„WIR WISSEN NICHT, OB WIR NOCH IM LAND ARBEITEN KÖNNEN.”

Darci Frigo, Gründer undKoordinator der Organisation Terra de Direitos und Vizepräsidentdes brasilianischen Nationalen Rates für Menschenrechte (Foto: Cleia Viana_Câmara dos Deputados)

Ihre Organisation Terra de Direitos leistet juristische Unterstützung in Landkonflikten. Insbesondere ist sie im Bundesstaat Pará aktiv, wo es die meiste Gewalt im ländlichen Raum gibt. Der rechtsradikale Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro hat angekündigt, dass er die Aktionen der Landlosenbewegung MST wie terroristische Taten behandeln wird. Am Sonntag vor der Wahl hat er erklärt, dass er das Land von linken Aktivist*innen „säubern“ will. Wie bewerten sie die Situation ihrer Organisation, Terra de Direitos, und der Menschen, die sie verteidigen, sollte Bolsonaro gewinnen?
Die Drohungen Bolsonaros gegen alle linken Aktivisten sind sehr ernst zu nehmen. Er hat ja schon einzelne Organisationen benannt, gegen die er vorgehen will. Er will die zivilgesellschaftlichen Kräfte isolieren, um Wirtschaftsprojekten, die gegen die Verfassung und die Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte verstoßen, Tür und Tor zu öffnen. Insgesamt ist das eine sehr beunruhigende Situation, die alle Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen im Land betrifft. Es handelt sich um einen Angriff, der in der brasilianischen Demokratie noch vor zwei oder drei Jahren unvorstellbar war. Mit dem Impeachmentverfahren gegen Dilma Rousseff kamen diese Kräfte auf und wurden immer stärker. Durch die Korruptionsskandalen der letzten Jahre haben die traditionellen rechten Politiker ihre Glaubwürdigkeit verloren. Angesichts der sozialen, ökonomischen und politischen Krise, die Brasilien durchlebt, will die Bevölkerung einen Kandidaten, der verspricht, alles anders zu machen. Und so hat sich Bolsonaro immer präsentiert: Als der Kandidat, der es anders machen wird. Aber was er anbietet ist eine schreckliche Veränderung: Er hat mehrfach erklärt, dass er die demokratischen Institutionen nicht respektiert. Wir in den Menschenrechtsorganisationen sind nun sehr besorgt, sowohl um das Leben der Menschen, die sich in Konfliktsituationen befinden, als auch um das Fortleben unserer Organisationen.

Gewalt gegen linke Aktivist*innen und in Landkonflikten gab es in Brasilien ja auch in den letzten Jahrzehnten. Was ist das Neue an der Gewalt, die nun mit Bolsonaro droht?
Seit dem Impeachment von Dilma versucht das Agrobusiness jede Politik, die weitere Territorien von indigenen und andere traditionellen Bevölkerungsgruppen anerkennt, zu verhindern. Nach der Absetzung von Dilma Rousseff hatten die Farmer weniger Hemmungen, um im Landkonflikten Gewalt einzusetzen. In den Jahren 2012 und 2013 gab es pro Jahr um die 30 Morde im Kontext von Landkonflikten; also Morde an Aktivisten, Gemeindeanführern und so weiter. Im Jahr 2017 waren es 70 Morde. Mit dem Impeachment hat sich also die Gewalt auf dem Land praktisch verdoppelt. 80 bis 85 Prozent dieser Morde fanden im südlichen Teil Amazoniens statt, in den Bundesstaaten Rondônia, dem Norden von Mato Grosso, Pará und Tocantins, also dort, wohin die Agrarindustrie expandiert, dort wo es viele ungelöste Landkonflikte gibt und die meisten Rodungen stattfinden.
Die Gewalt in dieser Region ist bereits jetzt sehr extrem. Aber Bolsonaro beschimpft die staatlichen Kontrollbehörden wie das Umweltministerium IBAMA als linke Extremisten, die nur die Agrarindustrie behindern. Er behauptet, sie würden die Farmer und die Leute, die Wald roden, verfolgen. Bolsonaro will der Agrarindustrie die totale Freiheit geben, um den Amazonas-Regenwald zu zerstören.

Brasiliens Wirtschaft hängt zu 49 Prozent vom Export von Rohstoffen ab. Hauptsächlich handelt es sich um Erze und Soja: Das sind ja auch die Waren, die Amazonien am meisten bedrohen. Die geplanten Staudämme am Fluss Tapajós sollen ja auch eine Wasserstraße herstellen, um diese Rohstoffe aus dieser Region besser abtransportieren zu können. Ende 2016 wurde ja der Bau des größten dort geplanten Staudamms, São Luiz do Tapajós, durch das Umweltministerium IBAMA und die Indigenenbehörde FUNAI verhindert. Glauben Sie, dass diese Pläne mit Bolsonaro wieder auf den Tisch kommen?
Es reicht schon, wenn das Wirtschaftswachstum in Brasilien wieder anzieht, und diese Pläne kommen erneut auf den Tisch. Dann steigt wieder der Energiebedarf und dann kann das Thema wieder aktuell werden. Derzeit wird ja weiterhin die Fernverkehrsstraße BR-163 asphaltiert, die von den Sojaanbaugebieten in Mato Grosso zum Hafen Miritituba am Río Tapajós im Bundesstaat Pará führt. Von dort können die Rohstoffe aus dem Süden Parás und Mato Grosso über den Hafen Santarém verschifft werden. Man sagt, das sei der beste logistische Knotenpunkt für das Landesinnere, weil man über diese Route besser die Absatzmärkte in Nordamerika, Asien und Europa erreicht, als über die bisherige Route, über den Hafen von Santos in São Paulo. Diese ganzen Pläne fußen aber auf der Vorstellung, dass die brasilianische Wirtschaft Rohstoffe exportieren muss, um sich zu entwickeln, anstatt die Binnennachfrage anzukurbeln. Und dieses Entwicklungsmodell führt zu massiver Gewalt bei Landkonflikten und der Zerstörung des Regenwaldes in dieser Region. Insbesondere der Bergbau in dieser Region ist die größte Bedrohung für die ländliche Bevölkerung dort, für Indigene und andere traditionelle Bevölkerungsgruppen. Diese Pläne sehen praktisch vor, die ganze Region in einen einzigen Tagebau zu verwandeln, so viele Projekte liegen bereits vor. Dieser relativ kleine, aber sehr weit verbreitete Bergbau ist meines Erachtens eine größere Gefahr als die großen Wasserkraftwerke, denn er breitet sich auf dem ganzen Territorium aus.

Was denken Sie, wie sieht Brasiliens Zukunft mit Bolsonaro als Präsidenten aus?
Wie sich Bolsonaro konkret als Präsident verhalten wird, kann keiner sagen. Er nimmt an keinen Debatten teil, seine Forderungen sind sehr allgemein gehalten. Er erklärt nicht, wie er sie konkret umsetzen will. Er propagiert einen Antikommunismus wie aus Zeiten des Kalten Kriegs und predigt Hass, damit mobilisiert er die Leute. Dass er damit Erfolg hat, ist auch dem Versagen der bisherigen demokratischen Regierungen geschuldet, die die Verbrechen der Militärdiktatur, die militärische Struktur der Polizei und so weiter aufgearbeitet haben. Es scheint so, als ob sich diese alten Kräfte dafür rächen wollen, dass es eine Redemokratisierung gab und die Armen auf einmal mehr gesellschaftlich teilhaben. Die Armen werden als Feinde dargestellt, und man weiß nicht mal, Feinde von was oder wem sie sein sollen. Die Demokratisierung war in Brasilien abgeschlossen. Die Armen wurden der Gnade des organisierten Verbrechens überlassen. Und die Mafias, wie Comando Vermelho und Primeiro Comando da Capital, drängen immer mehr aus ihren angestammten Gebieten, in Rio de Janeiro und São Paulo, in den Norden des Landes. Die arme Bevölkerung wird so praktisch zu Geiseln dieser Verbrecher. Und diese Bevölkerung wählt dann Bolsonaro, denn der verspricht ihnen einen leichteren Zugang zu Waffen und dass er mit Gewalt gegen diese Kriminellen vorgehen wird. Aber jetzt redet Bolsonaro kaum noch davon, mit Gewalt gegen das Verbrechen vorzugehen. Er redet nur noch über die Gewalt, die er gegen linke Aktivisten anwenden will. Das ist ernst zu nehmen! Auf Whatsapp verabreden sich bereits Bolsonaro-Anhänger, um nach der Wahl Aktivisten zu terrorisieren.

Wenn er wirklich gegen den Drogenhandel vorgehen wollte, müsste er gegen die Farmer*innen vorgehen…
Da besteht ein eindeutiger Widerspruch bei Bolsonaro. Sein Sohn hat sich mehrfach mit Politikern in Rio de Janeiro getroffen, die mit der Mafia in Zusammenhang stehen. Und auf dem Land ist die Situation schon dramatisch. Viele Farmer haben bereits Milizen, die in Landkonflikten die arme Landbevölkerung terrorisieren. Bolsonaro möchte ihnen den Zugang zu Waffen noch erleichtern und verspricht ihnen, mit totaler Freiheit zu agieren. Keine Polizei der Welt tötet mehr Menschen im Einsatz, als die brasilianische und Bolsonaro will der Polizei noch die Lizenz zum Töten erteilen. Er will die Möglichkeit abschaffen, dass ein Polizist, der im Einsatz jemanden tötet, dafür belangt wird. Das alles zusammen ergibt eine explosive Mischung für Brasilien.

Wenn man das alles berücksichtigt, wie bewerten Sie die Möglichkeit für einen effektiven Widerstand gegen Bolsonaro? Und wie können wir hier in Deutschland Solidarität leisten?
Wir haben sehr wenig Zeit, um uns darauf vorzubereiten. Wir können nicht bis Januar abwarten, wenn Bolsonaro das Amt übernimmt. Alles weist darauf hin, dass die zu erwartende Explosion der Gewalt früher beginnt. Die jetzige Regierung ist sehr schwach. In Wirklichkeit wird sie von General Sergio Etchegoyen aufrecht erhalten.
Wir haben sehr wenig Zeit, um zu überlegen, wie wir Menschenrechtsverteidiger schützen können. In den letzten Tagen haben wir den Führungspersönlichkeiten von sozialen Bewegungen mitgeteilt, dass sie nicht mehr alleine herumlaufen sollen, dass sie darauf acht geben müssen, welche Informationen sie von sich preisgeben und so weiter. Der ganze zivilgesellschaftliche Aktivismus ist gefährdet. Am Sonntag vor der Wahl hatte Bolsonaro in einer Rede ja angekündigt, „mit dem Aktivismus Schluss zu machen“. Die Zivilgesellschaft in Brasilien mobilisiert schon den Widerstand dagegen, aber die Gefahr für einzelne Personen ist groß. Wir haben bereits die UNO und die Organisation Amerikanischer Staaten über die besorgniserregende Situation informiert. Es besteht die Gefahr, dass wir wieder in die Militärdiktatur zurückfallen. Wir werden auf jeden Fall sehr viel internationale Solidarität brauchen. Die internationalen Menschenrechtsorganisationen müssen Komitees für Nothilfe gründen, um Menschen zu unterstützen, die Angriffen ausgesetzt sind. Die Drohung Bolsonaros, alle auszuweisen, die anderer politischer Ansicht sind als er, ist nicht rhetorisch zu verstehen. Es ist eine reale Bedrohung. Sie könnte sogar schlimmer werden, als in der Rhetorik. Es droht die physische Auslöschung der Aktivisten. Deshalb bin ich ja gerade in Berlin, um die hiesigen Hilfsorganisationen über diese Bedrohung zu informieren, damit diese Nothilfemaßnahmen einrichten.

VERERBTE GEWALT

Was wäre passiert, hätten die Entführungen, die Massaker, der Krieg nicht stattgefunden? Was, wenn dieser Mord nicht geschehen wäre, der Mord an dem linken Präsidentschaftskandidaten Jorge Eliécer Gaitán?

Der Tag seiner Ermordung, der 9. April 1945, „ist ein schwarzes Loch in der kolumbianischen Geschichte“. El Bogotázo, der darauf folgende Aufstand in der Hauptstadt, kostete mindestens 3.000 Menschen das Leben und stürzte das Land ins Chaos. Zehn Jahre lang kämpften Konservative und Liberale in einem offenen Bürgerkrieg um die Macht. Der Mord an Gaitán war der Auslöser einer „kollektive(n) Neurose“, schreibt Vásquez. Es war das Wiederaufflammen des bis heute andauernden Krieges zwischen progressivem und reaktionärem Denken in Kolumbien.

Juan Gabriel Vásquez geht in Die Gestalt der Ruinen nicht der Frage nach, wie das Land ausgesehen hätte, wäre Gaitán nicht ermordet worden. Der Schriftsteller fantasiert nicht über Utopien, sondern beschäftigt sich mit den dadurch zum Leben erweckten Verschwörungstheorien. Hat der 27-jährige Mörder, Juan Roa Sierra, an jenem Mittag allein gehandelt? Was sagen die Bilder, Erinnerungen und sogar Überreste Gaitáns über dessen Tod und den vieler anderer Politiker aus?

„Das Buch ist ein Exorzismus“, sagt der Autor im Interview mit der kolumbianischen Zeitung El País. In dem 520-seitigen Roman erhalten die Leser*innen Einblicke in das Leben von Vásquez, der mit 45 Jahren bereits als einer der wichtigsten lateinamerikanischen Schriftsteller der Gegenwart gilt. Sein Buch ist eine persönliche Auseinandersetzung mit der Gewalt der 1980er Jahre, als der Drogenkrieg das Land mit aller Wucht traf: „Wir alle erlebten, wie unsere Häuser abbrannten, wir alle waren in diesen Bürgerkrieg verwickelt, der natürlich kein Bürgerkrieg war, sondern ein Massaker, feige, unbarmherzig, tückisch, an verletzlichen und zudem unschuldigen Menschen.“ Der Roman ist gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit der nicht erlebten, sondern erzählten Gewalt, mit den Lebensgeschichten der Großeltern während des Bürgerkrieges nach dem Mord an Gaitán – Geschichten, die über die Zeit zu Legenden in jeder kolumbianischen Familie wurden.

