“Die Karibik mischen Souveränität und Abhängigkeit”

Schon der Aufbau hebt sich wohltuend von der Mehrheit der sonstigen Bücher ab. die eine Region thematisieren. Nicht die klassische Reihenfolge Geschichte, Politik und Wirtschaft mit einem gesellschaftlich- kulturellen Anhängsel wird gewählt. Vielmehr werden zu Beginn von Ulrich Fleischmann geographische und kulturhistorische Bestimmungskriterien für die Karibik vorgestellt, der er dann eine Beschreibung der soziokulturellen Entwicklung folgen läßt. Das Entstehen der karibisch-kreolischen Volkskultur unter den Bedingungen der Sklaverei und ihr Spannungsverhältnis zur dominanten Kolonialkultur stehen dabei im Mittelpunkt.

Der Beitrag von Wolf-Dietrich Sahr über Identität und Authentizität in der Ostkaribik versucht eine Annäherung in das Selbstverständnis der karibischen Bevölkerung zu geben. Das europäische Identitätskonzept wird hierbei hinterfragt und als untauglich für die Karibik zurückgewiesen. Identität als Identifikation des Individuums mit einem historisch gewachsenen Raum, einer Geschichte und einer Sprach-bzw. Bevölkerungsgruppe konnte in den kolonialisierten Gesellschaften der Karibik nicht entstehen. Der Autor plädiert stattdessen für ein Konzept der Authentizität. Dies beinhaltet den Kampf für die Freiheit des Individuums, die Selbstverwirklichung durch selbstbestimmte Arbeit, kulturelle Leistungen und wirtschaftlichen Erfolg sowie die Entwicklung politisch adäquater Formen der Selbstbestimmung unter Rückgriff auf authentische Formen der karibischen Ethnokulturen.

Impressionen und Alltagskultur

Nach dem entwicklungssoziologischen und kulturphilosophischen Eingangskapitel wissenschaftlicher Prägung, kann sich der/die LeserIn bei den darauffolgenden karibischen Impressionen entspannen. Der Literaturwissenschaftler Martin Franzbach beschreibt in Kuba gewonnene Reiseeindrücke aus dem Blickwinkel der Literatur Miguel Bamets und José Martís. Peter-Paul Zahl, Ex-Stadtguerillero der Bewegung “2. Juni” und seit 1985 auf Jamaica lebender Schriftsteller, zieht in einem Interview einen Vergleich zwischen dem Leben auf Jamaica und dem in Deutschland.

Anhand von Beiträgen über Kuba, Martinique, Jamaica und St. Lucia wird karibische Alltagskultur dargestellt. Die Ansätze der Autorlnnen decken dabei ein breites Spektrum ab. Dreht es sich bei den Beiträgen zu Kuba mit der Thematisierung von Großfamilie, Traditionen, Schwarzmarkt und dem afroamerikanischen Kult der santeria noch um Alltagskultur im engeren Sinne, so wird bei den anderen Beiträgen ein weitergehender Ansatz verfolgt.

So ist die “antillanische Schizophrenie” Gegenstand des Artikels von Helmtrud Rumpf über Martinique und Guadeloupe. Im dortigen Radio erfährt der/die HörerIn Aufklärung über Staus im östlichen Paris, im Fernsehen die Wettervorhersage für Frankreich. “Natürlich alles auf Französisch, wiewohl doch Kreolisch die gängige Sprache in den antillanischen Haus-halten ist. So französiert die Antillen auch sind, in Frankreich werden die AntillanerInnen -ob “GastarbeiterIn” oder IntellektuelleR -trotz ihres französischen Passes nicht als gleichwertig anerkannt. Durch ihre Hautfarbe stigmatisiert, bleibt den AntillanerInnen in Frankreich nur die Anpassung an die dortigen Normen oder die Rückkehr. Die Unabhängigkeit hält die Autorin deshalb für grundsätzlich wünschenswert. Die den Artikel beschließenden Fragen “Aber ist eine Unabhängigkeit heutzutage noch realisierbar? Und wie sollte sie aussehen?” machen aber ihre Zweifel an dieser “Option” deutlich.

Reggae und Ragga

Christian Habekost setzt sich mit der Entwicklung jamaicanischer Populärmusik vom Rasta-Reggae zum Ragga-Reggae auseinander. Die Synchronität von politischem und musikalischem Wandel steht dabei im Zentrum seiner Ausführungen. Reichlich mit Liedtexten unterlegt, zeichnet er die Veränderung im Musikstil auf Jamaica nach. Als Zäsur macht er dabei die Jahre 1980181 aus. Die Zeit des “Demokratischen Sozialismus” auf Jamaica wurde 1980 mit der Abwahl ihres Begründers Michael Manleys Geschichte. 1981 starb mit Bob Marley der King of Reggae. Diese Ereignisse bedeuteten das Ende der kulturellen Aufbruchstimmung der siebziger Jahre. Manley hatte diese nachhaltig mit der Eröffnung von staatlichen Schulen für Musik, Tanz, Kunst und Drama gefördert. Bob Marley verhalf ihr zu weltweiter Verbreitung. Das nun entstandene Vakuum wurde im Verlauf der achtziger Jahre mit neuen, zeitgemäßen Werten besetzt. Sex, body & style dominierten fortan in den Liedtexten. Die Rasta-Forderungen nach Systemumsturz oder Rückkehr nach Afrika verloren zunehmend an Bedeutung. Die langsamen Rasta-Rhythmen wurden durch hektische, computergesteuerte Rhythmen ersetzt. Mit diesem musikalischen Wandel einher ging auch eine Veränderung des vorherrschen- den lifestyle. Der raggamuffin, die Bezeichnung für einen verrufenen Mann oder Jungen, wurde anstatt des Rasta-Rebellen zum neuen Ideal. Nicht mehr Systemumsturz, sondern Teilhabe am materiellen Reichtum um jeden bargeldlosen Preis ist die neue Ausrichtung. Anfangs von Mittel-und Oberschicht geächtet und gefürchtet, wie einst die Rastas, wurden die raggamuffins und der Ragga-Reggae Anfang der neunziger Jahre über seine in den USA und Europa erlangte Anerkennug auch in Jamaica hoffähig. Die kommerzielle Vereinnahmung ließ die Ragga-Subkultur zum style aufsteigen -wie einst auch die Rasta-Subkultur.

Karibische Weltsicht als Modell?

Migration ist in der Karibik etwas Alltägliches. Dabei ist sie sowohl Überlebensstrategie als auch Lebensform, wie Wolf- Dietrich Sahr am Beispiel einer Familie aus St. Lucia deutlich macht. Migration hat in der Karibik eine lange Tradition. . Durch die restriktiver gewordene Einwanderungspolitik von Großbritannien und den USA hat sie sich inzwischen in Richtung Innerkaribik verlagert. Die weltweiten Familiennetze haben bei den InselbewohnerInnen zu einer globalen Sichtweise geführt. Für den Autor könnte diese Weltsicht gar zu einem Modell für das 21. Jahrhundert werden, pflegt sie doch die Vermittlung zwischen den Kulturen und versucht nationalstaatliche Grenzen zu
überwinden.

Politik auf den Antillen

Die politischen Belange in der Karibik kommen nicht zu kurz. Von der Sander- stellung Puerto Ricos als assoziiertem Freistaat der USA über das jamaicanische Parteiensystem und die dominikanischen Eliten bis hin zur Situation auf den französischen Antillen und dem spannungs-geladenen Verhältnis Dominikanische Republik-Haiti -inselspezifische Eigenheiten werden kurz und prägnant dargestellt,
Alrich Nicolas’ Beitrag beleuchtet die ‘ Rolle des Vaudou auf Haiti. Aufgeräumt wird mit den in der westlichen Welt häufig anzutreffenden Klischeevorstellungen vom bösen,teuflischen Kult. Der aus einer Vielzahl afrikanischer Religionen in der Zeit der Sklaverei entstandene Vaudou war Ausgangspunkt einer neuen Identität für die Sklaven und bot eine Alternative zu den die Plantagenkultur dominierenden europäischen Werten. So waren viele Anführer der Gemeinschaften von marrons (entlaufener Sklaven) gleichzeitig auch Vaudou-Priester. Vaudou hat also nicht nur eine religiöse, sondern eben auch eine politische Dimension. Im Demokratisie-rungspmzess kurz vor und nach dem Sturz der Duvalier-Diktatur 1986 wurde dies ebenfalls deutlich. Der Vaudou galt als Fluchtpunkt und Alternative ‘ zum ge-scheiterten Gesellschaftsprojekt der Eliten und wurde gar in die Verfassung aufgenommen. Trotz der öffentlichen Anerkennung des Vaudou nach langen Jahren der offiziellen Unterdrückung sieht der Autor die Zukunft des Vaudou als gefährdet an. Zum einen setzen ihm die protestantischen Sekten US-amerikanischer Prägung zu,zum anderen wird seine Basis. die bäuerliche Gesellschaft durch die geführt. Für den Autor könnte diese Weltsicht rapide verschlechternden ökonomischen Verhältnisse zunehmend aufgelöst.

US-amerikanische Außenpolitik

Die verschiedenen Phasen US-amerikanischer Außenpolitik gegenüber der Karibik thematisiert Hagen Späth. Der Krieg gegen Spanien 1898 mit der Eroberung Puerto Ricos und Kubas wird von ihm als Beginn der imperialistischen Phase definiert. Die Schaffung der Kanalzone in Panama, die Besetzungen Haitis 1915-1930 und der Dominikanischen Republik 1916- 1924 bildeten weitete Marksteine in dieser Epoche. Unter Roosevelt wurde 1933 dann die Phase der “‘guten Nachbarschaft” eingeläutet. Direkte Interventionen Wurden vermieden, die Propagierung des Freihandels stand im Vordergrund. Mit der Phase des Kalten Krieges ab Ende der vierziger Jahre kamen Interventionen wie-der aufs Tapet. Als normative Grundlage diente das Konzept der Western-Hemisphere, welches besagt, daß zwischen den USA und Lateinamerika eine prinzipielle Gemeinsamkeit demokratischer und wirtschaftsliberaler Grundwerte bestehe. Abweichungen von diesem Konzept wurden mit Invasion geahndet, so in Guatemala 1954, auf der Dominikanischen Republik 1965 und in Grenada 1983 -oder mit der Unterstützung der Contra im Falle Kubas und Nicaraguas. Die neunziger Jahre firmieren nun als Phase der “Neuen Weltordnung” und sind geprägt von der Strategie der Demokratisierung nach US-Muster, also Durchsetzung freier Märkte und freier UnternehmerInnen unter Beschneidung des staatlichen Einflusses. Gemäß dem Fazit des Autors blieb die Substanz der US-amerikanischen Außenpolitik im
Zeitverlauf unverändert, weshalb er auch den mit Clinton verbundenen Hoffnungen eine Absage erteilt.

Inselökonomien

Last but not least werden die Anpassungs- versuche der karibischen Ökonomien an den Weltmarkt betrachtet. Exportstrategien wie die Freien Produktionszonen, in denen die dort produzierenden Unternehmen vollkommen von Steuern und Abgaben befreit sind, werden ebenso einer kritischen Analyse unterzogen wie das ehemals ob seiner hohen Wachstumsraten gepriesene Entwicklungsmodell auf Puerto Rico und die Struktur der kleinbäuerlichen Ökonomie in Haiti. Die Anpassungsmaß- nahmen auf Kuba beschreibt Robert Lessmann. Dort wird verstärkt auf Joint Ventures mit ausländischen Unternehmen gesetzt. Diesen werden unter anderem arbeitsrechtliche Sonderbedingungen und die Möglichkeit des Gewinntransfers zu- gestanden. Die Autonomie einheimischer Betriebe in Prioritätssektoren wie dem Tourismus und dem Exportsektor wurde zudem erweitert, so daß sie weitgehend unabhängig über ihre Deviseneinnahmen verfügen können. Der fortschreitende Verfall der kubanischen Wirtschaft konnte in-des dadurch nicht gestoppt werden, wes- halb Castro am 26. Juli 1993, anläßlich des vierzigsten Jahrestages des Angriffes auf die Moncada-Kaserne, eine Strukturreform verkündete, in dessen Zentrum die Dollarfreigabe steht. Da die Castro-Regierung die einzige politische Kraft ist, die überhaupt ein Konzept zur Krisenbewältigung hat, spricht sich der Autor für eine Unterstützung des Offnungsprozesses aus.

Die Stellung der Frau in der Neuen Internationalen Arbeitsteilung wird von Maritza Le Breton B. unter die Lupe genommen. Frauen werden in dieser Arbeitsteilung als “Natur”, als billig und beliebig verfügbare Objekte betrachtet und behandelt, was die Verfasserin als Prozess der “Hausfrauisierung” versteht. Besondere Bedeutung schreibt sie in diesem Zusammenhang dem Prostitutionstourismus und dem Frauenhandel zu. Ausgehend von der Dominikanischen Republik sieht sie die Karibik zu einem der wichtigsten Zentren dieser Ausprägung heranwachsen.

Der durchweg positive Gesamteindruck wird durch diverse Schreibfehler sowie Nachlässigkeiten beim Layout leicht getrübt. Zwei Artikel sind fortlaufend mit den Kopfzeilen des vorhergehenden Artikels ausgestattet und warum ein Artikel über die französischen Antillen ausgerechnet mit einem Bild eines jamaicanischen Herrenhauses abgeschlossen wird, bleibt im Dunkeln. Vielleicht sind diese Mängel ja einer semiprofessionellen Produktion geschuldet. Zumindest 1äßt der günstige Preis von 19 DM dies vermuten.

