Widerstand gegen Zuckerbrot und Peitsche

Am 12. Dezember 2012 setzten Bewohner_innen der Gemeinde Arboleda, Nariño, drei Lieferwagen des kanadischen Bergbauunternehmens Gran Colombia Gold (GCG) in Brand. Seit diesem Ereignis sieht sich das Unternehmen dazu gezwungen, jeden weiteren Besuch in der Gemeinde vorher anzukündigen. Vorausgegangen sind dieser Entwicklung zwei Jahre erfolgloser Dialoge, mehrfacher Bedrohungen von Seiten des Unternehmens sowie andauernder Widerstand der lokalen Bevölkerung.
Arboleda befindet sich im südwestlichen Teil Kolumbiens, gelegen in den Höhen der westlichen Anden. Die Menschen dort leben von selbst angebauten Kartoffeln, Linsen, Yuca und Kaffee. „Dieses Fleckchen Erde gibt uns alles, was wir brauchen. Essen, Gemeinschaft und Ruhe“, sagt Silvia Rodriguez* (alle Namen mit * von der Autorin) verändert, eine Kleinbäuerin aus Arboleda. Seit über zwei Jahren ist es mit der Ruhe vorbei und Arboldea ist umkämpftes Territorium.
„Im Januar 2011 kam das Unternehmen. Zuerst sagten sie, dass sie hier Parks errichten wollen. Später versprachen sie uns Jobs und Sicherheit“ erinnert sich Martín Jiménez*. GCG besitzt Konzessionen für 43.000 Hektar Land in Kolumbien, davon 5993 Hektar im Gebiet des Gebirges Macizo, in dem sich auch Arboleda befindet. Dort installierten die Arbeiter an 21 unterschiedlichen Punkten Plattformen, von denen aus sie Bodenproben nahmen. Mit einem durchschnittlichen Goldgehalt von 2.35 g/t ist das Ergebnis im Vergleich zu anderen Minen eher bescheiden. Da der Goldpreis jedoch durch die globale Finanzkrise rapide angestiegen ist lohnt sich das Geschäft trotzdem. Zusätzlich profitieren Unternehmen wie GCG von Steuererlassen der kolumbianischen Regierung. Der Ausverkauf der Bodenschätze ist vor dem Hintergrund der von Präsident Juan Manuel Santos propagierten Entwicklungsstrategie zu sehen, in der Bergbau und Energie „Lokomotiven“ für Wachstum und Wohlstand sein sollen (siehe LN 459/ 460).
Zunächst waren die Bewohner_innen von Arboleda froh über das Erscheinen des Unternehmens. Sie hofften auf Arbeitsplätze und Wohlstand. Doch schnell mussten sie die zahlreichen sozialen und ökologischen Probleme des Bergbaus leidvoll erfahren. So hat sich der Wasserstand in der nahegelegenen Lagune La Marucha drastisch reduziert. Das könnte in einer Region, in der es außer den natürlichen Quellen keine Wasserversorgung gibt, zu existenziellen Problemen führen. Zudem tritt an den Stellen, an denen Probenahmen stattfanden Wasser aus, das gelblich verfärbt ist und säuerlich riecht. Kühe, die von diesem Wasser getrunken haben, sind später gestorben. Um diese Vorfälle aufzuklären wären Untersuchungen der Wasserqualität notwendig. Das Unternehmen weigert sich jedoch, diese zu finanzieren.
Neben den ökologischen Problemen entstanden für die Bewohner_innen eine Reihe sozialer Konflikte. Aufträge und Beschäftigungen wurden lediglich für kurze Perioden an die Arbeiter_innen vergeben. So sollte die Zahl der insgesamt Beschäftigen erhöht werden. Daraus entstand neben der Zustimmung für das Unternehmen auch ein verschärftes Abhängigkeitsverhältnis . Da sich in nahezu jeder Familie sowohl Befürworter_innen als auch Gegner_innen des Projekts fanden, kam es zur Zerrüttung sozialer Zusammenhänge.
Aus ihren Erfahrungen erwuchs für die Gegner_innen schnell die Einsicht sich zu organisieren und Widerstand zu leisten. Wichtig in diesem Zusammenhang waren auch die Erlebnisse aus anderen Regionen, die ebenfalls von Bergbauprojekten betroffen sind.
Das Comité de Integración del Macizo Colombiano (CIMA), eine Kleinbäuer_innenorganisation aus dem Gebiet des Macizo und seine nationale Dachorganisation der Coordinador Nacional Agrario (CNA) organisierten einen Austausch. Bei CNA handelt es sich um eine Basisorganisation, die aufbauend auf dem Prinzip der Solidarität und mit direkten Aktionen für einen fundamentalen Wandel des Agrarsektors kämpft.
Den Gegner_innen der Goldminen in Arboleda hat CIMA Dokumentarfilme aus Chile und Guatemala gezeigt, in denen sich die verheerenden sozialen und ökologischen Folgen von Bergbauprojekten zeigen. Darüber hinaus hat CIMA die Bevölkerung im Rahmen von politischen Bildungsveranstaltungen, die Bewegungswissen und Organisierungspraktiken vermitteln, unterstützt. Viele Bewohner_innen berichten zudem, dass für sie das persönliche Zusammentreffen mit Betroffenen aus anderen kolumbianischen Bundesländern von herausragender Bedeutung war. So erzählt Silvia von ihren Gesprächen mit anderen kolumbianischen Aktivist_innen, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben: „Wenn ich früher die Gelegenheit gehabt hätte, diese Gespräche zu führen, dann hätte ich viel eher gewusst, mit welchen perfiden Strategien das Unternehmen versucht sich Zutritt zu unserem Territorium zu verschaffen.“
Der Einstellungswandel der Bevölkerung gegenüber der GCG und ihre beginnende Organisierung ist vom Unternehmen nicht unbemerkt geblieben. Seitdem hat der Bergbaukonzern seine Strategie verändert und agiert parallel mit Zuckerbrot und Peitsche. So zündeten Unbekannte im August 2011 auf drei Ländereien Installationen an, die für die Verarbeitung von Vollrohrzucker benötigt werden. Außerdem gab es mehrfach Todesdrohungen gegenüber Aktivist_innen und/ oder deren Familienmitgliedern. Seit Sommer 2011 wurden elf solcher Drohungen zur Anzeige gebracht, wobei die Großzahl der Betroffenen aus Angst nicht angezeigt haben. „Zuckerbrot“ gab es in Form von Geschenken: In der Schule wurden Notizhefte verteilt, auf denen zu lesen war „Der Bergbau ist mein Freund. Der Bergbau schafft Arbeit, hilft der Gemeinde und respektiert die Umwelt.“ Eine andere Form war die Bezahlung derjenigen, die an einer vom Unternehmen organisierten Demonstration in der regionalen Hauptstadt Pasto im September 2011 teilnahmen. Es ist der Versuch des Konzerns gegenüber der Öffentlichkeit, eine breite Zustimmung für den Abbau von Gold zu suggerieren, die real nicht existiert.
Vor diesem Hintergrund ist der andauernde Konflikt zu verstehen, der sich zwischen der Gemeinde und dem Unternehmen abspielt. So kam es Anfang Oktober 2011 in der örtlichen Schule zu Handgreiflichkeiten, bei denen ein Mädchen sowie eine ältere Frau durch Mitarbeiter des Unternehmens verletzt wurden. Dies führte zu weiteren Auseinandersetzungen zwischen der Gemeinde und Arbeitern in deren Verlauf zwei Unterkünfte der Arbeiter abbrannten. Von Seiten des Unternehmens hieß es daraufhin, dass es sich um eine geplante Aktion gehandelt haben müsste. Diese Darstellung wurde von Medienseite durch den Hinweis ergänzt, dass die Gemeinde Hilfe von außen gehabt haben müsse. Für alle Beteiligten ist klar, dass damit die Guerilla gemeint ist. Es handelt sich offensichtlich um den Versuch, zivilen Widerstand zu kriminalisieren und in die Nähe der von der Regierung als Terroristen diffamierten Guerilla zu rücken. Damit könnte bereits präventiv der spätere Einsatz von staatlichen oder parastaatlichen bewaffneten Akteuren legitimiert werden. Tatsächlich waren in den Wochen nach diesem Vorfall Militärs in der Region präsent. Zeug_innen berichteten zudem über weitere bewaffnete Gruppen, deren Identität bis heute nicht geklärt werden konnte.
Es folgten im Frühjahr 2012 mehrere Runde Tische zwischen Gemeindemitgliedern und Vertretern der regionalen Regierung, in denen sich die Beteiligten gegen Großminenprojekte wie für das der GCG aussprachen. Da es jedoch weiterhin keine Verhandlungen zwischen den Bewohner_innen von Arboleda, der nationalen Regierung in Bogota und dem Unternehmen gibt, befürchten viele in Arboleda eine Eskalation, die in einer Militarisierung der Region und dem Versuch, die Bevölkerung zu vertreiben, münden könnte. Für die Bewohner_innen ist jedoch klar, dass sie sich einer solchen Politik widersetzen werden und bereit sind bis zum Letzten zu gehen um ihre Gemeinde, zu verteidigen.