Vásquez erzählt, wie er auf einer Party des Arztes Francisco Benavides die Bekanntschaft von Carlos Carballo machte. Carballo ist ein Verschwörungstheoretiker, der von der Geschichte um und von Gaitáns Ermordung besessen ist. Die Beziehung zwischen dem Schriftsteller Vásquez, dem Arzt Benavides und dem Verschwörungstheoretiker Carballos wird zum roten Faden im komplexen Geflecht von realen und fiktiven Detektivgeschichten.

Die Gestalt der Ruinen, drei Jahre nach dem Erscheinen nun auf Deutsch übersetzt, ist meisterlich geschrieben. Mit journalistischem Stil nimmt Vásquez mal die Perspektive des Schriftstellers, mal die des Historikers, des Kriminologen oder die seiner Zeug*innen ein. Im stetigen Wechsel der Erzählperspektiven führt der Autor die Leser*innen im zweiten Teil des Romans zurück in die Vergangenheit, an einen Tag im Jahr 1914, als Rafael Uribe Uribe, General und Politiker der Liberalen Partei, getötet wurde – ein weiterer angekündigter Tod in der kolumbianische Politik mit viel verschwörungstheoretischem Potenzial.

„In dem Roman habe ich versucht, mich mit einer meiner Sorgen auseinanderzusetzen, nämlich der, dass wir Kolumbianer die Verbrechen vererben, die Gewalt in unserem Leben”, sagte Vásquez weiter im Interview mit El País. Sein Vorhaben gelingt ihm: Der erzählte Weg dorthin macht den Roman höchst aktuell und sehr lesenswert.

„MEXIKANISIERUNG DER SICHERHEITSLAGE“

Statt Liberalisierung des Waffengesetzes Feuerwaffen zu Stahlschrott (Foto: Agência Brasil CC BY 2.0)

Viele brasilianische Städte durchleben derzeit eine Welle der Gewalt. Wie erklären Sie das?
Als Erstes muss gesagt werden: Was momentan in Brasilien passiert, ist keine neue Tendenz. In den vergangenen 30 Jahren ist die Gewalt stetig angestiegen. Das zeigt sich vor allem am Zuwachs der Mordrate. Was neu ist, ist die extreme Gewalt in den Gefängnissen. Wir haben lange die Ursachen erforscht, sind jedoch zu keinem Konsens gekommen. Aber: Es ist sehr wahrscheinlich, dass das sozioökonomische Profil Brasiliens Einfluss auf die Gewalt hat. Brasilien ist eine reiche Nation mit einer sehr hohen Anzahl von Armen. Der Reichtum ist extrem ungleich verteilt. Was die Gewalt zudem stark angetrieben hat, ist die Politik der Masseninhaftierung. Arme Viertel werden von der Polizei belagert und Jugendliche, die mit kleinen Mengen Drogen erwischt werden, landen im Gefängnis. Viele schließen sich erst dort dem organisierten Verbrechen an. Die aktuelle Sicherheitspolitik stärkt die Präsenz der Kartelle und heizt ihre Kämpfe um die Vorherrschaft sogar noch an.

Welche Rolle spielen die Veränderungen des organisierten Verbrechens?
Es gibt eine neue Ökonomie des Verbrechens vor allem im Bereich des Drogenhandels. Man kann von einer Globalisierung sprechen, die fast alle Kontinente betrifft. Brasilien hat eine riesige Grenze und es haben sich verschiedene Profile des organisierten Verbrechens entlang dieser Grenze entwickelt. Das macht die Situation sehr kompliziert. Meine These ist: Das organisierte Verbrechen hat sich verändert, aber das brasilianische Strafsystem ist das Gleiche geblieben.

Im Norden und Nordosten explodiert die Gewalt. In São Paulo geht die Mordrate zurück. Warum?
Die Banden aus São Paulo und Rio de Janeiro sind in den Norden und Nordosten expandiert. Sie sind immer aktiver in den Grenzregionen und kämpfen um die Kontrolle von Territorien. Was dort derzeit passiert, ist in São Paulo bereits vor Jahren geschehen: Das PCC (Erstes Hauptstadt-kommando, Anm. d. Red.) erkämpfte sich in den 1990er Jahren zuerst das Monopol in den Gefängnissen. Bald überschritt das Kartell die Gefängnismauern und heute kontrolliert es einen Großteil der armen Stadtteile von São Paulo. Das PCC hat dort fast die absolute Macht und hat Regeln des Zusammenlebens etabliert: So darf man beispielsweise nicht mehr ohne ihre Autorisierung töten. Deshalb ist es mittlerweile in São Paulo relativ ruhig geworden. Einige Menschen sagen sogar, dass das PCC in ihren Vierteln den Frieden gebracht habe. Diese Stärke bedeutet auch, dass es sich beim PCC nicht nur um eine einfache Gruppe von Kriminellen handelt, die man kontrollieren könnte. Es würde vielleicht zu weit gehen, bereits von Strukturen wie bei der italienischen Mafia zu sprechen, aber es hat eine enorme Professionalisierung stattgefunden. Wenn man sich ihre im Zuge von Ermittlungen veröffentlichte Buchhaltung anschaut, sieht man, dass das keine Amateure sind.

Ist Brasilien auf dem besten Weg dahin, ein „Narcostaat“ wie Mexiko zu werden?
Nein, ich denke, bis jetzt gibt es dafür noch keine Anzeichen. In Brasilien ist die Präsenz des organisierten Verbrechens im Staat noch relativ gering. Es ist noch kein Szenario, in dem der Staat komplett die Kontrolle über die Sicherheit verloren hat. Die Geschichte von Staaten wie Mexiko ist ganz anders. Brasilien ist noch nicht bei diesem Szenario angelangt. Aber man sollte nicht denken, dass sich das nicht bald ändern könnte. Studien von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen zeigen, dass Verbindungen zwischen Staat und organisiertem Verbrechen existieren. Es gibt eine starke Tendenz des Kontrollverlusts und die Gefahr einer Mexikanisierung der Sicherheitslage.

Der Staat reagiert mit einer Politik der harten Hand. Immer mehr Polizist*innen werden eingesetzt, der Kongress diskutiert im Moment die Liberalisierung der Waffengesetze, neue Gefägnisse sollen gebaut werden. Lassen sich auf diese Weise die Probleme lösen?
Auf keinen Fall. Wenn man immer mehr Jugendliche ins Gefängnis wirft, sorgt man dafür, dass der Gewaltmechanismus angetrieben wird. Und mit Gewalt wird man den Rachekreislauf nur weiter in Gang setzen. Das wird noch mehr Opfer zur Folge haben.

DIE WUNDE BLEIBT OFFEN

Foto: Policía Nacional de los Colombianos (CC BY-SA 2.0)

Feuchte, fast undurchdringliche Regenwälder bedecken die westliche Bergkette der kolumbianischen Anden. Wie eine Mauer trennen sie das Landesinnere von der 2.000 Kilometer langen pazifischen Küste. Hier dauert der bewaffnete Konflikt auch ein Jahr nach der Ratifizierung des Friedensabkommens zwischen der Regierung und den Bewaffneten Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) weiter an. Im Südwesten des Verwaltungsbezirks Nariño, nahe der ecuadorianischen Grenze, werden auf fast 25.000 Hektar Kokapflanzen angebaut. In der Hafenstadt Tumaco, der sogenannten Perle am Pazifik, werden mindestens 16 Prozent der jährlichen Kokainproduktion umgeschlagen. Von hier aus werden die Drogen auf kleinen Booten nach Zentralamerika und von dort aus in die USA und weiter nach Europa geschmuggelt.

Hier, im Gebiet der Afro-Gemeinde Alto Mira und Frontera, starben am 5. Oktober mindestens sieben Kokabauern bei einer Demontration. Der genaue Tathergang ist weiterhin unklar. Laut Aussagen der Demonstrierenden wollten mindestens 1.500 Bäuer*innen die Zwangsvernichtung ihrer Kokaplantagen durch die Truppen von Polizei und Armee verhindern. Zeug*innen berichteten, dass Einheiten der Armee wahllos auf die Menge geschossen hätten. Neben den sieben Toten wurden mindestens 19 weitere Menschen verletzt.

„Wir haben Angst. Die Armee und die Polizei sollen uns doch vor Terroristen schützen und nicht auf uns schießen“

„Wir haben Angst. Die Armee und die Polizei sollen uns doch vor Terroristen schützen und nicht auf uns schießen“, sagte eine Zeugin bei einem Gespräch mit dem Vizepräsident Oscar Naranjo. „Jahrelang lebten wir in Angst vor bewaffneten Gruppen, erst den FARC, dann den Paramilitärs, dann wieder Kleinkriminelle, und jetzt schießt auch noch die Polizei auf uns“, erzählte sie weiter.

Unmittelbar nach den Vorfällen machte die kolumbianische Regierung Dissident*innen der FARC für die Eskalation in Alto Mira verantwortlich. Die Polizei gab an, diese hätten fünf Sprengsätze in die Menge geworfen.
Der Wochenzeitschrift Semana zufolge sagten Gemeindemitglieder gegenüber dem kolumbianischen Ombudsmann aus, dass Teile der Truppen von Polizei und Militär versucht hätte, Spuren am Ort des Geschehens zu beseitigen. Drei Tage nach den Vorfällen verweigerte die Polizei der Aufklärungskommission der Vereinten Nationen, Abgeordneten des Bistums Tumacos und Vertreter*innen der Zivilgesellschaft mit Warnschüssen und Tränengas den Zugang zu dem betroffenen Gebiet.

Laut einer vorläufigen Studie der Gerichtsmedizin wurden die Toten und Verletzten von Patronen eines Kalibers getroffen, dass ausschließlich von der Polizei und Armee benutzt wird. Ob die Soldat*innen tatsächlich geschossen haben, ist aber weiterhin unklar. Zum Einen ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des Diebstahls von vierzehn Gewehren diesen Typs in dem Gebiet. Außerdem entsprechen die ermittelten Schussbahnen nicht der Position der staatlichen Truppen. Vielmehr ergab die vorläufige ballistische Analyse, dass die Bäuer*innen von hinten getroffen wurden.

In Tumaco spitzt sich die Situation seit Beginn des Jahres immer weiter zu. Hier ist die staatliche strukturelle Vernachlässigung historisch, unzählige kriminelle und paramilitärische Gruppierungen operieren in dem Gebiet. Seit Januar kam es mehrfach bei Demonstrationen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Kokabäuer*innen und Einheiten der mobilen Aufstandsbekämpfungseinheit (ESMAD). Immer wieder blockierten Kokabäuer*innen die einzige Verbindungsstraße zwischen Tumaco und Pasto, der Hauptstadt des Verwaltungsbezirks.

Die Anführer*innen der Gemeinde von Alto Mira und Frontera beklagen die bedrohliche Lage der Koka-Bäuer*innen in der Region, in der es zahlenmäßig die meisten Kokaplantagen in Kolumbien gibt.
Aus dem Protokoll eines Treffens zwischen Regierungsvertreter*innen und der Afro-Gemeinde in Alto Mira, das dem Onlineportal Verdad Abierta vorliegt, geht hervor, dass Mitte September eine unbekannte bewaffnete Gruppe die Kokabäuer*innen mit dem Tode bedroht haben soll, um sie als menschliche Schutzschilde zu benutzen und so das Eindringen der kolumbianischen Armee in Alto Mira zu verhindern.

Die lokalen Gemeindeführer*innen werden immer wieder zur Zielscheibe krimineller Gruppen. Der Aktivist José Jair Cortés etwa wurde am 17. Oktober tot aufgefunden – obwohl er unter dem Schutz des nationalen Programms für gefährdete Personen stand. Zuvor hatte er die Vorfälle in Alto Mira öffentlich gemacht.
Es war ein angekündigter Mord – und doch nur eine traurige Schlagzeile von vielen. Die Liste der gewaltsamen Auseinandersetzungen in Tumaco ist denkbar lang. Allein in diesem Jahr wurden in der Hafenstadt und den umliegenden ländlichen Regionen mindestens 150 Menschen ermordet.

„Die Kampagne der Regierung für die Vernichtung von Koka-Pflanzen zielt auf industrielle Anbauflächen, von denen wir wissen, dass illegale Gruppierungen von diesen Aktivitäten profitieren“, rechtfertigte der Polizeichef von Tumaco, Jorge Hernando Nieto Rojas, im Juni die Zwangsvernichtung von Kokaplantagen. Das Friedensforschungsinstitut Indepaz erklärt jedoch in einem Ende Oktober veröffentlichten Bericht, dass keine klare Differenzierung zwischen industriellen Kokaplantagen und kleineren Produzenten erkennbar sei.

Das Programm für die Ersatzbewirtschaftung von Anbauflächen illegaler Nutzung, sieht vor, dass die manuelle Vernichtung von Kokaanbauflächen mit den Gemeinden abgestimmt werden muss.

Das Programm für die Ersatzbewirtschaftung von Anbauflächen illegaler Nutzung (PNIS), das in dem Friedensvertrag zwischen FARC und Regierung festgehalten ist, sieht vor, dass die manuelle Vernichtung von Kokaanbauflächen mit den Gemeinden abgestimmt werden muss. Zudem sollen die Bäuer*innen für ein Jahr Lebensmittelhilfen erhalten und beim Anbau ertragreicher Alternativprodukte unterstützt werden. Darüber hinaus hat sich die Regierung verpflichtet, die dringend notwendige Infrastruktur zu schaffen, um den bis jetzt nahezu unmöglichen Transport legal angebauter Feldfrüchte überhaupt zu ermöglichen.

Der kolumbianische Arbeitsminister Rafael Fajaro berichtete gegenüber Indepaz, dass bis Oktober bereits mit über 90.000 Familien Verträge geschlossen worden seien. Diese hätten sich verpflichtet, 76.000 Hektar Kokapflanzungen innerhalb von 60 Tagen durch andere Feldprodukte zu ersetzen.

