„ES GIBT AUSREICHEND GRUNDLAGE FÜR WIRKLICHE DEMOKRATIE“

Während der sandinistischen Revolution haben Sie gemeinsam mit Daniel Ortega und Rosario Murillo gegen Somoza gekämpft. Was hat das Paar, das heute in Nicaragua an der Macht ist, mit dem Paar zu tun, das Sie damals kannten?
Gioconda Belli: Wir sehen uns einem Mann gegenüber, der über einen unheimlich langen Zeitraum Macht gehabt hat, der gar nicht mehr weiß, wie er ohne Macht existieren kann. Und einer Frau, die es verstanden hat, diesen Mann an die Macht zu bringen, und die entscheidend daran mitgewirkt hat, die Sandinistische Befreiungsfront neu auf- und darzustellen, an der Hinwendung zum Katholizismus, an der Veränderung der Symbole und Farben. Sie hat den Sandinismus gewissermaßen neu erfunden und zu einer sehr seltsamen Sache gemacht, einer Mischung aus Aberglauben, Religion, Hippie-Romantik, Poesie und Rhetorik. Sie ist eine utopische, messianische Träumerin, die glaubt, sie sei dazu geschaffen, das Volk zu retten, lebt aber in einer Realität, die mit dieser Rhetorik, diesem Narrativ nichts zu tun hat.
Wir haben also eine Kombination zweier sehr komplexer Persönlichkeiten. Und diese Mission, die sie zu haben meinen, das nicaraguanische Volk zu retten, verbindet sich mit einer Art Blindheit, nicht zu sehen, wie dieses Narrativ mit der Wirklichkeit kollidiert. Sicher, die Menschen haben sie beklatscht, ihnen zugestimmt, weil sie von ihnen Wahlgeschenke bekamen, bezahlt mit den Millionen von Dollars, die aus Venezuela kamen und die sie nach eigenem Belieben ausgeben konnten. Wie sonst niemand hatten sie die Möglichkeit, sich eine große Anhängerschaft heranzuziehen und eine Fiktion zu schaffen. Das, was Rosario Murillo mit den so genannten „Lebensbäumen“ aus Metall, den bunten Farben, den instandgesetzten Parks gemacht hat, war größtenteils nichts weiter als Dekoration, Kosmetik. Und sie dekorierte mit dieser grenzenlosen Neigung zur Übertreibung, die ihr eigen ist.

Doch plötzlich klatscht man ihnen nicht mehr Beifall, plötzlich scheinen sie durch die Repression, die sie gegen die Proteste ausgeübt haben, eher wie Feinde des Volkes …
Es kam einfach ein Moment, da funktionierte diese Taktik, die sie über Jahre benutzt hatten, nicht mehr. Es war ja nicht das erste Mal, das sie Repression einsetzten, Proteste niederknüppeln ließen. Ich selbst bin bei früheren Demonstrationen Opfer der Bereitschaftspolizei gewesen. Die jungen Leute, die an der Universidad Centroamericana gegen die Brände im Naturschutzgebiet Indio Maíz protestierten, waren schon früher angegriffen worden. Als am 18. April 2018 die Proteste begannen, waren die Bereitschaftspolizei und die Paramilitärs schon mobilisiert. Wie die Student*innen an jenem Tag zusammengeschlagen wurden, war wirklich schrecklich. Und es geschah am helllichten Tag, nicht wie bei der Besetzung des Sozialversicherungsinstituts vor fünf Jahren, als die Proteste nachts niedergeknüppelt wurden. Diesmal wurde alles gefilmt, und die überall im Netz sichtbare Gewalt brachte die Leute auf die Barrikaden. Am Tag darauf wurden die ersten Student*innen getötet, und die Proteste gingen erst richtig los.