Vorläufiger Meilenstein

Die Gemeinde von Las Pavas bekommt Recht. Das kolumbianische Institut für ländliche Entwicklung Incoder teilte Mitte November 2012 mit, die 2661 Hektar Land der Finca Las Pavas im Nordosten Kolumbiens an die Bauernorganisation Asocab zu übertragen. In ihrem mehr als sechsjährigen Kampf um die Landtitel haben die Bäuerinnen und Bauern somit einen Meilenstein erreicht. Allerdings hat der aktuelle Besitzer, die Palmölfirma Aportes San Isidro, gegen das Urteil Einspruch eingelegt, was einen definitiven Entscheid nochmals um Jahre hinauszögern wird.
„Dieser Beschluss ist von großer Bedeutung für die Kleinbauern in Las Pavas und Kolumbien“, sagt Misael Payares, einer der Vorsitzenden von Asocab. Der gewaltlose Widerstand von Las Pavas gilt als Präzedenzfall im Kampf gegen den Ausverkauf des Landes an transnationale Unternehmen. Dem Urteil des Incoder wird deshalb Beispielcharakter eingeräumt. Die Regierung Santos kündigte ein Programm der Landrückgabe an. Bauern und Bäuerinnen in ganz Kolumbien, die im Laufe des gewaltsamen Konfliktes vertrieben und enteignet worden sind, hoffen, nun endlich entschädigt zu werden.
Der Beschluss des Incoder resultierte aus einer weiteren Inspektion vor Ort, bei der es um die Besitzfrage der letzten drei Grundstücke ging. Zuvor sind schon elf Grundstücke als brachliegend deklariert worden. Brachland gehört dem Staat und darf per Gesetz ausschließlich an Kleinbauern und -bäuerinnen zur Nutzung, aber nicht an Private verkauft werden. Zudem wies das Verfassungsgericht einen Einspruch von Aportes San Isidro gegen das Urteil T-267 aus dem Jahr 2011 ab. Dieses Urteil besagt, dass die Kleinbäuerinnen und -bauern von Asocab als Landvertreibungsopfer das Recht haben, das Gebiet der Finca so lange zu bewohnen und zu bewirtschaften, bis das Incoder im Landrechtsstreit einen Entschluss gefasst und diesen umgesetzt hat.
Die positiven Nachrichten aus Bogotá kontrastieren jedoch mit der angespannten Situation auf dem Feld, wo Aportes San Isidro systematisch gegen das Urteil T-267 verstößt. „In Kolumbien gilt das Gesetz nur für die einen“, beklagt sich Luis Carlos Mercado, ein Mitglied von Asocab. „Das Verfassungsgericht und das Incoder entscheiden zu unseren Gunsten, aber die palmeros setzen nach wie vor alles daran, uns vom Gebiet zu vertreiben!“ Die Kleinbauern und -bäuerinnen werden täglich bedroht und mit gezückten Waffen am Arbeiten gehindert. Auf ihren zur Saat vorbereiteten Feldern pflanzt das Unternehmen stattdessen Palmen an. Die wenigen Ernten werden systematisch zerstört. „Am 31. Dezember haben sie den Zaun meiner Parzelle durchschnitten und eine Viehherde in das Maisfeld getrieben. Innerhalb eines Tages war die ganze Ernte dahin“, erzählt Robelio Puerta Peña.
Seit mehreren Monaten blockiert Aportes San Isidro die öffentliche Zufahrtsstraße auf die Finca mit zwei Toren. Dies zwingt die Bauern und Bäuerinnen dazu, einen großen Umweg zu machen. Die Polizei schaut dem Treiben des Unternehmens tatenlos zu. Sogar das Innenministerium hat gegenüber den rechtlichen Vertreter_innen der Gemeinde zugegeben, dass gegen die Macht der regionalen Oligarchen nichts unternommen werden könne. Die kolumbianische Menschenrechtsorganisation Pensamiento y Acción Social übt in diesem Zusammenhang heftige Kritik an der Regierung: „Bis heute gibt es kein staatliches Programm zum kollektiven Schutz von ganzen Gemeinden. Die Kleinbauern von Asocab werden den Drohungen und Attacken durch das Unternehmen weiterhin schutzlos ausgeliefert sein.“
Die fehlenden Sicherheitsmaßnahmen für die Gemeinde haben einen direkten Einfluss auf deren Ernährungslage. Wer nicht erntet, produziert keine Nahrungsmittel und hat dementsprechend nichts zu essen. Die von dem Palmölunternehmen angewandte Strategie des systematischen Aushungerns scheint vollends aufzugehen. „Unter Hunger Widerstand zu leisten, ist sehr schwierig. Die Menschen verlassen das Dorf auf der Suche nach Alternativen. Das wiederum schwächt die Organisation“, erklärt Payares.
Auch wenn viele Kleinbäuerinnen und -bauern es satt haben, zu säen obwohl die Saat mit großer Wahrscheinlichkeit zerstört wird, haben einige die Hoffnung nicht verloren. So auch Puerta Peña: „Wir werden uns neu organisieren und in kleinen Gruppen von zehn bis fünfzehn Personen arbeiten. Tag und Nacht wird jemand auf der Parzelle sein und die Saat beziehungsweise die Ernte schützen.“ Puerta Peña hat wie viele der Kleinbauern und -bäuerinnen keine andere Wahl. Er besitzt kein weiteres Land. Momentan sichern Hühner das Überleben seiner siebenköpfigen Familie: „Mit dem Geld der Eier kaufen wir uns ein bisschen Reis, zudem gehe ich fischen. Manchmal frage ich mich, von wo meine Frau das Essen herzaubert. Aber irgendetwas haben wir bisher immer auf dem Teller gehabt.“ Das Dorf zu verlassen kommt für ihn nicht in Frage. „Ein Bruder hat mir zwar angeboten, mit meiner Familie in die Region La Guajira zu ziehen. Aber ich lasse mich nicht unterkriegen und kämpfe um diese Parzelle!“
Das Palmölunternehmen erhebt vor dem Incoder mit dem Argument Einspruch, die Kleinbauern und -bäuerinnen seien sogenannte falsche Vertriebene und hätten daher kein Anrecht auf die Landtitel. Währenddessen versuchen die rechtlichen Vertreter_innen von Asocab den Prozess zu beschleunigen. „Wir fordern vom Staat, dass er das Einspruchsverfahren abkürzt, weil das Unternehmen die Grundrechte der lokalen Bevölkerung aufs Gröbste verletzt, und sofort mit der Überschreibung der Landtitel beginnt. Ansonsten wird es zwischen fünf und zehn Jahre dauern, bis ein definitiver Entschluss feststeht“, sagt Vanessa Estrada.
Der Fall der landlosen Bauern und Bäuerinnen von Las Pavas sorgte vor dreieinhalb Jahren in Europa für Aufruhr. Verschiedene Medien berichteten von der illegalen Vertreibung von 123 Bauernfamilien zugunsten eines Konsortiums von Palmölfirmen. Darunter war ein Tochterunternehmen von Daabon Organics, Biopalmölzulieferer für The Body Shop, Alnatura, Rapunzel und Biosuisse. Payares hatte daraufhin die Möglichkeit, die Situation seiner Gemeinde vor dem UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in Genf zu schildern. Der nationale und internationale Druck auf Daabon Organics nahm in der Folge zu. Eine vor Ort eingesetzte Untersuchungskommission kam zu dem Schluss, dass die Region aus ökologischen und sozialen Gründen für die Palmölmonokultur nicht geeignet ist. Schließlich kündigte The Body Shop die Zusammenarbeit mit Daabon Organics auf. Am 22. März 2011 zog sich Daabon aus Las Pavas zurück und überließ ihren Anteil der Firma Aportes San Isidro, die seither als Alleinbesitzer fungiert.
Die Finca Las Pavas befindet sich im Delta des Río Magdalena im Nordosten Kolumbiens, einer der fruchtbarsten Zonen des Landes. In den 1980er Jahren kaufte der frühere Besitzer Jesús Emilio Escobar unter dubiosen Umständen verschiedene Gebietsstücke von den lokalen Kleinbäuerinnen und -bauern auf, um darauf extensive Viehzucht zu betreiben. Mit dem Tod seines Neffen Pablo Escobar und dem Ende des Drogenkartells von Medellín im Jahr 1993 verließ der Besitzer die Finca. In der Folge wurde das Gebiet wiederum von den Bäuerinnen und Bauern aus der angrenzenden Gemeinde Buenos Aires landwirtschaftlich genutzt und es wurde reichlich Mais, Yucca und Reis produziert. Dies änderte sich um die Jahrtausendwende. Damals nahmen paramilitärische Einheiten, von Großgrundbesitzern finanziert und durch die staatlichen Behörden unterstützt, die bis dahin von der Guerilla des ELN kontrollierte Region ein. An der Zivilbevölkerung wurden Gräueltaten verübt, Morde und Verschwindenlassen gehörten zum Alltag. Paramilitärs tauchten wiederholt auf dem Großgrundbesitz von Las Pavas auf und vertrieben die Bäuerinnen und Bauern unter der Androhung von Gewalt. Dass diese ihre Drohungen in die Tat umsetzen würden, bewiesen die Leichenteile, die im durch das Dorf führenden Fluss trieben.
Im Jahr 2006 reichte die Vereinigung Asocab bei Incoder ein Gesuch auf Übertragung der Landtitel ein. Doch Escobar verkaufte das Gebiet wenige Monate später an das Konsortium El Labrador. Dieser Verkauf wurde von den staatlichen Behörden fälschlicherweise abgesegnet. Im Juli 2009 kam es nach dem Entscheid eines lokalen Richters zu einer abermaligen Vertreibung der Bäuerinnen und Bauern, diesmal durch den Staat. Sie zogen sich in das fünf Kilometer entfernte Buenos Aires zurück, wo mit der Unterstützung nationaler und internationaler Organisationen der gewaltlose Widerstand weitergeführt und ausgebaut wurde. Zu jenem Zeitpunkt griffen europäische Medien den Fall auf und brachten ihn neu ins Rollen. Der Prozess vor dem Incoder wurde neu aufgerollt und auf staatlicher Ebene gegen die Vertreibung Einspruch eingelegt. Nachdem das Verfassungsgericht mit dem Urteil T-267 zugunsten der Bauern und Bäuerinnen entschieden hatte, kehrten im April 2011 116 Familien ein weiteres Mal nach Las Pavas zurück, wo sie seither ausharren und auf konkrete Handlungen aus Bogotá warten.
Die ungleiche Landverteilung ist ein strukturelles Problem und der Auslöser für die sozialen Missstände und Konflikte in Kolumbien. Die Guerilla der Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) hat sich vor fünfzig Jahren aus diesem Grund für den bewaffneten Kampf entschieden. Heute steht die Forderung nach einer Agrarreform ganz oben auf der Agenda der Friedensverhandlungen zwischen Regierung und FARC. Ein langfristiger und nachhaltiger Frieden ist nur möglich, wenn den Millionen von Binnen-vertriebenen Landtitel zugesprochen und diese vom Staat auch eingehalten und geschützt werden. Menschenrechtsorganisationen begrüßen den positiven Entscheid im Fall von Las Pavas. Allerdings vermuten sie, dass die Regierung von Präsident Santos ihr groß angekündigtes Programm der Landrückerstattung bei solchen einzelnen Beispielen belassen wird, statt es umfassend umzusetzen.