Juan Manuel Santos kündigte im März an, bis Ende des Jahres mindestens 100.000 Hektar Kokapflanzungen vernichten zu wollen, was etwa der Hälfte der gesamten Pflanzungen entspricht. Dabei sollen 50 Prozent der Flächen durch staatliche Sicherheitskräfte und 50 Prozent im Rahmen des PNIS zerstört werden. Diese Pläne gefährden jedoch einen möglichen Frieden in den betroffenen Regionen – besonders wenn man bedenkt, dass der Staat viele dieser Gebiete nun zum ersten Mal überhaupt betritt.

Tumaco etwa ist eine Region, die zahlreiche Binnenflüchtlinge aus dem Inneren des Landes aufnahm. Vielen Bäuer*innen bleibt schon allein auf Grund der mangelnden Infrastruktur und Verkehrswege kaum eine Alternative zum lukrativen Kokaanbau. Die Not ist hier ein Dauerzustand: Die Wasserversorgung ist ebenso prekär wie die medizinische und schulische Versorgung (siehe LN 486).

Ende Oktober besuchte Juan Manuel Santos Tumaco, um die neue Antwort der Regierung auf die heikle Sicherheitslage für die Region zu verkünden. Im Rahmen der Operation Atlas sollen 9.000 Soldaten, Polizisten und die Marine „spezifische Pläne in Kampf gegen das Verbrechen und Kriminalität“ führen, erklärte der Präsident. Die Operation, die bereits am Anfang des Jahres begann, zeigte bislang offenbar wenig Effekt. Zudem wird sie zu einer weiteren Militarisierung führen, die dem Friedensabkommen mit den FARC widerspricht, das Vertrauen der Landbevölkerung untergräbt und bereits in ähnlichen Konfliktregionen scheiterte.
Der Rückzug der FARC aus ihren historisch kontrollierten Gebieten und das Erstarken paramilitärischer Gruppierungen ließ die Anzahl der Kokaplantagen in den vergangenen drei Jahren um 130 Prozent ansteigen. Mit etwa 180.000 Hektar Kokapflanzungen ist Kolumbien laut einem Bericht der US-amerikanischen Anti-Drogen-Behörde (DEA) weiterhin Spitzenreiter beim Export von Kokain.

In Zeiten des Friedens steht Kolumbien nun massiv unter Druck ein Produkt zu bekämpfen, dessen Profitrate sich kaum ersetzen lässt. Der Drogenkrieg ist offensichtlich gescheitert. Dennoch forderten die USA im Frühjahr eine Verschärfung des Kampfes gegen die Drogen und damit eine weitere Eskalation des Konflikts. Andernfalls drohte die US-Regierung an, die Mittel für den sogenannten Plan Colombia zu kürzen.

15 Jahre nach der Implementierung des Plan Colombia zur Bekämpfung von Drogenkriminalität ist die Bilanz jedoch tragisch. Zwar wurden das Militär modernisiert und die verschiedenen Guerillas massiv bekämpft. Doch die Gewalt tobte, die Kokaproduktion gedieh weiter. Nun richteten die Vereinten Nationen einen Fond über 270 Millionen Euro für die im Vertrag vorgesehenen Pläne ein. Doch ohne eine radikale Aufarbeitung der internationalen Drogenbekäm-pfung bleibt abzuwarten, ob dieser Kampf gewonnen werden kann.

„Wenn wir nicht gegen den Drogenhandel vorgehen, werden uns die Kartelle den Friedensprozess entreißen. Kolumbien droht ein neuer Teufelskreis der Gewalt“, sagte der Generalstaatsanwalt Kolumbiens, Humberto Nesto Martinez, der Zeitung El Tiempo. In den vermeintlichen Zeiten des Friedens ist der Drogenhandel eine offene Wunde in der kolumbianischen Geschichte.

 

ZWISCHEN TRAUM UND TRAUMA

Der Psychiater, die Nonnen, ihr Vater: Alle haben für Margarita einiges an Zuschreibungen parat. Ein pathologischer Fall sei sie, eine neurotische Nymphomanin, neurologisch geschädigt, erkrankt an Anorexie, Bulimie, Soziopathie, Hysterie und Legasthenie. An Letzterem stört sie sich am meisten. „Falsch, ich habe überhaupt kein Problem mit dem Lesen oder dem Leseverständnis, ich bin auch keine zwanghafte Lügnerin, wie die Direktorin sagt, ich gebe der Wirklichkeit einfach einen Hauch Kunst. Wie langweilig wäre sie, wenn niemand sie phantastisch machte…“
Die Mexikanerin Lucero Alanís hat die Geschichte der Erzählerin laut Übersetzerin Christiane Quandt aus den Aussagen verschiedener Frauen geformt. Margarita ist tatsächlich sehr viel auf einmal und lebt in vielen Welten gleichzeitig. Sie ist Zwillingsschwester, die gewaltsam von ihrem Gegenpart getrennt wurde, Tochter eines übergriffigen Vaters und einer misshandelten Mutter, rebellische Klosterschülerin, missverstandene Patientin, außergewöhnliche Künstlerin und Traumwandlerin.

Die collagenhafte, in poetischer Prosa verfasste Ich-Erzählung findet auf verschiedenen zeitlichen und räumlichen Ebenen statt, die nicht klar voneinander zu trennen sind. Da ist die Psychiatrie, da ist die Klosterschule, in der Margarita alternative Versionen biblischer Szenen in den Sekretär der Oberin kerbt und wo mit ihr gar ein Exorzismus durchgeführt wird. Und da ist das Elternhaus, in dem ihre Zwillingsschwester wegen ihrer blonden Haare und der blauen Augen bevorzugt wird, so sehr, dass der Vater beschließt sich seine eigene Tochter zur Frau zu nehmen, während Margarita als Hausmädchen fungiert und nicht mit am Tisch essen darf, da ihr Anblick dem Vater schlechte Laune bereitet.

Diese Aneinanderreihung von Klischees über Rassismus, Sexismus und das Trauma sexueller Gewalt im engsten Familienkreise ist keineswegs plump. Im Gegenteil sind Margaritas Worte von grausamer Aktualität: „Pater Tarsicio hat mir nämlich immer gesagt, alles werde uns aus Liebe verziehen, wie die Liebe, die er angeblich für mich fühlt, wenn er mich in die Sakristei führt und ich weglaufe und es den Schwestern erzähle und sie sich empören und mir niemand glaubt und ich am Schluss diejenige bin, die ihn gereizt hat.“ Die Angewohnheit, Opfer sexueller Gewalt in Täterinnen zu verwandeln, ist noch immer eine ganz normale gesellschaftliche Praxis. Ganz im Sinne der kruden Logik des „Irgendwas wird sie schon gemacht haben“ wird Frauen die biblisch verankerte Rolle der rücksichtslosen Verführerin aufgezwungen.

Margarita setzt sich viel mit männlichen „Wahrheiten“ über Weiblichkeit auseinander. Wenn auch ihr Tonfall naiv scheint, sind es ihre Handlungen keineswegs. Sie nimmt die Rolle der Liebhaberin an, wenn sie sich mit dem Klostergärtner vergnügt und verfällt nie in Selbstmitleid, sondern rechnet stattdessen knallhart mit der Scheinheiligkeit derjenigen ab, die eigentlich für ihr Wohlbefinden verantwortlich sein sollten. Der beklemmenden Atmosphäre ihrer Käfige entflieht Margarita, indem sie sich eine bunte und zauberhafte Welt erträumt, in der weiße Kaninchen, grüne Hunde und ein Pegasus ihre Freunde sind. Sie spielt mit der Zeit, bewahrt ihre Jahre in einer Schublade auf, und mit der Sprache, versteckt die Betonung ihr verhasster Worte zwischen den Laken und schert sich nicht um Syntax. Die Übersetzung meistert diese sprachlichen Eigenheiten der Erzählerin im Übrigen souverän.

Auf den ersten Blick ist Margaritas Geschichte die eines gescheiterten weiblichen Widerstands, schließlich ist sie Gefangene in einer Psychiatrie, ihr Leben ist von Verlusten und Isolation geprägt. Doch die Traumausflüge in eine Welt der Selbstbestimmung und des Glücks sind ihre persönliche Form der Ermächtigung, die das Ausmaß und die Wucht des Traumas zumindest manchmal in Zaum hält.

HÜGEL IM KREUZFEUER

Foto: Fernando Frazão/ Agência Brasil (CC BY 2.0)

Rocinha ist auch über die Grenzen von Rio de Janeiro bekannt. Mit rund 70.000 Einwohner*innen ist Rocinha, laut dem Zensus des Statistikinstituts IBGE, die größte Favela von Rio de Janeiro. Die Gemeinde, wie die Bewohner*innen ihr Viertel nennen, liegt im Stadtteil São Conrado zwischen der schicken Südzone und dem westlich gelegenen Bezirk Barra da Tijuca. Aufgrund seiner strategischen Lage ist Rocinha einer der Hauptumschlagplätze für Drogen in der cidade maravilhosa („Wunderbare Stadt“). Lange war es ruhig in Rocinha. Die Gemeinde galt es eine der sichersten Favelas der ganzen Stadt. Die bunten Häuser und steilen Gassen wurden sogar zu einer Tourist*innenattraktion. Seit Mitte September liefern sich jedoch Drogenhändler*innen heftige Kämpfe um die Kontrolle von Rocinha. Es herrschte für mehrere Tage Ausnahmezustand. Es kam zu heftigen Gefechten, bei denen mehrere Menschen starben. An einen Alltag war nicht zu denken: Schulen blieben geschlossen, Straßen leer, Bewohner*innen in Angst. Nach erbitterten Kämpfen rückten am 22. September Polizei und Militär in die Gemeinde vor. Die Bilder des martialischen Militäreinsatzes gingen um die Welt. Aber wie konnte eine der sichersten Gemeinden der Stadt ins Chaos stürzen?

Persönliche Streits als auch Konflikte zwischen verfeindeten Drogengangs sind Auslöser der aktuellen Krise. Die Auseinandersetzungen gehen auf das Jahr 2011 zurück. In diesem Jahr wurde Antônio Francisco Bonfim Lopes, besser bekannt als Nem von Rocinha, verhaftet. Nems ehemalige rechte Hand und Ex-Leibwächter, Rogério Avelino da Silva, auch Rogério 157 genannt, übernahm die Kontrolle über Rocinha. Nem missfiel die Übernahme seines ehemaligen Untergebenen. So übte Nem weiterhin die Kontrolle über den Drogenhandel in Rocinha aus – obwohl er in einem Hochsicherheitsgefängnis in Porto Velho im nordwestlichen Bundesstaat Rondônia sitzt. Die Bundespolizei fand heraus, dass Nem im Jahr 2014 den Befehl gab Rogério 157 aus Rocinha zu vertreiben – allerdings ohne Erfolg. So wuchsen in den folgenden Jahren die Spannungen zwischen den beiden Männern. Im Jahr 2015 lieferten sich Verbündete von Nem und Rogério 157 nach einem Missverständnis einen Schusswechsel. Vier „Krieger“ von Nem wurden angeschossen und mussten im Krankenhaus be-handelt werden. Eine Person spielt eine bes-ondere Rolle in dem Konflikt: Danúbia de Souza Rangel, die Frau von Nem. Sie führte lange Zeit Befehle aus, die ihr Mann ihr bei Gefängnisbesuchen übermittelte. Sie engagierte eigene Leibwächter und strahlte immer mehr Autorität in Rocinha aus. Bald war sie als „Sherif von Rocinha“ bekannt. Laut dem britischen Journalisten und Experten für organisierte Kriminalität Misha Glenny, der die Biographie von Nem schrieb, wurde Rangel eine der zentralen Protagonist*innen des Machtkampfes: „Es gab interne Konflikte. Danúbia wollte mehr Macht und die Gemeinde war gespalten zwischen ihr und Rogério“. Allerdings vertrieb Rogério 157 Rangel aus Rocinha im Zuge der jüngsten Auseiandersetzungen. Die 33-Jährige floh in eine Favela in den Norden der Stadt, wurde dort aber am 10. Oktober von der Polizei verhaftet. Gegen Rangel lief ein Haftbefehl wegen Drogenhandel, Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und Korruption.

Rogério 157 büßte in jüngster Zeit immer mehr an Popularität ein. Der Grund: Er erhob Steuern auf Dienstleistungen wie Motorradtaxis und die Gasverteilung. Allein mit den Steuern auf die Motorradtaxis machte er einen monatlichen Umsatz von umgerechnet rund 27.000 Euro. Im Interview mit der Nachrichtenseite UOL erklärt der Carlos Eduardo Thome, Polizist bei der Drogenbekämpfungseinheit DER: „Die Daten zeigen, dass Nem sehr unzufrieden mit Rogérios Steuereintreibungen von Bewohnern und Motorradtaxis war. Wenn ein Motorradtaxifahrer nicht die fälligen Steuern zahlte, ließ er die Motorräder zerstören. Er hat die Menschen der Gemeinde erpresst“.

Die Auseinandersetzung zwischen verfeindeten Drogenbanden, die in der ganzen Stadt toben, haben auch längst Rocinha erfasst.

Die Auseinandersetzung zwischen verfeindeten Drogenbanden, die in der ganzen Stadt toben, haben auch längst Rocinha erfasst. Auch interne Konflikte im Kartell der Amigos dos Amigos (ADA; Freunde der Freunde), dem sowohl Nem als auch Rogério 157 angehörten, haben zu der Eskalation beigetragen. Laut Presseberichten hatte Rogério 157 bereits im Jahr 2014 versucht, sich vom ADA loszusagen und sich erfolglos dem Terceiro Comando Puro (Pures Drittes Kommando; TCP) anzunähern.

Im Jahr 2016 zerbrach die historische Allianz zwischen dem Primeiro Comando da Capital (PCC; Erstes Hauptstadtkommando) aus São Paulo und dem Comando Vermelho (CV; Rotes Kommando) aus Rio de Janeiro. Nach dem Ende dieser Zweckehe verbündete sich die ADA, Erzfeind des CV, mit dem PCC. Dies führte zum Zerwürfnis in Rocinha: Während Nem und andere Führer des ADA die Allianz mit dem mächtigen Kartell aus São Paulo befürworteten, versuchte Rogério 157, sich mit einem der ADA-Chefs zusammenzuschließen, der gegen das Bündnis war. Ziel war es, die Kontrolle über Rocinha zu erhalten – ohne Nem.