Welchen Eindruck haben Sie von diesen zwei langen Monaten der Proteste?
Zunächst war ich sehr überrascht. Denn obwohl die Übergriffe und Verletzungen der Verfassung und der demokratischen Institutionen durch Daniel Ortega mehr und mehr wurden, herrschte unter der Bevölkerung eine Art Lethargie. Gleichzeitig haben sich viele Menschen bemüht, diese Übergriffe öffentlich zu machen und anzuklagen. Ich zum Beispiel habe mich an einer Gruppe beteiligt, der „Gruppe der 27“, die Pressekonferenzen abhielt, mit den Menschen über das sprach, was in Nicaragua vor sich ging. Was jetzt geschehen ist, haben wir so nicht kommen sehen, doch es braute sich zusammen, bis es zur sozialen Explosion kam. Interessant ist, dass es von der Student*innenschaft ausging, die immer wieder als apathisch kritisiert worden war. Doch waren sie es, die Studierenden, die schließlich handelten.

Man hat den Eindruck, als gäbe es zwei Versionen über Nicaragua: die, die man auf den Straßen sieht, wo die Zivilbevölkerung von der Polizei und den Paramilitärs unterdrückt wird; und die Version, die die Regierung zeichnet, nämlich dass es sich um „kriminelle Banden“ handelt, die den Staat angreifen. Diese beiden Positionen treffen sich jetzt im „Nationalen Dialog“ am Verhandlungstisch. Was erwarten Sie von diesem Dialog?
Was die Situation auf der Straße betrifft, glaube ich tatsächlich, dass es zu einer Verständigung kommen kann. Abgesehen davon glaube ich aber, dass sie sich zu diesem Dialog bereit gefunden haben, um Zeit zu gewinnen. Sie dachten, dieser Aufstand würde bald in sich selbst zusammenbrechen. Aber dass die Proteste andauern und es immer noch Straßensperren gibt, hatten sie nicht erwartet. Und das erwähne ich, weil sie jetzt ihre Position verändert und eine Offensive gestartet haben, alles abzulehnen. Vor einem Monat haben sie noch nicht alles abgelehnt, aber plötzlich rufen sie die Gewerkschaften, die Frente Nacional de Trabajadores (FNT) auf, rufen ihre Leute zusammen, schicken sie in die Stadtviertel, in einer Offensive, die mit dem zweiten Anlauf zum Nationalen Dialog begann. Wir haben die Rede des nicaraguanischen Außenministers bei der Sitzung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) gehört, in der er behauptet, es träfe sie keinerlei Schuld, und versucht, ein Feindbild zu konstruieren.

Die Bemühungen der Opposition und der internationalen Organisationen scheinen darauf abzuzielen, dass sich die Situation nicht endlos ausdehnt wie in Venezuela: immer neue Ansätze von Verhandlungen, während die Regierung weiter die Opferrolle spielt, die Repression beibehält und die allgemeine Lage des Landes sich zusehends verschlechtert.
Ich denke, der Unterschied zwischen Venezuela und Nicaragua ist, dass die Venezolaner*innen die Demokratie kennen. Sie wissen, was das ist, verstehen sie. Wir hier nicht. Wir hatten nach 16 Jahren Neoliberalismus gerade angefangen zu verstehen, was Demokratie ist, und dann war mit Daniel Ortega schon wieder Schluss damit. Die Reaktion der Bevölkerung zeigt, dass sie nicht erwartet, dass ihre Probleme im Rahmen der Verfassung, in der Nationalversammlung gelöst werden. Hier sehen die Leute, wenn sie das nicht selbst in die Hand nehmen, dann tut das niemand. Sie glauben nicht an die Legalität, an die Demokratie. Sie möchten Demokratie, doch die demokratischen Instrumente, die es gab, die hat Ortega kassiert, über Bord geworfen. Ortega hat die Verfassung mehrfach verändert, damit sie seinen Zwecken und Vorstellungen entsprach, im Rahmen seines Ziels, die Macht zu erhalten, ohne das Volk zu befragen, unter Ausnutzung einer Nationalversammlung, in der er sich durch einen riesigen Wahlbetrug die absolute Mehrheit von 63% Prozent sicherte. Wie kann irgendjemand einer solchen Verfassung vertrauen? Hier vertrauen die Leute nur auf ihre eigene Kraft, deshalb leisten sie auf diese Weise Ortega Widerstand.