In Guatemala ist alles möglich

Wie kommen Sie zu Ihrem Namen „Menschenrechtsanwalt”?
Seit 1997 arbeite ich mit Opfern von schweren Menschenrechtsverbrechen, die von Sicherheitskräften des Staates oder von ihnen befehligten Paramilitärs während des Bürgerkriegs angegriffen wurden. In mehreren Fällen, in denen uns der Zugang zur Justiz in Guatemala verwehrt wurde, wandten wir uns an den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (CIDH). Dort erreichten wir Urteilssprüche, die wichtige Rückwirkungen auf Guatemala hatten. So gibt es heute Urteile guatemaltekischer Gerichtshöfe zu Massakern während des Bürgerkriegs, die wichtige Schritte im Kampf gegen die Straflosigkeit von Menschenrechtsverbrechen darstellen.
Die Aufklärungsarbeit zu den verübten Verbrechen hatten wir schon viele Jahre vorher mit einer großen Anzahl von Exhumierungen der illegalen Massengräber eingeleitet. In den Jahren 2000 und 2001 wurden dann formell Klagen wegen Genozids bei der Staatsanwaltschaft vorgebracht. Doch ab 2000 begann die guatemaltekische Justiz große Rückschritte zu machen.

Wo liegen die Ursachen für diese Rückschritte?
Ich würde sagen, dass die Verantwortlichen der Verbrechen begannen, sich unsicher zu fühlen. Bevor die Genozidklage eingebracht wurde, gab es ja schon einige Prozesse gegen Militärs niedriger Ränge. Die Genozidklage geht nun gegen die obersten Befehlshaber. Und die haben Angst davor, dass durch ein Urteil genau die Geschehnisse bestätigt werden, welche die Verantwortlichen bis jetzt abgestritten hatten.

Wie äußert sich das?
Den Opfern wird nachgesagt, sie hätten diese Geschehnisse erfunden.
Im Jahr 2000 gab es insofern wichtige Fortschritte als Haftbefehle gegen 17 sogenannte Kaibiles ausgesprochen wurden, Angehörige einer berüchtigten Eliteeinheit des Militärs im Kampf gegen die guatemaltekische Guerilla.
Doch im gleichen Jahr wurde von der Verteidigung der Militärs eine Verfassungsbeschwerde eingelegt und gefordert, das Amnestiegesetz auf sie anzuwenden. Diese Beschwerde wurde erst 2009 abgelehnt. Ein Verfahren, das normalerweise maximal eineinhalb Monate brauchen würde!
In anderen Fällen wurde allerdings vom Verfassungsgerichtshof völlig perversen Verfassungsbeschwerden stattgegeben. Im Jahr 2005 zum Beispiel verweigert dieser von der Audiencia Nacional in Spanien geforderte Auslieferungen. Und 2007 verbot dieser Gerichtshof, dass die Untersuchungskommission der spanischen Justiz unter der Anleitung des spanischen Richters Santiago Pedráz Zeugenaussagen von Überlebenden aufnimmt und die Angeklagten vernimmt.

Wie kommt es, dass ein spanischer Richter in Guatemala verübte Verbrechen untersuchen möchte und warum?
1999 reichte die Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú Tum Klage bei der Audiencia Española ein, zuerst wegen der gewaltsamen Beendigung der Besetzung der spanischen Botschaft im Jahr 1980 [durch guatemaltekisches Militär und Polizei, Anm. d. Red.], wo [neben 35 weiteren Personen, Anm. d. Red.] ihr Vater ermordet und verbrannt wurde. Dann erweiterte sie die Klage auf Völkermord. Dieser Fall basiert auf dem Prinzip der universellen Rechtssprechung, das Spanien in absoluter Form anerkannt und auch schon in anderen Fällen angewandt hatte. Die Audiencia Española hatte im Fall Guatemalas internationale Haftbefehle gegen mehrere guatemaltekische Militärs ausgesprochen, so auch gegen Efraín Ríos Montt und die obersten Befehlshaber seines Regimes.

Seit über zwölf Jahren wird schon an den Völkermordfällen gearbeitet. Wie kommt es, dass der Fall gegen Ríos Montt einen Sprung nach vorn macht, in einer Zeit in der Otto Pérez Molina in Guatemala regiert? Die wichtigsten Positionen in der Regierung wurden mit ehemaligen Militärs besetzt. Ein großer Widerspruch, oder?
Wir können das als Überschneidung verschiedener Prozesse sehen. Diese Fälle sind das Resultat eines konstanten und langwierigen Kampfes der Opfer. Es konnten mehrere Ziele erreicht werden.Aber parallel dazu gab es andere Vorgänge, die uns behilflich waren wie zum Beispiel bestimmte Veränderungen am Obersten Gerichtshof und in der Strafkammer. Hinzu kommen die Anstrengungen der Internationalen Kommission gegen die Straffreiheit der Vereinten Nationen (CICIG), die neue juristische Methoden einzuführen begann. Eine der wichtigsten Veränderungen war die Schaffung eines „Risikogerichts“. Ein weiterer wichtiger Faktor war, dass die Regierung von Álvaro Coloms einen Diskurs zugunsten der Kriegsopfer führte. Das ermöglichte wichtige Fortschritte in den Genozidfällen. Die über zehnjährige Arbeit in diesen Fällen begann 2011 aufzugehen: General Mario Fuentes López und General José Mauricio Sánchez wurden verhaftet. Und schlussendlich verlor Ríos Montt im Januar 2012 seine Immunität als Abgeordneter und stellte sich freiwillig dem „Risikogericht“, das ihn formell des Völkermordes und des Verbrechens gegen die Menschlichkeit beschuldigte und unter Hausarrest stellte.
Dass es bei diesen Fällen ausgerechnet unter der Regierung von Otto Pérez Molina, der selbst Akteur im Krieg war, zu Verurteilungen kommen kann, sehe ich als sehr positiv für das Land.

Ríos Montt wurde in zwei Fällen des Völkermordes und des Verbrechens gegen die Menschlichkeit beschuldigt: des Genozids gegen das Volk der Ixiles und des Massakers von Dos Erres. Seit mehreren Monaten ist eine Verfassungsbeschwerde in Diskussion, welche die Verteidigung von Ríos Montt einbrachte. Sie will die Anwendung des obsoleten Amnestiegesetzes erreichen. Warum hat sich das Verfassungsgericht noch nicht dazu geäußert?
Die Verteidigung der Militärs López Fuentes, Mauricio Sánchez und Ríos Montt besteht darauf, dass das Amnestiegesetz auf sie angewandt und sie somit aus ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit entlassen werden. Die Verteidigung von López Fuentes legte gegen die Ablehnung der Verfassungsbeschwerde aus dem Jahr 2009 Berufung ein und seitdem hüllt sich der Gerichtshof in Schweigen. Ich nehme an, weil die Justizbeamten enormem politischem Druck ausgesetzt werden.
Gleichzeitig versuchte die Verteidigung von Ríos Montt im Fall von Dos Erres das Nationale Versöhnungsgesetz anzuwenden, das mit der Unterzeichnung der Friedensverträge in Kraft trat und das Amnestiegesetz ersetzte. Das Nationale Versöhnungsgesetz setzt aber klar fest, dass diese Amnestie nicht bei Delikten von Völkermord, Folter, Verschwindenlassen von Personen angewandt werden kann.

Wenn das also technisch gesehen gar nicht möglich ist, warum besteht die Verteidigung dann darauf?
In erster Linie handelt es sich hier um eine Strategie zur Verzögerung und Behinderung des Prozesses. Man muss dabei in Betracht ziehen, dass sich die Politik in Sachen Menschenrechte in der aktuellen Regierungsperiode verändert hat. Die Verteidigung der ehemaligen Militärs setzt darauf, dass die Regierung sie bei der Ausübung von Druck gegen die Justiz unterstützt. Die Regierung versuchte zu Beginn des Jahres sogar, die Zuständigkeit des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte (CIDH) für Fälle aus der Zeit des Bürgerkrieges in Frage zu stellen. Der Staat will damit vermeiden, die hohen Entschädigungssummen an die Opfer zu bezahlen, die der CIDH in Urteilen gegen den Staat festlegte. Es geht aber nicht nur um die Zahlungen, sondern auch um die offizielle Anerkennung der Verantwortlichkeit für diese Verbrechen durch den Staat.

Was bedeutet das für die aktuellen Fälle?
Wenn die Regierung mit ihrer Haltung durchkäme, würde das bedeuten, dass die von den Opfern und ihren Organisationen erreichten Fortschritte und Resultate um fünf Jahre zurückgeworfen würden. In die Zeit, wo jedwede Anstrengung der Opfer behindert und der Zugang zur Justiz verweigert wurde. Die Opfer wurden jedoch in diesem langen Prozess für Gerechtigkeit gestärkt und wissen heute gut über ihre Rechte Bescheid. Ich glaube, sie werden sich die Resultate ihrer Anstrengungen nicht so leicht nehmen lassen. Das ist alles etwas kompliziert und ich hoffe, dass es nicht zu Konfrontationen zwischen Bevölkerung und Staat kommen wird.

Angenommen der Verfassungsgerichtshof gäbe der Berufung zur Anwendung der Amnestie statt: Hätte das Konsequenzen für die Fälle der Menschenrechtsverbrechen während des Krieges, die gerade am Laufen sind?
Genau. Was sie damit erreichen wollen ist, dass die Angeklagten sämtlicher Prozesse dieser Art amnestiert werden und nicht nur diese, sondern auch jene, die bereits verurteilt wurden. Denn durch ein Wiederaufnahmeverfahren können auch bereits Verurteilte amnestiert werden.

Ist so etwas Ihrer persönlichen Meinung nach möglich?
In Guatemala ist alles möglich, auch wenn ich gern das Gegenteil glauben würde. Es ist für mich nicht vorhersagbar, was passieren wird.