Am 13. August wurden drei Verbündete von Nem tot in einem Auto aufgefunden. Die Vermutung: Rogério 157 hatte zum Präventivschlag ausgeholt, um seine Entmachtung abzuwenden. Nun ging der Konflikt erst richtig los. Ende August stellte Nem seinem Widersacher Rogério 157 ein Ultimatum. Die Forderung: Rogério 157 habe Rochinha zu verlassen. Dieser weigerte sich und ging sogar noch weiter. Die Männer von Rogério 157 vertrieben mehrere Verbündete von Nem aus der Gemeinde. Daraufhin beschloss die Führung der ADA, eine Aktion vorzubereiten, um endgültig die Kontrolle über den Drogenhandel in Rocinha zurückzugewinnen. Im BBC-Interview sagt der Experte Glenny, dass es gut möglich sei, dass Nem nicht direkt hinter dieser Entscheidung stehe. Der 17. September wurde als Tag für die Invasion gewählt. 60 Personen aus den Favelas São Carlos im Zentrum und Vila Vintém im Osten stürmten schwer bewaffnet den Hügel. Allein am ersten Tag starben drei Personen, drei weitere wurden verletzt. Ein schwarzer Tag für Rocinha.

In der Presse kursierten Gerüchte darüber, dass Rogério 157 sich mittlerweile dem CV angeschlossen habe. Grund für die Spekulationen: Nach der Polizeioperation flohen 200 seiner Gefolgsleute in den Tijuca-Wald und von dort in sechs Gemeinden, in denen die CV regiert. Die Bundespolizei bestätigte, dass Rogério 157 mit der ADA gebrochen hat. Mittlerweile belegen auch abgehörte Aufzeichnungen den Wechsel von Rogério 157 zur CV.
Der Gouverneur von Rio de Janeiro, Luiz Fernando Pezão von der Mitte-Rechts-Partei PMDB, äußerte sich erstmals am 17. September zu den Ereignissen in Rocinha. Er forderte, dass vorerst weder Polizei noch Militär, die sich bereits seit August im Alarmzustand befanden, intervenieren sollten. Zivile Opfer und Probleme bei Ablauf des weltbekannten „Rock in Rio“-Festivals müssten auf jeden Fall verhindert werden, so Pezão. „Ich wurde von Wolney (Dias, Kommandant der Militärpolizei) und (Roberto) Sá (Sicherheitssekretär) informiert und habe um große Vorsicht gebeten. Ich kenne Rocinha gut. Am Sonntag sind immer die meisten Menschen auf der Straße. Wenn wir reagieren, bedeutet das Krieg, in dem viele Unschuldige sterben. Man muss den richtigen Moment abwarten. Sollte das wirklich zur Zeit von ,Rock in Rio` sein?“.

Ab dem 22. September eskalierte die Lage völlig.

Ab dem 22. September eskalierte die Lage völlig. Die Militärpolizei führte Haftbefehle gegen mehrere Kriminelle aus. Am Samstag wurden neun Personen festgenommen und 18 Gewehre beschlagnahmt. Drei Verdächtige wurden getötet, ein junger Mann verletzt. Am gleichen Tag erklärte Verteidigungsminister Raul Jungmann, 950 Soldat*innen nach Rocinha zu schicken, um den Verkehr rund um Rocinha zu sichern. Zudem wurde die Gemeinde großräumig von Soldat*innen umstellt, um Kriminelle daran zu hindern zu fliehen. Trotzdem ist es mehreren Verdächtigen gelungen, in den nahegelegenen Tijuca-Wald zu türmen – in eine Fläche von 4.000 Hektar zwischen dem Süd- und Nordteil der Stadt. So hat sich das Problem in auch andere Teile der Stadt verlagert.

Die Dominanz des Drogenhandels und die jüngsten Konflikte stehen symbolisch für das Scheitern des Sicherheitsmodells von Rio de Janeiro. Im Jahr 2008 begann die Regierung damit, in verschiedenen Favelas Stationen der Befriedigungspolizei UPP einzurichten – so auch in Rocinha. Ursprüngliche Idee des UPP-Modells war es, eine bürgernahe Polizei zu schaffen und freundschaftliche Beziehungen zu den Bewohner*innen aufzubauen. Wie in anderen Teilen von Rio de Janeiro war die Freundschaft auch in Rocinha schnell vorbei. Dies habe der UPP nachhaltig geschadet, analysiert Ignacio Cano, Mitglied des Forschungsinstituts zu Gewalt der Bundesstaatlichen Universität von Rio de Janeiro (Uerj). Im Jahr 2013 sorgte ein Fall in Rocinha für weltweite Schlagzeichen: Der Maurer-gehilfe Amarildo de Souza verschwand, nachdem er von UPP-Polizisten festgenommen wurde. Der Fall wurde zum Symbol für die grassierende Polizeigewalt und löste weltweit Proteste aus. Im November wurden 70 Polizist*innen der UPP ausgetauscht. Das angeschlagene Image der Truppe sollte verbessert werden.

Die Probleme der Polizei werden durch die derzeitige schwere Wirtschaftskrise verschärft. Rio de Janeiro hat ein Haushaltsdefizit von umgerechnet rund 5,6 Milliarden Euro. Boni für Polizist*innen wurden abgeschafft und die Regierung hat es versäumt, die freiwerdenden Stellen neu zu besetzen. Dies hat zu einem Rückgang von 3.000 Polizist*innen in fünf Jahren geführt. Auch Überstunden wurden seit langer Zeit nicht mehr bezahlt. Im August 2017 wurden die Mittel für die UPP um 30 Prozent gekürzt. Laut der Analyse des Wissenschaftlers Cano habe die wirtschaftliche Flaute auch zu einer Schwächung des Staates geführt. Dies führe wiederum dazu, dass immer mehr Menschen ihre Wege auf dem illegalen Markt suchen. Die Überfall- und Mordrate hat in letzter Zeit stark zugenommen, auch von Polizist*innen. Die erbitterten Territorialkämpfe sind eine Folge davon – die Gewalt in Rocinha ist die blutige Spitze des Eisbergs.

Ende Juli unterzeichnete Präsident Michel Temer ein Dekret, dass den Einsatz von bewaffneten Streitkräften in Rio de Janeiro erlaubt. Angehörige der Armee, Marine und Luftwaffe übernehmen im Bundesstaat von Rio de Janeiro nun zum Teil die Aufgaben der Polizei. Laut dem Dekret kann die Armee bis zum 31. Dezember auf den Straßen von Rio de Janeiro bleiben. Der Präsident ließ allerdings durchblicken, dass der Einsatz bis Ende 2018 verlängert werden könnte. Insgesamt wurden 8.500 Soldat*innen der Armee, sowie 620 Männer des Bundesheeres und der Bundesstraßenpolizei im ganzen Bundesstaat Rio de Janeiro mobilisiert. Der Fokus dieses Einsatzes liegt in der Metropolregion Rio de Janeiro. Teile dieses Heeres waren auch an der Besetzung von Rocinha beteiligt.

Diese Mobilisierung kostet umgerechnet rund 186 Millionen Euro bis zum Ende von 2017. Ein Gefühl von Sicherheit soll vermittelt werden. Auch will die Regierung zeigen, dass sie handelt. Die Gewalt in Rio de Janeiro wird so allerdings nicht gelöst. „Auf lange Sicht wird die Präsenz der Militärs nicht die Probleme lösen“, sagt Cano. Auch die Anthropologin Jacqueline Muniz vom Department für Öffentliche Sicherheit an der Bundesstaatlichen Universität von Fluminense meint: „Alle Regierungen, von Fernando Henrique, Lula oder Dilma, haben in einem Moment ihrer Amtszeiten das Militär mobilisiert. Dies dient dazu, Legitimität zu erreichen und von anderen Problemen abzulenken.“ Die Konflikte in Rio de Janeiro geschehen in politisch stürmischen Zeiten: Gegen Gouverneur Pezão laufen Ermittlungen, die in seinen Job kosten könnten. Präsident Temer hat mit nur fünf Prozent Zustimmung die schlechtesten Umfragewerte in der Geschichte Brasiliens. Gegen den 77-Jährigen laufen mehrere Verfahren.

 

Dieser Artikel erschien zuerst in der brasilianischen Onlinezeitung Nexo.

NICHT MAL MEHR DER CAMPUS

Am Mittwoch, den 3. Mai wird der leblose Körper von Lesby Osorio gefunden. Frau, 22 Jahre alt, um den Hals an einer Telefonzelle festgebunden und in den Händen etwas, das nach einem Hundehalsband aussieht. Nichts scheint hier auf den ersten Blick zu stimmen. Doch im Mexiko des Jahres 2017 hätte es nicht weiter für Aufmerksamkeit gesorgt – nur ein weiterer Mord, Alltag – wäre da nicht ein entscheidendes Detail gewesen: Die Leiche von Lesby Osorio wurde auf dem Campus der Nationalen Autonomen Universität Mexikos (UNAM) in Mexiko-Stadt gefunden, einer der bedeutendsten akademischen Einrichtungen des Landes und Lateinamerikas.
Stunden später kommen erste Details ans Licht. Die Staatsanwaltschaft (PGJ) von Mexiko-Stadt veröffentlichte auf ihrem Twitter-Account etliche Kommentare, unter denen einer besonders auffiel: „Am Tag der Tat traf sich das Pärchen mit Freunden auf dem Campus, wo sie Alkohol tranken und Drogen nahmen“. In weiteren Tweets gab sie kund, dass Osorio ihr Studium aufgegeben hätte und bei ihrem unverheirateten Partner, einem Verwaltungsangestellten, wohnen würde. Von der Ermittlung, dem Einsatz oder gar der geschlechtsbezogenen Gewalt – nicht ein einziges Wort. Die für die Ermittlungen verantwortliche Behörde hielt es also für relevant, Details aus dem Privatleben des Opfers zu veröffentlichen, so als ob dies die Tat rechtfertigen und davon befreien würde, Antworten auf die Fragen zum tatsächlichen Tatmotiv zu liefern.

Zornig reagierten feministische Gruppen und hunderte Demonstrant*innen: „¡Ni una menos!“ – Nicht eine weniger!“

Jede Information, die öffentlich wurde, gab genug Gründe für eine Demonstration auf dem Universitätscampus. Zornig reagierten feministische Gruppen, unterstützt von weiteren Kollektiven und hunderten Demonstrant*innen, auf die Berichte der Staatsanwaltschaft: „¡Ni una menos!“ – Nicht eine weniger!“ Am häufigsten skandierten die Aktivist*innen „Staatsverbrechen“ und „Weil sie Frau war, wurde sie ermordet“. Der Protestmarsch endete am Tatort mit der Forderung, das Protokoll für Frauenmorde anzuwenden. Auch wurden die Behörden dafür kritisiert, irrelevante Informationen aus dem Privatleben des Opfers verbreitet zu haben. Letzteres war für die Studierenden und Online-Kommentator*innen ein eindeutiges Beispiel von Opferbeschuldigung. Die Sicherheit könne generell nicht von Überwachungskameras und Waggons nur für Frauen in der U-Bahn abhängen. Stattdessen forderten sie die Aufdeckung und das Ende derjenigen Machtnetzwerke, welche die Täter vor ihrer Strafe schützen und transparente Ermittlungen verhindern würden.

Nachdem auch öffentlich mehrere Institutionen der Universität als Orte der ständigen sexuellen Belästigung beschuldigt wurden, wo patriarchale Strukturen die geschlechtsbezogene Gewalt verharmlosen würden, kam der Bewegung teils heftige Gegenkritik aus den sozialen Netzwerken entgegen. Andere Studierende griffen die Demonstrierenden verbal als „Feminazis“ und „Übertreibende“ an.

Diese diffamierenden Aussagen beweisen die institutionelle Gewalt, die in Mexiko vorherrscht.

Diese diffamierenden Aussagen wie auch die erste Reaktion der Staatsanwaltschaft beweisen die institutionelle Gewalt, die in Mexiko vorherrscht. Frauen, welche die angeblich „geltenden“ Geschlechtsstereotype überwinden möchten, werden für die Gewalt selbst verantwortlich gemacht, der sie ausgesetzt sind. Die Opferbeschuldigung misst den Opfern nicht nur einen minderen Wert, sondern ist zudem ein Hindernis für den verfassungsrechtlichen Schutz der Frauenrechte, der Menschenrechte.

Durch den enormen Druck der Medien und Demonstrierenden wurden die Tweets auf Befehl des Obersten Staatsanwaltes von Mexiko-Stadt gelöscht. Dieser bezeichnete solche Publikationen als einen „großen Fehler“ und betonte, dass keine privaten Lebensumstände des Opfers die offizielle Ermittlung beeinflussen würden. Die Universitätsleitung kündigte, nachdem ihre Reaktion als inkonsequent mit den eigenen Programmen bezeichnet worden war, eine Kooperation zwischen einer auf geschlechtsbezogene Gewalt spezialisierten Expert*innengruppe und der Staatsanwaltschaft bei den Ermittlungen an. Jüngsten Berichten zufolge würde die Staatsanwaltschaft die Zusammenarbeit jedoch behindern.

In Mexiko-Stadt ist seit sechs Jahren der Frauenmord als schwere Straftat rechtlich anerkannt, die mit 20 bis 50 Jahren Haft bestraft wird. Damit ein Mord als Frauenmord anerkannt wird, muss eine der folgenden Bedingungen vorliegen: Das Opfer hat sexuelle Gewalt erfahren, ihm wurden entwürdigende Verletzungen oder Verstümmelungen zugefügt, es wurde vor der Tat bedroht oder sexuell belästigt, die Leiche wurde in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt, oder das Opfer wurde vor dem Todesfall um jegliche Kontaktmöglichkeit gebracht.

Allein in der Hauptstadt wurden zwischen 2013 und 2015 insgesamt 555 gewaltsam ermordete Frauen registriert, von denen offiziell nur 39 Prozent als Frauenmord anerkannt worden sind.