Debatten jenseits der Wirklichkeit

Pragmatische Frauenlobby
Drei Wochen lang tagten auf der letzten Vorbereitungskonferenz für Kairo (Prepcom) Regierungsdelegationen und insgesamt 1200 VertreterInnen von ge­ladenen NGOs in New York. Sie korri­gierten an einem rund 100-seitigen Papier herum, dem sogenannten “Weltaktions­plan”, der nicht weniger als eine Richtlinie für die nächsten 20 Jahre internationaler Bevölkerungspolitik dar­stellen soll. Er wird in Kairo zur Unter­zeichnung vor­liegen.
Anfangs wurde auf der Konferenz daran gearbeitet, den Spagat zwischen weiterhin formulierten demographischen Zielset­zungen und der allgemein bezeugten Ab­leh­nung von Zwangsmaßnahmen gegen Frauen zu kaschieren. Die Kritik von Frauen­gesundheitsorganisationen an der Pra­xis von Familienplanungsprogrammen hat inzwischen Eingang in die Diskurse bevölkerungspolitischer Institutionen und Regierungen gefunden. Freiwilligkeit, Wahl­freiheit der Verhütungsmethoden, Beachtung der sozialen und kulturellen Hintergründe und die Achtung der repro­duktiven Gesundheit von Frauen sind all­gemeinbenutzte Floskeln. Den Vertrete­rinnen von Frauenorganisa­tionen, die einen Großteil der NGO-Dele­gierten aus­machten, gelang es in profes­sioneller Lobbyarbeit, weitere Formulie­rungen über ethische Normen und Quali­tät von Familienplanungsprogrammen im Akti­onsplan durchzusetzen. Damit ließen sie sich jedoch auf den ideologischen Rah­men des Planes ein: die Verknüpfung von Bevölke­rungswachstum als Ursachefaktor mit ver­schiedensten gesellschaftlichen Problemen wie Verarmung, Flucht und Umweltzer­störung. Die internationale Kontro­verse innerhalb der Frauenbewe­gungen, ob Bevölkerungspolitik an sich notwendig und feministisch reformierbar ist oder als Herrschaftsstrategie und bio­logistische Ideologie grundsätzlich be­kämpft werden muß, wurde unter den Tisch gekehrt. Und dies, obwohl demo­graphische Zielsetzun­gen weiterhin Teil des Aktionsplanes sind.
Der offizielle Machbarkeitswahn sieht keine Widersprüche zwischen Freiwillig­keit der Geburtenkontrolle und demogra­phischen Zielen. Die Weltbevölkerung soll ohne Zwangsmaßnahmen bis zum Jahr 2015 auf 7,3 Milliarden Menschen “stabilisiert” werden. Familienplanungs­programme sollen lediglich die statistisch genau ermittelte Anzahl von Frauen errei­chen, die an einem “ungedeckten Bedarf” an Verhütungsangeboten leiden. Wie dies geschehen soll, drücken die bevölke­rungspolitischen Planer auch hauptpsäch­lich in Zahlen aus. Bis zum Jahr 2000 soll der Etat für bevölkerungspolitische Pro­gramme international auf insgesamt 13 Milliarden US-Dollar steigen. Dazu wer­den die Re­gierungsbudgets für Familien­planung offi­ziell von 1,4 auf 4 Prozent der Entwick­lungshilfegelder erweitert, also zu Lasten anderer entwicklungspolitischer Etats. Die von der pragmatischen Frauen­position unterstützte Strategie, sozialpoli­tische Progamme zur Voraussetzung von mehr Entscheidungsmöglichkeiten für Frauen zu erklären, erweist sich damit als Farce.
Massive päpstliche Intervention verdeckt Konflikte
Erfolg oder Vereinnahmung: So oder so wurden die Korrekturen der Frauenlobby durch die Intervention des Vatikans im zweiten Teil der Konferenz wieder zu­nichte gemacht. Der durch das Konsens­prinzip und als Vollmitglied mit Macht ausgestattete “Heilige Stuhl” erreichte es mit Unterstützung der Delegationen aus Nicaragua, Honduras, Guatemala, Malta und Kroatien, daß die wichtigsten Formu­lierungen zu reproduktiver Gesundheit wieder in Klammern gesetzt wurden und damit in Kairo neu verhandelt werden müssen. Die päpstliche Lobby stellte nicht nur den Zugang zu sicheren Abtreibungs­möglichkeiten und zu “künstlichen” Ver­hütungsmitteln in Frage. Auch die Passa­gen über ein Individualrecht an Geburten­kontrolle, die dem traditionellen katholi­schen Familienbild widersprechen, waren Angriffspunkte. Diese Polarisierungsstra­tegie des Papstes, der inzwischen in der argentinischen Regierung einen weiteren Bündnispartner gefunden hat, führt dazu, daß nicht nur die Widersprüche innerhalb der Frauenbewegungen, sondern auch zwischen bevölkerungspolitischen Institu­tionen und Frauenbewegung öffentlich unsichtbar werden. Damit verringert sich auch der politische Spielraum der Frau­enlobby weiter.
Kanther-Bericht verärgert NGOs
Unter diesen Bedingungen bemüht sich die Bundesregierung noch nachträglich, ihre dem Bundesinnenministerium unter­stehende Nationale Kommission durch eine Frauenrepräsentantin aus dem Deut­schen Frauenrat aufzupeppen und warb Mitte Juni auf einem NGO-Hearing um dessen Teilnahme. Die deutsche Regie­rungsdelegation wird international beson­ders beobachtet, weil sie wegen der deut­schen EU-Präsidentschaft als Sprecherin des europäischen Blocks auf der Welt­bevölkerungskonferenz auftreten wird. Sie besteht bisher als eine der wenigen Dele­gationen ausschließlich aus Männern: Vertreten sind Bundes- und Ländermini­sterien, die Kirche, das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung sowie verschie­dene etablierte NGOs, unter anderem die 1991 von Unternehmern gegründete Deut­sche Stiftung Weltbevölkerung (DSW).
Aber selbst in dieser Herrenrunde gelang es der Kanther-Behörde nicht, ihren bei der Prepcom vorgelegten Regierungs­bericht als Dokument der “Zivilgesell­schaft” darzustellen. Die DSW sah den Bericht anscheinend als kon­traproduktiv für ihr liberales Image an. Sie kritisierte, daß er Deutschland nicht zum Einwande­rungsland erkläre und verwei­gerte die Zu­stimmung. Die DSW hat es innerhalb kürzester Zeit mit Fernsehauf­tritten, Hochglanzbroschüren und renom­mierten Mit­gliedern aus ARD, GTZ und der Be­völkerungswissenschaft erreicht, als Re­präsentantin einer seriösen um das “Weltbevölkerungsproblem” besorgten Öffentlichkeit zu gelten.
Der Regierungsbericht bedient die apo­kalyptischen Visionen von uns überflu­tenden Menschenmassen, wie sie seit ei­niger Zeit in Medien wie SÜDDEUT­SCHE, SPIEGEL oder ZEIT zum Thema Bevölkerungswachstum verbreitet wer­den. So lobt der Bericht das neue Asyl­recht und die Ausländergesetzgebung als geeignete Mittel, dem “Wanderungsdruck auf Westeuropa” entgegenzuwirken: “Die angestrebte Integration (von Ausländern) ist aber nur möglich, wenn der weitere Zuzug aus den Staaten außerhalb der Eu­ropäischen Union begrenzt und gesteuert wird.” Dem in dem Bericht ausführlich beklagten “Bevölkerungsrückgang” und der “Alterung” der deutschen Bevölkerung könne deswegen nicht durch Einwande­rung entgegengewirkt werden. Unterstri­chen wird dies durch Anwendung des deutschen Lex Sanguinis in den beige­fügten demographischen Prognosen: Bis in das Jahr 2030 wird das Wachstum der Kategorie ausländische Bevölkerung ge­trennt von der Kategorie deutsche Bevöl­kerung hochgerechnet. Eine implizit durch diese Betrachtungen nahegelegte pronata­listische Politik für letztere will die Regie­rungskommission allerdings nicht dekla­rieren. Der Bericht sieht von einer “Zielvorstellung für die künftige Gebur­tenentwicklung” in der BRD ab. Famili­enpolitik habe eine eigenständige Bedeu­tung.
Anders sieht es dagegen bei Bevölke­rungspolitik im Rahmen internationaler Entwicklungspolitik aus. Die Ursachen des “Wanderungsdrucks” werden zwar als “komplex” beschrieben. Die angepriesene Lösung ist aber einfach die Bekämpfung der Ursache “Überbevölkerung” durch die Erhöhung des Etats des Bundesministe­riums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) für Familienplanungsprogramme. Das BMZ hat seit 1991 Bevölkerungs­politik zu einem Schwerpunkt internatio­naler Entwicklungshilfe erklärt und die Gelder dafür von 74 Millionen DM 1990 auf 160 Millionen DM 1993 erhöht. Dar­über hinaus schlägt der Bericht für die Zukunft eine Art bevölkerungspolitische Konditionie­rung von Entwicklungspolitik, eine “Überprüfung von Projektansätzen auf eine mögliche Einbindung be­völ­ke­rungs­politisch wirksamer Maßnahmen” vor.
Liberaler Mainstream
Mit diesem zweiten, entwicklungspoliti­schen Teil des Regierungsberichts hat die liberale Öffentlichkeit keine Probleme. Die in den 70er Jahren noch in breiteren Kreisen umstrittene Verknüpfung von Be­völkerungswachstum und Um­weltzer­störung/Verarmung gilt heute als objek­tive Tatsache. Dabei gehen die in Öko­lo­gie und Entwicklungspolitik enga­gierten Lobbyisten nicht mehr so platt von Be­völ­ke­rungswachstum als alleiniger Ur­sache von Armut und Umweltzerstörung aus, son­dern präsentieren komplizierte Mo­del­le von Wechselwirkungen ver­schiedener sich gegenseitig beeinflussen­der Faktoren. Die Menschenzahl sei nur eine der zu re­du­zierenden Größen, auf die man sich aber gerade spezialisiert habe. Der Öko­Marshallplan etwa, der von Franz Alt zu­sammen mit vier Umweltpolitikern aus CDU, SPD, FDP und GRÜNEN im letz­ten Jahr proklamiert wurde, fordert von Ent­wicklungsländern eine Bekämp­fung der “Bevölkerungsexplosion” und stellt dies als gleichwertige Aufgabe zu einer Po­litik der CO-2-Reduzierung in den In­du­striestaaten dar. Menschen und Schad­stoffemissionen werden dabei zu kompa­ti­blen, als politische Verhand­lungsmasse einsetzbaren Größen.
Auch die von verschiedenen Entwick­lungshilfeagenturen (Brot für die Welt, Misereor, Terre des Hommes, GEPA, DED u.a.) getragene Kampagne “Eine Welt” hat sich dieses Jahr das “Welt­bevöl­kerungsproblem” auf ihre Fah­nen ge­schrieben. Dazu hat “Eine Welt” mit Sub­ventionen des BMZ preisgünstige Unter­richtsmaterialien in einer Auflage von 50.000 Exemplaren produziert. Die Titel­frage “Ein überbevölkerter Planet?” wird im Text folgendermaßen beantwortet (Sug­gestiv wird die Antwort schon auf dem Deckblatt nahegelegt. Ein Foto zeigt eine hinter einem Stacheldrahtzaun wartende Menge schwarzer Menschen): “Überbevölkerung ist auch im Zusam­menhang mit den ökologischen Zerstö­rungen nur ein Faktor der Erklärung, der allerdings vor allem lokal für die konkrete Umwelt in der Dritten Welt eine erhebli­che Bedeutung hat”. Auch hier wird Be­völkerung zur Variable für die Lösung von sich in Entwicklungsländern zuspit­zenden sozialen Problemen. Und auch ein weiterer Trend zeigt sich in dieser angeb­lich zum Fragen und Lernen anregenden Broschüre. Die realen Auswirkungen der bereits seit dem Zweiten Weltkrieg beste­henden Programme bevölkerungspoliti­scher Agenturen auf das Alltagsleben von Frauen werden ausgeblendet. An deren Stelle treten allgemeine Empfehlungsflos­keln: “Das ‘generative Verhalten’ der Menschen ist von einer Vielzahl sozialer und kultureller Faktoren abhängig; das bedeutet auch, daß Bevölkerungspolitik, die auf dieses Verhalten Einfluß nehmen will, die Vieldimensionalität dieses Be­reichs anerkennen muß”.
Wirklichkeit in die Debatte einbringen
Die Frauenorganisationen UBINIG aus Bangladesh und AWHCR von den Philip­pinen wollen solchen Plastiksätzen mit ei­nem Internationalen Hearing “Crimes Against Women Related to Population Policies” auf der Konferenz in Kairo ent­gegenwirken und damit “die Wirklichkeit von Frauen in die Debatten über Bevölke­rung und Entwicklung einbringen. Denn viele dieser Diskussionen sind ihres Kon­textes beraubt worden.”
In der BRD ist die BUKO-Pharmakampa­gne gegen die schon weit entwickelten Forschungen an einem Antischwanger­schaftsimpfstoff ein Beispiel der Kritik an den tatsächlichen Entwicklungen in den Methoden von Bevölkerungspolitik. Auch die Bundesregierung finanziert über die Weltgesundheitsorganisation die Ent­wicklung eines Impfstoffes, der darauf ausgerichtet ist, das Immunsystem von Frauen auf eine Abwehrreaktion gegen die als Epidemie konstruierte Schwanger­schaft umzupolen. Einziger Zweck eines solchen in seinen Konsequenzen für die Gesundheit von Frauen nicht abschätzba­ren Eingriffs in das Immunsystem kann nur sein, einen Schritt weiterzugehen in der Entwicklung möglichst massenhaft und billig einsetzbarer, der Kontrolle und Motivation von Frauen entzogenen lang­fristig wirksamen Verhütungsmethoden.

Der Artikel speist sich im we­sent­lichen aus den in den blät­tern des iz3w Nr. 198 Juni/Juli (Schwer­punkt: Be­völ­kerungs­politik) er­schie­nenen Ar­ti­keln von Ingrid Schneider über die in­ter­na­tio­nale Vor­be­rei­tungs­kon­ferenz und von Ute Sprenger über die Vor­be­reitungen der Bundes­regierung (blät­ter Nr 196).
Die LN hatten in der Nummer 231/232 einen Schwer­punkt zum Thema Be­völ­kerungs­politik, in dem auch ein längerer Artikel von Susanne Schultz ab­ge­druckt ist. Die ge­naue Über­sicht ist im bei­ge­hef­teten In­dex zu finden.

Vorwärts, aber nicht vergessen!

Der Polyp und die Demokratie in Guatemala
Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sich Guatemala endlich von der häßlichen Diktatur Jorge Ubicos befreit, der als der “Napoleon der Tropen” in die Geschichte eingehen wollte. Seine wichtigste Tat hatte 1936 darin bestanden, die einseitigen Verträge mit der US-amerikanischen Ba­nanengesellschaft United Fruit Company für weitere 45 Jahre zu verlängern. Diese Gesellschaft, “El Pulpo” – der Polyp – ge­nannt, hatte zehn Prozent der Böden des Landes unter seine Kontrolle gebracht, ei­gene Straßen, Eisenbahnen, Telephon­netze und Hafenanlagen aufgebaut, brauchte keine Steuern zu zahlen und keine Gewerkschaften zu fürchten.
Die guatemaltekischen Demokraten, die das Erbe Ubicos antraten, wollten das Land ganz sachte und vorsichtig aus sei­nem halb feudalen, halb kolonialen Zu­stand in die Neuzeit führen und zimmerten dafür erst mal eine liberale Verfassung, die einige eher zaghafte Reformen erlau­ben sollte. Der erste Präsident, der Uni­versitätsprofessor Juan José Arévalo, baute Schulen und setzte durch, daß auch die United Fruit Company Gewerkschaf­ten und das Streikrecht anerkennen mußte. Schon das war dem Polypen zuviel. Umso heftiger war die Reaktion, als Arévalo – ganz im Rahmen der Verfassung – nach sechs Jahren das Amt an seinen demokra­tisch gewählten Nachfolger Jacobo Ar­benz abgab. Arbenz war Sohn eines Schweizer Apothekers und als Hauptmann der Armee maßgeblich am Sturz Ubicos beteiligt gewesen. 1952 verkündete er eine äußerst bescheidene Landreform, wie sie auch in der Verfassung vorgesehen war: Die Kaffeeplantagen der während des Weltkrieges ausgewiesenen Deutschen wurden verstaatlicht, und brachliegender Grundbesitz – auch von der United Fruit – wurde an landlose Indios verteilt. Natür­lich wurde Entschädigung gezahlt, aber nur gemäß dem Buchwert, den die ent­eigneten Unternehmen dem guatemalteki­schen Fiskus für die betroffenen Lände­reien selbst gemeldet hatten. Für die Uni­ted Fruit ergab das eine Summe von 600.000 Dollar, was US-Präsident Eisen­hower “traurig unangemessen” fand.
Eisenhower kannte sich gut aus, weil er sich mit Leuten umgeben hatte, die in den Diensten des Polypen gestanden hatten oder noch standen oder gar selbst beteiligt waren. Außenminister John Foster Dulles hatte 1936 als Mitglied des New Yorker Anwaltsbüros Sullivan und Cromwell die Verträge mit Ubico selbst ausgehandelt. Sein Bruder Allen Dulles war Chef des Geheimdienstes CIA. John Moors Cabot, Staatssekretär für interamerikanische An­gelegenheiten, war ein Bruder des Präsi­denten der United Fruit. Henry Cabot Lodge, Botschafter bei den Vereinten Na­tionen, war Großaktionär des Unterneh­mens. Anne Whitman, Privatsekretärin von Eisenhower, war mit dem Leiter der Public-Relations-Abteilung von United Fruit verheiratet. Eisenhower und Dulles kannten sich also aus und forderten das Fünfundzwanzigfache an Entschädigung.
1954: Das Ende der Hoffnung
Präsident Arbenz wollte mit seiner Landreform etwas mehr gemäßigten Ka­pitalismus nach Guatemala bringen, aber das bringt ihm nun den Vorwurf des Kommunismus ein.
Die kleine Kommunistische Partei unter­stützt ihn, und er muß sich bei der wach­senden Opposition der konservativen Oligarchie auf alle Kräfte stützen, die ihm helfen. Während CIA, United Fruit und die Reaktionäre Guatemalas längst die In­vasion planen, wird Arbenz selbst be­schuldigt, die Nachbarländer zu bedrohen: “Die Krakenarme des Kreml sind unüber­sehbar”, warnt John Moors Cabot aus dem Weißen Haus in Washington.
Am Fronleichnamstag 1954 hat Oberst Castillo Armas, an der US-Generalstabs­akademie geschult, mit der Unterstützung von CIA-Offizieren in Honduras genü­gend Kräfte beisammen, um mit etwa 1000 Söldnern, Flugzeugen und Torpedo­booten das schlecht gerüstete und kaum verteidigte Land zu überfallen und in zehn Tagen zu erobern. Vorwand war die Nachricht, daß der schwedische Frachter “Afhelm” im Hafen Puerto Barrios 2000 Tonnen Waffen und Munition aus den tschechischen Skoda-Werken gelöscht hatte.
Diktatoren wie Somoza von Nicaragua, Pérez Jiménez von Venezuela, Rojas Pi­nilla von Kolumbien oder Trujillo von der Dominikanischen Republik preisen bese­ligt den Sieg der Demokratie in Gua­temala. Der Erzbischof von Guatemala, Mariano Rossell Arellano, feiert den Sieg über den “gott- und vaterlandsfeindlichen Kommunismus”.
Jacobo Arbenz muß in der mexikanischen Botschaft um Asyl nachsuchen. Ein junger argentinischer Medizinstudent verbringt diese Tage in Guatemala und versucht, trotz heftiger Asthma-Anfälle, an der Or­ganisation des Widerstands teilzunehmen: Ernesto Guevara, der Che. Er hat diese Er­fahrung nie vergessen: die Macht des Im­periums, den Einfluß des Großunterneh­mens, den Verrat der Oberschicht, den Kleinmut der offiziellen Armee und die Ohnmacht der Indios, die nun wieder ent­eignet wurden.
Demokratische Reformen waren offenbar auf friedliche Weise nicht durchzusetzen, diese Lehre hatten CIA und United Fruit den lateinamerikanischen Reformern er­teilt. Der Che und Fidel Castro haben es dann in Kuba auf andere Weise versucht