Infokasten:

Edgar Pérez Archila

Edgar Pérez Archila ist Anwalt und vertritt seit 1997 Opfer von Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkriegs in Guatemala bei ihren Bemühungen um die Anerkennung ihrer Rechte. Er hat dabei in dem schwierigen Umfeld Guatemalas schon mehrere Fälle schwerer Menschenrechtsverbrechen aus dieser Zeit vor Gericht bringen können und war wesentlich mit an der Aufarbeitung der Massaker von Río Negro, Tululche und Dos Erres beteiligt. Unter Anderem erreichte er im Jahr 2009 die erste Verurteilung für gewaltsames Verschwindenlassen vor einem guatemaltekischen Gericht. Wegen seiner Arbeit wurde er verschiedentlich bedroht, und Anfang 2012 ordnete der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof Schutzmaßnahmen für Edgar Pérez an. Im Jahr 2009 wurde er für ein Engagement mit dem Orden in Gedenken an Bischof Gerardi ausgezeichnet und ist dieses Jahr für den Menschenrechtspreis Premio Quetzal vorgeschlagen.

Das Herz des Volkes

„Das Herz des Volkes“ weht am Fahnenmast der bolivarianischen Grundschule des Dorfes Gavidia in den venezolanischen Anden. Eine gute halbe Stunde hat sich der gut besetzte Jeep der Ko-operative Valle Encantado die schmale Bergstraße von der Kleinstadt Muchuchies in das kleine Andendorf hinaufgewunden. Bevor die Straße vor gut zwei Jahren mit Mitteln des Kommunalen Rates Gavidias restauriert worden ist, dauerte die Fahrt mehr als eine Stunde, erzählt der Fahrer. Und beklagt gleichzeitig, dass seine Kooperative durch die Anschaffung eines eigenen Transportmittels durch den kommunalen Dorfrat, dem „Taxi Comunal“, nur noch sechs (rund 0,90 Euro) statt wie bisher achtzehn Bolivares für die Fahrt fordern kann.
Auch auf 3.327 Meter über dem Meeresspiegel ist der Sozialismus des 21. Jahrhunderts angekommen. Wir passieren die „Chavéz-Brücke“ und halten in der Dorfmitte gegenüber der Schule vor dem Sitz der Näherinnenkooperative. 2001 noch maßgeblich unter der Initiative der Jesuiten gegründet, produziert die Cooperativa de Mujeres Tejedoras De Gavidia vor allem Kleinkunst, die sie in der von Tourist_innen viel besuchten Bergregion im Bundesstaat Mérida über das Netzwerk der Produzenten des Paramos (PRIONPA) verkauft.
Auch einen vom staatlichen Kulturministerium betriebenen Laden für lokales Kleinkunsthandwerk im Zentrum der Provinzhaupstadt Mérida beliefert die Kooperative. „Natürlich hat sich hier mit Chávez vieles verändert“, erklärt Berónica Zerpa de Villareal, die zu den neun Gründungsmitgliedern der Kooperative zählt. Mit Mitteln staatlicher Institutionen habe man im Jahr 2005 das zerfallene Gebäude im Dorfzentrum wieder herrichten können. Auch die Posada nebenan sei durch das staatliche Programm zur Förderung von Kooperativen entstanden. Gescheitert sei nur die Schafzüchterkooperative, die den Näherinnen als Rohstofflieferant hätte dienen sollen.
Geschlossene lokale Produktionsketten hatte die venezolanische Regierung in den Jahren 2004 bis 2006 zum Ziel ihres Modells der „endogenen Entwicklung“ erklärt und zehntausende Kooperativen bei ihrer Gründung unterstützt. In der Näherinnenkooperative arbeiten heute noch drei der neun Gründerinnen. Außer Berónica sind das ihre Schwester und eine Cousine. Es habe in der Gründungsphase sehr viel Streit gegeben, erzählt Berónica und schweigt zu den Details. „Wenn der Präsident nicht mehr kann, betrifft uns das nicht so sehr, weil er seit Langem nichts mehr für die Kooperativen tut“, so schätzt sie die Folgen eines möglichen Rückzugs von Chávez ein.
Loyo, Sprecher des kommunalen Rates im Ortsteil Micarache, sieht das anders: „Die Kooperativen haben nie für das Wohl der ganzen Gemeinde produziert. Sie waren kapitalistisch.“ Der kommunale Rat habe deshalb die Forellenzucht übernommen, die 2005 von der Kooperative „Valle Encantado“ aufgebaut worden war. Jeder im Dorf könne nun umsonst Forellen essen, die Einnahmen aus dem Verkauf gehen in den kommunalen Rat. „Das ist Sozialismus“, begeistert sich Loyo . Auf die Frage, ob es diesen Sozialismus auch ohne Chávez geben könne, meint er:. „Chávez ist ein Kämpfer und er wird für immer unser Präsident sein – Chávez sind wir alle“.
Mit dem Slogan „Chávez sind wir alle“ hat die bolivarianische Welle, die Kampagne des Regierungslager, nicht nur die Präsidentschaftswahlen klar für sich entschieden, auch 20 von 23 Governeursposten gingen bei den Wahlen im Dezember an die Parteigänger des „Herz des Volkes“. Als dieses hatte sich Hugo Chávez auf tausenden Wahlplakaten im Land präsentiert. Seine Kandidaten waren folgerichtig „Kandidaten des Herzens“. Emotionen bewegen mehr Wähler_innen als Inhalte, dies gilt nicht nur für das Regierungslager in Venezuela.
In Barquisimeto, Hauptstadt des oppositionell regierten Bundesstaates Lara, treffe ich den ehemaligen Guerillero Hernán Vargas Calles. „Die wahre Waffe der Revolution ist Liebe“, rechtfertigt er die Symbolik des Wahlkampfes. Auch als er damals in den Bergen Laras und Trujillos und später in der Stadtguerilla in Caracas kämpfte, habe er dies vor allem aus Liebe getan. Ich frage, ob für ihn als Linker die religiöse Symbolik nicht zumindest befremdlich sei. „Natürlich war der bewaffnete Kampf auch ein Kampf gegen die katholische Kirche, der größten Unterstützerin der herrschenden Klasse. Aber für mich war, wenn ich heute zurückschaue, Jesus genauso wichtig wie Karl Marx. Und das sage ich als Kommunist“, erklärt er. Aus dem gescheiterten Kampf der Guerilla in den 60er Jahren habe er gelernt, dass in einem Land mit einem tief verwurzelten Antikommunismus eine Anknüpfung an christliche Werte eine erfolgreichere Strategie sei, um „die Massen“ für ein revolutionäres Projekt zu gewinnen.
Auch die zunehmende religiöse Verehrung von Chávez seit seiner Krebserkrankung sieht er nicht als Gefahr für das politische Projekt: „Seit 500 Jahren werden wir hier unterdrückt und ausgebeutet. Dies ändert man nicht in 14 Jahren. Die kommende Zeit wird zeigen, ob wir dem revolutionären Weg weiter folgen, ob die Transition katalysiert wird oder ob wir einen fatalen Rückschritt machen. Mit oder ohne Chávez müssen wir nach vorne gehen. Chávez ist endlich und eine Revolution kann nicht von einer Person abhängen – es ist ein Projekt. Chávez selbst hat es oft gesagt: dieses Projekt ist ausgesät worden.“ Hernán bittet mich der Welt mitzuteilen, dass die alten Guerilleros trotz ihres Alters bereit sind, ihre Revolution gegen jede imperialistische Agression erneut mit der Waffe zu verteidigen.
In einem Café in Barquisimeto treffe ich den Architekten und Städtepläner Lino Alvarez. Politisiert in der studentischen Bewegung der späten 1960er Jahre war er lange Aktivist der Bewegung zum Sozialismus (MAS). Später unterstützte er Chávez‘ frühere Partei Bewegung für die Fünfte Republik (MVR), die 2007 in der neu gegründeten Vereinigten Sozialisten Partei Venezuelas (PSUV) aufging. Vor zehn Jahren hatte ich Lino zu zwei staatlichen Entwicklungsprojekten in prekarisierten Siedlungen in den Kleinstädten Carora und Siquesique begleitet. Finanziert durch die Regierung des Bundesstaates Lara sollten neben der Kartographierung und der dadurch ermöglichten Ausstellung von Landtiteln zusammen mit den Bewohner_innen Anschlüsse an die öffentlichen Netze für Wasser, Strom und Abwässer gelegt werden. Eine Grundschule und die Errichtung eines Gemeindehauses waren ebenso geplant wie die im Sinne der endogenen Entwicklung liegende Bepflanzung eines kollektiven Gemüsegartens. „Der Streit zwischen den unterschiedlichen politischen Ebenen in Lara hat das Projekt im Sande verlaufen lassen“, erzählt Lino. Als nach zwei Jahren endlich Mittel für den ersten Projektabschnitt des Anschlusses an die öffentliche Infrastruktur in Carora freigegeben wurden, hatte die Inflation die Umsetzungskosten bereits verdoppelt. „Immerhin haben wir damit Drainage verlegen und das Abwasserproblem lösen können. Bei Wasser- und Stromanschluss haben die Bewohner kreative Lösungen gefunden“, berichtet er. Die Asphaltierung der Zufahrtsstraße, der Bau von Schule, Gemeindezentrum und Gemüsegarten als zweiten Projektabschnitt konnte er nicht mehr umsetzen. Mit dem Streit zwischen dem ehemals zur Regierungspartei zählenden Gouverneurs Henry Falcón und dem Präsidenten Hugo Chávez habe die Landesregierung alle Programme zur partizipativen Entwicklung prekärer Stadtteile eingestellt. Der wiedergewählte Henry Falcón rechtfertigte sich im Wahlkampf damit, ihm seien von der Zentralregierung nach seinem Übertritt zur Opposition die Haushaltsmittel für den Bundesstaat Lara gekürzt worden. Ob dies stimmt, kann auch Lino nicht sagen.
Von der MVR hat er sich trotzdem distanziert. Beziehungsweise, Chávez habe sich von der Bewegung distanziert. „1998 hat Chávez die Wahlen gewonnen, weil ihn die Intelligenz des Landes, die gebildeten und fortschrittlichen Teile der Mittelschicht unterstützt haben. Zusammen mit der Mittelschicht hätte Chávez das Land modernisieren können. Stattdessen beginnt er ab 2005 mit einer Kampagne gegen die Universitäten und einem dümmlichen Antiakademismus“. Auf die Frage, ob Chávez nicht immerhin die soziale Ungleichheit beim Zugang zu Bildung deutlich habe verringern können, ment er: „Ja, aber mit denselben Mitteln wie es die Sozialdemokratische Partei AD es vorher auch gemacht hat. Als paternalistischer Erdölstaat, der Geschenke verteilt und sich damit politische Loyalität erkauft“, macht Lino seinen Bruch mit der Regierung deutlich.
Einen Block weiter treffe ich Milagro Furiati. Sie ist ebenfalls ehemalige MAS-Aktivistin und hat vor zehn Jahren als pensionierte Lehrerin begonnen, sich in den Bildungsmissionen zu engagieren. Sie kritisiert, dass an den Kursen der Bildungsmission kaum noch Menschen teilnähmen. Die meisten seien nur immatrikuliert, um die Ministipendien zu erhalten. Zwar gäbe es große Erfolge und viele Absolventen hätten durch die Bildungsmissionen sogar Zugang zu den Universitäten gefunden, das Stipendiensystem diene jedoch zur Alimentierung der eigenen politischen Basis. Von Nicolás Maduro, designierter Präsidentschaftskandidat sollte Chávez den Kampf gegen den Krebs verlieren, erwartet Milagro keine großen Veränderungen. „Umso länger Menschen an der Macht sind, umso weniger scheinen sie Interesse an Veränderungen zu haben.“ Man dürfe trotzdem nicht vergessen, dass in den ersten Regierungsjahren viel Positives passiert sei. Zumindest sei ihre Pension gestiegen.

