COMING OF AGE IN QUITO UND CALI

Als 2018 die Verfilmung von Virus Tropical auf der Berlinale gezeigt wurde, haben LN diese unter dem Titel „Persepolis a la Latina“ (siehe LN 524) rezensiert. Denn wie bei Persepolis handelt es sich bei Virus Tropical um eine autobiografische Bildungsgeschichte, die in schwarz-weißen Zeichnungen erzählt wird.

Viele Geschichten sind in dem Sinne Persepolis: Universelle Themen wie Aufwachsen in einer geschichtlich prägnanten Zeit – und welche Zeit hat schon nicht ihre eigenen Turbulenzen – die Konflikte, die Personen in einer migrantischen Realität erleben, die Suche der eigenen Identität und Berufung werden immer wieder aufgegriffen und re-interpretiert. So auch in Virus Tropical: Die Protagonistin Paola wächst in Quito und Cali der 90er Jahre auf, mitten im kolumbianischen Drogenkrieg. Als sie als jüngere Teenagerin in Cali ankommt, muss sie sich anstrengen, um dazu zu gehören. Ihre Röcke sind zu lang und ihre Sprache zu komisch. Mit Hilfe ihrer älteren Schwester Patty lernt sie, das soziale Gefüge zu navigieren und allmählich stellt sich heraus, dass sie Zeichnerin werden möchte.

Viele von Paolas Erfahrungen sind jedoch charakteristisch für den lateinamerikanischen Kontext. Die Rolle von Religion und Mystik im Alltagsleben etwa, die durch die katholische Grundschule, den Priesterberuf des Vaters und das Wahrsagen mithilfe von Dominosteinen, das die Mutter für ihre Freundinnen betreibt, erfahrbar gemacht wird. Dass die Hausangestellte Chavella Geld stiehlt, um sich einer Schönheits-OP zu unterziehen, konfrontiert die Leser*innen sowohl mit eng gefassten weißen Schönheitsnormen als auch mit der Klassenfrage. Und als der Vater die ganzen Ersparnisse der Familie bei „einer Familie“ anlegt und verliert, wird das populäre Schneeballsystem für Geldbetrug erkennbar. Besonders gelungen ist der Zeichenstil. Hat er auf den ersten Blick gewisse Ähnlichkeit mit kindlichem Gekritzel, wird bei genauerer Betrachtung deutlich, wie elaboriert mit den Schraffuren umgegangen wird, die sehr kunstvoll Schatten und Licht sowie verschiedene Texturen darstellen. Die Haare von Patty, Parkett und Teppich, das Gardinenmuster, die Kopfsteinpflaster der Straße, die Backsteinmauer, die Gebüsche, die an Mikroskop-Zeichnungen erinnern, gar psychedelisch wirken. Leider ist dabei stellenweise schwer nachzuvollziehen, zu welchem Bild ein Text gehört.

Der Comic liest sich schnell runter und verleitet die Leser*innen dazu, durch den Text zu flitzen, ohne die Bilder groß zu beachten. Beim genaueren Hingucken lassen sich jedoch immer wieder neue Details entdecken. Eine wohnungslose Person etwa, die mit einer Zeitung zugedeckt in der Ecke schläft, oder die im Hintergrund auf dem Dach hängende Wäsche.

Wer Comics mag, wird von der Geschichte und den Zeichnungen begeistert sein. Und andere werden mit Virus Tropical ihre Comic-Begeisterung finden.

DAS BESSERE GESCHICHTSBUCH

Wer an Salvador Allende denkt, kommt wahrscheinlich bald bei dessen Sturz am 11. September 1973 an. Seine letzte Rede, im Angesicht des Putsches und des Beginns einer Militärdiktatur, machte Allende zur Ikone: „Ich werde nicht zurücktreten! In eine historische Situation gestellt, werde ich meine Loyalität gegenüber dem Volk mit dem Leben bezahlen.“

Diese Sätze stehen in Die Jahre von Allende erst auf den letzten Seiten. Die Graphic Novel rollt die komplexen Ereignisse der 1.000 Tage andauernden Allende-Regierung ab seiner Wahl im September 1970 auf. Die drei Kalenderjahre bilden Kapitel und strukturieren die sich überschlagenden Entwicklungen: vom Amtsantritt und der Regierungsbildung unter Allendes Unidad Popular über die Rolle der sozialen Bewegungen und Gewerkschaften, den Einfluss der USA und extrem rechter Organisationen bis hin zu politischen Attentaten und den bis heute umstrittenen Todesumständen Allendes.

Zwischen den Geschehnissen auf der Straße und im Parlament – etwa Allendes Erfolge, wie die Verstaatlichung der Kupfervorkommen – fällt es schwer, den Überblick zu behalten. Hierfür haben die Autoren eine Rahmenhandlung um den US-amerikanischen Journalisten John Nitsch entworfen. Dieser Schachzug mag zunächst verwundern, beim Lesen leuchtet er ein: Nitschs Außenperspektive macht das komplexe Geschehen auch für nicht-chilenische Leser*innen verständlich und verdeutlicht die Rolle der USA an den Ereignissen.

Die Zeichnungen von Rodrigo Elgueta lockern die manchmal überfordernd detaillierte Chronik in Die Jahre von Allende auf. Trotz der schlichten Gestaltung lassen die Bilder bei längerer Betrachtung interessante Details zum Vorschein kommen. Hierfür lohnt es sich sehr, auch den ausführlichen Anhang zu lesen: Die Autoren erläutern dort die popkulturellen Anspielungen, die sie überall auf den Seiten versteckt haben, zum Beispiel Plakate und Comics der frühen 70er Jahre.

