lesbischen Frauen. Das bedeutet, dass alle 37 Stunden eine Frau ermordet wurde. Da es sich hierbei um inoffizielle Zahlen handelt, ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer noch deutlich höher ist. Zudem gab es 119 versuchte Feminizide. Das eigene Zuhause ist dabei nach wie vor ein tödlicher Ort für Frauen: Im vergangenen Jahr wurden 103 Frauen von ihren Partnern oder ehemaligen Partnern getötet.

Mit Blick auf diesen besorgniserregenden Trend scheinen jedoch abgesehen von feministischen Organisationen bei niemandem die Alarmglocken zu läuten. Aktuell gibt es weder Anzeichen für einen umfassenden Regierungsplan zur Unterstützung gefährdeter Frauen noch ein Notfallsystem für Vermisstenfälle. Vorbilder aus anderen Ländern wären hierfür der Amber Alert in den USA, der Sofia Alert in Argentinien, der Alba Alert in Mexiko und der Isabel Claudina Alert in Guatemala. Die Aktivistin Zambrano erläutert, dass das venezolanische Justizsystem eklatante Mängel aufweise und von sexistischen Praktiken dominiert sei: „In vielen Fällen gibt es eine Vorgeschichte von Belästigungen, bei denen die Angreifer zwar inhaftiert, aber fast sofort wieder freigelassen werden. Die Frauen werden oft von den Beamten viktimisiert – eine Praxis, die sie davon abhält, den Prozess fortzusetzen.“ Für Zambrano besteht daher bei allen Polizei-, Justiz- und Regierungsinstitutionen großer Bedarf an ständiger Fortbildung aus feministischer Perspektive. Darüber hinaus brauche es dringend Zugang zu Schutzräumen, die mit rechtlicher, psychologischer, medizinischer und sozialer Betreuung ausgestattet sind. „Denn sonst haben die Frauen und ihre Kinder meist keine andere Wahl, als mit ihren Angreifern zu leben“, meint Zambrano. Venezuela verfügt derzeit lediglich über drei solcher Einrichtungen, seit 2017 ist es eine weniger geworden.

„Trotz jüngster Bemühungen ist alles, was der venezolanische Staat in Bezug auf Feminizide und machistische Gewalt unternimmt, unzureichend. Zwar leisten viele feministische Organisationen eine großartige Arbeit, um Fälle zu melden und Betroffenen zu helfen. Aber wir haben nicht die Kraft, uns um die täglich auftretende Anzahl der Fälle zu kümmern“, sagt Zambrano. Und sie hat Recht. Es ist zwar unbestreitbar, dass Venezuela im Bereich der Frauenrechte über eine der fortschrittlichsten Gesetzgebungen verfügt, die aus jahrzehntelangen feministischen Kämpfen und der Bolivarischen Revolution hervorgegangen sind. Doch was auf dem Papier steht, ist die eine Sache. Und das Andere ist die Realität.

Deshalb ist ein landesweiter feministischer Notfallplan so wichtig. Dieser setzt auch eine Medienkampagne voraus, um das Bewusstsein für machistische Gewalt, insbesondere Feminizide, zu schärfen und zu zeigen, wo und wie um Hilfe gebeten werden kann. Er erfordert auch präventive Arbeit wie feministische Kurse an Schulen, einen diskriminierungsfreien Zugang zur Justiz und Schutzmechanismen. Das Wichtigste ist jedoch ein gesellschaftlicher Konsens darüber, dass das Leben von Frauen Vorrang hat.

SYSTEMATISCHE VERWEIGERUNG VON GERECHTIGKEIT

Gerechtigkeit für Sol ist Gerechtigkeit für alle Ein Mural zu María del Sol (Foto: Privat)

Über Deine Tochter wird berichtet, dass sie Fotografin war und in der Abteilung für den Schutz indigener Gemeinden gearbeitet hat. Das war es dann aber auch schon. Wer war María del Sol?
Maria del Sol war eine ausgelassene, fröhliche Person. Seit sie klein war, mochte sie es, zu fotografieren. Sie war immer hinterher, das zu erreichen, was sie machen wollte. Sie war eine sehr engagierte junge Frau und immer schnell erzürnt über jegliche Ungerechtigkeiten. Sie begleitete daher gelegentlich auch Proteste und Demonstrationen.