Allein in der Hauptstadt wurden zwischen 2013 und 2015 insgesamt 555 gewaltsam ermordete Frauen registriert, von denen offiziell nur 39 Prozent als Frauenmord anerkannt worden sind. Der Oberste Gerichtshof (SCJN) legt für die Ermittlungen eigentlich eindeutige Protokolle fest, die auf Kriterien des Interamerikanischen Menschengerichtshofs basieren. Doch zeigt die niedrige Anerkennungsrate zum einen die Inkompetenz der zuständigen Behörden, das Strafgesetzbuch sachgemäß zu interpretieren. Andererseits zeugt sie auch vom Widerstand der Institutionen, Frauenmorde als solche zu sehen und anzuerkennen. Einige Abgeordnete der Linkspartei Morena haben daher vorgeschlagen, das besondere Alarmbereitschaftsprotokoll bei geschlechtsbezogener Gewalt auszurufen, um konkrete Maßnahmen für eine Besserung der Frauenrechtssituation unternehmen zu können. Dieser Vorschlag wurde vom Senat jedoch abgelehnt.

Nichts von dem sollte uns überraschen. Mexikanerinnen haben gelernt, ständig einen Blick über die Schulter werfen zu müssen. Die geschlechtsbezogene Gewalt ist alltäglich. Nach Erhebungen des Nationalen Instituts für Geografie und Statistik (INEGI) wurden landesweit zwischen 2013 und 2015 im Durchschnitt sieben Frauen pro Tag ermordet. Einer der gefährlichsten Orte der Welt für Frauen ist der Bundesstaat Mexiko, wo laut der Städtischen Beobachtungsstelle gegen geschlechtsbezogene Gewalt (MexFem) durchschnittlich drei Frauenmorde pro Monat begangen werden. Konsequenz davon ist, dass in drei Bezirken das Alarmbereitschaftsprotokoll bei geschlechtsbezogener Gewalt ausgerufen wurde.

Obwohl Mexiko bekanntlich in einer Menschenrechtskrise steckt und Gewalt allgegenwärtig scheint, waren die akademischen Institutionen, öffentliche wie private, bisher Orte, zu denen die gewaltsamen Konflikte nicht vordrangen. Die UNAM, wie auch viele andere Institutionen, steht für eine Oase der Meinungsfreiheit in einem Land, in dem Journalist*innen einer ungeahnten Gewalt und Repression ausgesetzt sind. Sie ist ein Modell, wenn auch nicht ohne Fehler, für eine Gleichbehandlung der Geschlechter in einer tief vom machismo geprägten Kultur. Vor allem sollte die Universität ein sicherer Ort sein, fern von der Realität eines Landes, in dem Studierende straflos umgebracht werden. Die Ermordung von Lesby Osorio ist daher nicht „eine Zahl mehr“ in der Tageszeitung. Es ist ein schmerzhafter Schlag für die Mexikaner*innen, die einmal mehr auf den Straßen die Straflosigkeit anklagen – eine Straflosigkeit, die heute ohne Probleme auch durch die Türen der Universität dringt.

DIE MACHT DER MAFIA

Er war einer der Bekanntesten und einer der Mutigsten. „Einer, der uns vom Territorium El Chapos aus gelehrt hat, wie man über die Drogenmafia berichtet“, schrieb die Reporterin Marcela Turati auf ihrer Facebook-Seite über ihren Kollegen Javier Valdez. Kurz zuvor war der Redakteur der Wochenzeitung Riodoce in seiner Heimatstadt Culiacán im nordmexikanischen Bundesstaat Sinaloa erschossen worden. Wie kein anderer hatte er über die Geschäfte des „Sinaloa-Kartells“ berichtet, dessen Chef Joaquín „El Chapo“ Guzmán in den USA im Gefängnis sitzt. Wenige Stunden später starb Héctor Jonathan Rodríguez Cordova. Unbekannte feuerten auf den Journalisten, der im Bundesstaat Jalisco tätig war. Dort, wo das Kartell „Jalisco Nueva Generación“ das Sagen hat.

Die beiden Morde vom 15. Mai stellten den traurigen Höhepunkt einer Serie von Angriffen dar, die Mexiko in den ersten Monaten des Jahres erlebte. Innerhalb von acht Wochen wurden sieben Medienschaffende ermordet und weitere entführt oder überfallen. So raubten etwa 100 Wegelagerer eine Gruppe von sieben Reportern aus, die im südlichen Bundesstaat Guerrero in der von der kriminellen „Familia Michoacana“ kontrollierten Region Tierra Caliente recherchierten.

Vor allem der Tod des preisgekrönten Journalisten Valdez rief eine Welle des Protests hervor. In vielen Städten gingen Pressevertreter*innen auf die Straße, auch in Chile und Spanien fanden Aktionen statt. 186 internationale Korrespondent*innen, die in Mexiko tätig sind, forderten von der Regierung, die Pressefreiheit zu garantieren und die Täter*innen zur Rechenschaft zu ziehen. Vertreter*innen der UNO sowie der Interamerikanischen Menschenrechtskommission beantragten einen offiziellen Besuch. Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel, der gerade in Mexiko zu Gast war, sprach mit der kritischen Moderatorin Carmen Aristeguí und stellte Hilfe für die Angehörigen in Aussicht.

Angesichts des politischen Drucks berief Präsident Enrique Peña Nieto zwei Tage nach den Morden eine Sondersitzung seines Kabinetts mit Gouverneuren mehrerer Bundesstaaten ein. Es sei der Tag gewesen, an dem der Staatschef festgestellte, dass in Mexiko Journalist*innen getötet werden, merkte Marcela Turati zynisch an. Erstmals trauerte Peña Nieto öffentlich um einen ermordeten Medienschaffenden, obwohl mindestens 35 gewaltsam starben, seit er 2012 sein Amt übernommen hat. Seit 2000 sind es nach Angaben der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) 126 ermordete Journalist*innen. Laut Reporter ohne Grenzen ist Mexiko damit nach Syrien das Land mit den meisten getöteten Medienschaffenden. Praktisch keines der Verbrechen wurde aufgeklärt.

Die Straflosigkeit sei fehlender Schulung, mangelnder Infrastruktur und der Gleichgültigkeit der Behörden geschuldet.

Die Straflosigkeit sei fehlender Schulung, mangelnder Infrastruktur und der Gleichgültigkeit der Behörden geschuldet, erklärte der CNDH-Präsident Luis Raúl González Pérez und sprach von schweren Versäumnissen. Journalist*innen würden diffamiert, Beweise nicht gesichert, Ermittlungen verschleppt. Bereits 2012 hat die Regierung deshalb eine Sonderstaatsanwaltschaft für Delikte gegen die Pressefreiheit ins Leben gerufen, seit demselben Jahr existiert auch ein Gesetz, das Mechanismen zum Schutz von Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen vorsieht.

Beiden Einrichtungen versprach Peña Nieto nach der Sondersitzung mehr Unterstützung. Ob aber tatsächlich eine Abkehr von der staatlichen Ignoranz gegenüber den Angriffen stattfindet, muss sich erst noch zeigen. In den vergangenen Jahren mussten die Sonderstaatsanwält*innen mit weniger Mitteln auskommen. Ihr Budget wurde trotz der Zunahme an Überfällen von 2014 auf 2016 um die Hälfte gekürzt. Die Konsequenz: Bei 743 Vorermittlungen gab es drei Verurteilungen. „Sie führen politische Diskurse mit uns, obwohl es eigentlich darum geht, die Straflosigkeit zu beenden“, resümiert Edgar Cortez vom Mexikanischen Institut für Menschenrechte und Demokratie.

Auch die Schutzmechanismen sind umstritten. Nottelefone, Kameras und hohe Zäune sollen für mehr Sicherheit sorgen, doch häufig, so kritisieren die Betroffenen, käme die konkrete Hilfe dann viel zu spät. Vor allem aber will kaum ein*e Reporter*in die angebotene Polizeibegleitung wahrnehmen. Nicht nur, weil nach Angaben der Organisation Artículo 19 die Hälfte aller Angriffe auf Journalist*innen von Sicherheitskräften ausgeht. Wer mit einem Polizisten oder einer Polizistin unterwegs ist, wird kaum einen Interviewpartner oder -partnerin finden, der oder die mit ihm oder ihr spricht. Zu groß ist das Misstrauen, da viele Sicherheitskräfte mit den Banden der organisierten Kriminalität zusammenarbeiten.


Die Hoffnung, dass die Regierung die zunehmende Gewalt gegen Medienschaffende in den Griff bekommt, ist gering.

Die Hoffnung, dass die Regierung die zunehmende Gewalt gegen Medienschaffende in den Griff bekommt, ist gering. Deshalb haben sich nach dem Mord an Valdez Journalist*innen in verschiedenen Gruppen zusammengetan und wollen über eigene Maßnahmen beraten. Die einen planen für Ende Juni große Foren und Diskussionsveranstaltungen, andere – politisch sehr unterschiedlich ausgerichtete Medien – verkündeten in einer gemeinsamen Großanzeige: „Es reicht.“ Rogelio Hernández Lopez von der Union der Journalisten ist optimistisch: „Wenn wir alles umsetzen und uns für gemeinsame Aktionen zusammenschließen, können wir diesem unglückseligen Zyklus, der uns alle und Mexiko so verletzt, etwas entgegensetzen.“

Doch der Feind erscheint übermächtig: Ob das Sinaloa-Kartell, die Nueva Generación Jalisco oder die Familia Michoacana, alle Banden der organisierten Kriminalität arbeiten mit Polizei, Staatsanwaltschaft, Bürgermeisterämtern und auch Gouverneur*innen zusammen. Ihre Kontrolle ist fast total. In Sinaloa, Guerrero, Michoacán und vielen anderen Bundesstaaten können Journalist*innen deshalb nicht frei berichten. Die Macht kommt dort aus den Gewehrläufen, ein Auftragskiller ist angesichts der Armut für wenige Pesos zu haben, und kaum ein*e Richter*in würde sich trauen, eine*n Mörder*in zu verurteilen. Wer sich nicht an die Regeln der Mafia hält, muss mit dem Schlimmsten rechnen. Die Tageszeitung El Norte de Juárez aus dem nordmexikanischen Bundesstaat Chihuahua hat daraus eine deprimierende Konsequenz gezogen: Nachdem deren Korrespondentin Miroslava Breach ermordet worden war, stellte das Blatt am 2. April sein Erscheinen ein. „Es gibt keine Garantien und keine Sicherheit für einen kritischen und ausgewogenen Journalismus“, erklärte der Eigentümer von El Norte, Oscar A. Cantú Murguía, auf der Titelseite der letzten Ausgabe.

Javier Valdez wollte sich dem Terror nicht fügen. „Wenn man mit dem Tod dafür bestraft wird, über diese Hölle zu berichten, dann sollen sie uns eben alle ermorden“, schrieb er nach der Ermordung Breachs, die wie er auch für die linke Tageszeitung La Jornada tätig war. Über die Risiken machte er sich keine Illusionen. Es gebe immer jemanden im Apparat, der für die Kriminellen arbeite und so mancher Mafiaboss werde nur vorgeblich von der Regierung verfolgt, sagte er in einem Gespräch, das nach seinem Tod in der Wochenzeitung Proceso erschien. Darin verdeutlicht er die Macht der Mafia, die sich als Machtstruktur in der Bevölkerung etabliert habe. „Sie ist die Polizei: effektiv, aktiv, omnipräsent. Sie bestraft, tötet und foltert Vergewaltiger, Angreifer und auch einfach Leute, die ohne ihre Erlaubnis agieren.“ Es war das letzte Interview, das Javier Valdez gegeben hat.

„LASSEN WIR MEINEN VATER NICHT ALLEIN, ER KÄMPFTE FÜR VIELE“

Vater, wo bist du, wo bist du?

Ich suche dich überall, an jedem Ort, in jedem Objekt, das du mit deinen Händen gegriffen hast; ich suche dich in meinen Träumen, aber ich sehe dich nicht.

Ich sehe weder dein Gesicht, noch deinen großen, bereits verbrauchten und ein halbes Jahrhundert alten Körper.

Ein halbes Jahrhundert lang hast du für viele gekämpft, gabst, was du hattest, gabst uns, deinen Söhnen und meiner wundervollen Mutter, mit Hingabe das Menschlichste in dir.

Wer soll mich nun aufklären, wer schenkt mir nun haufenweise Bücher, wer umarmt mich jetzt, wie du es getan hast, wer applaudiert mir nun für meine Erfolge, wer wird mir je diese warmherzige Liebe zukommen lassen?

Sie haben mir deine Liebe genommen, sie haben mir die Hälfte meines Herzens genommen. Du hast mir mein Herz gestohlen und hierfür meine Zuneigung gewonnen. Ich habe dir das Beste in mir gegeben: meine Liebe. Ich kann dich in jedem Schritt, in jedem Vers, den ich lese, in jedem Gedicht, das du und ich geschrieben haben, spüren.

Ich blieb zurück mit deiner Musik, deinen Filmen, deinen Büchern, deinen Brillen, deinen Füllfedern ohne Tinte, mit deinen Umarmungen, deinen Küssen, deinem Lachen; ich kenne dich auf die tiefsinnigste Art und Weise.

Nun, nun liegst du in meinen Armen und ich umarme und streichle dich, so wie du es getan hast, als ich noch ein Baby war. Nun ist es an mir, nun gehe ich mit dir, wir trinken zusammen Bier und wir singen gemeinsam.

Ich werde mir nun häufiger das Morgendämmern anschauen, ich werde während ihrer Saison die Enten beobachten, ich werde an die Orte gehen, an denen du verkehrtest, ich werde jede einzelne Person umarmen, die mich an dich erinnert, denn es wäre dann so, als ob ich deine Liebe in anderen umarmen würde, es wäre wie dich zu umarmen und dich wieder zu spüren.

Du warst die Person, die mich am meisten motiviert hat. Vielleicht sind wir sehr unter­schiedlich, aber du bist das beste Vorbild, das ich in meinem Leben habe, weil du immer getan hast, was du wolltest, erreicht hast, was viele gerne erreicht hätten, die Nacht durchgehalten hast, geweint, gesungen, getanzt und gelacht hast, in den schwierigsten Momenten deines Lebens. Nun hast du Frieden und das ist, was ich für dich will. Und zweifle nicht daran, ich werde meinen Kindern von dir erzählen, ich werde ihnen sagen, wie mutig und was für ein Supertyp du warst, ich werde dir mit meiner Liebe zu ihnen nacheifern, und für mich wird es die Weise sein, dich weiter lebendig zu halten, dich bei mir und allen zu behalten.