Von außen sieht man Ortega als Vertreter des Sandinismus und den Sandinismus als homogene Kraft. In Nicaragua hingegen wird oft von „Ortegismus“ gesprochen. Was ist der Unterschied zwischen Ortegismus und Sandinismus?
Der Unterschied besteht in der Person, die den Sandinismus repräsentiert, nicht so sehr im Sandinismus selbst. Der Sandinismus war eine Mischung unterschiedlicher politischer Konzepte, die auf die historische Figur Augusto César Sandino zurückgehen, einen Antiimperialisten, der ein System von Kooperativen aufbauen wollte. Sandino war kein Kommunist, hatte aber sozialistische Ideale. Der Sandinismus war wie eine Schublade, in die jeder steckte, was er wollte, entsprechend der eigenen geschichtlichen Interpretation und der jeweiligen politischen Umstände. Als der Sandinismus gegen Somoza kämpfte, war die Identität absolut klar, gegen die Diktatur, antiimperialistisch, für eine gemischte Wirtschaft, in der auch die Privatwirtschaft Platz hatte. Und mit dem nationalisierten Besitz Somozas, 60 Prozent des Landes, konnte eine Wirtschaft im Besitz des Volkes aufgebaut werden.
Der Ortegismus ist etwas anderes. Er hat sich das Erbe des Sandinismus angeeignet, das ihm nicht persönlich gehört. Hat es uns allen, die wir gegen Somoza gekämpft haben, weggenommen und mit seinen eigenen Inhalten gefüllt. Er versucht, ein bisschen die Fehler der 1980er Jahre zu vermeiden, die übertriebenen Enteignungen, die allzu radikalen Projekte. Der Diskurs ist gemäßigt links, doch der Inhalt bleibt neoliberal. Von daher auch das Bündnis mit dem Großkapital.

Der jetzige Bruch der Unternehmer*innen mit Ortega ist ein wichtiges Element bei den aktuellen Veränderungen. Wie kam es dazu, nach einem Jahrzehnt des Bündnisses zwischen der Ortega-Regierung und der Privatwirtschaft?
Man kann nicht sagen, dass die Unternehmer*innen Ortega sehr geschätzt haben. Vielmehr haben sie ihn benutzt, ausgenutzt. Sie haben sich verhalten wie die Goldgräber, haben nach dem gesucht, was Ortega ihnen anbieten konnte, und es sich genommen. Ortega hat sich vom Glanz des Goldes betören lassen und sie sich von ihm, weil er ihnen immer mehr davon versprach. Doch es war eine Sache, Ortega zu benutzen, und eine andere, sich mit ihm zu verbrüdern. Als es zu den Protesten kam, haben die Unternehmer*innen, die alte nicaraguanische Oligarchie, die nie auf Seiten des Sandinismus stand, mit Ortega gebrochen. Als es zum Bruch zwischen Ortega und der Bevölkerung kam, von der die Unternehmer*innen annahmen, sie stünde hinter Ortega, konnten auch sie ihre wahre Haltung gegenüber dem Präsidenten zeigen.

Im Nationalen Dialog steht der Regierung ein Oppositionsbündnis gegenüber, in dem viele unterschiedliche Interessen vereint sind und das vor der riesigen Herausforderung steht, geeint zu bleiben und sich politisch zu organisieren. Meinen Sie, dass das funktionieren wird?
Dies ist ein Prozess, der in ganz Lateinamerika noch keine Vorläufer hat. Die traditionellen politischen Parteien, die in Wirklichkeit nur Marionetten sind, nur auf dem Papier bestehen, werden verschwinden. Die jungen Leute wollen diese Parteien nicht mehr, sie verlangen horizontale Strukturen, wie das auch an anderen Orten auf der Welt geschieht, wo die traditionellen politischen Parteien nicht mehr den Erwartungen und der Art und Weise entsprechen, wie sich diese neue Generation organisieren will.
Ich denke, es wird etwas ganz Neues entstehen. Hier gibt es viele intelligente, fähige Leute, doch die Herausforderung wird sein, eine Organisationsform zu finden, die vielleicht nicht den Erwartungen und Ansprüchen aller in Nicaragua entspricht, aber doch einer ausreichend starken, einheitlichen Gruppierung, die Wahlen gewinnen und die die Demokratie neu formulieren kann, die wir alle wollen. Eher als bürokratische, institutionelle Demokratie sehe ich sie. Als etwas, das aus dem autonomen Bodensatz entsteht, aus der kommunalen Autonomie, der Autonomie der Universitäten, aus einer ganzen Reihe unterschiedlicher Autonomien auf Bevölkerungsebene, die dem Volk wirkliche, keine angebliche, unechte Macht geben.
Es gab in Nicaragua ja schon ein Gesetz zur Gemeindeautonomie, mit dem Ortega Schluss gemacht hat. Das Gesetz gab den Gemeinden große Selbstbestimmung und hatte begonnen, sehr gut zu funktionieren. Ich denke, man kann dieses Gesetz wieder aktivieren und auf dieser Basis neue Systeme entwickeln.