Eine Weile lang hat sie uns auch finanziell unterstützt, als ich mal keine Arbeit hatte. Wir hatten einen kleinen Brotverkauf eröffnet. Und es waren doch eher ältere Menschen, die vorbeikamen. Also kam es, dass María del Sol mit ihnen auf der Parkbank saß und sie ihr Geschichten von früher erzählten, von den Festen die sie gefeiert haben, einfach aus ihrem Leben. Maria del Sol gefielen diese Geschichten. Sie bewunderte die Menschen. Sie sah häufig mehr in den Leuten als den Eindruck, den sie auf den ersten Blick machten. Ich würde sagen, dass sie die Fähigkeit hatte, die Leute wirklich beim Wort zu nehmen und sie nicht in eine Schublade zu stecken.

Oaxaca und insbesondere Juchitán ist eine Region, in der viele indigene Gemeinschaften leben. Wie äußert sich geschlechtsspezifische Gewalt gegen indigene Menschen?
Indigene Frauen erleben viele Formen der Gewalt innerhalb ihrer Beziehungen, das ist sehr üblich, psychische, emotionale und auch physische Gewalt und Feminizide. Zumindest in Juchitán de Zaragoza. Allein in diesem Ort wurden dieses Jahr elf Frauen getötet. Das sagt viel aus über die Gewalt gegen Frauen. Und das ist nur einer von gut 40 Orten, die die Region des Isthmus (von Tehuantepec, Landenge in Mexiko, Anm. d. Red) umfasst. Es ist eine Zone normalisierter Gewalt. Ich weiß nicht, ob es auch etwas mit der Armut zu tun hat, was zu dieser Gewalt führt. Was ich jedoch weiß ist, dass es eine patriarchale Struktur gibt, die dazu führt, dass sich diese Verbrechen immer und immer wieder wiederholen.

Du hast mal gesagt: „Ich habe Mexiko über die Straflosigkeit kennengelernt“. Wie steht es denn aktuell um den Fall von María del Sol?
Der Fall wurde 2018 zuerst von der Generalstaatsanwaltschaft in Oaxaca aufgenommen. Danach wurde eine neue Akte angelegt wegen Wahlbetrug. Ein Jahr später gab es dann eine Akte wegen Diebstahl, denn als María del Sol, Pamela Terán und der Fahrer, Adelfo Guerra, getötet wurden, wurde ihr Equipment gestohlen. Die Anklage wegen Mord, was eigentlich juristisch als Feminizid geführt werden müsste, liegt ebenfalls in irgendeiner Akte. Alle drei Verfahren laufen aktuell noch und sind ohne weitere Ergebnisse. Vier Jahre später hat sich nichts getan.

Dann gibt es noch eine weitere Anzeige, die ich erstattet habe, gegen den Staatsanwalt von Oaxaca und dessen Mitarbeiter, weil sie ihre Arbeit nicht machen. Bei keinem der Verfahren gibt es Ergebnisse, keiner der Fälle wurde aufgeklärt. Wie soll man das denn nennen, außer Straflosigkeit? Sowohl die Behörden, als auch diejenigen, die den Mord in Auftrag gegeben haben, und die Ausführenden, bleiben straflos.

Dann ist der Kampf gegen Feminizide gleichzeitig ein Kampf gegen Straflosigkeit?
Klar! Die Mütter, die von den Fällen ihrer getöteten Töchter erzählen, berichten genau das gleiche. Eine der Mütter, deren Tochter erst verschwunden war und später dann ihr Körper gefunden wurde, hat herausgefunden, dass der Ex-Freund sie getötet hat. Plötzlich ist der junge Mann aber nicht mehr aufzufinden und es stellt sich heraus, dass seine Eltern in einer Justizbehörde arbeiten. Wenn also der Haftbefehl ausgestellt wird, nachdem endlich mal jemand der Mutter zugehört hatte, haben sie dem Typen Bescheid gesagt und er ist abgehauen. Er wurde nie festgenommen. Wer schützt hier also wen? Es sind die Leute in der Staatsanwaltschaft, die die Täter schützen. Es gibt hier viele Fälle, bei denen die eigentlichen Täter bekannt sind.

