#NiUnaMenos „Nicht eine weniger“ auf einer Demo in Caracas (Foto: Venezuelaanalysis)
Vor einigen Monaten nahm ich an einer nächtlichen Mahnwache teil, um Gerechtigkeit für alle Opfer von Feminiziden zu fordern. Es war eine kleine Versammlung. Als wir im Zentrum von Caracas zwei Hauptstraßen überquerten, wurden Aktivist*innen beschimpft. Sie hatten „Ni Una Menos“ (Nicht eine weniger) an den Fuß einer Statue geschrieben. Als ich die Szene beobachtete, wurde mir bewusst, wie viel Arbeit wir noch vor uns haben: Wir müssen eine Gesellschaft verändern, die sich immer noch mehr um Graffiti sorgt als um das Leben von Frauen.
„Historisch wurde Feminiziden in unserem Land nie viel Bedeutung beigemessen. Die Menschen waren immer schockiert über die Feminizide in Mexiko, aber sie wussten nicht, dass so etwas auch hier geschieht“, erklärt mir die venezolanische Anthropologin und feministische Aktivistin Aimee Zambrano. „Aber wenn man aufhört, diese Verbrechen als isolierte Ereignisse zu betrachten und anfängt, den gesamten Kontext zu sehen, dann werden sich die Menschen des Problems bewusst und erkennen, dass es im Patriarchat und in der Ungleichheit verwurzelt ist“, so Zambrano weiter. Laut Zambrano, die mit dem Portal Utopix einen Feminizidmonitor für Venezuela gegründet hat, braucht das Land dringend einen sogenannten feministischen Notfallplan. Dieser müsse alle staatlichen Institutionen, lokale und regionale Regierungen, Medien sowie das Justiz- und Bildungssystem einbeziehen. Im Rahmen dessen müsse es eine Dokumentation aller Formen von Gewalt gegen Frauen geben; eine landesweite Aufklärungskampagne, die sich mit schädlichen stereotypen Geschlechterrollen befasst; eines geschlechtergerechte Polizeiarbeit und Justiz sowie einen Zugang zu Unterstützungssystemen für Überlebende.
All das ist bisher nicht wirklich vorhanden. Die letzten offiziellen Daten zu Feminiziden in Venezuela wurden im Jahr 2016 erhoben, 122 Fälle waren es damals. Im vergangenen Jahr sprach Generalstaatsanwalt Tarek William Saab für die fünf Jahre zwischen August 2017 und November 2022 von über 1.201 Feminiziden, einschließlich Fälle versuchter Feminizide. Saab zufolge seien in diesem Zusammenhang 1.081 Personen angeklagt, aber nur 443 verurteilt worden. Im gleichen Zeitraum habe die Staatsanwaltschaft außerdem 322.456 Schutzmaßnahmen für Frauen in Gewaltsituationen erlassen. Auch diese Zahl vermittelt einen Eindruck von der Dimension der Gewalt. Im Jahr 2021 wurde eine staatliche Sonderstelle für Feminizide eröffnet. Die gesammelten Daten enthalten jedoch keine Informationen, die zu einer hilfreichen Kategorisierung führen könnten. Weder wurde zwischen unterschiedlichen Formen des Femizids unterschieden, noch nach erschwerenden Umständen. „Dass es hier an Kriterien und gut erklärten Indikatoren fehlt, erschwert die Informationserhebung und Lösungen“, erklärt Zambrano. Den Monitor Utopix habe sie 2019 ins Leben gerufen, um genau diese Lücken zu schließen.