Gesteuerte Gerechtigkeit

Die Staatsanwaltschaft stellt auf stur. Trotz aller Untersuchungen und den dringenden Nachfragen der Gesellschaft hält sie unbeirrt an der Anklage fest. Die Frage „Was geschah in Curuguaty?“ will der zuständige Staatsanwalt Jalil Rachid offensichtlich nicht beantworten. Diese liest man als Slogan an Hauswänden und auf Transparenten der Demonstrationen und Mahnwachen, die an das Massaker nahe der gleichnamigen Stadt erinnern (siehe LN 463). Wer die Verantwortlichen für diese Tragödie sind, fragen sich all diejenigen, die den offiziellen Diskurs in Frage stellen. „Wir als Gesellschaft benötigen eine Antwort auf Curuguaty, sonst sterben ein zweites Mal die Bauern“, forderte die Präsidentschaftskandidatin der linken Frauenpartei Kuña Pyrenda, Lilian Soto, auf einer Mahnwache am 15. Januar. Die Forderung nach Wahrheit und Aufklärung des Falles Curuguaty vereint alle Kritiker_innen des Parlamentsputsches gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Fernando Lugo. Das Massaker diente der rechten Opposition im Parlament als Vorwand, den ungeliebten linken Staatschef loszuwerden.
Nach der Version der Staatsanwaltschaft haben die Kleinbäuerinnen- und bauern bei der Landbesetzung von Curuguaty am 15. Juni den Schusswechsel mit der Polizei angefangen (siehe LN 457/458), bei dem unter vielen anderen auch drei Polizisten starben. Somit trügen diese die alleinige Schuld am Tod der Polizisten. Am 14. Februar beginnt der Gerichtsprozess gegen die 14 angeklagten Kleinbauern- und bäuerinnen. Ihnen werden von Menschenrechtsgruppen kaum Chancen auf ein faires Verfahren eingeräumt. Zu einseitig sind die Untersuchungen geführt worden; zu eng sind die Interessen der Justiz mit denen der Politik verstrickt; zu sehr ist der Staatsanwalt Jalil Rachid mit der Familie des inzwischen verstorbenen Großgrundbesitzers Blás Riquelme verbunden.
Inzwischen haben drei unabhängige Untersuchungen von Menschenrechtsorganisationen unzählige Beweise zusammengetragen, welche die Unschuld der angeklagten Bauern und Bäuerinnen bekräftigen. Darüber hinaus liefern sie auch Indizien, um die wirklichen Drahtzieher der Tragödie ausfindig zu machen. Sie werfen der Staatsanwaltschaft vor, sämtliche Beweise, die die Untersuchungen in eine andere Richtung lenken könnten, nicht zu akzeptieren. Staatsanwalt Jalil Rachid gründet seine Anklage nur auf die Aussagen der Polizist_innen und ignoriert die der Kleinbäuerinnen und -bauern. Der Verteidiger der Angeklagten Vicente Morales erklärte in der Öffentlichkeit, dass alle Kleinbauern und -bäuerinnen, die die Version der Staatsanwaltschaft mit ihren Aussagen widerlegen könnten, selbst angeklagt und somit als Zeug_innen nicht zugelassen wurden. Andere potenzielle Zeug_innen wurden von Unbekannten ermordet. Ferner wird nur der Tod der Polizisten, nicht aber der anderen 14 Opfer, untersucht. „Auch Bauern sind gestorben und nicht nur Polizisten! Und warum wird der Tod der Bauern nicht untersucht?“, fragen sich die Angehörigen der Opfer von Curuguaty. „Hier in unserem Land gibt es keine Gerechtigkeit“, sagt traurig die Mutter eines der Angeklagten. Auch der alte kämpferische Jesuitenpater Oliva bekräftigt am 15. Januar 2013 in seiner Rede den allgemeinen Verdacht, dass der Staatsanwalt einen Befehl von oben erhalten habe.
Curuguaty ist zu einem traumatischen Einschnitt für die paraguayische Gesellschaft geworden und wird als die größte Tragödie in der jungen Demokratie empfunden. Und in der Tat, in den Ereignissen verdichten sich die Probleme des Landes, zeigen sich die realen Machtverhältnisse, sowie die enormen Schwierigkeiten, Veränderungen in einem von der Mafia und Großgrundbesitzer_innen dominierten Land zu bewirken. „23 Putschversuche hat es gegen mich gegeben“, sagte Lugo kurz nach seiner Absetzung.
Nicht dass Lugo wichtige Erfolge in seiner Amtszeit aufweisen könnte, aber die Gesellschaft ist dennoch in Bewegung geraten und beginnt sich zu verändern. Neue Konzepte in der Sozial- und Gesundheitspolitik werden diskutiert und einige Ministerien haben die regulierende Aufgabe des Staates ernst genommen. Das politische Bewusstsein in der Bevölkerung hat zugenommen, die Institutionen sehen sich verstärkter Kritik ausgesetzt. Dies gilt vor allem für das Parlament. Sogar die konservative Mittelschicht der Hauptstadt Asunción hat sich unter dem Motto „After Office Revolution“ zum ersten Mal in der Geschichte an Mobilisierungen beteiligt.
Dennoch: Die Ereignisse von Curuguaty haben eine Zäsur gesetzt und den sozialen Bewegungen die realen Machtverhältnisse schmerzhaft vor Augen geführt. Von einem Tag auf den anderen haben sie jegliche Dialogmöglichkeit mit der Regierung und den Ministerien verloren; unzählige soziale Projekte sind gestrichen worden; über 2.500 Angestellte der vorherigen Regierung haben ihre Arbeit verloren. Und jeden Tag gibt es Neuigkeiten über den Ausverkauf des Landes, der die Gesellschaft nachhaltig prägen wird. Parallel dazu kriminalisiert die neue Regierung alles, was nach links und sozialen Bewegungen aussieht. Präsident Federico Franco machte dies deutlich, als er damit drohte, notfalls die Militärs zu Hilfe zu rufen ,„um die Guerilla EPP, die Landbesetzungen und die Linken zu bekämpfen“.
Im Moment befinden sich die sozialen Bewegungen in ihrer schwersten Krise seit Ende der 1980er Jahre und werden über eine Neuorientierung ihrer Politik und ihre eigene politische Praxis der letzten Jahre diskutieren müssen. Doch im April stehen erst einmal die allgemeinen Wahlen vor der Tür. Hier gilt es für das linke und gemäßigte Lager, möglichst viele Sitze im Parlament zu erobern, um die „Diktatur des Parlaments“ zu brechen. Noch während Lugo regierte, blockierte die Legislative systematisch alle seine Änderungsvorschläge. Dies ist eine der wichtigsten Lehren des illegitimen politischen Verfahrens gegen Lugo und dessen Absetzung durch das Parlament. In den nächsten Wahlen geht es darum, den historischen Zweiparteienblock der Colorados und Liberalen im Parlament aufzubrechen und neuen Wind in Paraguays Politik zu ermöglichen.

// Blinder geht´s immer

Auf dem kolumbianischen Auge sind deutsche Sozialdemokrat_innen nicht selten blind: Cohiba-Kanzler Gerhard Schröder lobte 2004 Präsident Álvaro Uribe bei dessen Berliner Stippvisite für seine Politik der Integration. In der Tat gelang es Uribe besser, Paramilitärs straffrei in die Gesellschaft zu integrieren, als Schröder Arbeitslose in den Arbeitsmarkt.
In Schröders Fußstapfen trat nun fast die komplette Fraktion der sozialdemokratischen Sozialistischen Fraktion im Europaparlament: Nur dank ihrer Zustimmung konnte am 11. Dezember das Freihandelsabkommen der EU mit Kolumbien und Peru ratifiziert werden – ohne die Ratifizierung des Europaparlaments kann seit dem Vertrag von Lissabon von 2009 kein Freihandelsabkommen mehr in Kraft treten! Das Europaparlament – mit Ausnahme der Linken und Grünen-Fraktion sowie vereinzelten Abweichler_innen – hat nun kläglich dabei versagt, der EU-Kommission Grenzen zu setzen. Die Kommission ist dafür bekannt, allemal Wirtschaftsinteressen Vorfahrt vor Menschenrechten einzuräumen.

Die Argumentation der europäischen Sozialdemokrat_innen ist an Naivität schwer zu überbieten: „Kolumbien und Peru haben geliefert und umfangreiche Maßnahmenkataloge zur Sicherung von Menschenrechten sowie internationaler Arbeits- und Umweltstandards präsentiert“, erklärte Bernd Lange, der handelspolitische Sprecher der Fraktion. Was Kolumbien unter „liefern“ versteht, zeigte sich Ende November: Da bewilligte die Erste Senatskommission eine Ausweitung der Militär- und Polizeijustiz zu Lasten der Ziviljustiz. Wird die Reform abschließend gebilligt, bestimmen künftig Militär und Polizei, wann es sich bei einem Verbrechen um Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit und Verschwindenlassen handelt. Das alarmierte neben Menschenrechtsorganisationen selbst die UNO – die Sozialist_innen-Fraktion im Europaparlament ließ es kalt.