Als du schon tot warst, habe ich dir ins Ohr geflüstert, dass wir dich niemals vergessen werden, und so wird es sein, Vater: Ich werde deinen Arm bei jeder Verbesserung heben, werde grüßen so wie du es getan hast, weil ich du bin. Jedes Mal, wenn Gerechtigkeit geschieht, wird sie auch in deinem Namen geschehen.

Das ist nur ein kleiner Teil dessen, was ich dir sagen will, und wenn du zurückkehrst, wirst du hier dein Haus haben, deinen Stuhl, deinen Kaffee und all unsere Liebe, all derer, die dich lieben.
Lassen wir meinen Vater nicht allein, es bedarf der Hilfe aller. Das ist alles, worum ich bitte.

FREIHEIT UND KONTROLLE


YURI HERRERA wurde 1970 im zentralmexikanischen Hidalgo geboren. Er studierte Politikwissenschaften in Mexiko Stadt, 2009 promovierte er in Lateinamerikanischer Literatur an der Universität von Berkley (Kalifornien). Er hatte Gastprofessuren an verschiedenen Universitäten in Mexiko und den USA. Neben seiner journalistischer Arbeit hat er bislang fünf belletristische Bücher veröffentlicht, gleich sein erster Roman Abgesang auf den König sorgte für Furore in der Literaturwelt. Zuletzt ist von ihm auf Deutsch der Erzählband Der König, die Sonne und der Tod. Eine mexikanische Triologie erschienen. Ende 2016 erhielt er den internationalen Preis der Anna-Seghers-Stiftung. (Foto: Universität Köln)


Herr Herrera, Sie sagten einmal, ihre größte Muse sei die Scham, nicht produktiv zu sein. Wie geht es Ihrer Muse zurzeit?
Aktiv wie immer. Ich arbeite an mehreren Sachen gleichzeitig, aber ich habe immer das Gefühl, dass es nicht genug ist. Es ist wie der Kaffee am Morgen.

Im November 2016 haben Sie den Anna- Seghers-Preis erhalten. Gibt es einen Aspekt aus dem Werk von Anna Seghers, der Ihnen besonders wichtig ist?
Mich interessiert vor allem ihr Blick auf ihre eigene Zeit, wie sie die Geduld hat, zu verstehen, und diese mit einer Art empathischer Hoffnungslosigkeit verbindet. So kann sie das Drama der Menschen aus dieser Zeit kommunizieren.

Ihr wiederkehrendes Thema ist die Verbindung zwischen der Kunst und der Macht. Warum?
Es ist eine Spannung, die in allen Gesellschaften existiert: Zwischen denen, die bewahren und kontriollieren wollen, und denen, die nach neuen Formen suchen, auf die Welt zu sehen. In Mexiko drückt sich das seit einigen Dekaden institutionell aus. Es bleibt also ein Thema, das nicht zu Ende geht, und weiter reflektiert werden
muss.

Sie sagen, dass eine permanente und sehr tiefe Beziehung zwischen der mexikanischen Literatur und der Politik bestehe. Diese gehe so weit, dass der Staat die Schriftsteller finanziere, „eine sehr verdächtige Verbundenheit“ nannten Sie das mal. Können Sie das erklären?
Obwohl ich glaube, dass die Kulturpolitik des mexikanischen Staates sehr gute Momente hatte – zum Beispiel erfolgreiche Alphabetisierungskampagnen, Veröffentlichungen junger Autoren aus verschiedenen Landesteilen – hat sie auch eine Funktion der Kontrolle eingenommen. Oder sie sollte als solche benutzt werden: die Arbeit der Künstler zu subventionieren, im Austausch für ihre Verschwiegenheit. Zum Glück ist das literarische Feld in Mexiko weitaus vitaler und resistenter, als es diese Kulturdezernenten begreifen können.

Sie sprechen auch über die Schwierigkeit, die kulturelle Freiheit nicht zu verlieren und es sich gleichzeitig nicht mit den Eliten der Macht zu verscherzen. Wie funktioniert das?
Das passiert nicht nur in Mexiko. Schriftsteller sehen sich auf der ganzen Welt verschiedenen Typen von Grenzen ausgesetzt. Manchmal handelt es sich um staatliche Zensur, manchmal um Druck aus der Branche wie Literaturagenten, Verlage, Kritiker und manchmal um den Druck des Marktes. In jeder Epoche und an jedem Ort
müssen Schriftsteller die Art und Weise finden, sich diesem Druck nicht zu beugen und ihre eigene
Stimme zu finden.

Politiker*innen und Anführer*innen der organisierten Kriminalität in Mexiko fühlen sich unantastbar. Sie umgeben sich mit Leuten, die sagen, was sie hören wollen. Wann hat das angefangen?
Das ist kein mexikanisches Problem. Mexiko ist kein Land, in dem die Grausamkeiten großartig anders sind als in Deutschland, der Schweiz, England oder den USA. Mexiko ist das Land, das die Toten zu einem Geschäft macht, das bei anderen aus Nachfrage, Waffen und Regeln besteht. Erinnern wir daran, dass die Gruppe, die die Studenten von Ayotzinapa attackierte, deutsche Waffen hatte. Natürlich haben wir spezifische Verantwortungen, ein veraltetes politisches System bestimmt durch Korruption, einen jahrzehntelangen Rassismus, den sich viele weigern zu sehen, eine systematische Straflosigkeit, aber die Gewalt in Mexiko entspringt auch aus den Ländern, die sich für zivilisiert halten, aus der Ferne betrachtet.

Sie sagten, es sei nicht wahr, dass keiner etwas gegen die Gewalt und die Stille tue. Können Sie einige Medien oder Aktionen nennen, die nach der „Wahrheit“ suchen?
Es gibt viele Leute, die daran arbeiten, die Meinungsfreiheit zu bewahren: Da ist die Organisation Articulo 19, kleine Medien aus Veracruz, aus Sinaloa und aus Mexiko-Stadt, die elektronischen Magazine Sin Embargo und
Lado B, Gemeinderadios im Süden und Südosten des Landes und viele andere.

Sie haben auch mal eine Gewerkschaft von Haushaltshilfen erwähnt…
Das ist noch eine kleine Gewerkschaft, aber sie zeigt, dass es immer noch elende Formen der Ausbeutung aus der Kolonialzeit gibt. Sie ist bemerkenswert, weil es sich um eine Gruppe Frauen handelt, die sich entschieden hat, für ihre fundamentalen Rechte zu kämpfen. Das könnte sich als kultureller Wandel herausstellen.

Um den Prozess zu erklären, wie Sie die adäquate Sprache in Ihren Büchern finden, benutzen Sie das Bild des Malers mit seiner Farbpalette und den verschiedenen Farben. Aber nicht immer gibt es „Farben“ für die Gewalt. Gibt es Dinge, die Sie persönlich schockieren und sprachlos lassen?
Natürlich, ständig gibt es Situationen, für die man nicht sofort Worte findet. Aber genau das ist die Arbeit der Kunst, die Worte zu kreieren, sie nicht einfach aus dem Wörterbuch zu entnehmen. Manchmal geht es darum, alte Wörter zu erneuern, manchmal darum, für sie eine andere Konnotation zu finden, manchmal darum, sie zu transformieren. Es gibt nicht den einen Weg.

Stört Sie der Begriff narco poesia (“Drogenhändlerpoesie” als Titel einer Rezension eines Ihrer Bücher?
Nein, wenn man ein Buch veröffentlicht, kann man keine Kontrolle mehr über die Art und Weise haben, wie es gelesen wird. Das ist okay. Persönlich denke ich, dass diese Etiketten die Literatur nicht bereichern, aber in manchen Bereichen haben sie eine Funktion für analytische Zwecke. Letztendlich können die Lektoren mit dem Text machen, was sie wollen.

Sie sind weit weg von der US-Grenze im zentralmexikanischen Hidalgo geboren. Woher stammt Ihr Interesse für den Norden Mexikos und die Grenze zu den USA?
Ich habe zwischen 2000 und 2003 an der Grenze zwischen El Paso und Ciudad Juárez gelebt, aber das war nicht mein erster Kontakt. In Mexiko hat fast jeder Familienmitglieder, die mal in die Vereinigten Staaten immigriert sind, ob sie nun zurückgekehrt oder auf der anderen Seite geblieben sind.

Vor einigen Wochen hat eine deutsche Wochenzeitung Monterrey und Indianapolis miteinander verglichen. Ein Unternehmen aus Indianapolis hat letzten Februar 1.000 Arbeitsplätze nach Mexiko umgesiedelt, wie auch
andere. Mondelez produziert seine Oreos nicht mehr in Chicago, sondern in Monterrey. Er liebe Oreos, aber er werde sie nie wieder essen, sagte Donald Trump. Glauben Sie, dass der neue US-Präsident das Thema der Arbeitsplätze, die ins Ausland gehen, wirklich verändern wird? Wird er seine Rhetorik beibehalten?
Das werden wir sehen. Ich bezweifle stark, dass er die Beschäftigungen, die die Malereibetriebe in vielen Orten Mexikos geschaffen haben, zurückholen will. Zum Beispiel: Unglaublich schlecht bezahlte Arbeiten, zu viele Stunden, wenig oder gar kein Rechtsschutz, wenig oder gar keine medizinische Versorgung. Sicher wird Trump einige weitere spektakuläre Mittel ergreifen, einige Unternehmen unter Druck setzen, damit sie ihre Investitionen zurücknehmen. Aber um die wirtschaftliche Dynamik zwischen den zwei Ländern zu verändern, bedarf es weit mehr als einen Ausstoß von Testosteron. Ich habe den Eindruck, dass das Geschrei rund um das Freihandelsabkommen Nafta eher den hysterischen Versprechen des Wahlkampfs entspricht als einer Bewertung dessen, wie Nafta funktioniert hat. Es wird ohne Zweifel Veränderungen geben, aber nicht in der Schnelligkeit, die er versprochen hat.

Hat Sie das Tempo überrascht, mit dem Trump die ersten, spektakulären Entscheidungen getroffen hat?
Nein, aber viele dieser Entscheidungen entstammen eher seinem Versuch, entschlossen zu wirken als einem konkreten Plan. Viele davon werden nicht einmal realisiert werden. Trump wird herausfinden, dass es deutlich
mehr braucht, als Papiere zu unterschreiben, damit die Dinge in Bewegung kommen. Aber vielleicht kommt es ihm darauf nicht an, seine Sache ist das Spektakel.

Ist es möglich, die Problematik um die Migration zu verschlimmern, anstatt sie zu lösen?
Wenn man die Migration ausschließlich als ein Problem betrachtet und nicht als ein Phänomen, das die Gesellschaften bereichert, ist es natürlich möglich. In Europa ist das passiert, und wir können bereits sehen, dass der mit dem Aufstieg Trumps entstandene Hass die Situation der Migranten verschlimmert, die in den Obama-Jahren schon ziemlich schlecht war.

Was denken Sie über die Rolle der mexikanischen Gesellschaft in Bezug auf den Umgang mit Migrant*innen aus Zentralamerika?
Das ist eine passive Komplizenschaft. Es hätte eine viel größere Reaktion auf den Missbrauch geben müssen, den die Migranten aus Zentralamerika auf ihrem Weg durch Mexiko und bei ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten erleiden mussten.

Die Reaktion der Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung auf Präsident Peña Nietos Ablehnung von Trumps Ideen und seiner Absage des geplanten Staatsbesuchs in Washington – war das ein kurzer Moment von Einigkeit in Mexiko?
Einigkeit kommt nicht auf magische Weise zustande. Ja, es gibt eine Einheit in der Ablehnung von Trump. Diese darf aber nicht als unbegrenzte Unterstützung des Präsidenten verstanden werden, mehr noch: Wenn diese ganze Episode etwas bewiesen hat, ist es die Unfähigkeit Peña Nietos eine Vision des Staates aufzuzeigen.

BLICK IN DEN SPIEGEL

Zumindest der juristische Weg in den weiteren Friedensprozess zwischen der kolumbianischen Regierung und den Bewaffneten Streitkräften Kolumbiens (FARC) scheint gesichert. Mit der Zustimmung des Verfassungsgerichts kann nun der Kongress durch das Fast-Track Verfahren das Friedensabkommen umsetzen. Dabei handelt es sich um eine Ausnahmegenehmigung, welche die nötigen juristischen Reformen beschleunigt und dadurch die Anerkennung des Friedensabkommens als Gesamtwerk ermöglicht.

Da im kommenden Jahr Präsidentschaftswahlen anstehen, ist die schnelle Umsetzung des Abkommens, insbesondere für die FARC, entscheidend.  Statt zwei Jahre wird der legislative Prozess nur etwa sechs Monate in Anspruch nehmen. Gleichzeitig garantiert dies, dass zukünftige Präsidenten den Inhalt des Friedensabkommens entsprechend der aktuellen Formulierungen umsetzen müssen. Bestimmte Gesetze wie etwa das Amnestiegesetz, das nun bereits Ende Dezember vom Parlament verabschiedet wurde, sind für den weiteren Verlauf des Prozesses von entscheidender Bedeutung – denn sie legen die Grundlage für die (Re-)Integration der Kämpfer*innen in die Gesellschaft.

In der Mehrheit der Übergangszonen sind noch keine Unterkünfte vorhanden.

Entsprechend dem 180-Tage-Plan, der als Teil des Abkommens im November verabschiedet wurde, müssten sich die Ex-Guerrillerxs seit Mitte Dezember in den sogenannten Übergangszonen befinden. In diesen Sondergebieten sollen die Kämpfer*innen entwaffnet und resozialisiert werden, um im Anschluss in die Gesellschaft (re-)integriert werden zu können. Allerdings verzögerte sich die Errichtung der Sammelzentren von Beginn an: In der Mehrheit der 23 Übergangszonen sind immer noch keine Unterkünfte und Zugangswege vorhanden. Daher befinden sich die meisten FARC-Kämpfer*innen nach wie vor in den temporalen Lagern, in denen sie nach dem verlorenen Referendum gesammelt wurden.