Bridge of Courage

In dem Buch “Bridge of Courage” wirft die US-Rechtsanwältin Jennifer Harbury einen sehr persönlichen Blick auf das Innere dieses Konflikts, in dessen Mittelpunkt die URNG (Unidad Revolu­cionaria Nacional Guatemalteca) steht. Dabei entsteht ein sachliches, ausdrucks­starkes Porträt eines Krieges, der weit über den Kampf der Mayas hinausgeht. Deshalb wird das Buch zweifellos seinen Platz unter den bemerkenswertesten Bü­chern über den bewaffneten Konflikt im Trikont einnehmen.
Bedauerlicherweise gibt das Buch nur wenig politischen Aufschluß. Es beant­wortet keine der klaffenden Fragen über die guatemaltekische Guerilla: was ist ihre gegenwärtige Strategie, wie sieht ihre der­zeitige militärische Stärke aus oder wieso wurden sie, im Gegesatz zu beispielsweise ihren salvadorianischen KollegInnen der FSLN, Anfang der 80er Jahre beinahe zer­stört, als sie außerstande waren, sich wirk­sam der (Militär-) Regierungskampagne der “Verbrannten Erde” und der Raserei der Todesschwadrone zu widersetzen.
Dafür bietet “Bridge of Courage” aller­dings etwas weitaus Bezwingenderes – eine Sammlung von testimonios der Guerilleros/as.
Diese Selbstporträts reichen vom Kurio­sen (Bericht eines Guerilleros über die Eskapaden eines Eichhörnchens, das seine Truppe adoptiert hatte) über das nachdenkliche Sinnieren Gaspar Iloms, einem der Generalkommandanten der URNG, bis zu den dunkel inspirierenden Sa­gen verschiedener Mitglieder der breiten Masse des Guerillaheeres.
Dies sind tatsächlich Stimmen aus dem tiefen Untergrund einer Guerilla, die An­fang der 80er Jahre am Abgrund der Ver­nichtung entlangwankte und erst nach ei­nigen Jahren wieder erstarkte.
Harbury präsentiert die Lebensberichte als Transkription von Monologen, deren Di­rektheit eloquent, aber auch beunruhigend ist. Das Buch beginnt mit Anita, einer Guerilla-Ärztin: “Hör jetzt auf, sei nicht schüchtern. Ich sehe ja, daß du die Narben in meinem Gesicht anstarrst. Eine große Kugel hat mir vor fast fünf Jahren bei ei­nem Gefecht mit den Militärs mein halbes Kinn weggerissen….Komm, setz dich hin und nimm was von diesem Kaffee und ich erzähl dir die ganze Geschichte.”
Zwei Seiten später beschreibt Anita ganz nüchtern, wie eine Ärztin, mit der sie in Guatemala-Stadt zusammengearbeitet hatte, von den Todesschwadronen der Re­gierung verschleppt wurde. “Ich fand sie schließlich im Leichenschauhaus, wie so viele andere auch. Sie war nackt und böse zugerichtet, ihr Gesicht bläulich von der Strangulation, kleine Schnitte mit der Ra­sierklinge und Zigarettenbrandmale über­säten ihre Arme und Beine.” Ihre Be­schreibung der Leiche fährt noch minu­tenlang fort und wird noch wesentlich grauenhafter, bevor sie dann weitererzählt, wie sie Vollzeit-Guerillera wurde und in die Berge ging.
Der persönliche Ton von “Bridge of Cou­rage” ist nicht verwunderlich – Harbury ist mit dem URNG-Kommandanten Efraín Bamaca Velasquez (“Everardo”) verhei­ratet, den sie während ihrer Materialre­cherche 1991 kennenlernte. Bamaca ver­schwand im Mai 1992 während eines Ge­fechts und wird Zeugenaussagen zufolge in wechselnden geheimen Militärgefäng­nissen festgehalten und gefoltert.
Auf diesem Hintergrund ist ebensowenig verwunderlich, daß das Buch idealistisch, aber überwältigend traurig ist. Für die Re­bellInnen hören die Opfer nie auf. In ei­nem anderen Kapitel des Buches über ihre Zeit als Guerillera im Landesinneren, be­schreibt Anita, wie sie in einem Militär­hinterhalt verletzt wurde und dann, mit ih­rem zerfetzten Kinn, zehn Tage durch die Berge taumeln mußte und dabei noch half, andere verwundete GefährtInnen zu tra­gen, um in Sicherheit zu gelangen. Schließlich wurde sie in ein Sicherheits­haus (d.h. ein geheimes Haus der URNG) gebracht, wo sie auch operiert wurde.
Aber der Alptraum endete noch nicht dort: Das sichere Haus wurde vom Militär ent­deckt, und Anita schaffte es gerade eben noch auf die Straße und in eine Bar zu entkommen, wo sie, in eine dunkle Ecke gekauert, in einer Liveübertragung im Fernsehen sah, wie das Sicherheitshaus von Armeekugeln durchsiebt und bis auf die Grundmauern abgebrannt wurde.
Während Anita beschreibt, wie sie in jener Nacht durch die Straßen irrte, auf der Su­che nach einem neuen Zufluchtsort, stößt sie eine kräftige und traurige Klage aus, die nicht nur für die URNG zutrifft, son­dern für all diejenigen, die versuchen, das Übel herauszureißen, das so fest in Gua­temala verankert ist: ” Das ist schwer, so schwer zu erzählen. All diese wunderba­ren Menschen in dem Haus, ich bin die einzige Überlebende…Der schlimmste Schmerz für mich ist zu denken, daß sie vielleicht eines Tages vergessen wer­den…Weiß irgendwer, wieviel diese Men­schen für ihr Heimatland gegeben haben?”
Jennifer Harbury widmet derzeit ihre ganze Kraft dem Bemühen, die Freilas­sung ihres Mannes zu erreichen. Unge­achtet ihrer Anstrengungen ist es ihr bis­lang nicht gelungen seinen Aufenthaltsort zu erfahren und ob er überhaupt noch lebt.
Wo ist Everardo?

Jennifer Harbury: Bridge of Courage, Common Courage Press, P.O.Box 702, Monroe ME 04951, 265 Seiten, 14.95 US-$

Jahrhundertwahlen unter Beschuß

Nach den Meinungsumfragen der letzten Monate wird es nach den Wahlen in El Salvador wieder eine rechte Regierung geben. Armando Calderón Sol, Präsidentschaftskandidat der rechtsextremen Regierungspartei ARENA liegt bei allen Umfragen klar in Führung. Zuletzt kam er bei einer Umfrage der “Technologischen Universität” auf 40,2% gegenüber 22,2% für Rubén Zamora vom Mitte-Links-Bündnis FMLN-CD (Convergencia Democrática) und 14,1% für den rechten Christdemokraten Fidel Chávez Mena. All zu viel Bedeutung sollte man den Umfragen jedoch nicht beimessen. Bis zur Hälfte der Befragten gibt an, sich noch nicht entschieden zu haben. Verständlich in einem Land, in dem die Äußerung der eigenen Meinung oft tödlich war und auch heute noch – und in letzter Zeit wieder vermehrt – Todesschwadronen Terror verbreiten. Bezeichnender für den Wahlkampf ist da schon die Aussage, daß je ein Viertel der Befragten den Wahlkampf als “langweilig” bzw. “voller Lügen” empfindet.

Kontrollierte Medien – kontrollierte Meinung

Die Verwicklung von Calderón Sol in die Aktivitäten der Todesschwadrone Anfang der 80er Jahre, die im November durch die Veröffentlichung von Geheimdokumenten der USA belegt wurde (vgl. LN 234), war eher in den internationalen Medien als in El Salvador selbst ein größeres Thema. Auch die Tatsache, daß Calderón Sol im Dezember angekündigt hat, die Empfehlungen der UN-Wahrheitskommission, die die schwersten Menschenrechtsverletzungen in den 80er Jahren untersucht hat, nicht zu erfüllen, blieb folgenlos. Die Medien in El Salvador werden weitgehend von der Rechten kontrolliert und damit auch die Themen vorgegeben. Die Opposition kann kaum mithalten mit der riesigen Propagandakampagne der Regierung, die mit dem Beginn des Wahlkampfes im November angelaufen ist. Dabei läßt die Regierung nichts unversucht, sich in positivem Licht zu präsentieren. Ganz zufällig fanden im Januar die “Zentralamerikanischen Spiele” in El Salvador statt, und “ganz unabhängig von den Wahlen” haben die Beschäftigten im öffentlichen Dienst kürzlich eine satte Bonuszahlung von eineinhalb Monatslöhnen bekommen, für die sie sonst wochenlang streiken müßten.
Die Opposition ist sich dessen bewußt und sucht daher die direkte Auseinandersetzung mit dem Präsidentschaftskandidaten der Rechten. Doch Calderón Sol weigert sich bislang beharrlich, eine öffentliche Debatte mit Rubén Zamora und Fidel Chávez Mena zu akzeptieren. Im direkten Vergleich sähe Calderón Sol auch ziemlich schlecht aus: Seine Ausstrahlung ist gleich Null, und argumentieren kann er nicht. Außerdem würde er mit den Korruptionsfällen konfrontiert werden, die mittlerweile gegen die ARENA-Regierung erhoben werden. Dies ist für ARENA umso bedrohlicher, da ihr vorher noch keine Korruptionsfälle nachgewiesen werden konnten und ihr 1989 die Abwahl der Christdemokraten insbesondere deshalb gelang, weil die PDC-Regierung von Präsident Duarte als korrupt galt.

Wahlkampfthema Innere Sicherheit

Da redet Calderón Sol schon lieber über das Thema Innere Sicherheit (Wer hatte die Idee wohl zuerst, Schäuble oder Calderón Sol?). Allgemein bekannt als Hardliner, hofft er, daß ihm am ehesten zugetraut wird, die in den letzten zwei Jahren angeblich extrem gestiegene allgemeine Delinquenz in den Griff zu bekommen. Um Stimmung zu machen, werden innerhalb von ARENA Stimmen laut, die die Einführung der Todesstrafe fordern. Dabei ist gerade die ARENA-Regierung an der Verzögerung beim Aufbau der “Zivilen Nationalpolizei” (PNC) schuld. Die Kriminalität ist in den Gebieten, in denen die PNC mittlerweile arbeitet, deutlich zurückgegangen, und die Bevölkerung hat weitgehend positive Erfahrungen mit der neuen Polizei gemacht. Im Gegensatz zur berüchtigten und in weiten Teilen des Landes noch agierenden Nationalpolizei scheint die PNC die Menschenrechte bislang einzuhalten. Für die Menschen in El Salvador ist dies ein riesiger Fortschritt.
Dabei steht es um die Menschenrechte nicht mehr so gut wie noch am Anfang des Friedensprozesses. Anfang Februar haben die Vereinten Nationen ihren neuesten Bericht vorgelegt und für 1993 eine deutliche Zunahme der Menschenrechtsverletzungen festgestellt. Die Todesschwadronen sind – vor allem seit Beginn des Wahlkampfes – wieder verstärkt aktiv. Nach drei politischen Morden 1992 waren es 1993 bereits 33, in vielen Fällen an AktivistInnen und KandidatInnen der FMLN. Außerdem fallen nach Angaben der katholischen Kirche mittlerweile pro Woche drei Menschen der politischen Gewalt zum Opfer. Und die Tendenz ist steigend: Allein in der ersten Februarwoche wurden sechs Menschen ermordet.

Terror gegen die Einheit der Linken

Die Terrorkampagne der Rechten ist auch eine Antwort auf den Einigungsprozeß der Linken in der Präsidentschaftskandidatur. Nach langem Zögern hat sich auch die sozialdemokratische MNR entschlossen, Rubén Zamora zu unterstützen und hat ihren eigenen Kandidaten, den MNR-Vorsitzenden Victor Manuel Valle, zurückgezogen. Spannend dürfte die Wahl auf jeden Fall werden. Selbst wenn Calderón Sol die relative Mehrheit bekommen sollte, ist sein Sieg in einer Stichwahl noch längst nicht sicher. FMLN-CD und PDC haben ein Abkommen geschlossen, wonach der Drittplazierte im zweiten Wahlgang im April auf jeden Fall den Zweitplazierten unterstützt. Obwohl die Parteirechte, die bei den Christdemokraten den Vorstand stellt, den PDC-Dissidenten Zamora heftigst bekämpft und auf keinen Fall als neuen Präsidenten sehen will, mußte sie sich auf diesen Deal einlassen, da die PDC-WählerInnen mehrheitlich sowieso Zamora statt Calderón Sol wählen würden und eine Empfehlung des Vorstands, Calderón Sol zu wählen, die Partei spalten könnte.
Bei den Parlamentswahlen haben sich die Mitte-Links-Parteien vorgenommen, eine erneute Mehrheit der Rechten (ARENA, PCN, MAC) zu verhindern, um zumindest die Legislative zu kontrollieren, falls ARENA erneut den Präsidenten stellt. Die Convergencia geht mit einem klaren Handicap ins Rennen. Als drei CD-Vertreter am 31. Januar, dem letzten Tag der Einschreibung, die KandidatInnenliste für die “Nationale Liste” (auf der 20 der 84 Abgeordneten gewählt werden) beim Obersten Wahlrat abgeben wollten, wurden sie von der Polizei gestoppt und längere Zeit festgehalten, da die Papiere ihres Wagens nicht in Ordnung waren. Als sie endlich weiter konnten, war der Wahlrat bereits geschlossen. Diese Mischung aus Verschwörung gegen die CD und eigener Trotteligkeit wird sie zwei bis drei Mandate kosten.
Die große Unbekannte bei den Wahlen ist, wie stark die beiden Evangelikalen-Parteien (MSN und MU) abschneiden werden, die erstmals zu Wahlen antreten werden. Sie sind längst nicht so stark wie im Nachbarland Guatemala, wo sie nach den letzten Wahlen bis zum “Selbst-Putsch” von Jorge Serrano im Mai 1993 den Präsidenten stellten. Aber immerhin bekennen sich in El Salvador mittlerweile 20% der Bevölkerung zu evangelikalen Sekten und Kirchen. Auch ihre ideologische Einordnung ist schwierig. Ihre Programme beinhalten eine Mischung aus fortschrittlichen sozialen Forderungen und reaktionären Wertvorstellungen. Mit ihrem “Schützt-die-Familie-Populismus” könnten sie insbesondere bei der ARENA-Basis Stimmen holen, im Parlament werden sie wohl eher mit der Rechten stimmen.

Streit ums Bürgermeisteramt

Schlechter für die Linke sieht es hingegen bei der Kandidatur um das Bürgermeisteramt von San Salvador aus, das wegen der Bedeutung der Hauptstadt als zweitwichtigstes Amt in El Salvador angesehen wird. Dort treten FMLN und Convergencia Democrática getrennt an. Die CD ist sauer, weil sie angeblich von der FMLN nicht konsultiert wurde, als diese den FMLN-Koordinator Shafik Handal als Kandidaten aufstellte. Die CD, die daraufhin den Rektor der “Universidad de la Paz” Luis Domínguez Parada nominierte, meint nicht zu Unrecht, daß Handal als Vorsitzender der Kommunistischen Partei (PCS) nicht der geeignete Kandidat sei, um die notwendigen Stimmen der Mittelschicht zu bekommen. Eine Rolle spielt jedoch auch die Haltung von Mario Aguiñada Carranza, der sich vehement gegen Handal ausgesprochen hat. Aguiñada Carranza ist Chef der unbedeutenden UDN, die über 20 Jahre die legale Wahlpartei der verbotenen Kommunistischen Partei war, sich aber 1992 mit der PCS zerstritt, von ihr lossagte und wenig später der CD anschloß. Von der Spaltung profitieren werden insbesondere ARENA-Kandidat Mario Valiente und José Napoleón Duarte, der für die heillos zerstrittenen Christdemokraten ins Rennen geht und dessen entscheidende Qualifikation ist, der Sohn des früheren Präsidenten Duarte zu sein.

Explosive Komponenten

Die bewaffnete Erhebung in Mexiko ist die wichtigste in diesem Land seit der Revolution von 1910. Die Explosion übersteigt bei weitem alle anderen bekannten Erfahrungen mit Guerillagruppen auf aztekischem Boden, einschließlich der ländlichen und städtischen Bewegungen der 70er Jahre.
Noch nie zuvor wurde ein Kontingent von 3.000 Aufständischen gesehen, die, von Frauen und Kindern begleitet, mit einem Schlag vier Ortschaften besetzten, unter ihnen solch große wie San Cristóbal de las Casas und Ocosingo.
Bei Lichte betrachtet, handelt es sich weniger um eine klassische Guerilla-Operation als um einen bewaffneten Massenaufstand. Mit explosiven Bestandteilen, wie etwa der klaren sozialen und ethnischen Identifikation der Kämpfenden: arme Campesinos aus dem ärmsten Staat Mexikos, und Indígenas vom Volk der Maya, in einer Provinz, in der sich die Großgrundbesitzer der Jagd von Indios widmen.

Gerüchteküche – je nach Gusto wird analysiert und interpretiert

Wer an einen klassischen “Guerilla-Foco” (Aufstandsherd, Anm. d. Red.) denkt, irrt sich. Ebenso derjenige, der ein Schema nach Art von Sendero Luminoso im Kopf hat. Das Zapatistische Befreiungsheer EZLN, das mit diesem Aufstand sein formales Debut gab, ist ein Heer, das sich bereits vorher angekündigt hat. Seit mehr als sechs Monaten reden Presse und politische Gerüchtebörse von Aufständischen, die sich still und heimlich in den bewaldeten und nebligen Hügeln von Chiapas vorbereiten. Schon vor sechs Monaten kündigten Campesinos, die heute Mitglieder der Milizen sind, in den Versammlungen ihrer Organisationen an, daß sie nicht wie sonst aussäen würden.
Ebenfalls vor sechs Monaten hörte ich während eines Abendessens im Hause von Jorge Castañeda, wie der Senator Porfirio Muñoz Ledo, Präsident der “Partido Revolucionario Democratico” (PRD) sagte, es gäbe keine derartige Guerilla. Vielmehr handele es sich um eine gigantische Provokation von Seiten des mexikanischen Innenministers Patrocinio González Garrido, der im Einvernehmen mit der Regierung von Chiapas handele. Ziel sei laut Meinung des Oppositionsführers, den Konflikt zu militarisieren, damit die Leute sich nicht der PRD anschlössen. Obwohl normalerweise recht scharfsinnig und gut informiert, scheint Muñoz Ledo sich in diesem Fall geirrt zu haben.
Auch wenn noch nicht alles vorüber ist, übersteigen die schwerwiegenden Geschehnisse schon jetzt den Rahmen einer möglichen Verschwörung, die einige dem militärischen Geheimdienst unterstellen. Laut letztgenannter Hypothese hätte ein Teil des mexikanischen Militärs, entrüstet über die wenig glanzvolle Rolle, die die Armee in den letzten sechs Jahren spielte -unter anderem wurde sie mit dem Drogenhandel in Verbindung gebracht – das “zapatistische” Phänomen wachsen lassen, um politischen Einfluß zurückzugewinnen. Dies klingt mir entschieden zu machiavellistisch.
Plausibler erscheinen dagegen andere Erklärungsansätze. Seit vielen Jahren – zehn Jahre sagen die einen, zwanzig die anderen – sollen sich einige überlebende Kader der Stadtguerilla “23. September” und der Landguerillas “Genaro Vázquez” und “Lucio Cabanas” in Chiapas festgesetzt haben, um ihre heimlichen Aktivitäten mit langfristiger Perspektive fortzusetzen. Die furchtbaren Rahmenbedingungen sozialer Ungerechtigkeit und politischer, ethnischer und sogar religiöser Verfolgung, die seit Jahrhunderten in dieser Grenzregion zu Guatemala herrschten, erleichterten der Guerilla die Arbeit. So soll es ihnen gelungen sein, sowohl der Regierungspartei PRI als auch der oppositionellen PRD einige Bauernorganisationen zu entreißen. Einige dieser Keimzellen hätten die Reihen der EZLN genährt. Die Regierung von Chiapas hat nach anderen Erklärungen gesucht. Sie beschuldigte die lokale Kirche und den Bischof Samuel Ruiz, mit dem sich die regionalen Autoritäten seit Jahren in einer erbitterten Konfrontation befinden.

Politikreflex: Wem nützt das alles?