Wie würdest Du Deine Erfahrungen mit den Behörden beschreiben, nachdem María del Sol getötet wurde?
Erschöpfend in allen Facetten. Nicht nur emotional, auch was deine Ressourcen betrifft. Häufig werden ich oder andere Mütter gefragt: „Wie macht ihr das? Wo nehmt ihr die Kraft her?“ Ich weiß nicht, woher ich die Kraft nehme. Man muss aber weitermachen und schauen, dass man irgendwo Kraft herbekommt. Es gibt also diese Tiefs. Das sieht jedoch niemand. Das kriegen die Leute nicht mit. Die Behörden sehen nicht die systematische Ungerechtigkeit und wie die systematische Verweigerung von Gerechtigkeit dich zermürbt. Sie sagen dir: „An diesem Tag ist die Anhörung.“ Also schläfst du zwei Tage nicht, weil das dermaßen aufwühlend ist. Und dann wird die Anhörung spontan abgesagt, weil die Generalstaatsanwaltschaft einen Fehler gemacht hat. Das fühlt sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Ich habe mich lange darüber aufgeregt, bis ich festgestellt habe – das machen die immer so. Und deswegen stimmt mit dem ganzen System einfach etwas nicht.

Wie erklärst Du Dir dieses Ausmaß an Straflosigkeit?
Was wir hier sehen, ist ein patriarchaler Pakt. Es gibt eine enge Verflechtung zwischen Repressionsapparaten und den korrupten politischen Institutionen. Die Beamten lassen sich zum Beispiel Geld dafür geben, dass sie die Täter nicht weiter verfolgen. Das ist die Realität. Und die Staatsanwaltschaft nimmt das einfach hin. Diese patriarchalen Verflechtungen bedeuten dann, dass genau diese Taten straflos bleiben. Diese Verbrechen werden nicht geahndet. Das passiert überall – im Bundesstaat Mexiko, in Veracruz, im ganzen Land. Ich weiß das, weil das viele Mütter erzählen. Deswegen ist es das System, das falsch ist. Darauf bestehe ich!

Seit 20 Jahren gibt es Fortbildungen für Beamte. 20 Jahre! Und die Gesetzeslage ist eine der fortschrittlichsten was Feminizide betrifft. Letztes Jahr gab es Änderungen am Strafgesetz, um Gleichberechtigung zu implementieren. Das hilft nicht viel. Was also verstärkt die Gewalt? Die Straflosigkeit, die Tatsache, dass Staatsbedienstete nicht zur Verantwortung gezogen werden, deren Komplizenschaft. Und nicht zuletzt die Emanzipation der Frauen selbst. Männer sind sauer und wütend, dass jetzt auch Frauen öffentliche Ämter bekleiden oder wenn Frauen arbeiten gehen, unabhängig ihr eigenes Geld verdienen – dann wird das auch mit Gewalt beantwortet.

Was möchtest Du im Kampf gegen Straflosigkeit und geschlechtsspezifische Gewalt erreichen?
Im Fall von María del Sol fordere ich, dass die Behörden den Fall untersuchen und die Hintergründe aufklären. Es gibt viele Elemente, die auf eine Serie von Menschenrechtsverletzungen hinweisen. Ich bin überzeugt, dass wenn internationale Institutionen härtere Sanktionen gegen Mexiko aufgrund der Menschenrechtsverletzungen verhängen würden, mehr Druck ausgeübt werden könnte, damit der mexikanische Staat seiner Verantwortung nachkommt. Das wäre ein Weg. Ich glaube, wir haben mittlerweile die Türen geöffnet, damit auch weitere betroffene Frauen und Mütter anklopfen. Auch wenn jeder Fall anders ist, gibt es unzählige davon, wo Untersuchungen verschleppt werden und die Verbrechen ungesühnt bleiben.

