Mit dem neuen Familienkodex wird das bisherige Familiengesetzbuch von 1975 abgelöst. Das neue Gesetz legalisiert die gleichgeschlechtliche Ehe, stärkt die Rechte von Frauen, älteren Menschen und Pflegekräften und erhöht den Schutz gegen häusliche Gewalt. Im Vorfeld hatte die Neufassung für starke Kontroversen gesorgt.
In zehntausenden Nachbarschaftsversammlungen war der Gesetzentwurf diskutiert worden. Die dabei gemachten Vorschläge wurden in den Gesetzestext eingearbeitet; über die Mitte Juli vom Parlament verabschiedete Endfassung wurde nun abgestimmt. Kritiker*innen rügen das Verfahren als intransparent und sehen in dem Gesetz vor allem eine Imagekampagne der Regierung. Die hatte kräftig für ein „Ja“ getrommelt. Auch die staatlichen Medien erörterten ausführlich die „Gründe für ein Ja zum Familiengesetzbuch in Kuba“, das Parlament unterstrich die Bedeutung des Familienkodexes und Präsident Miguel Díaz-Canel nannte den Gesetzestext „ein Bekenntnis zum Leben“.
Aber nicht nur das Verfahren, auch Inhalte des Gesetzes waren keinesfalls unumstritten. Über die Einführung der „Ehe für alle“ oder die Adoption von Kindern durch gleichgeschlechtliche Paare kam es zu hitzigen Debatten. Ursprünglich war die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe als Teil der neuen Verfassung von 2019 vorgesehen. Aufgrund fehlenden gesellschaftlichen Konsenses und Widerstands der Kirchen wurde damals entschieden, das Thema auszugliedern und über die Neufassung des Familiengesetzes zu regeln.
„Das Manöver des Staates, die Gleichstellung der Ehe und all die Dinge, die in gewisser Weise Menschenrechte sind, nicht 2019 zu verabschieden, war ein Fehler“, kritisiert LGBTIQ*-Aktivist Roberto Ramos Mori. Das neue Gesetz hält er trotzdem für sehr gelungen. „Der Kodex ist sehr vollständig, er ist sehr gut, viel besser als ich dachte.“
Die katholische Bischofskonferenz Kubas hingegen sprach sich vor der Abstimmung vehement für die Beibehaltung der Ehe als Vereinigung von Mann und Frau aus und warnte vor sogenannter „Gender-Ideologie“. Eine weitere Kontroverse dreht sich um die Reform des Sorgerechts und die Rechte von Kindern in der Familie. Der Sorgerechtsbegriff patria protestad, mit dem traditionell der Vater als Familienoberhaupt verknüpft ist, wird in dem Gesetz durch den Ausdruck „elterliche Verantwortung“ ersetzt. Der Kodex sieht auch eine elterliche Pflicht vor, Kinder zur Achtung von Autoritäten und zur „Liebe zur Familie“, zum „Vaterland“ und zu „seinen Symbolen“ zu erziehen. Konservative Teile der Gesellschaft und die Kirchen sehen die „traditionelle Familie“ bedroht und warnen vor der „Untergrabung der elterlichen Autorität”. „Kinder gehören ihren Eltern, nicht dem Staat“, war einer der Slogans.
Dass am Ende das Ja gewinnt, sorgt für Erleichterung
Gegen die kürzlich verabschiedete Neufassung des Strafgesetzbuches, das weiterhin die Todesstrafe enthält und damit gegen das christliche Gebot nicht zu töten, verstößt, hatte dagegen keine der christlichen Konfessionen eine öffentliche Erklärung abgegeben. Das lässt vermuten, dass es beim Familiengesetz also weniger um die Verteidigung der christlichen Lehre ging, sondern um politische Interessen.
Nicht zuletzt deshalb hielt Ramos das Referendum an sich für falsch. Der Gesetzgeber entziehe sich seiner Verantwortung, indem er die Entscheidung dem Volk überlässt. „Es gibt Dinge in diesem Gesetzbuch, die weder zur Debatte stehen, noch einem sogenannten Volksentscheid unterliegen sollten“, so Ramos. „Es gibt Minderheitenrechte, die zu schützen in der Verantwortung des Staates liegt und nicht von der Meinung der Mehrheit abhängen sollten.“
Niedrige Wahlbeteiligung für kubanische Verhältnisse
Für kubanische Verhältnisse war die Wahlbeteiligung relativ bescheiden und der Anteil der Nein-Stimmen relativ hoch. Dass ein Drittel mit „Nein“ gestimmt hat, ist nicht nur Ausdruck von Vorbehalten dem Gesetz gegenüber, sondern auch zum Teil Votum der Unzufriedenheit angesichts der schwierigen wirtschaftliche Lage.