Für die PRD, angeführt von dem Ingenieur Cuauhtémoc, erscheint die Situation ebenfalls nicht eindeutig. Einige Beobachter rechnen damit, daß bestimmte Kreise aus dem Umfeld der Regierung versuchen werden, die “Cardenistas” mit der EZLN zu identifizieren. Andere glauben dagegen, daß der PRD das Entstehen einer Guerilla links von ihr gelegen kommt, um das extremistische Profil abzuschütteln, das ihr angehängt werden soll, und sich dem magischen Zentrum anzunähern, wo sie die Wahlstimmen vermuten (oder vermuteten).
Die Regierung sieht auch , daß sich ein repressives Vorgehen im Zuge des kommenden Wahlkampfes kontraproduktiv auswirken könnte. Daher überrascht es nicht, daß Salinas zum Dialog aufgerufen hat. Paradox ist, daß Mexiko während der ganzen letzten Jahre im zentralamerikanischen Konflikt der vermittelnde und schlichtende Staat war. Jetzt, wo sich in der gesamten Region Friedensabkommen durchsetzen, explodiert der Krieg auf seinem eigenen Territorium.
Und nicht nur in Chiapas: In den letzten Monaten drangen mehr und mehr Meldungen an die Öffentlichkeit, daß es Guerillagruppen gibt, die sich seit Jahren im Hochland von Guerrero vorbereiten – in den gleichen Bergen, die die Guerilla von Lucio Cabanas beherrbergten, den gleichen, wo seit den achtziger Jahren der Drogenhandel seine blutige Spur hinterlassen hat. Haben die Zapatistas eine Verbindung zu den Guerilleros, die sich zur Zeit noch in den Bergen von Guerrero verbergen? Wird es nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren auch in Guerrero zu einer Explosion kommen?
Es ist schwierig, Voraussagen für Mexiko zu machen. Vor sechs Monaten besuchte der glänzende Präsidentschaftskandidat der PRI, Luis Donado Colosio, Las Margaritas, eine der vier Ortschaften, die zur Zeit von dem Zapatistischen Heer besetzt sind. Dort verteilte er wichtige Spenden. – Kurioserweise war Chipas der Staat, der im Rahmen des “Programa Nacional de Solidaridad” die meiste Unterstützung bekam.
So was soll vorkommen.

Der Argentinier Miguel Bonasso ist ehemaliges Mitglied der “Montonero”- Guerilla und arbeitet mittlerweile als Journalist.

gekürzt übernommen aus: Pagina/12 (Argentinien)

Was wird aus den guatemaltekischen Flüchtlingen?

Die Antwort von Ricardo Curtz, einer der Vertreter der CCPP, ist immer die gleiche: “Mit den Vorgängen in Chiapas haben die Flüchtlinge nichts zu tun”. Um dies zu unterstreichen, betont ein Kommuniqué der CCPP: “Falls ein/e JournalistIn, ein/e RepräsentantIn einer Institution oder irgend eine andere Person in den Lagern nach der aktuellen Situation fragt, muß man/frau klarstellen, daß die guatemaltekischen Flüchtlinge dazu keine Informationen oder Meinung haben.”
Die abweisende Haltung der CCPP zu dem Aufstand der Zapatistas ist verständlich und drückt die schwierige Lage der guatemaltekischen Flüchtlinge in Chiapas, aber auch in Mexiko überhaupt, aus. Auch wenn das Ausmaß der Auswirkungen auf die GuatemaltekInnen in Mexiko noch nicht abzusehen ist, hat sich deren Situation ohne Zweifel verschlimmert.
Obwohl die Flüchtlinge in dem Abkommen zwischen den CCPP und der guatemaltekischen Regierung vom Oktober 1992 eindeutig als Zivilbevölkerung anerkannt sind, ziehen mexikanische und guatemaltekische Behörden, aber auch die Presse im In- und Ausland, erneut eine angebliche Verbindung zwischen den Flüchtlingen, der guatemaltekischen Guerilla URNG und den Zapatistas der EZLN.
Sprecher der Regierungen in Mexiko und Guatemala behaupten immer wieder, GuatemaltekInnen und SalvadorianerInnen seien an dem Konflikt beteiligt. Der einzige “Beweis” ist bislang die Festnahme von Jesús Sánchez Galicia, von dem gesagt wird, er sei Guatemalteke und einer der Chefs der EZLN. Der guatemaltekische Arzt Rubén Alejandro Bailey, der in Mexiko ein Stipendium zur Ausbildung zum Facharzt hat, wurde unter ähnlicher Anschuldigung verhaftet.

Propaganda gegen Flüchtlinge

Da nach Meinung der mexikanischen Regierung der Konflikt “importiert” wurde, berichteten guatemaltekische JournalistInnen aus Chiapas von einer aggressiven Stimmung gegenüber ihren Landsleuten. “Wenn wir uns als GuatemaltekInnen zu erkennen gaben, wurden wir von vielen Leuten in Comitán und San Christobal de las Casas beschimpft”, so Mariano Gálvez von der Radiostation Patrullaje Informativo.
Die Flüchtlingslager in Chiapas liegen nicht direkt in dem umkämpften Gebiet. Da jedoch die Zufahrtswege zu den Lagern während der ersten Tage des Konflikts abgeschnitten waren, war die Besorgnis um die Flüchtlinge sehr groß. Inzwischen hat sich jedoch herausgestellt, daß es dort keine Zwischenfälle gegeben hat.
Nach Angaben einiger BeobachterInnen in Guatemala-Stadt ist nicht auszuschließen, daß guatemaltekische Flüchtlinge an dem Aufstand der Zapatistas beteiligt sein könnten. Als Mayas fühlen sie sich mit ihren Brüdern und Schwestern in Chiapas, die sie nach ihrer Flucht aus Guatemala vor 10 Jahren solidarisch aufgenommen hatten, eng verbunden. Und die soziale und ethnische Problematik im Hochland Guatemalas und in Chiapas unterscheidet sich nur unwesentlich.
Aus einigen Lagern wird berichtet, daß sich mehrere mexikanische Familien aus den Kampfgebieten dorthin geflüchtet hätten, eine genaue Zahl ist jedoch nicht bekannt.
Wie sich der Konflikt auf die Arbeit der humanitären Organisationen in den Lagern auswirken wird, läßt sich nicht absehen. Dort ist es vor allem der Bischof Samuel Ruiz von der Diözese in San Cristobal de las Casas, der sich seit Anfang der 80er Jahre stark für die humanitäre Unterstützung der Flüchtlinge eingesetzt hat. Es wird befürchtet, daß die Arbeit der Kirche in Chiapas in Zukunft streng kontrolliert wird. Auch eine Absetzung von Monseñor Ruiz, die schon vor Monaten im Gespräch war, ist nicht auszuschließen.
In diesem Zusammenhang fordert auch die Nationale Koordinationsstelle der mexikanischen NROs zur Unterstützung der Flüchtlinge in Mexiko (CONONGAR) die Respektierung ihrer Arbeit in den Lagern und Sicherheitsgarantien für ihre MitarbeiterInnen, von denen die NROs lange Zeit keine Nachricht hatten.
Auch für die Flüchtlinge in den Bundesstaaten Campeche und Quintana Roo bleibt der Konfllikt nicht ohne Folgen. Mitglieder einer Delegation von Flüchtlingen aus diesen beiden Gebieten, die für den 10. Januar eine Reise nach Guatemala zur Vorbereitung der für April geplanten Rückkehr in die Provinz Petén beabsichtigten, erhielten von den mexikanischen Behörden keine Erlaubnis, ihre Lager zu verlassen.

Verkehrte Verhältnisse: Flucht nach Guatemala

Die guatemaltekische Zeitung “La República” berichtete am 10. Januar, Hunderte von Familien, guatemaltekische Flüchtlinge, guatemaltekische SaisonarbeiterInnen und mexikanische Campesinos/as seien aus Angst vor der Repression aus Chiapas nach Guatemala geflohen. Offiziell wurde diese Meldung nicht bestätigt, doch auch ein Mitglied der CCPP in Guatemala-Stadt vermutet, daß viele der nicht anerkannten und verstreut lebenden Flüchtlinge von sich aus nach Guatemala zurückgekehrt, und nun Flüchtlinge im eigenen Land sind.
Lange Zeit war die für den 12. Januar geplante Rückkehr von 201 Familien (947 Personen) aus Lagern im Landkreis Comalapa in Chiapas unklar. Anfang Januar sprachen sich VertreterInnen der UNHCR und der mexikanischen Flüchtlingsorganisation COMAR für eine Verschiebung der Rückkehr aus. CCPP, mit Unterstützung von Rigoberta Menchú, hielten jedoch an dem ursprünglichen Termin fest. Schließlich erklärten sich die mexikanischen Behörden bereit, einige der Vorbereitungen von Comitán zum Grenzort La Mesilla zu verlegen, und die Flüchtlinge kehrten ohne nennenswerte Probleme zurück. In Chaculá, im Landkreis Nentón der Provinz Huehuetenango, werden sie sich neu ansiedeln. Nach der Rückkehr von 350 Familien im Januar vergangenen Jahres in die Region Ixcán, Provinz Quiché, war dies die dritte organisierte und kollektive Rüchkehr von guatemaltekischen Flüchtlingen.

Der Druck wächst – Die Schwierigkeiten bleiben

Die Ereignisse in Chiapas werden den Druck der Flüchtlinge auf die CCPP, möglichst schnell die Bedingungen für die Rückkehr weiterer Gruppen zu eröffnen, verstärken. Doch die beiden Hauptprobleme für sie in Guatemala bleiben bestehen: Die Schwierigkeiten, Land zu bekommen und die Militarisierung, die ihr Leben bedroht.
Als Beispiel sei hier die Situation der 200 Mitglieder der Kooperative “Ixcán Grande” in Quiché genannt, die am 8. Dezember 1993 in die Ortschaft “Tercer Pueblo” ihrer Kooperative zurückkehren wollten. Hier befindet sich ein Stützpunkt des Militärs, und die Streitkräfte zeigten sich nicht bereit, diesen zu verlegen, angeblich “zum Schutz der Bevölkerung”. Aus diesem Grund mußten die RückkehrerInnen provisorisch und unter unwürdigen Bedingungen in der Ortschaft Vera-cruz untergebracht werden.
Die Flüchtlinge stammen meist aus den Grenzregionen zu Mexiko, die nach wie vor Gebiete des militärischen Konfliktes zwischen dem Militär und der URNG sind. Mit dem Konflikt in Chiapas und unter dem Vorwand, das Eindringen von Zapatistas nach Guatemala zu verhindern, hat die militärische Präsenz im Grenzgebiet der Provinzen Huehuetenango, San Marcos, Quiché und Petén zugenommen. Die guatemaltekischen Streitkräfte schließen auch gemeinsame Aktionen mit dem mexikanischen Militär nicht aus.
Rigoberta Menchú, die nach Guatemala kam, um die Rückkehr der Flüchtlinge am 12. Januar zu begleiten, drückte ihre Besorgnis aus, daß das guatemaltekische Militär den Konflikt in Mexiko als Vorwand benutzen könnte, die Rückkehrer stärker zu kontrollieren und die Repression in den Konfliktgebieten zu verstärken.
Der Konflikt in Chiapas macht eine verstärkte internationale Aufmerksamkeit für die Situation der guatemaltekischen Flüchtlinge, offiziell anerkannt oder nicht, und die der RückkehrerInnen in Guatemala dringend notwendig.

“Wir sind keine Politiker, die Kunst spielen”

LN: Als erstes natürlich die Frage: Was ist “das neue gua­temaltekische Lied?”
Fernando: Am besten, ich erkläre das mal an meinem Bei­spiel: Ich bin eigentlich zufällig dazu gekommen. Zuerst wa­ren da die südamerikanischen Vorbilder: Victor Jara, Violeta Parra, später die kubanischen Trovadores Silvio Rodríguez und Pablo Milanés und die Nicaraguaner, Luis Enrique und Carlos Mejía Godoy. Und Mitte der 70er Jahre hatte die Stu­dentenbewegung in Guatemala einen gro­ßen Aufschwung. Also gründeten wir Kulturgruppen zu ihrer Unterstützung, und ich begann wie viele an der Universität zur Gitarre zu singen. Ich erinnere mich an eine berühmte Gruppe, die kopierte den Kubaner Carlos Puebla und sang: “Se acabó la diversión. Llegó el comandante y mandó a parar, param, pa­ram, param!” (Schluß mit dem Vergnügen, der Kom­mandant ist aufgetaucht und hat Befehl gegeben aufzuhören).
José: Das war die erste Etappe des “neuen Liedes”. Wir imitierten die latein­amerikanischen Vorbilder, und die Lieder waren reine Pamphlete, reine Propaganda. Anfang der 80er Jahre zerschlug das Militär mit der Aufstandskampagne die Volks- und Guerillabewegung. Die mei­sten Liedermacher mußten ins Exil gehen. Seit einige von uns Mitte der 80er Jahre wieder zurückgekehrt sind, wollen wir musikalisch und politisch unabhängig sein. Trotz der politischen Verän­derungen gibt es in der Volksbewegung immer noch die gleiche Engstirnigkeit wie früher. Die linken Organisationen haben uns benutzt, und das hat die Entwicklung des Liedes in Guatemala gebremst. Wir wurden so lange von der Linken gegängelt, daß wir jetzt unsere eigene Bewegung aufbauen wol­len: eine Interessenvertretung der Kün­stler als Arbeiter. Wir wollen nicht mehr nur spielen, um die Leute zu einer politischen Veranstaltung zusammenzuho­len und uns die Seele aus dem Leib singen ohne Mikrofon und Verstärker. Wir wol­len bezahlt werden und die Anerkennung un­serer intel­lektuellen Arbeit. Auch wir wollen die Gesellschaft verän­dern, aber nicht hinter Parteifahnen. Wir sind Kün­stler, nicht Politiker, die ein bißchen Kunst spielen. Die Kunst hat eigene Kri­terien und eine eigene Ästhetik und das ist eine große Chance, denn die Leute sind den immergleichen politi­schen Diskurs leid.

Was bedeutet die musikalische Unab­hängigkeit, von der Du sprachst?
Fernando: Sie bedeutet, unsere guate­maltekischen und indi­viduellen Wurzeln zu finden. Musikalisch heißt das, traditio­nelle guatemaltekische Rhythmen, Har­monien und Instrumente einzusetzen, oh­ne folkloristisch mit ihnen umzugehen. Wir haben hier den Son Guatemalteco, den Reggae und die Salsa. Wir wollen zei­gen, daß die Marimba und indianische Percussioninstrumente keine Instrumente der Großväter sind. Wir spielen die Ma­rimba auch in einer Rockballade. Über die Texte kann José etwas sagen.
José: Wir schreiben eigene Texte, früher haben wir bereits vorhandene vertont. Die Themen sind urbane, weil wir in der Stadt lebende Ladinos sind. Wir singen über Straßen­kinder, Bettler, über Homose­xualität. Manchmal werden wir kriti­siert, weil wir nicht über die Indígenas singen. Aber wir stehen zu unserer Identität. Indí­genas können in unse­ren Liedern ein Symbol für Veränderungen sehen, auch wenn sie ihre eigene Lebensweise nicht darin wiederfinden. Wir nehmen Themen aus den alten Mythen der Maya auf. Aber wir wollen uns weder opportunistisch ih­rer Kultur be­dienen noch sie kopieren, sondern in den Liedern unsere Gesell­schaft individuell verarbeiten.

Ich finde es immer wieder erstaunlich, mit welchem Stolz ihr Guatemalteken sagt: “Ich bin Künstler”. Wenn Deut­sche das sagen, klingt es anders. Man sagt eher: “Ich spiele Klavier”, oder “Ich male”, aber bei Euch klingt es wie ein Lebenskonzept. Vielleicht ist die Auffassung hier individuali­stischer.
José: Ich glaube, das ist durch unter­schiedliche politische Erfahrungen ge­prägt. Ich weiß nicht, wie sich die Kün­stler der Elite verstehen; ich kenne sie nicht, obwohl ich sie re­spektiere. Die Volkskünstler (artistas populares) mußten im­mer dagegen kämpfen, hinter die poli­tische Sache zurückge­stellt zu werden. Auch der Solidaritätsbewegung haben wir sagen müssen: Wir sind keine Politiker. Und das haben sie manchmal falsch ver­standen. Aber wenn Du mich nach Eu­ropa einlädst, wenn Du ein Interview mit mir machst, dann mach es über meine Arbeit! Nicht, weil ich irgendeiner lin­ken Orga­nisation angehöre. Deswegen sagen wir mit solchem Nachdruck: “Ich bin Kün­stler”. Ich kann Dir Informationen über Guatemala geben, aber ich will von mei­ner Arbeit aus­gehend über Guatemala re­den. Anfang der 80er Jahre, als der Krieg tobte, da war es egal, ob ein Kir­chen­mensch oder Gewerkschafter ins Ausland reiste, er wurde nach dem Krieg gefragt. Und ich glaube, hier behauptete jeder, er sei Co­mandante der Guerilla und lieferte die gefragten politischen Ana­lysen.
Fernando: Wenn Du Gelegenheit hattest, guatemaltekische Ge­werkschafter zu in­terviewen, wirst Du gemerkt haben, daß auch sie sich so definieren: “Ich bin Ge­werkschafter!”. Es gibt einfach unter­schiedliche Rollen innerhalb einer politi­schen Bewegung. Auch ich habe wegen der Ungerechtigkeit angefangen zu sin­gen, bin deswegen Künstler geworden, aber meine Rolle ist eben die des Kün­stlers.
Es gibt einen Unterschied zu Deutsch­land: Wenn hier je­mand sagt: Ich spiele Klavier oder ich male, dann sagen sie das vor dem Hintergrund der Musik­schulen, die jeder­man besuchen kann. Hier arbeite ich sechs Monate hart in einer Cafeteria und kann mir ein Mu­sikinstrument kaufen, in Gua­temala nicht. Bisher heißt Künstler sein bei uns, fast zusammenzubrechen, auf ein unwürdiges Niveau herabzufal­len, da­mit die Leute dich als Künstler ernst­nehmen und sa­gen: “Wie konsequent!”
José: “Geh bis zum Tod, damit sie dir glauben!”
Fernando: Aber die Jünger der Märtyrer müssen verschwin­den! Wir wollen ein würdigeres Konzept von “Künstler”, auch wenn wir unser Geld mit etwas anderem verdienen müssen.