Tatsächlich sind die geforderten Umwelt- und Sozialstandards im Rahmen des Freihandelsabkommens so definiert, dass sie praktisch immer eingehalten werden. Umwelt- und Sozialstandards sollen „unter Berücksichtigung der technischen und finanziellen Möglichkeiten“ erfüllt werden. Es lebe die Unverbindlichkeit!
Selbst in der Weihnachtszeit ist es zuviel des guten Glaubens, einem Freihandelsabkommen eine Stärkung der Menschenrechte zuzusprechen. Nach einer Studie der belgischen Forscherin Myriam Vander Stichele dürfte das Abkommen die Lage sogar noch verschlimmern. Ihrer Untersuchung zufolge könnte es für die kolumbianische Drogenmafia in Zukunft leichter werden, ihr Geld zu waschen.
Nicht nur Geldwaschanlagen dürften durch das Freihandelsabkommen gefördert werden. Auch der Druck auf die lokale Bevölkerung dürfte steigen. Ob Palmölplantagen oder Bergbau – die Konzerne gieren nach kolumbianischen und peruanischen Rohstoffen. Das hat schon bisher die Landkonflikte angeheizt. Allein zwischen 1986 und 2011 wurden in Kolumbien bis zu vier Millionen Menschen vertrieben, 2.914 Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen ermordet, in diesem Jahr bereits über 30. Nichts spricht dafür, dass sich durch die Menschenrechtsklauseln daran etwas ändert, so wenig wie die Klauseln beim im Jahr 2000 mit Mexiko geschlossenen Abkommen dort zur Befriedung beigetragen haben.

Wie die kolumbianische Realität trotz Friedensverhandlungen zwischen Regierung und FARC-Guerilla aussieht, dokumentiert der Brief, den die paramilitärischen Gruppen AUC und Águilas Negras am 30. November publiziert haben. Darin heißt es, „in Kolumbien gibt es und wird es keinen Frieden geben, solange es Kommunisten gibt.“ Und Kommunist_innen sind für diese Gruppen alle, die es wagen, sich gegen die Interessen von Unternehmen zu stellen – explizit nennt das Schreiben unter anderem Coca Cola, Nestlé und Goodyear. Nur wer blind gegenüber dieser Realität ist, kann einem Freihandelsabkommen mit Kolumbien und Peru zustimmen. Das Europaparlament hat das leider eindrucksvoll bewiesen.

Belohnung für Angriffe

Fast scheint es so, als sollte mit einem erneuten Übergriff der Jahrestag des letzten begangen werden. Am Morgen des 6. September begann eine bewaffnete Gruppe, Ackerland der zapatistischen Neuen Siedlung Comandante Abel im Autonomen Landkreis La Dignidad (Nördliche Zone von Chiapas) zu besetzen und ein Camp aufzubauen. Im Laufe des Tages feuerte sie mehrere Schüsse ab. Am Tag darauf war die Zahl der Belagerer von 55 auf 150 angestiegen. Als einer der Zapatisten sein Haus verließ, um die Besetzer zu beobachten, wurde er unter anderem mit einem Gewehr des Typs AR-15 beschossen. Kurze Zeit später umstellte die Gruppe das Dorf. Der 8. September begann für die Zapatist_innen ebenfalls mit Schüssen, so dass sich eine Gruppe von Frauen, Kindern und Älteren in die Berge und von dort in ein Nachbardorf aufmachte, um sich in Sicherheit zu bringen.
Die Siedlung war zu diesem Zeitpunkt knapp ein halbes Jahr alt, ihre Bewohner_innen waren zuvor aus der Gemeinde San Patricio weggezogen, nachdem dort die Einschüchterungen und Übergriffe durch eine andere bewaffnete Gruppe nicht aufzuhören schienen. Diese erste Belagerung am 10. September 2011 hatte auf ähnliche Weise begonnen wie in diesem Jahr. Zeitgleich zu den Bewohner_innen der Neuen Siedlung Comandante Abel verließ eine Gruppe von Zapatist_innen in der nahegelegenen Gemeinde Unión Hidalgo ebenfalls ihr Hab und Gut, nachdem sie von ihren Nachbar_innen mehrere Male mit dem Tode bedroht worden waren.
Der zuständige Rat der Guten Regierung von Roberto Barrios, Organ der regionalen autonomen zapatistischen Selbstverwaltung, sah sich genötigt, innerhalb von drei Wochen dreimal öffentliche Erklärungen über das Schicksal der von den Übergriffen betroffenen Zapatist_innen und die Situation in den betroffenen Dörfern abzugeben. Doch auch die anderen vier Räte der Guten Regierung mussten in den letzten Monaten mindestens einmal zur Feder greifen, um Vorfälle aus ihrer Region bekannt zu machen. Die Zunahme von Konflikten zwischen der zivilen Basis der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) und anderen Gruppierungen geht einher mit anderen aufflammenden Konflikten in Chiapas. Dass dies mit dem Ende der Regierungszeit des chiapanekischen Gouverneurs Juan Sabines und des Präsidenten Felipe Calderón zusammenfällt, ist allerdings nicht verwunderlich, denn es kam in Mexiko häufig vor, dass in der Periode zwischen der Wahl und dem Amtsantritt eines Regierungschefs Konflikte zunahmen beziehungsweise durch die staatlichen Kräfte gewaltsam gelöst wurden.
Dennoch ist die aktuelle Situation in Chiapas und vor allem die der zapatistischen Basis so angespannt wie schon seit Jahren nicht mehr, wenn man die Anzahl der Meldungen der Räte der Guten Regierung sowie deren Inhalte als Maßstab nimmt. In der Region der Cañadas, die am Rande des Lakandonischen Urwalds liegt, schwelen seit mehr als einem Jahr die Streitigkeiten zwischen Zapatist_innen und der Organisation Landwirtschaftlicher Kaffeepflanzer von Ocosingo (ORCAO). Auch hier geht es um Land, allerdings mit gemeinsamer Vergangenheit. Im Zuge des zapatistischen Aufstands 1994 wurden nämlich in dieser Region Ländereien sowohl von der Zapatistischen Nationalen Befreiungsarmee (EZLN) als auch von kleinbäuerlichen Organisationen wie der ORCAO und der Ländlichen Vereinigung kollektiver Interessen (ARIC) besetzt, mitunter sogar gemeinsam. Dass es nun zu Konflikten zwischen der EZLN und diesen Organisationen kommt, hat mehrere Gründe: Zum Einen wird Ackerland immer knapper und dieses ist immer noch die Lebensgrundlage für die indigene Bevölkerung auf dem Land. Die Organisation, die ihren Mitgliedern Land anbieten kann, sichert sich damit die Unterstützung ihrer Basis. Zum Anderen treibt die Regierung weiterhin das Programm zur Zertifizierung und Privatisierung von Gemeindeland voran, das mit der Verfassungsreform von 1992 begann. Sie ermöglichte den Verkauf von Gemeinschaftsland, der vorher verboten war. Diese Reform des Agrarregimes war einer der Gründe für den Zulauf zur EZLN und den darauf folgenden Aufstand. Jedoch haben es die Regierungen seitdem gut verstanden mit einem Mix aus Anreizen und Drohungen immer mehr Gemeinden dazu zu bringen, das Zertifizierungsprogramm mitzumachen.
Hinter den Konflikten stecken öfter Impulse von außen. So zum Beispiel im Fall der Meldung des Rates der Guten Regierung von La Realidad von Mitte August diesen Jahres. Sie berichtet von Drohungen und dem Versuch der Enteignung seitens Anhänger_innen der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) und der Grünen Ökologischen Partei Mexikos (PVEM) aus dem Dorf Veracruz. Bei dem Streitobjekt handelt es sich um eine Lagerhalle, die die Zapatist_innen der Region von La Realidad zur Lagerung von Kaffee und zum Verkauf nutzen. Der Rat der Guten Regierung schildert, dass zwei Männer aus dem Dorf zu ihnen kamen und „sagten, ihre Gruppe wolle die Lagerhalle benutzen, denn die Regierung würde ihnen zwei Projekte geben und sie bräuchten das Gebäude, um mit den Projekten zu beginnen“. Dabei geht es häufig um Regierungsgelder für landwirtschaftliche oder kommunale Zwecke, die den Gemeinden zur Verfügung gestellt werden; Geld, dass die größtenteils von Subsistenzwirtschaft lebenden indigenen Kleinbäuerinnen und -bauern aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation gut gebrauchen können. Die Folge dieser Regierungspolitik ist jedoch eine Zunahme der Spannungen und Konflikte in den Gemeinden mit zapatistischer Präsenz, die von der Regierung zumindest in Kauf genommen wird, wenn nicht sogar gewollt ist.
Die Häufung der Vorfälle in den letzten Monaten und die Art des Vorgehens der Gruppen, die die Zapatist_innen einschüchtern, hat dazu geführt, dass einige, mit der EZLN solidarische Kollektive die Angreifer_innen als paramilitärische Gruppen bezeichnet haben. In der Zeit von 1995 bis 2000 waren in Regionen unter zapatistischem Einfluss mehrere solcher Gruppierungen aktiv, ihre Übergriffe, Morde und Vertreibungen sind von lokalen Menschenrechtsorganisationen dokumentiert worden. Jedoch sei, so Marina Pagès vom Internationalen Friedensdienst (SIPAZ), bei den aktuellen Konflikten Vorsicht angebracht, wenn es um die Bezeichnung der Angreifer_innen gehe. Pagès erklärte gegenüber den LN: „Jeder Konflikt muss in seinem Kontext analysiert werden. Dann wird oft klar, dass es sich um lokale Probleme mit spezifischen Ursachen handelt. Mitunter gehören zu der nicht-zapatistischen Gruppe in einem Konflikt Personen, die früher selbst in der EZLN organisiert waren.“ Nach einer von Menschenrechtsorganisationen gebrauchten Definition sind die Paramilitärs vom Staat aufgebaute, finanzierte und trainierte zivile bewaffnete Gruppen, die die Aufständischen durch Einschüchterungen, Drohungen und Gewalt in ihrem Wirken eindämmen sollen. Dies traf auf Gruppierungen in den 1990er Jahren zu, ist jedoch nach bisher bekannten Informationen bei den aktuellen Konflikten eher nicht zutreffend.
Auf der Suche nach Ursachen für die Häufung der Übergriffe auf zapatistische Gemeinden hat Marina Pagès eine weitere Erklärung parat. Die Koordinatorin von SIPAZ, der im Bereich der Beobachtung und Konfliktbearbeitung seit 1995 in den indigenen Gebieten von Chiapas arbeitet, verweist gegenüber LN auf die „Lösung“ anderer Landkonflikte in den letzten Jahren: „Im Fall von San Patricio 2011, sowie bei anderen Landstreitigkeiten hat die chiapanekische Regierung Verhandlungen mit den Angreifern geführt und diesen Landtitel gegeben. So wurden sie im Endeffekt für ihre Taten mit Land belohnt. Dies könnte dazu geführt haben, dass andere Gruppen in letzter Zeit mit der Aussicht auf eine solche Belohnung ebenso diese Strategie der Belagerung und Einschüchterungen für aussichtsreich gehalten haben.“ Pagès hält es auch für möglich, dass die Konflikte, deren Zunahme in den Zeitraum nach der Präsidentschafts- und Gouverneurswahl vom 1. Juli fällt, den verursachenden Gruppen Vorteile bei Verhandlungen verschaffen, da diese Demonstration der Stärke dazu führe, dass sie von der Regierung ernst genommen würden.
Weitere Nutznießerin der Konflikte ist die Regierung des scheidenden Gouverneurs Juan Sabines Guerrero (PRD). Seine Amtszeit endet am 7. Dezember. Indem er seinem Nachfolger Manuel Velasco Coello die Lösung der Konflikte zusätzlich zu einer Rekordverschuldung von fast 40 Milliarden mexikanischen Pesos hinterlässt, kann Sabines hoffen, vorerst von Untersuchungen verschont zu bleiben, die unter Umständen über mögliche Misswirtschaft, Korruption oder andere strafbare Vergehen während seiner Amtszeit angestellt werden könnten.
Die zunehmenden Konflikte zwischen Zapatist_innen und nicht-zapatistischen Gruppen sind Teil einer komplexen politischen Situation, in der Chiapas und Mexiko ein Regierungswechsel bevorsteht. Sie können, neben den oben aufgeführten Erklärungen, auch als Teil der andauernden Strategie der Aufstandsbekämpfung betrachtet werden. Sofern Manuel Velasco als Gouverneur eine ähnliche Politik verfolgen wird wie Juan Sabines – worauf Aussagen des gewählten Gouverneurs hindeuten – wird sich an dieser Situation in nächster Zeit nicht viel ändern. Offen ist zudem, wie sich mit Enrique Peña Nieto die Rückkehr der Partei der Insitutionalisierten Revolution (PRI) an die Macht auf Bundesebene auf die zapatistische Bewegung auswirken wird. Bisher hat er sich über den noch anhaltenden Konflikt in Chiapas nicht geäußert. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass er im Gegensatz zu seinen Vorgängern an einer Lösung interessiert sein wird. Vielmehr deutet die Ernennung des kolumbianischen Generals Oscar Naranjo – in seiner Heimat war er unter anderem an der Bekämpfung der kolumbianischen Guerilla FARC beteiligt – zum Sicherheitsberater des neuen Präsidenten eher auf eine Fortsetzung der Aufstandsbekämpfung als auf eine friedliche Beilegung hin.