Es ist eine Bereicherung, dass die Graphic Novel nach fünf Jahren nun für ein deutschsprachiges Publikum zugänglich ist. Die Übersetzung von Lea Hübner überzeugt auch bei der Vermittlung des besonderen Pathos, das bei Salvador Allendes Reden stets mitschwang. Einige Fußnoten helfen bei der Einordnung politischer Organisationen oder Personen.

Der Szenerist Carlos Reyes und der Zeichner Rodrigo Elgueta, beide in den Jahren Allendes noch Kleinkinder, haben somit eine Graphic Novel für ein breites Publikum geschaffen. Diese zeigt, beinahe wie ein spannendes Geschichtsbuch, auch pädagogisches Potenzial. Beide Autoren sind übrigens Lehrer. Die kritische und detaillierte Auseinandersetzung mit der Geschichte wird sowohl jüngeren Leser*innen als auch Kenner*innen neue Erkenntnisse über Salvador Allende bringen. Dessen letzte Worte behalten angesichts der Massenproteste für eine neue Verfassung seit Oktober 2019 wohl bis heute Gültigkeit: „Ich glaube an Chile und sein Schicksal. Es werden andere Chilenen kommen. In diesen düsteren und bitteren Augenblicken […] sollt ihr wissen, dass ihr früher oder später, sehr bald, erneut die großen Alleen aufstoßen werdet, auf denen der würdige Mensch dem Aufbau einer besseren Gesellschaft entgegengeht.“

LEBEN IN SCHWARZ-WEIß UND ROT

Ob gegen Kosaken, das Gefängnis in Ushuaia oder spanische Faschist*innen – immer kämpfte Simón Radowitzky für sich und die Freiheit. So gab er Anarchist*innen in Argentinien und weltweit Hoffnung und Kraft.

Agustín Comottos Graphic Novel Simón Radowitzky – Vom Schtetl zum Freiheitskämpfer, 2016 auf Spanisch erschienen und endlich ins Deutsche übersetzt, ist eine besondere Biografie des berühmten Anarchisten. 1891 wird Radowitzky in Štěpanice, einem jüdischen Dorf in der heutigen Ukraine, geboren. Antisemitische Pogrome vertreiben ihn in die nächste Großstadt, aus der er nach Argentinien fliehen kann. Simón sieht, wie die Arbeiter*innen unterdrückt werden und wie mit Gewalt versucht wird, die ungerechten Verhältnisse zu stabilisieren. In Buenos Aires findet er schnell Kontakte zu Anarchist*innen und erlebt die „Rote Woche“ nach dem 1. Mai 1909 mit, in der rund 100 Arbeiter*innen den Waffen der Polizei zum Opfer fielen. Er beschließt, den verantwortlichen Polizeichef Ramón Falcón mit einer Granate zu töten, wird gefasst, zu lebenslanger Haft verurteilt und ins Gefängnis am „Ende der Welt“ gesteckt.

Weil er zu seiner Tat stand und sie nie bereute, wurde Simón Radowitzky zu einem Symbol der anarchistischen Bewegung – obwohl er das Märtyrertum ablehnte. Mit Hilfe von Gefährt*innen gelang ihm schließlich die Flucht. Er kehrte zurück nach Europa und kämpfte in Spanien mit den Internationalen Brigaden gegen Franco. Nachdem die Faschist*innen Barcelona eingenommen hatten, floh er nach Frankreich und von dort nach Mexiko-Stadt, wo er 1956 als einfacher Fabrikarbeiter starb.

Agustín Comotto zeichnet diese beeindruckende Biografie in den passenden Farben. Radowitzkys Leben war schwarz, weiß und rot: schwarz und weiß, weil entbehrlich und prekär, aber immer mit klaren Fronten. Rot wegen der Gewalt, die es sein Leben lang nicht geschafft hat, das Menschliche in ihm zu brechen. Manchmal liegt sie schon vorher in der Luft, manchmal ist sie strukturell. Dazu kommen die rauen Formen und die kantigen Gesichter der Unterdrückten. Besonders die Darstellungen des Gefängnisses in Ushuaia beschreiben mit schroffen Formen den brutalen Alltag zwischen der sogenannten Eiszelle und Zwangsarbeit. Schwarz und Rot stehen gleichzeitig für Radowitzkys politische Überzeugung: den Anarchosyndikalismus.

Auch – oder gerade – auf Leser*innen, die mit Graphic Novels nicht vertraut sind, entwickelt das großformatige Buch eine unfassbare Sogwirkung. Die Comiczeichnungen lassen einen ganz in Simóns Freiheitskampf eintauchen und verdeutlichen die Kluft zwischen menschlichem Willen und unterdrückender Gegenwart. Allein die einfachen Dialoge des Genres bringen beim Lesen und Staunen manchmal kleine Hindernisse in Form fehlender Überleitungen zwischen den einzelnen Bildern und Szenen. In jedem Fall ist die Graphic Novel aber ein starkes Werk, das uns die Probleme und Kämpfe vergangener Tage vor Augen führt und gleichzeitig Kraft schenken kann, die eigene Unterdrückung auch in unserer Zeit nicht weiter hinzunehmen.