Welche Erfahrungen habt Ihr bei Eu­ren Konzerten hier ge­sammelt?
Fernando: Das waren sehr eindringliche Erfahrungen. Wir sind mit unserem so­zialen und künstlerischen Anliegen hier­hergekommen, das in Guatemala große Anerkennung genießt. Aber hier ist der gesellschaftliche Kontext ein anderer, und die Leute verstehen unsere Texte nicht. So wurden wir auf einmal nur noch an ästhe­tischen Kriterien gemessen. Viel­leicht kommen auch kulturelle Gründe hinzu, aber in Gua­temala ist der Kontakt zum Publikum wärmer, sie klatschen und schreien und pfeifen. Das war hier ein großer Kon­trast.
José: Diese Tournee war ein Traum und eine ästhetische Herausforderung für uns. Wir wollten keinen Applaus aus politi­scher Solidarität. Früher hätte es Applaus gegeben, weil der Kampf um die Revolu­tion in Guatemala brannte. Aber wir dachten uns vorher: Wenn sie nicht klat­schen, dann taugen wir hier nichts, dann funktioniert der Kontext nicht.

In Eurem Konzert bemerkte ich zwei­erlei: Erstens das ernste Publikum und zweitens mein unwiderstehliches Be­dürfnis, Euch in Guatemala singen zu hören. Eben wegen des Kon­textes. Und ich begann über politische Lieder nach­zudenken und darüber, daß sie in Deutschland eine sehr wider­sprüchliche Rolle spielen. Hier haben auch die Na­zis politi­sche Lieder und Volkslieder benutzt, um die Herzen und Köpfe leichter zu fangen, als mit politischen Parolen. Ich denke, daß es seither in Deutschland keine leicht zugängli­chen, schönen, politischen Lieder mehr geben kann, sondern daß sie mit inhaltlichen und musikalischen Brüchen arbeiten müssen, um Denkprozesse anzuregen. Das ging mir bei Eurem Konzert durch den Kopf. Nicht nur, daß der gua­temaltekische Kontext fehlte, sondern Eure Lieder prallten auch noch auf den spezifisch deutschen Kontext.
Fernando: Jetzt wird mir einiges klar. Aber ich fühle mich darin bestärkt, daß es unterschiedliche Realitäten sind. Daß un­sere Lieder nur hier nichts taugen, wenn die Leute hier nicht klatschen. Je­mand er­zählte uns, daß die Utopien hier vorbei sind. Da wurde uns klar, daß Uto­pien für uns sich ständig erneuernde Ideale sind. Sie sind das Licht am Ende des Tunnels, weswegen wir weiterma­chen. Hier war es ein Ziel, das erreicht wurde oder nicht, und jetzt ist keine Hoff­nung mehr und Schluß. Aber das geht bei uns nicht. Wir müssen mehr vom Leben erwarten.

Ein weiterer grundlegender Unter­schied ist die Auffassung von Volk. In Deutschland ist “Volk” ein rechtes Wort. Im Augenblick wird es sogar wie­der mit faschistischen Konnota­tionen benutzt. In Guatemala glaubt die Linke an das Volk, und wenn Ihr von einem Wandel in Guatemala singt, dann singt ihr mit einer Vision von Eu­rem Volk, die es hier nicht gibt. Auch das ist etwas sehr Deutsches, denn in an­deren euro­päischen Ländern gibt es andere ge­schichtliche Konzepte von Na­tionalismus oder Volk.
Fernando: Dann hoffe ich, daß unsere Lieder einigen Deut­schen klarmachen, daß ihr Konzept von Volk relativ ist. Bei uns ist Volk beinahe ein verbotenes Wort! Wir benutzen es mit dem Gedanken an soziale Veränderungen. Und die Herr­schenden wissen, daß das Volk das Volk ist.
José: Aber natürlich diskutieren auch wir darüber. Denn manche setzen bei uns “Volk” mit “populär” gleich. Aber die Lieder in den Radios sind auch populär. Dann gibt es einige Radikale, die uns sa­gen: Deine Texte haben nichts mit der Re­alität des Volkes zu tun, sie sagen nichts.
Fernando: Was ich für mich privat kom­poniere, kann ich im Augenblick in Gua­temala nicht singen. Es wäre zu merkwür­dig. Mir gefällt der Existentialismus. Wenn ich damit ankäme, würden die Leute sagen: “Der ist abgehoben!” Für viele der Lieder, die ich 1986 komponiert habe, ist auch jetzt noch der richtige Mo­ment. Es gibt einen Schriftsteller, der uns sagt: “Hört auf, dieses soziale Zeug zu singen, macht Liebeslieder!” Ich habe es ein paar Mal versucht, und peng! merke ich, wie mich die Realität wieder einholt. Auch unser Konzept von Liebe ist nicht individualistisch, sondern Liebe ist ein weiter Begriff von Menschlichkeit. Und außerdem können wir nicht ruhig lieben, wenn über uns der Schatten des Krieges schwebt!
José: Und nun ist Schluß mit dem Inter­view und ich habe einen Haufen neuer Fragen.

POONAL – vernetzte Nachrichten

Bündelung von Agenturen

Sie verstehen sich als alternative Medien, die im Gegensatz zu den herkömmlichen Agenturen aus Sicht der Bevölkerung und nicht im Sinne der Herrschenden informieren wollen. Repression, soziale Mißstände und das Aufzeigen von Alternativen stehen im Mittelpunkt der Berichterstattung. Viele stehen auch in engem Bezug zu politischen Bewegungen ihrer Heimatländer und arbeiteten auf kommunikativer Ebene für den Sturz diktatorischer Regime. Die wichtigsten unter ihnen waren früher SALPRESS aus El Salvador, die guatemaltekische Agentur CERIGUA, ANN aus Nicaragua, andere stammten aus Uruguay, Chile, Argentinien über Honduras bis hin zu “Prensa Latina” aus Kuba.

Anspruch und Realität

Zum einen sollten sich die bisher isoliert arbeitenden Agenturen gegenseitig darin unterstützen, die persönlichen Kontakte besser zu nutzen. Andererseits sollte durch die gemeinsame Herausgabe von Nachrichtenmaterial der Verbreitungsradius der einzelnen Agenturen erweitert werden. Insbesondere sollte ein Zugang zur bürgerlichen Presse gefunden werden. Zwei Agenturen wurden für ein Jahr für die Koordinierung gewählt, regelmäßige Treffen und Beitragszahlungen vereinbart. Weitere Agenturen sollten hinzugewonnen werden.
Die Ansprüche waren hoch, doch die Umsetzung war schwierig. Erstes Hindernis war die zusätzliche Arbeitsbelastung, die eine solche Koordinierung erforderte. Jede Agentur hatte mit finanziellen und personellen Engpässen zu kämpfen, und die eigene Arbeit hatte stets Priorität vor der Vernetzung. Hinzu kamen, wie leider immer und überall bei linken Projekten, ideologische Differenzen. Auch die Herausgabe eines gemeinsamen Nachrichtendienstes in Mexiko, der die großen Zeitschriften per Fax informierte, konnte nur für kurze Zeit realisiert werden. Die Initiative drohte bald wieder einzuschlafen.

Versuche von Süd-Süd-Kommunikation

Ein Rückblick auf die fortschrittliche “Dritte Welt”-Berichterstattung der letzten Jahrzehnte zeigt, daß auch andere, größere Initiativen vor ähnlichen Problemen standen. Einziges bis heute erfolgreiches Agenturenprojekt ist ips (Inter-Press-Service), das seit 1964 aus und über die “Dritte Welt” berichtet und mit seinen Nachrichtentickern eine vergleichsweise gute Verbreitung gefunden hat. Weniger effektiv war der “pool del tercer mundo”, mit dem seit Mitte der 70er Jahre eine Vielzahl von blockfreien Ländern versucht, die Vorherrschaft der multinationalen Agenturen zu brechen. Trotz weltweiter Konferenzen konnte nie die Idee eines wirklichen Pools realisiert werden. Im Kontext der UNESCO-Forderung nach einer neuen Weltkommunikationsordnung 1983 entstand die lateinamerikanische Agentur ALASEI, die neben politischen auch kulturelle Aspekte verbreiten wollte. Geldmangel ließ auch dieses Projekt nach weniger als zehn Jahren in die Bedeutungslosigkeit abrutschen.
Kleineren Agenturprojekten ist es bisher nicht gelungen, ihre Nischen zu verlassen. Das 1984 in Asien gegründete “Dritte Welt Netzwerk”, dessen lateinamerikanischer Zweig in Uruguay sitzt, verbreitet Nachrichten und Analysen sogar weltweit. Doch es gelingt nicht, kontinuierliche Präsenz zu zeigen. Die Mitarbeit der Mitgliedsmedien fluktuiert stark. Deshalb wurde inzwischen der Anspruch eines umfassenden Netzwerkes aufgegeben: “Das Ganze läuft nur, wenn einzelne die Initiative ergreifen. Dafür stellen wir die Infrastruktur zur Verfügung,” sagt Alberto Brusa, Mitarbeiter des “Dritte Welt Netzwerkes” in Uruguay. Eine ähnliche Einzelinitiative ist die Agentur “apia” in Nicaragua, die aus der österreichischen Solidaritätsbewegung hervorgegangen ist.
Die jüngste Initiative zur Vernetzung von Alternativmedien war der kontinentale Kongreß in Quito im April diesen Jahres, an dem über 60 JournalistInnen aus fast allen lateinamerikanischen Ländern teilnahmen. Schnell zeigte sich, daß trotz ähnlicher Interessen die vielen verschiedenen Medien unterschiedlicher Größe und Professionalität nur schwerlich an einem Strang ziehen können. Zwar war dieses Treffen ein neuer Schritt hin zu mehr Zusammenarbeit, doch mehr als Willensbekunddungen kamen oft nicht dabei heraus.

Basisanbindung und politische Pluralität – ein Problem?

Eine funktionierende Zusammenarbeit bringt zwar eindeutige Vorteile: weniger Vertriebskosten, höherer Verbreitungsgrad, gemeinsame Infrastruktur und schließlich eine Vielfalt von Nachrichten, die gerade für Medien und andere MultiplikatorInnen attraktiv und zugänglich sind. Doch die in der Praxis auftretenden Nachteile erweisen sich bisher als unüberwindbar: Kooperation erfordert ermüdende politische Diskussionen, insbesondere wenn die jeweiligen Medien politischen Organisationen nahestehen; Professionalität und Basisanbindung lassen sich oft nur schwer vereinbaren, Entfernungen und Kommunikationskosten wirken erschwerend. Doch dahinter steht ein wesentliches Problem jeder Vernetzung: Ein aktives Netz erfordert Initiative all seiner Teile – wenn diese nicht stattfindet, wird das Netz zu einem Konzentrationsprozeß zum Vorteil der größeren oder aktiveren Medien. So zeigt auch die bisherige Erfahrung, daß Pools selten funktionieren, während einzelne große und kleine Agenturen lange existieren können, aber kaum eine adäquate Verbreitung finden.
Es überrascht nicht, daß sich die Erfahrungen in Lateinamerika auch auf Seiten der internationalen Solidaritätsbewegung widerspiegeln. Zu der dortigen Vielfalt kommen hier noch ideologische Streitigkeiten hinzu, so daß Interessierte vor einer Unmenge von Publikationen stehen. So wichtig eine gewisse Pluralität ist, so schwer fällt es den meisten, einen Überblick über das Informationsangebot zu bekommen. Konsequenz ist eine wachsende Konkurrenz untereinander.
Ein Versuch, den Agenturen Zentralamerikas eine deutschsprachige Plattform zu geben, war Anfang der 80er Jahre der “mid” (Mittelamerika-Informationsdienst). Finanzielle Unterstützung, Kontakte und der gemeinsame Wille waren vorhanden, und wöchentlich konnten aktuelle Nachrichten aus Nicaragua, Guatemala und El Salvador gelesen werden. Doch auch das klappte nur kurze Zeit. Entscheidendes Hindernis waren die hohen Kosten für die Telex-Standleitung zwischen Managua und Frankfurt/Main. Einzig verbliebene Alternative, Originalnachrichten aus Zentralamerika zu bekommen, war über viele Jahre der “Informationsdienst El Salvador” (ides). Doch war dies ein Projekt von Teilen der bundesdeutschen Solibewegung und spiegelte deren politische Ausrichtung wider – auch wenn der ides mit lateinamerikanischen Quellen arbeitete. Darüber hinaus gingen ab Mitte der 80er einige alternative Agenturen dazu über, eigene Nachrichtendienste in deutscher Sprache herauszugeben, womit sie eine entscheidende Stütze der länderbezogenen Solidarität waren.

POONAL – Der Schritt nach Deutschland

1990 entstand die Idee, die Nachrichten der POONAL-Agenturen in einem gemeinsamen Dienst in deutscher Sprache herauszugeben. So entstand der “Wöchentliche Nachrichtendienst lateinamerikanischer Agenturen – POONAL”, der seit über zwei Jahren Nachrichten und Artikel der Mitgliedsagenturen veröffentlicht. In Mexiko wird das Material bis Freitagabend übersetzt, dann per Datenfernübertragung nach Köln geschickt, wo es journalistisch bearbeitet wird. Schließlich wird der Nachrichtendienst am Montag in Berlin gedruckt und verschickt – derzeit knapp 300 Exemplare in Deutschland, Österreich und in die Schweiz. Wichtigstes Ziel: Die Vereinzelung der Agenturen sollte aufgehoben werden und ein gemeinsamer Nachrichtendienst aus Lateinamerika durch seine Vielzahl an Themen und Ländern auch für Institutionen und etablierte Medien interessant und brauchbar werden.
Obwohl sich der POONAL-Nachrichtendienst etabliert hat, steht er in der Praxis kaum überwindbaren Problemen gegenüber. Verhältnismäßig glimpflich sieht es noch auf der Vertriebsseite aus. Die journalistische Qualität läßt zwar zu wünschen übrig, aber die Informationen stoßen auf Interesse. Auch konnten einige Institutionen und Medien als AbonnentInnen gewonnen werden, die bisher kaum Zugang zu diesen basisnahen Agenturen hatten. Dennoch bleibt das Hauptproblem bestehen: Auch POONAL hat einen begrenzten AbnehmerInnenkreis und die Präsenz in etablierten Medien ist unbedeutend.
Doch gerade da, wo es um die Koordination geht, nehmen die Schwierigkeiten existenzielle Ausmaße an. Wie oben erwähnt, liegt die Zusammenarbeit der POONAL-Agenturen in Mexiko derzeit auf Eis. Aus der lateinamerikanischen Initiative ist immer mehr eine deutsche geworden, der Vertrieb in Deutschland wurde zur treibenden Kraft. Hinzu kommt, daß viele Agenturen aus dem Exil in ihre Länder zurückgegangen sind, wodurch einige Mitglieder des Pools sich weniger beteiligen und die Kommunikation untereinander sehr spärlich geworden ist. Statt einer Zusammenarbeit findet eher Zuarbeit für ein Projekt statt, da die wenigen in Mexiko ansässigen Agenturen die Entscheidungen treffen. Nur einige Agenturen beteiligen sich, dazu unregelmäßig, daran, so es daß POONAL noch nicht gelungen ist, das Geschehen im gesamten Kontinent widerzuspiegeln.
Obwohl der hohe Anspuch nicht aufrechterhalten werden kann, hält POONAL an der Idee und daran, daß Vernetzung versucht werden muß, fest. Oft klagen gerade kleinere Medien, daß der Zugang zu alternativen Quellen sehr aufwendig ist. Die Konsequenz muß also sein, weiter aus den bisherigen Erfahrungen zu lernen.

Bezug des POONAL-Nachrichtendienstes:
Nachrichtenpool Lateinamerika e.V.
c/o FCDL
Gneisenaustr. 2
10961 Berlin
Fax: 030 / 692 65 90
Jahresbezugspreis:
110,– DM für Institutionen
75,– DM für Einzelpersonen

“Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche”

Ein Buch über “Ches Erben”, zusammengestellt aus Ländereinblicken, Interviews mit Guerilleros und biographischen Notizen, wirkt in Anbetracht der derzeitigen politischen Gesamtlage erst einmal befremdlich. Doch der erste verwunderte, aber auch interessierte Blick auf den Inhalt zerstreut die aufkommenden Befürchtungen. In den Gesprächen mit Vertretern – gibt es eigentlich keine Guerilleras? – der Guerillaorganisationen aus Guatemala, El Salvador, Nicaragua, Kolumbien und Uruguay – vermeidet der Autor Albert Sterr jegliche Beschwörung des linken Mythos von heldenhaften Guerilleros, aber auch seine Verdammung: “Die vorliegende Arbeit ist weder eine polemische Absage an den Mythos Befreiungsbewegung noch ein Wegweiser für die Suche nach einer neuen revolutionären Hoffnung für die Menschheit”(S.9). Das zweite Befremden stellt sich jedoch sogleich ein: wozu dann ein solches Buch?
Albert Sterr nennt zwei Leitfragen, zum einen die nach der “politischen Verankerung der (ehemaligen) Guerillabewegungen” und “ob sie für die Bevölkerungsmehrheiten im wirklichen Leben emanzipatorische Spielräume eröffnen” können (S.12), zum anderen, wie der Titel vermuten läßt, nach Che Guevara und seiner Vorbildfunktion (S.14). Beide Fragen werden in den Interviews kaum berührt, in den einleitenden biographischen Essays zu den einzelnen Interviewpartnern nur gestreift. Deutlich wird in der Einleitung allerdings, daß es in diesem Buch vor allem auch um einen Beitrag zur hiesigen Diskussion geht (S.21). Diesen Anspruch erfüllen die Interviews fürwahr. Sie lesen sich sehr spannend, geben einen guten historischen Einblick in die Geschichte der Linken in den jeweiligen Ländern und in die Möglichkeiten von Bewegungen im Widerstand gegen die Regierungen. Außerdem werden die Unterschiede der verschiedenen Bewegungen untereinander dargestellt, einige Tabuthemen wie interne Konflikte aufgegriffen und begangene Fehler thematisiert. Die Interviews haben für sich viel Aussagekraft. Trotzdem fehlte mir nach dem Lesen ein Schlußwort, ich fragte mich, was der Autor aus diesen Interviews nun schließt, ob er Antworten auf seine Fragen finden konnte.
Interessant ist es für die LeserInnen allemal, sich mit den Erfahrungen und Erkenntnissen der linken Bewegungen Lateinamerikas zu befassen und sich der äußeren Zwänge, die jede revolutionäre Veränderung verhindern, erneut bewußt zu werden. Denn die Erben Che Guevaras haben nicht mehr die gleiche Siegeshoffnung, die er selbst noch hatte als er schrieb: “Und wenn wir fähig wären, uns zu vereinigen, um unsere Schläge solider und genauer durchführen zu können, um Hilfe jeder Art den kämpfenden Völkern noch wirksamer leisten zu können, wie groß wäre dann die Zukunft und wie nah” (Che Guevara, “Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnams” 1967).