„Ein abgekartetes Spiel“

Was halten Sie von den Ereignissen vom 21./22. Juni diesen Jahres, als das Parlament Präsident Fernando Lugo im Eilverfahren des Amtes enthob?
Wir, das heißt die Mitglieder von ASAGRAPA, sehen darin einen Staatsstreich. Der wurde angezettelt von den Abgeordneten der beiden legislativen Kammern, im Interesse der Großgrundbesitzer und der Sojaindustrie. Sie haben in Curuguaty eine Falle aufgestellt. Dort gab es am 15. Juni einen gewaltsamen Zusammenstoß, oder besser gesagt, es handelte sich um eine Hatz auf eine soziale Bewegung. Dabei wurden einige Kleinbauern umgebracht und auch Polizisten kamen ums Leben. Dies wurde von den Parlamentariern ausgenutzt, um das zu tun, was sie ohnehin wollten: Fernando Lugo absetzen.

Lugo wurde beschuldigt, für die Gewalteskalation verantwortlich zu sein, ohne dass richtige Beweise vorgelegt wurden. Bis heute gab es keine umfassende Untersuchung des Vorfalls. Was, glauben Sie, ist wirklich in Curuguaty passiert?
Das war ein abgekartetes Spiel. Kleinbauern haben Land besetzt, das sich der Großgrundbesitzer und ehemalige Funktionär der konservativen Colorado-Partei Blas Riquelme illegal angeeignet hatte. Die Besetzer haben dann bei der Agrarbehörde INDERT eine Enteignung beantragt, und das wollten die Großgrundbesitzer nicht. Ich bin mir sicher, dass da Leute infiltriert wurden, um die Gewalt eskalieren zu lassen. Augenzeugen berichteten von Scharfschützen, die aus dem Hinterhalt das Gefecht begannen, bei den Besetzern fand man aber nur einige rostige Flinten.

Eine der Hauptanschuldigungen gegen die Regierung Lugos war, dass er die Guerilla Volksheer Paraguays (EPP) unterstützt habe. Was können Sie mir dazu sagen?
Das hängt eng mit dem Vorfall von Curuguaty zusammen. Ich halte die EPP nur für eine weitere Erfindung, um die Bewegung der Kleinbauern anzugreifen. Die Leute, die als EPP auftreten, sind eine Mafia, gestützt von den Marihuanapflanzern in der Region.

Aber Alcides Oviedo, der inhaftierte selbsternannte Führer der EPP, gibt sich als Marxist und erklärt, die Rechte der Armen in Paraguay verteidigen zu wollen…
Das sagt er nur. Die EPP ist eine Erfindung, nicht mehr! Wenn es die EPP gäbe, würde ich dazugehören, nur weil ich mich gegen die Sojaindustrie wende!

Sie kommen aus der ländlichen Region im Osten des Landes, an der Grenze zu Brasilien. Dort gibt es ja viele Konflikte zwischen Kleinbäuerinnen und -bauern und Großgrundbesitzer_innen. Hat sich durch den Machtwechsel etwas für Ihren Widerstand gegen den Sojaanbau geändert? Verhält sich die Polizei nun anders?
Ja, das hat sich schon gewandelt. Die Polizei, die Richter, die Staatsbeamten, sie treten uns gegenüber nun viel arroganter auf. Sie fühlen sich von der obersten Regierungsebene gestützt, wenn sie gegen uns agieren. Außerdem gibt es ein Antiterrorismusgesetz, mit dem jeder soziale Protest verboten werden kann. Dieses Gesetz stammt noch aus der Zeit von Lugo, auf Grund des Drucks aus der Legislative hat er es erlassen. Die Regierung Federico Francos benutzt es nun gezielt, um soziale Bewegungen zu kriminalisieren.

In Canindeyú gibt es derzeit einen sehr ähnlichen Konflikt wie den in Curuguaty, auch dort haben Kleinbäuerinnen und -bauern angekündigt, Ländereien besetzen zu wollen, die illegal an Großgrundbesitzer_innen verteilt wurden. Glauben Sie, dass dieser Konflikt auch so eskalieren könnte wie der in Curuguaty?
Nein, das glaube ich nicht. Die Sojapflanzer haben ja nun die Unterstützung der Regierung und müssen nicht befürchten, dass der Staat sich das gestohlene Land zurückholt. Sie sind Lugo schon losgeworden, es gibt keinen Grund mehr für sie, solche Gewaltausbrüche zu provozieren.

Was hat sich sonst durch den politischen Machtwechsel für Euch verändert?
Konkret bedeutet der Machtwechsel einen Schlag für die arme Bevölkerung. Der neue Präsident Federico Franco, der ehemalige Vizepräsident von Lugo, hat als Erstes die meisten Sozialprogramme abgeschafft. Das kostenlose Gesundheitssystem, das Lugo eingeführt hatte, gibt es nicht mehr. Auch das Programa Abrazo (ein soziales Hilfsprogramm, um die Kinderarbeit abzuschaffen, von Lugo 2010 eingeführt, Anm. d. Red.) wurde stark eingeschränkt. Außerdem griff die Regierung die Arbeiter direkt an, indem sie den Mindestlohn senkte. Franco ist mit der zynischen Bemerkung aufgefallen, dass ja eineinhalb Millionen Guaraníes (etwa 255 €, Anm. d. Red.) im Monat reichen würden, um eine Familie zu ernähren, was natürlich völliger Unsinn ist. Das reicht nie!

Der neue Präsident Federico Franco hat das Kabinett völlig umgekrempelt. Der Umweltminister Oscar Rivas, der aus der Umweltbewegung kam, wurde sofort entlassen. Es ist von mehreren tausend politisch motivierten Entlassungen in den Behörden die Rede. Was bedeutet das für die Kleinbäuerinnen und -bauern und die sozialen Bewegungen in Paraguay?
Das bedeutet konkret, dass die sozialen Bewegungen, die sich für die Gesundheit der Bevölkerung und die Umwelt einsetzen, kaum noch eine Chance haben. Unter Lugo konnten wir wenigstens etwas Einfluss geltend machen. Das ist jetzt vorbei! Der Staat unterstützt nur noch die industriellen Landwirte, die Sojaproduzenten, die brasiguayos (in Paraguay ansässige Großfarmer aus Brasilien, Anm. d. Red.). Uns bleibt nur noch, die Arme zu kreuzen und zuzusehen. Aber das können wir nicht tun! Wir müssen etwas bewegen, aber wir wissen noch nicht, wie.

Von hier aus ist es schwierig einzuschätzen, was wirklich im Land geschieht, da die Medien Paraguays von Unternehmen kontrolliert werden, die mit der Agrarindustrie zusammenarbeiten. Was macht der Widerstand gegen Franco?
Für uns ist es vor allem wichtig, neue Bevölkerungsgruppen für den Widerstand zu gewinnen. Wir versuchen gerade, neue Strukturen aufzubauen und neue Führungspersönlichkeiten zu suchen. Das ist die Grundlage, um effektiven Widerstand überhaupt möglich zu machen. Im Augenblick ist der Widerstand sehr schwach und fragil. Aber wir arbeiten daran, das zu ändern!