Nur drei von 100 Fällen werden halbwegs aufgeklärt, wobei sich Statistiken dazu auch unterscheiden. Das sagt so viel darüber aus, mit welcher Dimension von Straflosigkeit wir es zu tun haben. Und ein Verbrechen, das nicht verurteilt wird, ist ein Verbrechen, das sich wiederholt. Auch wenn ich mittlerweile müde bin, werde ich nicht aufhören, jeden Tag für Gerechtigkeit zu kämpfen. Denn ich glaube, dass es viele Mütter gibt, die Unterstützung gebrauchen können. Viele erhalten Drohungen oder werden angegriffen. Manche Mütter sagen jedoch: Sie haben uns alles genommen, sogar die Angst.

DAS PATRIARCHAT HACKEN

Erstes analoges Treffen Feministische Kollektive im Austausch über digitale Protestformen (Foto: MediaRe)

Digitale Protestformen sind in Uruguay seit 2015 immer sichtbarer geworden. Damals waren es zuerst #NiUnaMenos aus Argentinien und digitale Aktionen zu lokalen und aktuellen Anlässen, die feministischen Protest ins Netz brachten. Zuletzt haben die Pandemie und der monatelange Lockdown gezeigt, wie wichtig digitale Plattformen geworden sind. Aus diesem Grund haben feministische Kollektive wie die Gruppe Entramada Feminista in Uruguay das erste cyberfeministische Treffen des Landes einberufen. Es fand Anfang November im Departament Durazno statt und wurde mit Geldern der feministischen Stiftung Fondo de Mujeres del Sur und dem Fondo Indela für digitale Rechte gefördert.

Außer den Organisator*innen aus den Kollektiven Datysoc, MediaRed, dem Encuentro de Feministas Diversas (EFD) und Durazno nahmen Dutzende Mitglieder feministischer Gruppen teil. Viele der Teilnehmer*innen kannten sich noch nicht oder standen bisher nur über Videokonferenzen oder Chatgruppen in Kontakt. Der Zusammenhalt, der den digitalen Kontakt bisher geprägt hatte, setzte sich auch an den zwei Tagen des Treffens fort. Bereits am Samstagmorgen kamen die Teilnehmer*innen zusammen, mit Enthusiasmus und der Freude, sich in einem gemeinsamen Raum in die Augen blicken zu können.

Der Cyberfeminismus stützt sich im Wesentlichen auf zwei Aspekte: Einerseits betont er die Notwendigkeit, zu verstehen, wie digitale Plattformen funktionieren, wer das Internet aufbaut und wie Algorithmen definiert werden. Das alles sind Aufgaben, von denen Frauen häufig ausgeschlossen sind. Andererseits geht es dem Cyberfeminismus darum, digitale Räume praktisch zu nutzen, um Kommunikationsstrategien und Aktionen gegen digitale Gewalt gegen Frauen und antifeministische Diskurse im Netz zu entwickeln. So erklärte es María Goñi Mazzitelli, Mitglied von Datysoc, gegenüber la diaria. Es gehe darum, Frauen zu empowern, damit sie die Angst, diese Räume für sich zu besetzen, verlieren.

„Heutzutage ist ein Feminismus ohne virtuellen Aktivismus unvorstellbar“

Goñi Mazzitelli meint, dafür „braucht es nicht notwendigerweise ein elaboriertes Wissen über das Netz“, aber „jede, die Plattformen benutzt, kann mit bestimmten Aktionen dazu beitragen“. Dazu zählen beispielsweise „Aktionen zum Selbstschutz und zum kollektiven Schutz und Reflexionen darüber, wie wir mit anderen kommunizieren und welche Narrative wir erschaffen wollen“. In gewissem Sinne seien alle feministischen Aktivist*innen auch Cyberfeminist*innen. Denn „heutzutage ist ein Feminismus ohne virtuellen Aktivismus unvorstellbar“, so Mazzitelli.

Um diese Themen ging es auch im ersten Workshop des Treffens. Die Teilnehmer*innen tauschten sich über individuelle und kollektive Nutzungsmöglichkeiten der sozialen Netzwerke aus, teilten Erfahrungen digitaler Gewalt und problematisierten den ungleichen Zugang zum Internet für unterschiedliche Geschlechter. Auch das Thema digitale Rechte wurde besprochen.