Abschied vom selbstgewählten Image

Kein Interesse an Zentralamerika

Während die vier Länder Guatemala, El Salvador, Honduras und Nicaragua im Juni in Guatemala einen Vertrag zur zentralamerikanischen Einigung unterzeichneten, der einige Zoll- und Handelsschranken beseitigte und Migrationskontrollen lockerte, blieb Costa Rica ebenso wie Panamá in der Rolle des stillen Beobachters. Statt auf Gemeinsamkeiten blicken die costaricanischen PolitikerInnen eher mißtrauisch auf Unterschiede zu den Nachbarstaaten; so zum Beispiel der neugewählte Parlamentspräsident Danilo Chaverri von der konservativen Regierungspartei Partido Unidad Social Cristiana (PUSC). In einem Zeitungsinterview erklärte er: “Wir haben ein Land mit 40 % Arbeitslosigkeit (gemeint ist der Nachbarstaat Nicaragua, der Verf.), und eine Öffnung der Grenzen würde eine Flut von Immigranten auslösen, die in sehr starkem Maße an unserer kulturellen Identität rütteln würde.” Abgesehen von der verblüffenden Geistesverwandtschaft einiger costaricanischer PolitikerInnen zu ihren KollegInnen in der BRD wird hier eine interessante Frage aufgezeigt: Was soll denn Costa Ricas “kulturelle Identität” bedeuten?

Identität durch Abgrenzung

Gehen wir einmal davon aus, daß es so etwas tatsächlich gibt: Mit einer gemeinsamen Identität der Länder Mittelamerikas, einer gemeinsamen Rolle in der Geschichte und gleichen aktuellen gesellschaftlichen Merkmalen, hat es offenbar nichts zu tun. Wer eine eigene Identität so sehr an die Notwendigkeit zur Abschottung knüpft, gibt damit zu, daß er Angst hat, sie sehr leicht verlieren zu können. Eine Angst, die sich politisch seit Jahren durch eine Das-geht-mich-nichts-an-Haltung ausdrückt, oder höflicher: durch eine Neutralitätspolitik. Und wenn das Land mit den Problemen anderer in speziellen Fällen ganz besonders wenig zu tun haben wollte (wie in den 80er Jahren mit Nicaragua), dann gab es sich einfach so extrem neutral, daß die ein-und ausgehenden Contras gar nicht bemerkt werden konnten.
Was aber ist für die CostaricanerInnen die eigene Kultur? Marimbaklänge und Volkstanzgruppen aus Guanacaste – vielleicht. Die Tradition der Schwarzen von der Atlantikküste schon weniger. Und was die Indígena-Kultur betrifft, so galt diese vielen schon immer als etwas Fremdes im eigenen Land. Die Conquistadoren bewirkten hier gemeinsam mit der Gesetzgebung der jüngeren Vergangenheit etwas, was anderswo mordende Soldaten nicht schafften: Die ohnehin zahlenmäßig nie sehr große Indígena-Bevölkerung Costa Ricas konnte große Teile ihrer natürlichen Lebensform und ihrer Traditionen nicht bewahren.

Falsches Bild vom “grünen Land”

Der Tourismus tut ein übriges. Längst sind unter den 610.000 TouristInnen, die im letzten Jahr kamen, nicht mehr nur die üblichen Gringo-RentnerInnengruppen, sondern fast ebenso viele junge, “individuelle” “Alternativ”-Reisende aus Europa.
Ob Gruppe oder Einzelreisende/r; für ein Land mit etwas über drei Millionen BewohnerInnen hat der Tourismus, der allen Prophezeiungen zufolge demnächst die Bananen als Devisenquelle Nummer eins ablösen wird, eine Größenordnung erreicht, die eine nicht zu unterschätzende Bedrohung für die Natur des Landes darstellt. Im Falle des Nationalparks Manuel Antonio an der Pazifikküste wird längst überlegt, ähnlich wie schon im Naturreservat Monteverde, täglich nur eine begrenzte BesucherInnenzahl in den Park zu lassen. Manuel Antonios Pendant an der Karibikküste ist der Nationalpark Cahuita, der bevorzugt von all jenen aufgesucht wird, die sich ihr Klischee vom relaxten Leben der schwarzen KüstenbewohnerInnen zwischen Reggae und Marihuana bestätigen lassen wollen – und sich wundern, daß sie dort auf immer größere Ablehnung stoßen.

“Öko-Teufel” für den Präsidenten

Die geschützten Nationalparks drohen an den TouristInnenströmen zu ersticken; darüber hinaus wird außerhalb der Reservate weiterhin Tropenwald gerodet, und es steht zu befürchten, daß in nicht zu weiter Ferne außer den Parks die Grünflächen Costa Ricas praktisch verschwunden sein werden.
Nicht gerade rühmlich für die Regierung des “grünen Landes”; Präsident Rafael Angel Calderón mußte dann kürzlich auch von Robin Wood den “Öko-Teufel ’92” hinnehmen – für die “scheinheiligste Öko-Politik”. Konkreter Anlaß hierzu war allerdings der umstrittene 400-Betten-Hotelkomplex der spanischen Barceló-Gruppe am Strand von Tambor, einem Mammutprojekt, für das unter anderem Wagenladungen weißen Sandes über den imageunfreundlichen dunklen Strand gekippt wurden. Gesetzesverletzungen bei der Errichtung des Hotels Las Palmas an der Atlantikküste veranlaßten die costaricanische Schriftstellerin Anacristina Rossi dazu, einen Roman über den Skandal zu schreiben (der sich in Costa Rica hervorragend verkauft).

“Grundwerte” Religion und Familie
Wer schließlich versucht, die kulturelle Identität durch bestimmte gesellschaftliche Werte oder Normen zu definieren, darf davon ausgehen, von den CostaricanerInnen auf die ungemein wichtige Bedeutung solcher Begriffe wie Religion oder Familie in ihrem Lande hingewiesen zu werden. Auch das ist freilich mit Vorsicht zu genießen. In einem Staat, in dem 60 Prozent der Mädchen zwischen 14 und 19 Jahren bereits mindestens eine Schwangerschaft hinter sich haben, scheint es mit der Einhaltung katholischer Verhaltensmaßregeln nicht allzu weit her zu sein. Und die Tatsache, daß später 41 Prozent jener Mädchen als alleinstehende Mütter einen Haushalt führen müssen, weist nicht gerade auf ein intaktes Familienbild in Costa Rica hin.
So wäre es vielleicht korrekter, anstatt von einer kulturellen Identität von einer nationalen Identität zu sprechen, und zu deren Umschreibung müssen immer wieder zwei abgenudelte Begriffe herhalten: “Demokratie” und “Frieden”.

Eine Musterdemokratie?

Die costaricanische Demokratie weist eindeutige Parallelen zu der US-amerikanischen auf. Die Macht wird mittlerweile abwechselnd von zwei programmatisch kaum variierenden Parteien, PLN (Partido Liberación Nacional) und PUSC, ausgeübt. Besonders einig sind sich die VolksvertreterInnen immer dann, wenn es um die Erhöhung ihrer Diäten geht. Der neue PLN-Fraktionsvorsitzende Federico Vargas etwa ist stolz, durch ein neues Gesetz, das die jährliche Erhöhung der Bezüge um fünf Prozent im voraus festlegt, die zukünftigen ParlamentarierInnen vor dem “schrecklichen Trauma” bewahrt zu haben, sich selbst immer neue Profite genehmigen zu müssen. Parlamentspräsident Chaverri hält Rechtfertigungen sowieso nicht für nötig: “Die Abgeordneten sind die Funktionäre, die am meisten in der öffentlichen Kritik stehen, vor allem deshalb, weil in diesem Jahr fast jeder der drei Millionen Costaricaner Abgeordneter sein möchte.”
Daß das Land erstmals seit sieben Jahren wieder im Jahresbericht von Amnesty International genannt wird, trägt neben derartigen Äußerungen ebenfalls nicht gerade zum Image der costaricanischen Demokratie bei. Zielscheibe der Vorwürfe ist die ohnehin keinen besonders guten Ruf genießende Polizei, der Morde an vermeintlichen Drogendealern und Mißhandlungen von Transvestiten in San José zur Last gelegt werden.
Kandidat unter Mordverdacht
Ob von einer PLN-Regierung neue Impulse für die Politik zu erwarten wären, ist fraglich. Wenn es nämlich einen der parteiinternen KandidatInnen der sozialdemokratischen Partei gab, dem getrost einige Schwierigkeiten beim Umgang mit der Demokratie bescheinigt werden konnten, so war dies José Maria Figueres Olsen. Weniger wegen der etwas verworrenen Vorwürfe gegen seine Person, nämlich dem Mordverdacht an einem kleinen Drogendealer Anfang der siebziger Jahre (“Caso Chemisse”) und dem des Betruges als Repräsentant einer Minenfirma, als vielmehr wegen seiner teilweise sehr eigenen Art, darauf zu reagieren: So verweigerte Figueres dem TV-Kanal 7 ein einstündiges Interview zu den offenen Fragen, wollte aber stattdessen eine (von seinem Team hergestellte) “Reportage” ins Programm rücken. Dies war kurz vor den Vorwahlen im Juni. Inzwischen haben die WählerInnen gesprochen: Der PLN-Herausforderer um die Nachfolge von PUSC-Präsident Rafael Angel Calderón (Sohn des Staatspräsidenten 1940-44) ist der mit 57,4 Prozent aller Stimmen berufene José Maria Figueres (Sohn des Staatspräsidenten 1953-58 sowie 1970-74). Und dem PUSC-Kandidaten, dem eifrigen Neoliberalismus-Verfechter Miguel Angel Rodríguez, kommt nun zugute, im Wahlkampf auf die Argumente der Figueres-Gegner aus dessen eigenen Reihen zurückgreifen zu können; da ist dann vielleicht nicht ganz so schmerzlich, daß er selbst kein Präsidenten-Sohn ist.

Wer rettet den sozialen Frieden?

Zu tun gibt es für den kommenden Präsidenten einiges. Vor allem im wirtschaftlichen und sozialen Bereich liegen die Probleme. Die Zahl verarmter Familien liegt bei 22,2 Prozent; nach Berichten der Weltgesundheitsorganisation nahm unter der amtierenden Regierung die Unterernährung in der Bevölkerung stark zu – kein Wunder, wo doch der Preis für die “Canasta Básica”, die Grundnahrungsmittel, sich innerhalb von sechs Jahren verdreifachte, ein Sprung, den die Gehälter nicht vollzogen. Die Arbeitslosigkeit sank zwar auf offizielle 4,1 Prozent (1992), doch ging dies zu Lasten eines explodierenden informellen Sektors (ambulante VerkäuferInnen, “Piraten”-Taxis etc.) Mit der Pro-Kopf-Verschuldung (März’93: 1.114 US-$) liegt Costa Rica schon seit Jahren auf einem Spitzenplatz in der Welt.
Ein sozialer Friede läßt sich bei solchen Zahlen kaum aufrechterhalten. In Costa Rica äußert sich dies in einem Anstieg der Raub-und Diebstahldelikte, bevorzugt gegen unvorsichtige TouristInnen. Rafael Guillén, Chef der Kriminalpolizei OIJ, sieht das ganze so: “Wenn ein Land, das in der Entwicklungsphase ist, sich nach vorne bewegt, bleiben Personen auf der Strecke, die sich nicht auf die neue Situation einstellen können.”
Verbrechen ganz anderer Art waren es jedoch, die das Bild von der Friedensinsel Costa Rica endgültig umstießen – und das Land einmal in den Mittelpunkt des Weltgeschehens rücken ließ.

Drei Geiseldramen in sieben Monaten

Wurde die eintägige Entführung des obersten Hüters über die innere Sicherheit, des Innenministers Luis Fishman durch den Honduraner Ordonez noch als einmaliger Ausrutscher ins Kuriositätenkabinett eingeordnet, so war die 13tägige Besetzung der nicaraguanischen Botschaft samt Geiselnahme in der Hauptstadt San José im März diesen Jahres ein Schlag von ganz anderem Kaliber. Zwar besaß das ohne Blutvergießen beendete Geiseldrama durchaus kabarettistische Züge, beispielweise wenn Terroristenboß Urbina Lara in selbstdarstellerischer Manier ein Dekret nach dem anderen über die Lautsprecher schickte, oder wenn das benachbarte “Pizza Hut” Opfer und Täter mal schnell mit seinen Köstlichkeiten versorgte; von der Berichterstattung der in solcherlei Dingen unerfahrenen Medien gar nicht zu reden. Der Versuch der costaricanischen Regierung jedoch, das ganze als rein nicaraguanische Angelegenheit abzutun, wirkte kläglich.
Es gelang aber, noch eins draufzusetzen: Die Besetzung des Obersten Gerichtshofs mit Geiselnahme von 24 Angestellten (26. – 29. April). Anders als wie zuvor verbreitet (und wohl auch gehofft), handelte es sich bei den Geiselnehmern nicht etwa um kolumbianische Drogenmafiosi, sondern um ehemalige costaricanische Justizangestellte. Da half dann auch nichts mehr, daß Kommandoführer “Charlie” in seinem Bekennerbrief dreimal “Verzeih’ mir, Costa Rica” schrieb und nach seiner Gefangennahme (kurz vor dem Einstieg in den Fluchthubschrauber übergaben die Gangster ihre Waffen freiwillig (!) der Polizei und wurden daraufhin überwältigt) erklärte, er hätte sich mit dem Lösegeld nur eine dringende Lebertransplantation finanzieren wollen – wobei die Ärzte versicherten, “Charlie” stünde nicht auf der Dringlichkeitsliste.

…und nun auch noch Dinosaurier!

Wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen im Februar ’94 ist es also endgültig vorbei mit dem so liebevoll gepflegten Image des “Paradieses” Costa Rica. Neben politischen Entscheidungen scheint aber auch eine ehrliche Auseinandersetzung mit der “kulturellen” oder “nationalen” Identität vonnöten, bei der davon abgegangen werden sollte, sich weiterhin hinter leeren Floskeln zu verschanzen.
Übrigens: Ob der Film “Jurassic Park”, den Regisseur Spielberg “auf einer Insel vor Costa Rica” spielen läßt (in Wirklichkeit wurde auf Hawaii gedreht), sich imagefördend auf das mittelamerikanische Land auswirkt? Zumindest die Darstellung der Hauptstadt San José war im Lande recht umstritten. Im Film zeigte man ein Kaff am Karibikstrand, das offenbar zur Gänze aus einem Open-Air-Café bestand. In der Version, die in der costaricanischen Hauptstadt (etwa eine Million Einwohner und 100 bzw. 160 Kilometer von Pazifik- und Karibikküste entfernt) in den Kinos gezeigt wurde, befand sich dann auch ein schwarzer Balken über dem eingeblendeten Wort San José, der jedoch leider etwas verrutscht war – was gemischte Reaktionen des Publikums hervorrief.

Das Recht auf trial and error in einer Welt ohne Beispiele und Bezugspunkte

“Reform oder revolutionäre Theorie und Praxis in Lateinamerika und Europa” lautete der Titel eines Internationalen Kongresses, den der Verein Monimbó aus Dietzenbach/Hessen in Zusammenarbeit mit Buntstift und der Stiftung Umverteilen organisiert hatte. Ein sowohl vom Alter als auch von den Nationalitäten ziemlich gemischtes Publikum von ungefähr 400 Leuten fand sich am 2. und 3. Oktober in der Frankfurter Uni ein.
Auf dem Podium des Hörsaals V1 saßen und referierten führende Vertreterinnen verschiedener linker Parteien und (ehemaliger) Guerillaorganisationen aus Brasilien, Cuba, Argentinien, Venezuela, E1 Salvador, Guatemala, Nicaragua und Chile. Einer der zentralen Diskussionspunkte war: Ist eine grundlegende Demokratisierung möglich, oder sind die formalen Demokratien, die in den letzten Jahren nach Abdankung der Militärs in Ländern wie Chile, Argentinien, Paraguay oder Brasilien entstanden sind, Fortsetzung der Diktatur mit anderen Mitteln?
Der argentinische Journalist Miguel Bonasso brachte die Fragestellung auf den Punkt: “Die sechziger Jahre waren die Zeit der revolutionären Bewegungen. In den siebziger Jahren kamen die Militärdiktaturen, die in den Achtzigern von formalen Demokratien abgelöst wurden. Was werden die neunziger Jahre bringen? Kommt jetzt wieder eine Phase der autoritären Staatsformen á la Fujimori in Peru, oder gibt es Möglichkeiten für linke Reformprojekte?” Die Kompetenz der lateinamerikanischen ReferentInnen konnte nicht über eine grundlegende Schwäche des Kongresses hinwegtäuschen: Die Zusammensetzung des Podiums spiegelte nicht gerade die Vielfalt der lateinamerikanischen Linken wieder, sondern nur deren parteipolitische Variante. Abgesehen von der Diskussionsleiterin Dorothee Piemont und Monica Baltodano von der FSLN waren Frauen lediglich in ihrer klassischen Funktion als Übersetzerinnen präsent.