Solange die Guerrillerxs nicht in den endgültigen Übergangszonen sind, befinden sie sich jedoch noch in einer gesetzlichen Grauzone. Es ist beispielsweise unklar, wer für die Ernährung und gesundheitliche Versorgung der Ex-Kämpfer*innen zuständig ist. Julián Suárez, Cousin des 2010 getöteten FARC-Anführers Luis Suárez alias „Mono Jojoy“, beschreibt im Interview mit der Tageszeitung El Espectador seine Sorgen: „Als wir noch im Krieg waren, gab man uns Schuhe, Kleidung, Essen; es gab einen Arzt oder zumindest Krankenpfleger. Aber wenn jemand hier in der Zone krank wird, muss derjenige zum Camp des Prüf- und Auswertungsmechanismus (MMV) – aber offenbar ist dort niemand auf solche Fälle vorbereitet.“ Er erklärte zudem, dass ihnen nur wenige, teilweise bereits verdorbene Lebensmittel zur Verfügung ständen.

Da viele der ehemaligen FARC-Kämpfer*innen keine gültigen Ausweise besitzen, ist ihnen der Zugang zum normalen Gesundheitssystem verwehrt. Die unklare Situation sorgt bei vielen Guerrillerxs für Frustration. Dazu kommt die schwelende Angst, der Massenmord an der Union Patriótica (UP) Ende der 1980er Jahre könne sich wiederholen. Mindestens 5000 Mitglieder der Partei, die als eine Art politischer Arm der FARC gegründet worden war, wurden damals  innerhalb weniger Jahre ermordet – darunter zwei Präsidentschaftskandidaten.

Diese Angst wird verstärkt durch die enorme Zunahme der Gewalt gegen Menschenrechts- und Friedensaktivist*innen (siehe Kasten). Allein die linke Basisorganisation Marcha Patriótica beklagt die Ermordung von mindestens 127 ihrer Mitglieder im vergangenen Jahr. Dazu kommt, dass viele FARC-Kämpfer*innen durchaus von dem lukrativen Drogenhandel profitieren und nicht bereit sind, diese Einnahmen für eine ungewisse Zukunft aufzugeben.

So haben sich in den vergangenen Monaten einige FARC-Kommandos aus den Reihen der Guerilla gelöst. Anfang Januar kam es zu ersten gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen desertierenden Gruppen und den FARC: In der Region Caquetá lieferten sich Dissident*innen der 14. Front und Kämpfer*innen des Kommandos „Teófilo Forero“ blutige Kämpfe, bei denen mindestens zwei Menschen getötet wurden. Die Auseinandersetzung fand nahe der Stadt San Vicente del Caguán statt – dem Austragungsort der gescheiterten Friedensverhandlungen zwischen der Regierung von Andrés Pastrana und der damaligen FARC-Führung. Der Ort hat somit einen besonderen symbolischen Wert für die Moral der Kämpfer*innen.

Bereits kurz nach den Kämpfen erklärte das kolumbianische Militär in einer offiziellen Verlautbarung die Vorfälle für nicht tolerierbar: „Wenn die FARC ihre Waffen benutzen – und sei es gegen ihre eigenen Dissident*innen – brechen sie damit den Waffenstillstand. Es ist die Pflicht des Militärs, solche Verbrechen strafrechtlich zu verfolgen“. Die FARC hingegen erläuterten, dass es sich bei diesen Akten um eine „zielgerichtete Sabotage des Friedensprozesses“ handele: Die desertierenden Gruppen würden Bauern und Bäuerinnen mit Gewalt zwingen, den Frieden mit allen Mitteln zu boykottieren.

Menschenrechtsaktivist*innen fürchten, dass es – ähnlich wie nach dem Friedensprozess mit den paramilitärischen Gruppen Anfang der 2000er Jahre – zu einer Aufspaltung in bewaffnete Gruppierungen kommen könne, die nicht zu kontrollieren und nicht an einem Frieden interessiert seien.

Der Friedensprozess steht auf wackligen Füßen.

Weitere Angriffe dissidierter FARC-Kämpfer*innen scheinen ihnen Recht zu geben: So sollen Guerrillerxs die Bürgermeisterin der Siedlung La Paz, wo sich eine der Übergangszonen befindet, massiv mit Waffen bedroht haben.Auch für die Ermordung der Aktivistin Emilsen Mayoma und ihres Ehemanns am 17. Januar war laut Aussagen der FARC-Führung ein Dissident verantwortlich. Dabei handele es sich um den Bruder Emilsens, der die Reihen der Guerrilla im Dezember 2016 schwer bewaffnet verlassen hatte und dafür von seiner Schwester stark kritisiert worden war.

Während der Friedensprozess mit den FARC in den vergangenen Monaten ins Laufen kam, verzögerten sich parallel die Verhandlungen mit der zweitgrößten Guerilla, der Nationalen Befreiungsarmee (ELN). Die Vorgespräche waren ins Stocken geraten, nachdem die Guerilla im April Odín Sanchéz entführt hatte. Der Politiker hatte sich gegen seinen Bruder Patrocinio Sanchéz austauschen lassen, der sich drei Jahre in den Händen der ELN befand und während dieser Zeit schwer erkrankt war.

Nachdem die Guerilla sich zunächst monatelang mit Verweis auf Sanchéz’ paramilitärische Verbindungen und Korruptionsskandale weigerte, den Politiker freizulassen, scheint die Vorbereitungskommission nun eine Einigung erzielt zu haben. Beide Parteien verkündeten, dass Sanchéz am 2. Februar freigelassen werde. Gleichzeitig sollen die offiziellen Friedensverhandlungen in Quito am 7. Februar endgültig beginnen. Überschattet wird diese neue Phase des Friedensprozesses von einigen blutigen Attentaten, die die ELN in den vergangenen Monaten verübte. Zudem erhielt die Guerilla laut eigenen Aussagen ein stattliches Lösegeld für die Freilassung Sanchéz.

Der Friedensprozess steht demnach nach wie vor auf wackligen Füßen. Es wird sicherlich noch Jahre dauern, bis wirklich überall im Land Frieden herrscht – solange die paramilitärischen Strukturen nicht ausgelöscht und ein Friedensabkommen mit den restlichen Guerillas geschlossen wird, wird die Situation wahrscheinlich zunächst eher schlimmer als besser. Auch die wirtschaftliche Lage wird laut lokalen Beobachter*innen die nächsten Monate für soziale Unruhen sorgen. Allerdings bleibt die Hoffnung, dass nun der Weg frei ist für die Beschäftigung mit den realen Problemen der kolumbianischen Gesellschaft. So betonte auch Frank Pearl, Mitglied der Regierungsdelegation in den Friedensverhandlungen mit den FARC: „Der bewaffnete Konflikt mit den FARC hat jahrzehntelang als Ausrede gedient, um die Abwesenheit des Staates in weiten Teilen Kolumbiens zu verstecken. Das ist eine Realität, die nun mit dem Friedensabkommen geändert werden muss“, erklärte er bei einer Konferenz in Santiago de Chile. „Der interne bewaffnete Konflikt war eine Ausrede dafür, dass es keinen Staat, kein Gesundheitssystem, keine Bildung und keine Gerechtigkeit gab. Jetzt ist diese Ausrede weg und wir müssen endlich unser Spiegelbild betrachten.“ Bleibt zu hoffen, dass die Regierung bereit ist, sich mit diesem Spiegelbild auseinanderzusetzen.

ROTE ERDE

Mitte Dezember fuhr der 13-jährige Isaías mit seinem Fahrrad die Straße von Collipulli in der südchilenischen Region La Araucanía entlang. Mit ihm unterwegs war sein Bruder, der 17-jährige Brandon. Collipulli ist Mapudungún, die Sprache der Mapuche, und bedeutet so viel wie rote Erde – wenig später wurde der Name bittere Realität. Ein Stück weiter die Straße runter trafen sie auf eine Gruppe Polizist*innen, die gerade dabei war, die Insassen eines Fahrzeugs zu kontrollieren. Einer der Polizisten hielt Isaías fest, der erschreckt zu schreien begann. Sein Bruder Brandon kam dazu, aber der Polizist hielt auch ihn fest, warf ihn zu Boden und schoss ihm aus einem halben Meter Entfernung mit einer Schrotflinte Kaliber 12 in den Rücken. Normalerweise ist ein Schuss aus dieser Entfernung tödlich, wochenlang musste Brandon im Krankenhaus behandelt werden.

Der Polizist Cristian Rivera, der auf Brandon geschossen hat, ist nach wie vor im Dienst. Von seinen Kolleg*innen wird er gedeckt, bei der Polizei spricht man von einem Unfall. Brandons Mutter, Ada Huentecol, glaubt das nicht. „Ich habe eine Erklärung verlangt und sie sagten mir, es sei ein Unfall gewesen. Aber wieso haben sie denn auf ihn geschossen, wenn er schon am Boden lag? Meine Söhne sind keine Verbrecher. Ich bin wirklich wütend!“ Das Institut für Menschenrechte in Chile (INDH) erstattete im Januar Anzeige wegen versuchten Mordes gegen die Polizei.

Die Liste der gewaltsamen „Zwischenfälle“ in jüngster Zeit ist lang. Die Territorien der indigenen Mapuche, die ihre Autonomie südlich des Bío-Bío-Flusses über die gesamte Kolonialzeit bewahren konnten, wurden erst in der sogenannten „Pacificación de La Araucanía“ 1861 von Chile besetzt. Damals verteilte der Staat das Land an weiße Siedler*innen. Viele Mapuche verlangen, dass der chilenische Staat ihrem Volk gegenüber seine historische Schuld begleicht. Von den verschiedenen Regierungen Chiles fühlten sie sich immer wieder hintergangen. Bei den vielen lokalen Konflikten geht es meist um die Rückgabe oder Schutz von indigenem Territorium, das sich heute in Privatbesitz befindet und für die Energie-, Forst- und Agrarwirtschaft genutzt wird oder genutzt werden soll. Neben Demonstrationen und Protesten versuchen die Mapuche ihren Forderungen auch mit Landbesetzungen und Brandanschlägen auf Fahrzeuge und Maschinen der Unternehmen Nachdruck zu verleihen. Die Regierungen reagierten darauf mit Repression, sodass sich der Konflikt zusehends verschärfte.

Das Institut für Menschenrechte erstattete Anzeige wegen versuchten Mordes gegen die Polizei.

In jüngster Zeit häufen sich wieder die Zwischenfälle: In Ercilla stürmten Ende Januar über hundert Polizist*innen mit gepanzerten Fahrzeugen, die Tränengas versprühten, eine Mapuche-Gemeinde während einer kulturellen Feier. Für die Aktion gab es keinen richterlichen Beschluss. Die Polizist*innen schossen auf die Anwesenden und nahmen elf Personen fest, darunter fünf Minderjährige und zwei Neugeborene, wie ein anwesender Reporter von werken.cl berichtete.

In Freire, südlich der Stadt Temuco, nahmen Sicherheitskräfte Mitte Januar bei einer weiteren Personenkontrolle drei Mapuche-Frauen wegen Störung der öffentlichen Ordnung fest, eine von ihnen war minderjährig. Die Anwältin der Frauen, Manuela Royo, erklärte gegenüber Radio Villa Francia, Polizist*innen hätten die drei geschlagen, beleidigt und ihre Waffen auf sie gerichtet, auch nach der Festnahme, im Inneren des Polizeiautos: „Die Situation dort war extrem gewalttätig, die Polizisten wollten insbesondere der Jüngsten Angst einjagen. Auch die Informationen über ihren Aufenthaltsort wurden über mehrere Stunden zurückgehalten. Die Frauen wurden mittags festgenommen und tauchten erst wieder gegen 18 Uhr auf der Polizeistelle in Temuco auf. Die Polizei hat sie geschlagen und einer der Frauen den Arm umgedreht, das verstehen wir ganz klar als Folter.“

In Tirúa, etwa 150 Kilometer westlich von Collipulli in der Region Bío Bío schossen Polizisten Ende Dezember auf ein Fahrzeug mit einer Gruppe unbewaffneter Mapuche. Zwei der Insassen wurden von den Kugeln getroffen und schwer verletzt. Nach Angaben von Radio Villa Francia behauptet die Polizei, das Auto hätte trotz Aufforderung der Beamt*innen nicht gehalten, woraufhin diese das Feuer eröffnet hätten. Isaac Neculqueo, Präsident der indigenen Gemeinschaft, versicherte jedoch das Gegenteil: „So eine Polizeikontrolle hat niemals stattgefunden, die Polizisten haben aus dem fahrenden Auto geschossen und sind dann abgehauen.”

Die Liste ließe sich beliebig fortführen. Durch die hohe Polizeipräsenz und die zunehmende Militarisierung der Region wird der Konflikt immer schärfer. Laut einem Polizeibericht des vergangenen Jahres sind allein in der Region La Araucanía knapp 1400 Polizist*innen stationiert und 50 gepanzerte sowie über 90 halbgepanzerte Fahrzeuge im Einsatz. Neben den ständigen Personenkontrollen werden auch geheimdienstliche Aktionen durchgeführt und raumbezogene Datenverarbeitungssysteme wie Radaranlagen, Drohnen, Flugzeuge und Helikopter eingesetzt. Mit dem Schutz der Bevölkerung hat das erhöhte Polizeiaufgebot jedoch nichts zu tun. Es dient in erster Linie dem Schutz von Unternehmen. Im Süden Chile existieren 77 große Forstindustrieanlagen in drei Regionen: 47 in Los Ríos, sieben in La Araucanía und 23 in Bío Bío. 15 stehen unter dauerhaftem Polizeischutz. Neun davon gehören zu Forestal Mininco. Das Unternehmen ist Teil der Matte-Gruppe. Matte ist eine der einflussreichsten Familien Chiles. Der Konzern steht unter  dem Verdacht der Korruption und Preisabsprache und gilt als wichtiger Akteur, der maßgeblich den Konflikt mit den Mapuche polarisiert.

Durch die zunehmende Militarisierung der Region wird der Konflikt immer schärfer.