In diesem Zusammenhang stellten die Organisator*innen von Datysoc eine Sammlung von Prinzipien für den Aufbau eines „feministischen Internets“ vor: ein Internet ohne Gewalt und Diskriminierung, in dem Frauen sich ausdrücken können, ohne sich von anderen Personen „ausgespäht zu fühlen“. Zu ihren Forderungen gehören ein gerechterer Zugang zum Internet, die Stärkung der Meinungs- und sexueller Freiheit in digitalen Räumen, die Möglichkeit Bewegungen und Mitbestimmung aufzubauen und das Recht, über die eigene digitale Identität zu bestimmen – sei es die tatsächliche, eine anonyme oder ein Pseudonym.

Viele der teilnehmenden Kollektive sind zwar in sozialen Netzwerken präsent, verfolgen aber bisher keine konkreten Strategien. Diana von Mujeres en Libertad aus San José etwa erzählt, wann ihr Kollektiv in den sozialen Netzwerken wie reagiert. „Wenn etwas zu viel Lärm macht, sprechen wir Klartext“, versichert sie. Eines sei jedoch klar: Die Gruppe antwortet nicht auf gewalttätige Kommentare, denn „die Menge der Leute, die sich auf diese Weise ausdrücken, ist belastend.“

Für Colectiva Durazno hat der Lockdown in Zeiten der Pandemie die Notwendigkeit eines Wandels sichtbar gemacht, meint Silvana Cunha, eine der Aktivist*innen des Kollektivs. Deshalb habe die Gruppe ihre Aktivitäten in sozialen Medien gestärkt und nach Werkzeugen gesucht, „sicher“ in diesen Räumen unterwegs zu sein. Ihre Netzwerke seien als „konstruktiver und informativer Raum“ gedacht, damit „andere Personen die Veröffentlichungen lesen und interagieren wollen“. Wenn es aber Gewalt gegen Frauen und Queers gäbe, würden sie nicht zögern, diese auch im Digitalen anzuprangern.

Die feministische Aktivistin Camila Díaz erzählt, dass sie sehr aktiv in persönlichen Netzwerken ist und Fotos und Informationen über Feminismen teilt, die andere Personen oder Kollektive erstellen. Díaz meint, es sei wichtig, dass feministische Diskurse im Netz präsent seien, um mehr Menschen zu erreichen. Viele junge Feminist*innen würden die Netzwerke nutzen, um ihre Meinung auszudrücken, Gewalt anzuprangern und an Bewegungen teilzunehmen, auch wenn sie nicht in Kollektiven organisiert seien.

Digitale Gewalt muss ebenso anerkannt werden wie physische Gewalt

Das Kollektiv EFD ist in sozialen Netzwerken entstanden: Zuerst auf Twitter und später auf Telegram. Von Beginn an sei es darum gegangen, mit digitalem Aktivismus Präsenz zu zeigen, erzählen Gabriela Mathieu und Natalia Vera. In diesem Prozess hätten die Frauen sich auch die entsprechenden technischen Mittel angeeignet. „Heute haben wir eine eigene Cloud über Nextcloud und unterstützen andere sichere Vorgehensweisen für den virtuellen Raum“, meint Mathieu. „Was wir anderen Kollektiven vielleicht mitgeben müssen, ist die Nutzung anderer Messengerdienste und sicherer und freier Technologien.“ Der virtuelle Raum sei zwar wichtig und bringe viele Werkzeuge für den Aktivismus mit sich. „In einem feministischen Raum aktiv zu sein, bedeutet jedoch auch, körperlich in diesem Umfeld präsent zu sein.“ Diese Meinung teilen auch andere Aktivist*innen. Diana von Mujeres en Libertad meint etwa: „Virtuelle Präsenz zu zeigen ist wichtig. Aber auf den Straßen sichtbar zu sein ist wichtiger. Denn der Wandel geschieht nicht in den Netzwerken.“