Chance vertan: Soziale Bewegungen und Beiträge des Publikums waren kaum erwünscht

Auf die Anwesenheit von VertreterInnen sozialer Bewegungen war offenbar kein Wert gelegt worden, obwohl gerade diese in den letzten zehn Jahren in Lateinamerika entscheidende Impulse für eine Erneuerung linker Programmatik gegeben haben. Und so blieb es einer Lateinamerikanerin aus dem Publikum vorbehalten, darauf hinzuweisen, daß es mittlerweile auf kontinentaler Ebene zahlreiche Treffen und Zusammenschlüsse von Frauengruppen, Umweltverbänden, Bauernorganisationen, Schwarzen und indigenas gibt, die ja nicht zuletzt in der Kampagne gegen die offiziellen 500 Jahr-Feiern im vergangenen Jahr eine entscheidende Rolle spielten.
Was die Stimme der bundesdeutschen Linken auf dem Kongreß anging, war es fast schon grotesk, mit Wolf-Dieter Gudopp vom “Verein Wissenschaft und Sozialismus” einen Vertreter ausgerechnet jener orthodoxen, kopflastigen und verknöcherten Variante von Sozialismus eingeladen zu haben, die an der ideologischen Krise der Linken einen entscheidenen Anteil hat.
“Auch ich bin von der Begeisterung für Dinosaurier angesteckt.”Dieses modische Lippenbekenntnis Dorothee Piemonts bezog sich auf ihre These, daß der Kapitalismus auf Dauer nicht überlebensfähig sei. Mindestens genauso gut hätte dieser Satz jedoch auf das anachronistische Gestaltungskonzept des Kongresses gepaßt: An zwei Tagen wurde vor vollem Hörsaal eine Frontalveranstaltung sondergleichen abgezogen: Die meisten Redebeiträge lagen dem Publikum als deutsche Übersetzung vor. Aus “Zeitmangel” wurden fast alle Referate ohne Direkt-Übersetzung auf Spanisch abgelesen -eine Methode, die auf einen Teil des Publikums einschläfernd wirkte, während andere frustriert und wütend reagierten: “Da hätte ich mich ja besser mit dem Reader zuhause hinsetzen können.”
Für den Dialog mit der Basis blieb -“leider, leider” -wie die Diskussionsleitung immer wieder bedauerte -so gut wie keine Zeit. Auf diese Weise wurde nicht nur eine Chance vertan, die Perspektiven der lateinamerikanischen Linken in größerer Runde zu diskutieren. Auch die gegenwärtige Krise der bundesdeutschen Linken -und eventuell vorhandene Erneuerungskonzepte -wurde kaum reflektiert, geschweige denn diskutiert.

Revolutionärer Pragmatismus: Drei Mahlzeiten täglich für alle

Die lateinamerikanische Linke sieht sich zur Zeit mit politischen und wirtschaftlichen Problemen konfrontiert, die neben einer langfristigen Perspektive auch ein konkretes Handeln erfordern: Ein Blick auf die politische Landkarte des Subkontinentes zeigt, daß die Situation in den verschiedenen Ländern so unterschiedlich ist, daß es schwerfällt, allgemeine Prognosen zu treffen. Von einer Entwicklung sind allerdings fast alle Staaten betroffen: Mit dem rigiden Durchsetzen neoliberaler Wirtschaftsprogramme hat sich die Situation für den Großteil der Bevölkerung weiter verschlimmert und die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. Das Kürzen öffentlicher Ausgaben im sozialen Sektor und im Bildungsbereich und die Privatisierungen staatlicher Unternehmen haben immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Heute ist es für viele Basisbewegungen in Ländern wie Peru oder Brasilien eine zentrale Forderung, den Hunger und das Massenelend zu beseitigen.
Wenn in seinem Land durchgesetzt werden könnte, daß die gesamte Bevölkerung dreimal täglich zu essen bekäme, so Nildo Domingos von der brasilianischen Arbeiterpartei (PT), wäre dies angesichts der jetzigen Situation schon eine revolutionäre Errungenschaft. Gleichzeitig sieht auch er die Gefahr, sich in tagespolitischen Forderungen aufzureiben: “Die Linke war bis vor kurzem zu dogmatisch. Nun ist sie zu pragmatisch.”
Mit dem Vorwurf eines zu großen Pragmatismus, der “Sozialdemokratisierung”, wurde auf dem Kongreß in Frankfurt insbesondere der Vertreter der FMLN aus E1 Salvador, Shafik Hándal, konfrontiert. Die ehemalige Guerilla, die Anfang letzten Jahres nach zwölfjährigem Kampf einen Friedens-und Demokratisierungsvertrag mit der Regierung aushandelte, hat gute Chancen, bei den Wahlen im kommenden März die Regierung zu übernehmen. Das Programm, mit dem die FMLN antritt, konzentriert sich auf eine grundlegende politische Demokratisierung und Entmilitarisierung der salvadorianischen Gesellschaft. Es sieht eine Stärkung genossenschaftlicher Eigentumsformen vor, will jedoch gleichzeitig die Marktwirtschaft erhalten. Gegenüber KritikerInnen betonte Handal: “Ob die Demokratie sich am Ende als eine bürgerliche, rein formale, oder als eine substantielle herauskristallisieren wird, ist eine offene Frage. Wir von der FMLN bestehen auf unserem grundlegenden Recht auf die Methode des trial and error in einer Welt, die uns weder Beispiele noch Bezugspunkte bietet.”
Neben der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit ist ein anderes zentrales Problem in vielen Ländern die Rolle des Polizei-und Militärapparates als Repressionsorgan und die Existenz paramilitärischer Todesschwadrone. Gerade die aktuelle Entwicklung des Friedensprozesses in E1 Salvador läßt daran zweifeln, ob sich diese Kräfte tatsächlich mit friedlichen Mitteln entmachten lassen -von einer systematischen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen ganz zu schweigen.

Der ‘Geist Bolivars’ -Trugbild oder politische Vision?

Auf dem Kongreß wurde deutlich, daß die meisten linken Parteien Lateinamerikas zur Zeit in erster Linie damit beschäftigt sind, Perspektiven auf nationaler Ebene zu entwickeln -mit unterschiedlichen Konsequenzen. Zwar wurde immer wieder die Notwendigkeit beschworen, sich auf kontinentaler Ebene zusammen-zuschließen und auch mit linken Bewegungen aus Afrika oder Asien zu kooperieren. Der “Geist Simón Bolivars”, des antikolonialen Befreiungskämpfers aus dem vorigen Jahrhundert, schwebte nicht nur in Form eines riesigen bemalten Transparentes über den Köpfen der Diskutierenden. Es wurde betont, daß es allein schon aufgrund der weltwirtschaftlichen Verflechtungen und der Interventionspolitik der westlichen Industriestaaten nicht möglich sei, den “Sozialismus in einem Land zu realisieren -siehe die Beispiele Kuba und Nicaragua. Durch den Niedergang des “realexistierenden Sozialismus” haben sich die Rahmenbedingungen in den letzten Jahren weiter verschlechtert. Dazu Eleuterio Huidobro von der ehemaligen Guerilla und jetzigen Partei der “Tupamaros” aus Uruguay: “Früher sahen wir die Alternativen Sozialismus oder Faschismus. Heute ist eine dritte Alternative aufgetaucht, die sich besonders in einigen afrikanischen Ländern oder in Osteuropa zeigt: das Chaos.”
Trotzdem war die Stimmung auf dem Kongreß von Optimismus gedämpften Optimismus gekennzeichnet: Immerhin haben in einigen Ländern Lateinamerikas linke Projekte in den letzten Jahren an Boden gewonnen und deren VertreterInnen könnten in absehbarer Zeit Regierungsaufgaben übernehmen, beispielsweise in E1 Salvador, Brasilien oder Uruguay. Ein anderes sehr interessantes Projekt -in Deutschland bisher noch recht unbekannt -ist die “Causa R in Venezuela (vgl. LN 226):Diese Bewegung versucht, dem staatlichen Establishment eine dezentrale, basisdemokratische Gegenmacht entgegenzusetzen. Mit beachtlichem Erfolg: Mittlerweile stellt die “Causa R” unter anderem den Bürgermeister der Hauptstadt Caracas.
Was die politischen Programme angeht, sind die LateinamerikanerInnen zwar bereit, auch mit deutschen Linken zu diskutieren, wehren sich aber gegen Bevormundung. Dazu Huidobro aus Uruguay: “Es wäre wünschenswert, wenn sich die Deutschen mehr um ihre Probleme hier kümmern. Wir würden auch gerne in Lateinamerika ein Kommitee zur Unterstützung der Revolution in Deutschland gründen.”

Weniger Öffentlichkeit

Genau wie mit der El Salvador-Solidaritätsbewegung ging es auch mit dem ides steil nach oben. Erst ein Jahr zuvor waren die SandinstInnen in Managua eingezogen und hatten die Somoza-Diktatur weggefegt, und so lautete die Parole nicht nur in Zentralamerika: “Wenn Nicaragua gesiegt hat, dann wird auch El Salvador siegen!” Allerorten entstanden neue Komitees und Soligruppen und so wuchs auch die Zahl der LeserInnen des ides. In seinen besten Tagen erschien er Woche für Woche mit einer Auflage von über 4.000 Exemplaren.
Bezeichnend für die Zeit zu Beginn der achtziger Jahre war auch, daß von fast allen Engagierten für die vom ides initiierte Kampagne “Waffen für El Salvador” gesammelt wurde: GewerkschafterInnen, StudentInnenorganisationen und selbst Kirchenleute unterstützten explizit den bewaffneten Kampf der FMLN. Möglich wurde dies nicht zuletzt durch die taz, die die Kampagne von Beginn an unterstützte und damals auch personell noch mit der Solibewegung verflochten war. (So verlor die Kampagne später nicht nur deshalb an Schwung, weil die FMLN den Triumph der FSLN nicht wiederholen konnte, sondern auch, weil die taz zunehmend ihre Unterstützung entzog. Auf dem Weg in die Mitte der bundesdeutschen Gesellschaft sollten potentielle neue LeserInnen nicht verschreckt werden.)
Seit 1982 berichtete der ides auch über die anderen zentralamerikanischen Länder, später kamen schwerpunktmäßig noch Mexiko und Kolumbien dazu. Der ides war für die Zentralamerika-Solidaritätsbewegung ein unverzichtbares Medium, die wenigsten ließen sich von den wöchentlichen Bleiwüsten abschrecken. Das Informationsbedürfnis war groß und Mailboxen in der Szene noch unbekannt.
Infos aus erster Hand, direkt von den zentralamerikanischen Befreiungsbewegungen und Volksorganisationen, waren die große Stärke des ides. Eine solidarische Diskussion über den revolutionären Prozeß in Zentralamerika gelang hingegen nur selten. Rückblickend schreibt einer vom ides dazu: “Wir taten uns schwer, die Widersprüchlichkeiten der revolutionären Prozesse in LA darzustellen. Wir diskutierten sie, hatten aber oft Schiß, das, was wir als Wahrheiten begriffen hatten, im ides zu benennen.” So schwieg der ides – wie fast die gesamte Bewegung – auch erstmal zur Ermordung der Guerilla-Comandantin Melida Anaya Montes durch ihre eigenen GenossInnen im März 1983. Der Mord, Resultat von Machtkämpfen innerhalb der FPL (eine der fünf FMLN-Organisationen), bedeutet nicht nur einen Einschnitt in der Geschichte der FMLN. Auch in der El Salvador-Solidaritätsbewegung ändertes sich einiges. Über Monate hinweg wurde von Seiten der FPL die Wahrheit verschwiegen oder je nach politischem Kalkül eine andere Version geliefert. Die Solibewegung reagierte anfangs mit Nicht-wahr-haben-wollen und Verdrängen. Die Auseinandersetzung mit dem Ungeheuerlichen kam nur langsam in Gang und hatte unterschiedliche Konsequenzen: ein Teil der Gruppen löste sich auf, andere unterstützten nicht mehr ausschließlich die FMLN. Die Bewegung hatte in der BRD ihren Zenit überschritten. Der ides war zumindest teilweise Forum dieser Diskussionen.
Das Ringen um die richtige Haltung und die Suche nach einer möglichen solidarischen Kritik beschäftigte den ides immer wieder. So auch in der Nummer 300: “Wir müssen endlich Kriterien erarbeiten, mit denen wir weg von der Jubelsolidarität kommen, nach der alles richtig, weil in der Situation verständlich ist, was die Befreiungsbewegungen unternehmen. (…) Aber auch weg von den ‘Kritischen’, die hinter der Kritik ihren eigenen Unwillen verstecken, weiterzuarbeiten, die heimlich eben doch ein bißchen den Kloses glauben, die Gewalt, wie die Ausweisung von Vega [reaktionärer nicaraguanischer Bischof, den die sandinistische Regierung vorübergehend nicht mehr ins Land ließ, nach dem er in den USA auf Unterstützungstournee für die Contra gegangen war; Anm. LN], schon immer verabscheut haben.”
Damals (1986) war die Zahl der zahlenden AbonentInnen jedoch bereits auf ca. 500 gesunken. Die El Salvador-Solidaritätsbewegung war klein und für die wesentlich größere Nicaragua-Solidarität war der ides nie von großer Bedeutung. Der ides verstand sich immer als Teil der Solibewegung, doch die löste sich in West-Berlin nach und nach auf, so im Herbst 1990 auch das El Salvador-Komitee. Die direkten Verbindungen nach Zentralamerika gingen zunehmend verloren und die meisten Informationen waren auch über andere Medien zu bekommen. Außer einigen Einzelpersonen arbeitete zum Schluß nur noch das Guatemala-Komitee beim ides mit.
In diesem Sinne ist die Entscheidung, den ides dicht zu machen, richtig. Für die wöchentlichen Infos gibt’s den Nachrichtendienst Poonal. Wieso also eine Zeitschrift machen, die keine LeserInnen mehr hat? In der BRD des Sommers 1993 gibt es genug zu tun.

Putsch und Gegenputsch

Der erste Putsch

Am 25. Mai um sieben Uhr morgens gab Präsident Jorge Serrano über Rundfunk und Fernsehen bekannt, daß er Teile Verfassung außer Kraft gesetzt habe. Er habe den Kongreß, den Obersten Gerichtshof, das Verfassungsgericht und die Generalstaatsanwaltschaft aufgelöst und den Menschenrechtsprokurator Ramiro de León seines Amtes enthoben. Er hob auch Versammlungsfreiheit, Streikrecht und Meinungsfreiheit auf und schaltete die Medien gleich. Serrano begründete seinen Putsch von oben mit dem Kampf gegen die Korruption, den Drogenhandel und der schlechten Amtsführung des Kongresses sowie des Obersten Gerichthofes.
Die Reaktionen auf Serranos Putsch waren einhellig ablehnend. Das Verfassungsgericht erklärte am 26. Mai die Maßnahmen Serranos für gesetzlich ungültig. Auch die Oberste Wahlbehörde lehnte es ab, eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen, wie Serrano am Tag zuvor angekündigt hatte. Arbeitsminister Mario Solorzano und andere Kabinettsmitglieder traten aus Protest gegen Serranos Vorgehen zurück, genauso wie einige BotschafterInnen Guatemalas im Ausland.
Außer in Peru wurde der Putsch auch im Ausland heftig verurteilt. Am 27. Mai kündigte der Sprecher des US-State-Departments Richard Boucher an, die wirtschaftliche Unterstützung einzufrieren. Außerdem könnten die Handelspräferenzen für ein Land, in dem die Arbeitsrechte nicht respektiert würden, nicht aufrechterhalten werden. Am 26. Mai knüpfte die deutsche Bundesregierung die weitere Zusammenarbeit mit Guatemala, “einschließlich der Entwicklungshilfe”, an die Rückkehr zur demokratischen Ordnung und die strikte Einhaltung der Menschenrechte. Am 29. Mai kündigte auch die EG- Kommission die Suspendierung ihrer Hilfe an.

Die Volksbewegungen zeigen Mut

Trotz der massiven Militär-und Polizeipräsenz auf den Straßen setzten sich die Volksorganisationen über das Demonstrationsverbot hinweg. Dabei spielte Rigoberta Menchú eine wichtige Rolle, als sie am 26. Mai gemeinsam mit der Katholischen Kirche, dem Rektor der Universität San Carlos und der Trägerin des alternativen Nobelpreises, Helen Mack für den nächsten Tag zu einer Messe in der Kathedrale der Hauptstadt aufrief, mit der das Versammlungsverbot durchbrochen wurde. Nach der Messe überreichten 62 Organisationen im Nationalpalast ein Dokument, in dem sie die “sofortige Rückkehr zur institutionellen Ordnung” forderten. Auch der abgesetzte Menschenrechtsprokurator Ramiro de León Carpio hatte das Papier unterschrieben. Er verwandelte sich schnell in ein Symbol des Widerstands. Nachdem er sich schon am 26. Mai von seinen Funktionen selbst entbunden hatte, schloß er am 31. Mai seine Behörde und rief zum zivilen Ungehorsam auf. In einem offenen Brief an die guatemaltekische Bevölkerung erklärte de León seine “totale und absolute Ablehnung” der von Präsident Serrano getroffenen Entscheidungen.

Das Militär eiert hin und her

Verteidigungsminister Garcia Samayoa hatte zunächst den Diktator Serrano vorsichtig unterstützt. Wenn Serrano diesen Schritt nicht unternommen hätte, “wäre das Land in eine anarchische Krise mit schwerwiegenden Konsequenzen geraten”, rechtfertigte er am 27. Mai den Putsch. Doch drei Tage später -nach einer Zusammenkunft mit einer im Land weilenden OAS-Delegation -versicherte Garcia Samayoa, die guatemaltekische Armee wünsche die “schnellstmögliche” Rückkehr zur verfassungmäßigen Ordnung. “Die Ereignisse basieren nicht auf einer militärischen sondern einer politischen Entscheidung. Wir wurden erst kurz vor der Außerkraftsetzung der Verfassung informiert.” An dem Treffen mit dem Generalsekretär der OAS, Joao Baena Soares, nahmen auch Generalstabschef Roberto Perussina, der Chef des Sicherheitsstabes des Präsidenten, Francisco Ortega Menaldo, der Geheimdienstchef der Armee, Otto Pérez Molina, und der stellvertretende Generalstabschef Mario Enriquez teil.