Aufgrund des coronabedingten Einbruchs des Tourismus, dem Ende zahlreicher Ärzt*innenmissionen und verschärfter US-Finanzsanktionen sind die Deviseneinnahmen Kubas fast komplett weggebrochen. Das Land steckt in einer schweren Wirtschafts- und Versorgungskrise. Viele Waren des täglichen Bedarfs sind nur noch für Devisen oder auf dem Schwarzmarkt erhältlich. Die Inflation erreicht dreistellige Werte. Hinzu kommt in den vergangenen Monaten eine Energiekrise. Die kubanischen Wärmekraftwerke sowjetischer Bauart sind in einem bedauernswerten Zustand und müssten dringend überholt werden. Immer wieder kommt es zu Ausfällen infolge von Havarien oder Brennstoff- oder Ersatzteilmangel. Stundenlange Stromabschaltungen gehören mittlerweile wieder zur kubanischen Normalität. Ein Großbrand nach einem Blitzeinschlag im wichtigsten Treibstofflager des Landes Anfang August,bei dem insgesamt 16 Menschen starben, und Hurrikan Ian haben die Lage noch verschärft.
Die teilweise tagelangen Abschaltungen hatten im vergangenen Sommer mit dazu beigetragen, dass tausende Kubaner*innen auf der ganzen Insel gegen die Lebensmittel- und Medikamentenknappheit und für politische Veränderungen auf die Straße gegangen waren. Gegen hunderte Protestierende wurden zum Teil langjährige Haftstrafen verhängt. Statt auf die Straße zu gehen, packen nun viele Kubaner*innen ihre Koffer und kehren der Insel den Rücken, vor allem die jungen Leute verlassen das Land. Kuba erlebt dieser Tage die vielleicht größte Ausreisewelle seiner Geschichte, vor allem in die USA, aber auch nach Mexiko, Spanien, Russland oder Serbien.
„Die Propaganda der Regierung und ihrer Gegner hat die Diskussion über den Entwurf des Familiengesetzes so stark politisiert, dass es manchmal schwierig ist, zu erkennen, worum es bei der Volksabstimmung geht“, schrieb der Autor und Übersetzer Rodolfo Alpízar Castillo in einem Beitrag für das Onlineportal Joven Cuba. „Meiner Meinung nach sind der Kodex selbst und sein Inhalt für diejenigen, die die Ja- oder Nein-Kampagnen führen, am wenigsten wichtig.“
Viele Leute haben den Gesetzentwurf gar nicht gelesen, glaubt auch Ramos. „Sie votieren dagegen allein aufgrund der Krise der vergangenen zwei Jahre und der verlorenen Glaubwürdigkeit des Staates.“
Trans Personen bleiben außen vor
Dass am Ende das „Ja“ gewann, sorgte vielerorts für Erleichterung. „Der Gerechtigkeit ist Genüge getan worden“, schrieb Präsident Díaz-Canel auf Twitter. „Damit wird eine Schuld bei mehreren Generationen kubanischer Männer und Frauen beglichen, deren Familienprojekte seit Jahren auf dieses Gesetz warten.“ Zufrieden mit dem Abstimmungsergebnis zeigte sich auch Sam Olazábal. Die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe sei „ein Gewinn für die LGBTIQ*-Bewegung in Kuba“, sagte die 25-Jährige Aktivistin, die zu menstrueller Gesundheit und geschlechtsspezifischer Gewalt auf Kuba arbeitet. „Erreicht wurde dies dank der Arbeit vieler Aktivisten und Aktivistinnen.“. Allerdings habe der Gesetzentwurf immer noch Schwächen: „Im Zusammenhang mit Familie werden trans Personen nicht einmal erwähnt. Natürlich sind wir viel weiter als viele lateinamerikanische Länder, aber es liegt noch ein weiter Weg vor uns.“