Durch alle Workshops zieht sich das Thema der digitalen sexualisierten Gewalt. „Die geschlechtsspezifische Gewalt in digitalen Umgebungen gegen Frauen und Queers beruht auf patriarchalen Mechanismen“, definiert Mariana Fossatti von Datysoc das Problem. Diese Gewalt drücke sich zum Beispiel in Kommentaren in Privatnachrichten oder öffentlich in sozialen Netzwerken aus, häufig auch in der Verbreitung von Bildern und Videos ohne vorherige Zustimmung des Opfers. „Dazu zählt jede Handlung mit dem Ziel, eine unterdrückerische, unbehagliche und unaushaltbare Atmosphäre für Frauen und Queers zu erschaffen und uns aus diesen Räumen zu vertreiben“, erklärt Fossatti. Diese Gewalt führe zu psychologischem und emotionalem Schaden und ziehe Verpflichtungen in Mitleidenschaft. So könnte digitale Gewalt Auswirkungen auf die Arbeitssituation der Opfer haben und zu wirtschaftlichen Verlusten führen. Ebenso könnte sie zu Formen physischer, auch sexueller Gewalt führen. „Deswegen sagen wir, dass digitale Gewalt real ist“, denn ihr Effekt „beschränkt sich nicht auf den digitalen Rahmen“, meint Fossatti. Sie erklärt, dass es daher nicht ausreiche, Konten zu schließen und Geräte abzuschalten. Digitale Gewalt müsse genauso anerkannt werden wie physische Gewalt, so die Aktivistin von Datysoc.

Frauen befähigen, digitale Räume für sich zu besetzen

In einem der Workshops wurden unterschiedliche Strategien zur Vorbeugung digitaler Aggressionen vorgestellt. Schon das Nutzen sicherer Passwörter und Browser könne verhindern, dass Daten und Inhalte für alle zugänglich sind. Außerdem könnte man auf intimen Bildern das Gesicht unkenntlich machen und anonyme Profile unter Pseudonymen verwenden. In einem sind sich die Feminist*innen einig: Das wichtigste sei es, nahestehende Vertrauenspersonen oder feministische Kollektive zu kontaktieren und ein Verzeichnis gewalttätiger Kommentare und Fotos mithilfe von Screenshots anzulegen.

Der Workshoptag ging mit einem Seminar zu antifeministischen Diskursen im Internet weiter. Dazu gehören etwa frauenfeindliche, rassistische, transfeindliche, homofeindliche Einstellungen oder auch das sogenannte Bodyshaming. Die Teilnehmer*innen diskutierten über Meinungsfreiheit und darüber, welche Äußerungen unter dieses Recht fallen und welche nicht. Ebenso ging es darum, sichere Strategien zu entwickeln, um eine starke Antwort entgegenzusetzen, ohne sich einerseits selbst in Gefahr zu begeben und andererseits der Nachricht noch mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Antifeministische Diskurse können unterschiedliche Effekte zur Folge haben. Da wäre zum einen die individuelle oder kollektive Selbstzensur, etwa „Kommentare aus Angst vor den Antworten viel stärker zu analysieren“ oder sogar „das Löschen eigener Konten“, erklärte Fossatti. Außerdem habe dieses Verhalten einen „kulturellen Zweck“: Antifeministische Diskurse haben zum Ziel, „zu disziplinieren“ und versuchen „zur Norm zurückzukehren“, indem feministische und queere Kollektive aus den virtuellen Räumen verbannt werden.

Vor dem Ende des Treffens verteilten sich die Teilnehmer*innen auf unterschiedliche Gruppen, um aus Bildern eine Collage über ihre Erfahrungen, Gefühle und das Gelernte zu erstellen. Die Aufgabe verstand sich als „Feministisches Hacking antifeministischer Diskurse“. „Die Entramada soll hier nicht enden“, machte Federica Turbán, Mitglied von MediaRed, in der abschließenden Runde klar. So gibt es die Möglichkeit, die Strategien in weiteren Treffen an unterschiedlichen Orten des Landes weiterzuführen. Für das Jahr 2022 ist schon ein weiteres Treffen geplant.: „Raus aus dem Zoom und aus Montevideo!“, rief eine compañera spontan aus. Bis dahin bleibt die Entramada Feminista über die digitalen Medien verbunden

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