Auch juristisch geht der chilenische Staat gegen die Indigenen des Landes vor. Ein emblematischer Fall ist der der Machi (Heilerin und religiös-spirituelle Autorität) Francisca Linconao, die sich neun Monate in Untersuchungshaft befand. Ihr wird vorgeworfen, an einem Brandanschlag auf das Anwesen der Familie Luchsinger im Januar 2013 beteiligt gewesen zu sein, bei dem die Großgrundbesitzer*innen Werner Luchsinger-Mackay und seine Frau Vivianne Mackay ums Leben kamen. Das Ehepaar befand sich seit Jahren in direkter Konfrontation mit den indigenen Gemeinden der Zone, Francisca Linconao war daran jedoch nicht beteiligt. Sie streitet ab, etwas mit den Geschehnissen zu tun zu haben und die Beweislage gibt ihr recht. Die Beweise, die die Staatsanwaltschaft vorbrachte, waren nicht nur nicht ausreichend, sondern stützten sich auch auf falsche und unter Folter erbrachte Zeugenaussagen. Im Umfeld der Machi glaubt man, dass man sie mit dem Fall in Verbindung bringen will, um Rache dafür zu nehmen, dass sie sich seit Jahren unermüdlich für die Rückgabe ehemalig indigenen Territoriums an die Mapuche-Gemeinden einsetzt. Und sie ist kein Einzelfall: 2014 wurde bereits der Machi Celestino Córdova im Fall Luchsinger-Mackay nach einseitigen Ermittlungen und einer zweifelhaften Beweislage wegen Brandstiftung mit Todesfolge zu 18 Jahren Haft verurteilt.

Dass auch die Machi Francisca Linconao trotz mangelnder Beweise einem so langen Freiheitsentzug ausgesetzt wurde, liegt am chilenischen Anti-Terror-Gesetz aus Diktaturzeiten. Es räumt der Staatsanwaltschaft umfangreiche Möglichkeiten bezüglich Ermittlung und Anklage ein, wenn es sich um des Terrorismus Verdächtige handelt. „In der Region Araucanía herrscht ein anderes Recht. Eines, das auf Mapuche und ihre Anführer*innen angewendet wird und demzufolge die Staatsanwaltschaft keine Beweise für begangene Verbrechen vorlegen muss, um Angeklagte einsperren zu lassen. Es reicht, sie anzuklagen. Der Angeklagte und seine Verteidigung müssen dann die Unschuld des Angeklagten beweisen. “Verkehrte Welt“, schrieb der unabhängige Abgeordnete und Mitglied der Menschenrechtskommission Gabriel Boric in einem offenen Brief.

Bereits vor drei Jahren verurteilte der Interamerikanische Gerichtshof (CIDH) den chilenischen Staat für begangene Menschenrechtsverletzungen am Volk der Mapuche. Die chilenischen Gerichte hätten das Legalitätsprinzip und das Recht auf Unschuldsvermutung in mindestens acht Fällen verletzt, so der Gerichtshof in San José, Costa Rica. Dennoch erlebt die Machi Francisca Linconao heute wieder genau das. Zwar konnte sie mit einem 14-tägigen Hungerstreik kürzlich bewirken, dass die vorbeugende Haft in einen Hausarrest umgewandelt wurde, aber der eigentliche Prozess steht noch aus. Das Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofes scheint keinerlei Effekt gehabt zu haben.

IMMER DIE GLEICHEN FEHLER

Foto: Markarinafotos (CC BY-NC-ND 2.0)
Foto: Markarinafotos (CC BY-NC-ND 2.0)

Die Zahlen sind erschreckend: Mit durchschnittlich 41 Morden pro 100.000 Einwohner*innen jährlich liegt die Mordrate in Zentralamerika doppelt so hoch wie in Zentralafrika und sieben Mal höher als in Südostasien. Vier der sechs Länder und drei der sechs Städte, in denen weltweit die meisten Gewalttaten verzeichnet werden, befinden sich in Zentralamerika. In San Pedro Sula, Honduras, erreichte die Mordrate 2015 pro 100.000 Einwohner*innen 141 Morde – und war damit viel höher als in Acapulco, Culiacán, Ciudad Juárez oder Tijuana, die in den Medien weitaus präsenter sind. Wie lassen sich diese Extreme erklären? Welche konkrete Rolle spielt dabei der Drogenhandel?
Durch seine geographische Lage erfüllt Zentral- amerika für den Drogenhandel die Funktion einer Brücke. Ein bedeutender Anteil des Kokains, das aus Kolumbien in die Vereinigten Staaten eingeführt wird, wird durch die zentralamerikanischen Staaten geschleust. Dabei hat diese Route durchaus ihre Tücken. So ist die Region Darién zwischen Kolumbien und Panama ein Streifen dicht bewachsenen Urwaldgebiets, das den Transport zu Lande behindert. Doch die Drogenhändler*innen haben Wege gefunden, indem sie ihr Gut auf kleinen Schiffen entlang der Nordküste Panamas und der Südküste Costa Ricas befördern. Weiter gelangt es dann über Landstraßen bis nach Guatemala. Von dort wiederum wird die Ware auf verschiedenen Wegen nach Nordmexiko gebracht, in den meisten Fällen über Straßen nahe des Pazifiks, um sie bis ans Ziel, auf den weltweit größten Drogenmarkt, zu schaffen: in die Vereinigten Staaten von Amerika.
Dass der Drogenhandel kriminelle Aktivitäten befördert, daran dürfte kaum jemand zweifeln. Der Mechanismus ist schnell erklärt: Da den Drogenhändler*innen keine legalen Mittel zur Konfliktlösung zur Verfügung stehen, greifen sie auf die Gewalt als Mittel zurück, um bei Konflikten untereinander eine Entscheidung herbeizuführen. Auf illegalen Märkten herrscht also deshalb stets mehr Gewalt als auf legalen, weil es weder Gesetze noch Richter*innen gibt – was natürlich nicht heißen soll, dass diese keinen Einfluss darauf ausüben, wie die illegalen Märlte in ihrer Produktions- und Handelslogik funktionieren. Dennoch ist die Verbindung zwischen Drogen und Gewalt komplex und weniger zwangsläufig, als es auf den ersten Blick scheint.
Am Fall Zentralamerikas ist zu sehen, dass sich das Gewaltausmaß nicht auf den Drogenhandel an sich, sondern auf die Stärke oder Schwäche des jeweiligen Staates zurückführen lässt. Zum Beispiel Nicaragua: Obwohl das Land beim Transport von Kokain in die USA eine Schlüsselrolle einnimmt, sind die Mordraten niedriger als in den Nachbarländern. Genauso verhält es sich mit Costa Rica, wo die aus Kolumbien angelieferten Drogen zum ersten Mal an Kontaktleute für den Weitertransport übergeben werden und gleichzeitig die Ziffern für Gewalttaten ähnlich niedrig sind wie in westeuropäischen Ländern.
Die Höhe der Einnahmen aus dem illegalen Drogenhandel kann die Zu- oder Abnahme von Gewalt nicht erklären. Die Menge produzierter und gehandelter Drogen ist zum Beispiel in Südostasien eben so hoch wie in Lateinamerika. Trotzdem verzeichnen Länder wie Thailand, Vietnam und Indonesien fünfmal niedrigere Mordraten als die Region Zentralamerika. Wie lässt sich das erklären? Mit der Stärke oder Schwäche staatlicher Strukturen und der Fähigkeit der jeweiligen Staaten dem Drogenhandel entgegenzutreten: Länder wie Guatemala oder El Salvador, die jahrzehntelang unter Bürgerkriegen zu leiden hatten, sind offensichtlich nicht in der Lage, den Drogenhandel effektiv zu bekämpfen. Immer wenn ihre Regierungen US-amerikanische „Finanzhilfen“ aus verschiedenen zwischenstaatlichen und staatenübergreifenden Programmen zur Bekämpfung des illegalen Drogenhandels erhalten, akzeptieren sie rundheraus die Strategien des sogenannten Drogenkriegs; nämlich mit Bestrafung und Verbot gegen den Drogenhandel und -konsum vorzugehen. Dadurch lösen sie einen Teufelskreis aus, der die staatlichen Strukturen nur noch weiter schwächt. Denn das Verbot des Drogenhandels ermöglicht ein parasitäres Beziehungsgeflecht zwischen dem Staat und kriminellen Gruppierungen. Der Drogenhandel dringt in die politischen Institutionen ein und bringt die demokratische Stabilität in Gefahr. Da die politischen Institutionen es nicht schaffen, die Einhaltung der Gesetze abzusichern, wächst das Misstrauen gegenüber den Sicherheitsbehörden. Das verringert wiederum die Legitimität der staatlichen Institutionen und macht das Regieren noch schwieriger.
Es wird eine Dynamik in Gang gesetzt, bei der die Staaten immer weniger Einfluss auf die Entwicklung der Gewaltkriminalität in der Region nehmen können. Ihre Politik funktioniert nicht mehr. Daneben werden andere Faktoren wichtiger: In El Salvador zum Beispiel reduzierte sich die Zahl von Gewalttaten von 2012 auf 2013 drastisch, nachdem sich die beiden wichtigsten kriminellen Banden, Mara Salavatrucha 13 und Mara 18, auf einen Waffenstillstand geeinigt hatten. Die salvadorianischen Institutionen  blieben bei der Aushandlung dieses neuen Gleichgewichts ausgeschlossen. Die Brückenfunktion Zentralamerikas hat sich im Drogenhandel seit den 1980er Jahren kaum verändert. Aber warum nimmt die Gewalt in Ländern wie Guatemala, Honduras und Mexiko noch weiter zu?
Als ihre Bürgerkriege zu Ende waren, verkleinerten Länder wie El Salvador und Guatemala ihre Armeen und Geheimdienste. Eine beträchtliche Anzahl ehemaliger Polizist*innen, Kämpfer*innen und Soldat*innen fanden jedoch keine anständig bezahlte Arbeit oder Aufnahme in eine der aufstrebenden politischen Parteien. Stattdessen versuchten sie sich im Drogenhandel. Der Überschuss an Waffen aus den Kriegen verschlimmerte die Situation umso mehr.
Eine weitere Konsequenz der Bürgerkriege waren die Kriegsflüchtlinge und Wirtschaftsmigrant*innen,
die sich Ende der achtziger Jahre in Richtung der Vereinigten Staaten auf den Weg machten. Unzureichende Integrationsprogramme, Armut und enttäuschte Erwartungen trieben tausende Jugendliche, die in den Großstädten der USA aufwuchsen, dazu, kriminelle Banden zu gründen, allen voran in Los Angeles. Konservative Politiker*innen forderten daraufhin strengere Gesetze für Migrant*innen oder Kinder von Migrant*innen mit

US-Staatsbürgerschaft. Schließlich begann die US-Regierung, tausende ehemalige Straffällige und Verdächtige in ihre Herkunftsländer zurückzuschicken.
Während über die „Hilfsprogramme“ weiterhin viele Millionen US-Dollar an die zentralamerikanischen Regierungen gezahlt wurden, um die Region zu „befrieden“, mussten zwischen 1998 und 2015 über 46.000 Jugendliche zwangsweise nach Zentralamerika – vor allem El Salvador, Guatemala und Honduras – zurückkehren und sprachen dabei weder gut Spanisch, noch hatten sie Verwandte, die sie hätten empfangen können. So gründeten viele von ihnen neue Banden. Eine weitere Absurdität dieser Situation offenbart sich, wenn man bedenkt, dass die zentralamerikanischen Regierungen weiterhin die US-amerikanischen Strategien zur Drogenbekämpfung anwenden, während in einigen Bundesstaaten der USA bestimmte Substanzen bereits legalisiert werden.
In Zentralamerika hingegen tobt der Kampf gegen die Drogenkartelle wie eh und je. Die Organisationsstrukturen der illegalen Drogenwirtschaft entwickeln sich derart, dass Maras und andere am Drogenhandel beteiligte Organisationen quasi arbeitsteilig agieren. In diesem Zusammenhang ist die Ausdehnung der mexikanischen Drogenkartelle auf Zentralamerika – neben den mangelnden Perspektiven für ehemalige Armeeangehörige und aus den USA zurückgeschickte junge Menschen – der dritte Faktor, der sich im letzten Jahrzehnt auf die Verbindung von Drogenhandel und Gewalt  ausgewirkt hat.
Der mexikanische „Drogenkrieg“ nahm im Dezember 2006 seinen Anfang. Während sich Mexiko militarisierte, sahen sich die wichtigsten mexikanischen Drogenbanden dazu veranlasst, sicherere Orte für ihre kriminellen Aktivitäten aufzusuchen. Immer mehr Methamphetamine und andere psychoaktive Substanzen werden seitdem in Zentralamerika hergestellt. In den guatemaltekischen Bergregionen und zum Teil in Belize wird Marihuana angepflanzt. Das führte nicht nur zu internen Kämpfen zwischen den Familien, die dort bislang den Drogentransport dominiert hatten, und den mexikanischen Drogenbanden, sondern – was noch wichtiger ist – auch dazu, dass Zentralamerika inzwischen außer einem Umschlagplatz auch eine Produktionsstätte für Drogen ist.
Die aktuelle Drogenpolitik ist nicht nur schädlich, weil sie indirekt die Gewalt fördert, die Rechte der Konsumierenden verletzt und Gelder verschlingt, die andernfalls in Gesundheits-, Präventions- und Bildungsprogramme fließen könnten; sie bringt darüber hinaus Schwierigkeiten beim Regieren mit sich, die über kurze oder lange Sicht die staatlichen Institutionen schwächen. Auch wenn illegale Märkte dazu tendieren, Gewaltdynamiken auszulösen, ist der Drogenmarkt an sich nicht von vornherein von Gewalt bestimmt: Es sind die schwachen Staaten, in denen sich die Bedingungen herausbilden, die zur vermehrten Gewalt im Drogenhandel führen. Das Drogenverbot schwächt die Institutionen und setzt einen Teufelskreis in Gang. Bei der Herausforderung ihn wieder anzuhalten, müssen die zentralamerikanischen Staaten letztlich aufhören, die „Drecksarbeit“ für die Vereinigten Staaten zu erledigen sowie die Konventionen der Vereinten Nationen zu missachten, und sich stattdessen auf ihre dringendsten Aufgaben konzentrieren: die Ungleichheit bekämpfen, die Gewalt mittels Präventionsprogrammen eindämmen und die Einhaltung der Menschenrechte garantieren.
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