In den vergangenen Jahren ist bei Utopix ein exponentieller Anstieg von Feminiziden in Venezuela zu erkennen: So verzeichnete der Monitor im Jahr 2019 bereits 167 Fälle und im darauffolgenden Jahr 256 Fälle, was einem Anstieg von 53 Prozent entspricht. Dieser ist darauf zurückzuführen, dass Betroffene von machistischer Gewalt während der Covid-19-Pandemie mit ihren Angreifern eingesperrt waren (siehe LN-Dossier 18). Im Jahr 2021 blieb es mit 239 Fällen bei einer hohen Fallzahl. Allein im Jahr 2022 wurden 236 Feminizide registriert, darunter ein Transfeminizid und zwei Feminizide an lesbischen Frauen. Das bedeutet, dass alle 37 Stunden eine Frau ermordet wurde. Da es sich hierbei um inoffizielle Zahlen handelt, ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer noch deutlich höher ist. Zudem gab es 119 versuchte Feminizide. Das eigene Zuhause ist dabei nach wie vor ein tödlicher Ort für Frauen: Im vergangenen Jahr wurden 103 Frauen von ihren Partnern oder ehemaligen Partnern getötet.
Mit Blick auf diesen besorgniserregenden Trend scheinen jedoch abgesehen von feministischen Organisationen bei niemandem die Alarmglocken zu läuten. Aktuell gibt es weder Anzeichen für einen umfassenden Regierungsplan zur Unterstützung gefährdeter Frauen noch ein Notfallsystem für Vermisstenfälle. Vorbilder aus anderen Ländern wären hierfür der Amber Alert in den USA, der Sofia Alert in Argentinien, der Alba Alert in Mexiko und der Isabel Claudina Alert in Guatemala. Die Aktivistin Zambrano erläutert, dass das venezolanische Justizsystem eklatante Mängel aufweise und von sexistischen Praktiken dominiert sei: „In vielen Fällen gibt es eine Vorgeschichte von Belästigungen, bei denen die Angreifer zwar inhaftiert, aber fast sofort wieder freigelassen werden. Die Frauen werden oft von den Beamten viktimisiert – eine Praxis, die sie davon abhält, den Prozess fortzusetzen.“ Für Zambrano besteht daher bei allen Polizei-, Justiz- und Regierungsinstitutionen großer Bedarf an ständiger Fortbildung aus feministischer Perspektive. Darüber hinaus brauche es dringend Zugang zu Schutzräumen, die mit rechtlicher, psychologischer, medizinischer und sozialer Betreuung ausgestattet sind. „Denn sonst haben die Frauen und ihre Kinder meist keine andere Wahl, als mit ihren Angreifern zu leben“, meint Zambrano. Venezuela verfügt derzeit lediglich über drei solcher Einrichtungen, seit 2017 ist es eine weniger geworden.
„Trotz jüngster Bemühungen ist alles, was der venezolanische Staat in Bezug auf Feminizide und machistische Gewalt unternimmt, unzureichend. Zwar leisten viele feministische Organisationen eine großartige Arbeit, um Fälle zu melden und Betroffenen zu helfen. Aber wir haben nicht die Kraft, uns um die täglich auftretende Anzahl der Fälle zu kümmern“, sagt Zambrano. Und sie hat Recht. Es ist zwar unbestreitbar, dass Venezuela im Bereich der Frauenrechte über eine der fortschrittlichsten Gesetzgebungen verfügt, die aus jahrzehntelangen feministischen Kämpfen und der Bolivarischen Revolution hervorgegangen sind. Doch was auf dem Papier steht, ist die eine Sache. Und das Andere ist die Realität.
Deshalb ist ein landesweiter feministischer Notfallplan so wichtig. Dieser setzt auch eine Medienkampagne voraus, um das Bewusstsein für machistische Gewalt, insbesondere Feminizide, zu schärfen und zu zeigen, wo und wie um Hilfe gebeten werden kann. Er erfordert auch präventive Arbeit wie feministische Kurse an Schulen, einen diskriminierungsfreien Zugang zur Justiz und Schutzmechanismen. Das Wichtigste ist jedoch ein gesellschaftlicher Konsens darüber, dass das Leben von Frauen Vorrang hat.