Meinen Sie, dass die Regierungspartei FSLN als Partei so weiter bestehen kann?
Die FSLN wird weiterbestehen, aber das, was jetzt passiert ist, hat ihr Schicksal besiegelt. Ich habe immer deutlich gemacht, dass ich mich als Sandinistin fühle, wegen dem, was ich als junge Frau gelebt habe, und dem, was der Sandinismus für Nicaragua bedeutete. Damals haben wir viele Fehler gemacht, wir waren hartnäckig überzeugt von der Richtigkeit unserer eigenen Ideen. Doch jetzt sehe ich, wie die Leute die sandinistischen Fahnen verbrennen und es erfüllt mich mit großer Trauer, dass die, die jetzt an der Macht sind, das zerstört haben, was der Sandinismus im Kampf gegen Somoza bedeutete. Ich sehe, wie viel Zorn sich auf den Sandinismus aufgestaut hat, und ich denke, die FSLN wird als Partei immer kleiner werden.

Besteht die Option, dass sich die Opposition bewaffnet?
Vielleicht werden hier und da ein paar Waffen auftauchen. Aber als jemand, die am bewaffneten Kampf dieses Volkes teilgenommen hat, weiß ich, dass es ziemlich kompliziert ist, sich zu bewaffnen. Aber vor allem: Die große Kraft, die wir haben, ist es gerade, dass dies ein ziviler, friedlicher Widerstand ist, niemand wird militärisch ausgebildet, es gibt keine Untergrundzellen. Wir können nur darauf setzen, dass der friedliche Protest Ortega so schwächt, dass es zu einer Lösung kommt. Mit jedem Toten wird seine Position schwächer. Inzwischen sind schon acht Staatsanwälte zurückgetreten, es werden immer mehr Angestellte des öffentlichen Dienstes kündigen. Sie werden immer einsamer werden. Das ist das, was meiner Ansicht nach passieren wird.

Innerhalb der Opposition gibt es mindestens zwei Strömungen: Auf der Straße fordert man den sofortigen Rücktritt Ortegas, andere meinen, es wäre besser, dass Ortega bis zu vorgezogenen Wahlen im Amt bleibt, wahrscheinlich also bis März 2019. Welcher Strömung rechnen Sie sich selbst zu?
Ich meine zwar, dass es mit ihm an der Regierung sehr schwer sein wird, die Wahlen vorzubereiten, doch wird es ebenso schwierig sein, ihn ohne Waffen zum Rücktritt zu zwingen. Acht Monate zivilen Widerstands auf der Straße werden viele Todesopfer fordern. Wenn tatsächlich die UNO, die OAS einbezogen werden und Wahlbeobachtung zugelassen wird, ziehe ich es vor, diesen zivilen Widerstand acht Monate weiterzuführen, unter der Voraussetzung, dass der Oberste Wahlrat nicht wieder mit den Leuten Ortegas besetzt wird. Ich denke nicht, dass der Druck so groß werden wird, dass er vor den Wahlen zurücktreten wird. Vor allem auch deshalb, weil ihn nichts anderes auf der Welt interessiert. Dort, wo er sich befindet, fehlt es ihm an nichts, er hat alles, was er zum Leben braucht, und eine Palastgarde, die ihn schützt. Aber es besteht auch das Risiko, dass sie so weitermachen wie bisher: mit Zynismus, Ablehnung, Falschspiel. Einen einfachen Ausweg wird es nicht geben.

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