Der zweite Putsch

Am 1. Juni um 11.00 Uhr überreichten die Kommandanten der 22 Militärzonen Serrano ein Dokument, in dem sie ihm die Präsidentschaft entzogen. Zugleich überflogen Hubschrauber den Nationalpalast. Auf einer Pressekonferenz erklärte Verteidigungsminister Jose Garcia Samayoa, daß damit dem Urteil des Verfassungsgerichtes vom 26. Mai Gültigkeit verschafft werden solle. In dem Urteil war das Dekret von Serrrano für null und nichtig erklärt worden. Die Armee werde auf der Basis dieses Urteils der Verfassung zur Wirksamkeit verhelfen.
Garcia Samayoa verkündete: “Der Präsident der Republik hat sich für die Aufgabe seines Amtes entschieden.” Serrano jedoch weigerte sich mehrere Stunden lang, seinen Rücktritt zu unterzeichnen. In den erneut gleichgeschalteten Radios und Fernsehsendern wurden die Mitglieder des Verfassungsgerichtes aufgefordert, in den Nationalpalast zu kommen. Dort wurde dann ein fünfstündiges Treffen abgehalten, an dem Menschenrechtsprokurator Ramiro de León, Unternehmer, Parteien und Militärs teilnahmen. Der Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchu, die eine Beteiligung der Volksorganisationen an diesen Verhandlungen forderte, wurde der Zutritt zu dem Treffen verweigert.
Rigoberta Menchu Tum vertrat die Forderungen der neugebildeten “Multisectorial Social”, eines Zusammenschlusses von Organisationen der Volksbewegung und der Universität San Carlos. In mehreren Demonstrationen lehnte die “Multisectorial Social” die Übernahme der Präsidentschaft durch den bisherigen Vizepräsidenten Gustavo Espina ab, forderte Prozesse gegen Serrano und Espina und verlangte, den Kongreß von “korrupten Dieben” zu säubern.

Auf dem Weg vom Menschenrechtsprokurator zum Präsidenten

Ramiro de León hatte am 1. Juni den Putsch der Armee gegen Serrano ge rechtfertigt: Der Putsch sei “vollständig im Rahmen der Verfassung”. Die Militärs hätten in Übereinstimmung mit dem Urteil des Verfassungsgerichts interveniert, um zur verfassungsmäßigen Ordnung zurückzukehren, “ohne die Macht auch nur eine Minute auszuüben”. Am folgenden Tag kündigte er die Wiedereröffnung seiner Menschenrechtsbehörde an, mußte dann allerdings feststellen, daß mittlerweile die Militärspitze den ehemaligen Vizepräsidenten Gustavo Espina unterstützte. Dieser könne nicht ernannt werden, da er wegen Verfassungsbruchs angeklagt sei, so de León Carpio. Er verlangte von Verteidigungsminister José Garcia Samayoa, daß er der Nation eine Erklärung über das Chaos gebe, in dem das Land versunken sei. Doch Verteidigungsminister Garcia vergrößerte das Chaos noch, indem er zunächst nicht nur Serranos Rücktritt, sondern auch den des Vizepräsidenten Espina verkündet hatte. Als sich die Armee dann aber nicht in der Lage sah, eine von Espina unterschriebene Rücktrittsurkunde vorzulegen, erklärte der Verteidigungsminister plötzlich Espina zum verfassungsmäßigen Präsidenten Guatemalas. (Nach anderen Versionen hatte sich Espina vorher selbst zum Präsidenten ausgerufen.) In der Nacht zum 3. Juni versammelten sich Tausende vor dem Parlamentsgebäude und äußerten ihren Unmut mit Sprechchören wie “Wir wollen nicht das Militär. Wir wollen nicht Espina”. Schließlich urteilte das Verfassungsgericht am 4. Juni, daß Espina dieses Amt wegen seiner Beteiligung
am Staatsstreich von Serrano nicht ausüben könne, woraufhin die Armee nun dem Verfassungsgericht umfassende Unterstützung zusicherte.

Zweigeteilte Zivilgesellschaft

Nachdem das Verfassungsgericht dem Kongreß am 4. Juni eine vierundzwanzigstündige Frist gesetzt hatte, um einen neuen Präsidenten zu wählen, trafen VertreterInnen der Privatwirtschaft, der Parteien, Gewerkschaften, Kooperativen und der Universität San Carlos unter Ausschluß der “Multisectorial Social” eine Übereinkunft über die Rückkehr zur verfassungmäßigen Ordnung. Sie einigten sich auf sechs Punkte, darunter den Rücktritt des amtierenden oder auch nicht amtierenden Präsidenten Gustavo Espina und die Wahl eines neuen Präsidenten durch den Kongreß. Die sogenannte “Instanz des Nationalen Konsens” überreichte das Dokument der Militärführung, die ihre volle Unterstützung zusicherte. Francisco Cali von der “Multisectorial Sociai” erklärte, daß weder Menchu Tum noch der Rektor der Universität das Dokument unterzeichnet hätten. Vielmehr hätten die Volksorganisationen noch vier weitergehende Forderungen: Prozesse gegen die Putschisten; Prozesse wegen Korruption; Ausschluß der Armee vom sozialen und politischen Leben; entscheidende Rolle der zivilen Gesellschaft bei den Entscheidungen über die Zukunft Guatemalas.
Die am 5. Juni für zehn Uhr morgens angesetzte Kongreßsitzung zur Wahl des neuen Präsidenten konnte wegen der intensiven Verhandlungen hinter den Kulissen erst um 18 Uhr beginnen. Neben Ramiro de León trat der am gleichen Tag von seinem Posten als Präsident der Obersten Wahlbehörde zurückgetretene Arturo Herbruger an. Herbruger zog seine Kandidatur allerdings zurück, als er im ersten Wahlgang mit 51 gegen 64 Stimmen unterlag. Da beide keine Zweidrittelmehrheit erreichten, mußte de León in einer weiteren Abstimmung um ein Uhr nachts noch bestätigt werden. In seinen ersten Erklärungen sagte de León, Guatemala müsse in sicheren Schritten einer besseren Zukunft entgegengehen, aber “ohne Revanche-oder Rachegefühle”. Er versprach, den hartkritisierten “Fonds für Vertrauliche Ausgaben” der Regierung abzuschaffen. aus dem sich die Präsidenten traditionell zur Bereicherung und Bestechung bedient haben und insbesondere die Meinungs-und Pressefreiheit zu respektieren. Neben dem Kampf gegen die Straffreiheit verpflichtete er sich auch zur strikten Einhaltung der Menschenrechte. Er kündigte die Einrichtung eines “permanenten Dialogmechanismus” mit den verschiedenen Ethnien an. Vorrangige Aufmerksamkeit werde er den Problemen im Gesundheits-und Bildungssektor widmen und sofort eine Alphabetisierungskampagne beginnen.

Glückwünsche aus dem Ausland

Der frisch gewählte Präsident konnte sich vor Glückwünschen aus dem Ausland kaum retten. Schon zwei Tage nach seiner Wahl traf der stellvertretende US- Außenminister Clifton Wharton zu einem dreistündigen Gespräch mit de León
ein. Wie alle anderen Regierungen, die ihre Wirtschaftshilfe nach dem Staatsstreich vom 25. Mai eingefroren hatten, kündigte er die sofortige Wiederaufnahme an. Das Auswärtige Amt in Bonn kommentierte: “Ramiro de León Carpio genießt aufgrund seiner Arbeit als Menschenrechtsprokurator großes Vertrauen in der guatemaltekischen Bevölkerung”.
León Carpio ernannte als erstes den in die Staatsstreiche verwickelten General Jorge Roberto Perussina zum neuen Verteidigungsminister, der zur harten Linie im Militär gezählt wird. Die beiden anderen Putschgeneräle Ex-Verteidigungsminister Garcia Samayoa und der Ex-Chef des Sicherheitsstabs des Präsidenten Ortega Menaldo wurden in den Ruhestand beziehungsweise in die Provinz versetzt.
Aus den ersten Erklärungen de Leóns 1äßt sich erkennen, daß er nicht vorhat, sich mit der Armee anzulegen. Solange es bewaffnete Auseinandersetzungen gebe, würde der Militärhaushalt nicht gekürzt, erklärte er. Auf internationaler Ebene löste er zunächst Befremden aus, als er sich zum Verhandlungsprozeß mit der Guerilla äußerte. Die Friedensgespräche seien keine Priorität seiner Regierung, weil der Wechsel an der Regierungspitze den Krieg “überflüssig” machen würde. Wichtiger sei es, den demokratischen Prozeß zu konsolidieren. Die URNG- Guerilla hatte am 10. Juni ein direktes Treffen mit dem neuen Präsidenten in Anwesenheit des Vermittlers vorgeschlagen. Das Zögern von de León Carpio ist wahrscheinlich damit zu erklären, daß er als ehemaliger Menschenrechtsprokurator nicht umhin könnte, das ausstehende Menschenrechtsabkommen zu unterzeichnen -was aber vom Militär kaum akzeptiert würde.
Die “Multisectorial Social” und Rigoberta Menchu begrüßten die Wahl de Leóns. Die Aktionen gegen die Militarisierung würden aber nicht aufhören, erklärte Rigoberta Menchú nach einem Gespräch mit de León am 9. Juni.
Der gestürzte Präsident Serrano befindet sich mittlerweile ohne seine Bankkonten mit 17 Millionen US-Dollar und mindestens 100 Immobilien im Exil in Panama. Das guatemaltekische Außenministerium beantragte am 8. Juni seine Auslieferung wegen Verfassungsbruch, Veruntreuung und Unterschlagung.

Berichtigung: Zwölf Monate sind ein Jahr, zwanzig Jahre gibt es die LN, das sind 240 Monate, und wenn die Inflation in Ecuador wirklich so hoch wäre, wie wir im letzten Heft auf Seite 9 behauptet haben, dann wären heute sicher nicht mehr 1800 Sucres einen Dollar wert, sondern die EcuadonanerInnen müßten in Millionen rechnen. Tatsächlich nämlich beträgt die Inflation nicht 50 Prozent monatlich, sondern im Jahr.

Erfolg für die Zivilgesellschaft?

Es wird noch eine Weile dauern, bis nach und nach an die Öffentlichkeit dringt, was in der Zeit vom ersten Putsch am 25. Mai bis zum Amtsantritt von de León Carpio hinter den Kulissen passiert ist. Zu den dunkelsten Momenten gehört die Zeit zwischen dem zweiten Putsch am 1. Juni und der Wahl Carpios, als Guatemala tagelang ohne Präsident war, ständig eine Machtübernahme des Militärs mit dem dazugehörigen Blutbad befürchtet wurde und Verteidigungsminister Garcia Samayoa so oft die Position wechselte, daß nicht nur den mittleren Rängen im Militär klar wurde, daß ihre Führung unfähig sei, “sich auf der politischen Bühne zu bewegen”, wie eine mexikanische Zeitung berichtete.
Ein Blick hinter die Kulissen sollte Aufschluß darüber bringen, welche Machtkonstellation sich schließlich durchgesetzt hat. Dem läßt sich jedoch auch näher- kommen, indem man sich die HauptakteurInnen näher betrachtet, als da wären: Serrano, die Armee, die USA, die guatemaltekischen UntemehmerInnen, das Parlament, Ramiro de León Carpio, die Volksorganisationen und Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchu.

Putsch Nummer 1: Serranos Mist

Der erste Putsch scheint auf dem Mist von Serrano gewachsen und seiner wach-senden Isolation von allen gesellschaftlichen Gruppen sowie einer drohenden Amtsenthebung wegen Korruption geschuldet.
Neben seinen ständigen Auseinandersetzungen mit der Presse und der katholischen Kirche drohte ihm eine ähnliche Korruptionsklage wie dem brasilianischen Präsidenten Femando Collor de Mello und dem venezolanischen Präsidenten Carlos Andres Pérez. Am 23. Mai kündigte der Parlamentspräsident Beweise für die Korruption des Präsidenten an. Der aufgelöste Kongreß erklärte am 27. Mai, daß vorgesehen war, 5.000 Unterschriften vorzulegen, mit denen ein Prozeß gegen Serrano wegen “illegalem Erwerb von Gütern, Unterschlagung und Korruption” angestrengt werden sollte.
Die Hardliner in der Armee wiederum hatten als Ergebnis der Friedensverhandlungen eine bedingungslose Kapitulation der Guerilla gefordert und fanden die Verhandlungen bereits zu weit fortgeschritten. Mit den Diskussionen um eine Wahrheitskommission und mit der Verurteilung des Hauptmanns Hugo Contreras am 11. Mai für den Mord an dem mutmaßlichen Agenten der US-Drogenbehörde, Michael Devine, die nur aufgrund des Drucks der USA zustande kam, riß der Geduldsfaden der Armee endgültig.
Schon Tage vor dem Putsch war Guatemala-Stadt militarisiert, um die massiven Proteste von.SchülerInnen, StudentInnen und öffentlichen Angestellten gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik mit Aufstandbekämpfungseinheiten zu unterdrükken. Seit Ende April hatten Strom-und Buspreiserhöhungen zu massiven sozialen Unruhen geführt.
Serrano beteuerte zwar immer wieder, die Militärs hätten mit dem Staatsstreich nichts zu tun, es ist jedoch bekannt, daß er sich am 19. und am 24. Mai mit allen wichtigen Militärkornmandanten getroffen hatte. Und ohne die Unterstützung des Militärs hätte Serrano natürlich auch nicht putschen können. Auch die neue US-Botschafterin in Guatemala Marilyn McAfee, hat eingeräumt, daß die USA vor dem 25. Mai versuchten, Serrano von seinem Vorhaben abzubringen, daß sie also von den Putschplänen wußten.

Serranos Fehleinschätzungen

Serrano hatte offenbar weder damit gerechnet, daß die USA und die Europäische Gemeinschaft seinen Staatstreich so energisch verurteilen würden, noch hatte er den entschlossenen Widerstand in Guatemala selbst erwartet. Offensichtlich hoffte er auf den “Fujimori-Effekt”, daß er also die Unterstützung der Bevölkerung gewinnen könnte, indem er gegen den Kongreß und die Parteien vorging. Doch sowohl die Bevölkerung als auch die wichtigsten Instanzen des politischen Systems und selbst zahlreiche Regierungsmitglieder wandten sich gegen ihn. Die harte Reaktion der USA ließe sich dahingehend interpretieren, daß die Regierung Clinton eine Chance witterte, um Druck auf die guatemaltekischen Militärs auszuüben. Die nämlich sind dafür bekannt, immer wachsam ihre Unabhängigkeit von den USA zu hüten. Die USA setzten die wirksamste Drohung ein: die Streichung der Vorzugszölle für guatemaltekische Produkte im Rahmen der Handelspräferenzen, die für die guatemaltekische Privatwirtschaft wichtiger ist als jede direkte Finanzhilfe.
Damit wurde der UnternehmerInnen-DachverbandCACIF zwangsläufig in eine der Hauptrollen gedrängt, was sie aber wie üblich am diskretesten zu handhaben wußten. Sofort nach der Ankündigung der USA forderte der Sprecher des CACIF die Minister Serranos auf, die Interessen des Landes über ihre Verbundenheit mit der Regierung zu stellen.
Obwohl einige Parteien die Militärs zu einem Staatsstreich gegen Serrano drängten, war die Möglichkeit der Armee, als “Retter der Demokratie” ihre eigenen Bedingungen durchzusetzen, durch den entschiedenen Widerstand der USA und der daraus folgenden Interessen der UnternehmerInnen eingeschränkt. Auch hatte niemand mit dem Auftauchen einer “zivilen Alternative” gerechnet, wie sie der Menschenrechtsprokurator Ramiro de León plötzlich bot. Offenbar waren es die PrivatunternehmerInnen, die mit Rückendeckung der USA Ramiro de León als idealen Kandidaten für eine musterhafte demokratische Regierung auch gegen den Willen der Armee durchsetzen konnten. Dazu kam die Zerstrittenheit der Armee, die nach dem Wegputschen Serranos offensichtlich keine eigene Regierungsoption vorzuweisen hatte.
Daß Ramiro de León gute Beziehungen zur Privatwirtschaft hat, läßt sich an seinem Lebenslauf erkennen. 1970 war er Mitglied der Kommission für Wirtschaftsintegration, von 1978 bis 1981 Rechtsberater des Aufsichtsamtes für Kreditwesen und von 1981 bis 1983 Geschäftsführer der Nationalen Zuckervereinigung. Außerdem war er Mitbegründer und Generalsekretär der “Nationalen Zentrumsunion” (UCN), und kandidierte bei den Wahlen 1985 für diese Partei als Vizepräsident. Die UCN ist die zweitgrößte Partei Guatemalas und steht Sektoren aus der privaten Exportwirtschaft nahe.
Obwohl auch die Volksorganisationen de León unterstützen, konnten sie an den Geheimverhandlungen zur Verteilung der Macht nicht teilnehmen. Es ist daher zweifelhaft, daß sich der neue Präsident durch ihre Unterstützung verpflichtet fühlt, sich auch ihrer Forderungen anzunehmen. Dennoch bewerten Volksorganisationen in ersten Reaktionen die Ereignisse positiv. Daß sie sich über das Versammlungsverbot hinweggesetzt hätten und die Massendemonstrationen vom Militär nicht hätten unterdrückt werden können, beweise ihre Stärke und ihren gewachsenen Spielraum, so ein Vertreter der Indigena-Organisation Majawil Q’ij. Wieviel Spielraum ihnen der neue Präsident innerhalb seiner Abmachungen mit der Privatwirtschaft zugesteht, bleibt abzuwarten. Dabei ist ein Pluspunkt für die Volksbewegung die Rolle, welche die Friedensnobelpreisträgerin als Vermittlerin zwischen Volksbewegung und den “hellhäutigen und eleganten Männern der Privatwirtschaft” hat.
Die Spielräume der Volksbewegung scheinen größer geworden zu sein -das An-sehen der politischen Parteien hat eher gelitten. Das Militär hat sich zwar nicht mit seinen Vorstellungen durchsetzen können, die Machtposition der Armee in Guatemala ist jedoch nicht ernsthaft beschnitten. Unklar ist, wie sich der bislang als Menschenrechtsprokurator in Konflikte mit dem Militär geratene de León Carpio als Präsident mit der Armee stellen wird. BeobachterInnen befürchten außerdem, daß die Militärs, denen auf der politischen Ebene die Zügel aus der Hand geglitten waren, in einer Art privater Revanche ihren Arger an anderen Gruppen, wie zum Beispiel den rückkehrenden Flüchtlingen auslassen. Und das – so zeigt es die blutige Geschichte der guatemaltekischen Armee – hat im Ausland noch selten zu einem Abbruch der Beziehungen geführt, umso weniger mit einem de León Carpio als Regierungschef.

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