Im nächsten Jahr werden im April Präsidentschaftswahlen stattfinden. Was erwarten Sie als Ergebnis?
Oh, das ist ein Drama! Dadurch dass Lugo abgesetzt wurde, hat er ein schlechtes Bild hinterlassen. Der demokratische Wandel ist unterbrochen worden. Ich sehe keine Chance für Lugos linkes Parteienbündnis. Ich bin sicher, dass bei den Wahlen die Colorados wieder gewinnen werden.

Wie sehen Sie eigentlich die Präsidentschaft Lugos? Ich habe diesen Satz von einem Unterstützer des Präsidenten gelesen: „Lugo war mehr Bischof, als dass er regiert hätte!“ Damit war gemeint, dass Lugo zu sehr versucht hat, es allen Gesellschaftsschichten recht zu machen und der Konfrontation mit der Oligarchie aus dem Weg gegangen ist. Wie sehen Sie das?
Genau so. Er hätte viel härter gegen die alten Eliten vorgehen müssen und dafür hatte er auch das Mandat der Bevölkerung. Er hätte eine neue Verfassung anstreben müssen, um wirklich eine Veränderung im Land herbeizuführen. Aber das hat er nicht getan. Und auch als der Parlamentsputsch stattfand, hätten ihm viele zur Seite gestanden, wenn er gewollt hätte. Er sagte aber: Ich bin nicht Allende, nicht Chávez, ich bin Lugo. Und so übergab er einfach die Präsidentschaft, um Blutvergießen zu verhindern. Was wirklich fehlt, ist eine neue Verfassung.

In der Verfassung von 1992 bekam die Legislative viel mehr Rechte gegenüber der Exekutive. Dass die beiden Kammern von konservativen Kräften dominiert sind, war die Grundlage für die Amtsenthebung von Lugo. Woran liegt es, dass diese Abgeordneten, die nur die Interessen der Großgrundbesitzer vertreten, immer gewählt werden?
Das liegt an dem sehr geringen Bildungsstand in Paraguay. Die Leuten denken nicht an die langfristigen Folgen, sondern sind mit ihrer unmittelbaren Not beschäftigt. Das begünstigt Stimmenkauf. Und die Leute erhoffen sich Schutz von einem einflussreichen Politiker, wenn sie für ihn stimmen.

Haben Sie irgendwas an die Leute in Deutschland zu sagen?
Auf jeden Fall. Ich möchte die Deutschen darum bitten genau zu schauen, was sie essen. Ob das Fleisch, das sie essen aus Massentierhaltung stammt, in der genetisch verändertes Futter aus Paraguay verfüttert wurde. Die meisten wissen hier ja nicht, wie das Soja in Paraguay hergestellt wird. Die schlechte Ernährung in Europa und die Vergiftung und Zerstörung der Natur in Paraguay hängen unmittelbar zusammen.

Infokasten:

Gerónimo Arevalos
ist etwa 55 Jahre alt und kommt aus der Region Caaguazú, nahe Asunción. Als landloser Arbeiter zog er mit seiner Familie jahrelang durch das Land. In den 1980er Jahren begann er mit anderen Landlosen Besetzungen in Alto Paraná im Osten Paraguays zu organisieren. Daraus entstand die Organisation ASAGRAPA, in der sich Kleinbäuerinnen und -bauern in ganz Alto Paraná politisch und genossenschaftlich organisieren. Diese Organisation bemüht sich auch um Kontakte zu ähnlichen Gruppen in Brasilien und Argentinien. Gerónimo Arevalos‘ Sohn arbeitet derzeit bei einer ähnlichen Gruppe in Argentinien. In dem Film Raising Resistance werden die Proteste von ASAGRAPA gegen den industriellen Sojaanbau ausführlich gezeigt. Im Oktober war Gerónimo Arevalos auf einer Rundreise in Europa, um von den Folgen des Sojaanbaus in Paraguay zu berichten.

Raising Resistance
Der Film Raising Resistance zeigt die weltweiten Zusammenhänge des Sojaanbaus und seine Folgen für Menschen und Umwelt in Paraguay (Siehe LN 453). Er hat bereits zahlreiche Preise erhalten, unter anderem 2011 den Preis der schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG-SSR für den besten schweizerischen Film und den Deutschen Umwelt- und Nachhaltigkeitsfilmpreis des Festivals NaturVision 2012. Der Film erscheint demnächst auf DVD.
Mehr Informationen unter www.raising-resistance.com

Die Worte einfach sprudeln lassen

Was ist die Position des Congreso de los Pueblos zu den Gesprächen zwischen Regierung und Guerilla?
Wir begrüßen die Aufnahme der Gespräche sehr, weil der Konflikt den sozialen Organisationen und der gesamten Gesellschaft heftigen Schaden zufügt hat. Nichtsdestotrotz fehlt die Einbeziehung der anderen Guerillaorganisation, der Nationalen Befreiungsarmee ELN. Außerdem bräuchten wir für die Zeit einen Waffenstillstand, aber die bewaffneten Auseinandersetzungen gehen weiter. Das ist kein günstiges Umfeld für den Frieden. Der Prozess wird nur voranschreiten, wenn die Gesellschaft ihn als notwendig betrachtet und unterstützt. Aber die Gespräche könnten zu einem Ende des bewaffneten Kampfes und zu einer zweiten Phase führen, in der man dann über die strukturellen Ursachen des Konfliktes reden könnte.

Das heißt, Sie akzeptieren die Gespräche, obwohl die Mitwirkungsmöglichkeiten eingeschränkt sind und eine umfassende sozialpolitische Agenda fehlt?
Die Überladung der Gespräche wäre kein Fortschritt für eine Verhandlungslösung, sondern würde das Verfahren komplizierter gestalten. Natürlich muss es nach diesen Gesprächen eine Phase der Beteiligung aller sozialer Akteure geben. Gegenwärtig fordern wir aber keinen Platz am Verhandlungstisch. Wir fordern jedoch die Voraussetzung und die Gelegenheit für eine Teilhabe der sozialen Bewegungen sowie den politischen Willen uns zuzuhören.

Ist die Gesellschaft nicht kriegsmüde und will nur ein schnelles Ende des Konfliktes?
Die Menschen sind erschöpft. Aber es gibt tieferliegende Konfliktursachen, die für einen dauerhaften Frieden behandelt werden müssen. Deshalb wollen wir die Kämpfe der sozialen Bewegungen für Gesundheit, Bildung und Land, die eben auch Kämpfe für den Frieden sind, in diesen Prozess einfließen lassen. Wir begnügen uns nicht damit, schriftliche Vorschläge einzureichen, sondern fordern die Regierung und Guerilla auf, den Bewegungen eine Hauptrolle einzuräumen. Das wird schwierig und deshalb ist die Stärkung der Friedensbewegung grundlegend.

Welche Vorschläge haben Sie im Congreso de los Pueblos, um den Friedensprozess voranzutreiben?
Bereits 2010 bei der Gründung des „Congreso de los Pueblos“ fiel der Entschluss, einen Kongress für den Frieden abzuhalten. Durch die Ankündigung der Gespräche gewann diese Idee an Kraft und Dynamik. Wir schlagen vor, die breite Öffentlichkeit auf nationaler Ebene in die Friedensverhandlungen mit einzubeziehen. Dies soll mit einer Methode passieren, nach der sowohl inhaltliche Vorschläge als auch Erfahrungen der vielfältigen lokalen Initiativen mit integralen Friedensansätzen verknüpft werden. Ziel ist die Ausarbeitung eines gemeinsamen Programms. Das ist natürlich eine mühsame Aufgabe. Es geht nicht nur darum, Vereinbarungen darüber zu treffen, wie beispielsweise Entscheidungen delegiert und Vertreter bestimmt werden, sondern auch, wie wir unsere Forderung nach der Teilnahme am Friedensprozess überhaupt durchsetzen können.

Wie funktioniert die Methode des Congreso de los Pueblos genau?
Unsere Methode besteht aus drei Schritten. Zuerst rufen wir die Menschen zusammen und sammeln ihre Ideen. Diesen Prozess bezeichnen wir als caminar la palabra (das Wort wandert). Danach beginnen wir mit der Legislación Popular (Gesetzgebung von unten). Das bedeutet, Erfahrungen und kollektive Praktiken der Bevölkerung wie die lokalen Entwicklungspläne werden aufgenommen, um daraus ein Mandat zu formulieren. Zum Schluss führen wir im Schritt Agenda de los Pueblos (Agenda der Völker) die verschiedenen Aktionen zusammen. Denn trotz Verfolgung und Repression, leisten die sozialen Bewegungen weiterhin Widerstand, jedoch vereinzelt und zerstreut. Eine gemeinsame Agenda bedeutet nicht, alle ohne Unterschied in einen Topf zu werfen, sondern einen Konsens über bestimmte gemeinsame Aktionen zu finden. Dieses Vorgehen schlagen wir auch für den Friedenskongress vor. Zurzeit befinden wir uns in der ersten Phase, halten also lokale Versammlungen ab und führen Debatten.

Eine Ihrer Forderungen ist die eines „transformativen Frieden“? Was steht dahinter?
Die Hoffnung auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen. Der Konflikt in Kolumbien kann nicht isoliert von der sozialen Realität der Bevölkerung betrachtet werden. Er ist auch eine Folge von sozialer Ungerechtigkeit und der Kluft zwischen der wirtschaftlichen und politischen Elite und der breiten Mehrheit. Diese Bedingungen müssen verändert werden, und zwar mit aktiver Beteiligung der Bevölkerung. Da sich die Lebensbedingungen durch den Konflikt weiter verschärfen, fühlt sich die Bevölkerung nicht durch die Konfliktparteien repräsentiert.

Gibt es im Gegensatz zu den Friedensgesprächen in Caguán von 1998-2002 heute eine stärkere Beteiligung der sozialen Organisationen?
Es gibt ein Wiedererstarken der sozialen Bewegungen. Wir wollen gehört werden und nicht alles an andere delegieren. Ausdruck dessen waren 2011 die Versammlung in Barrancabermeja oder auch der Congreso de Pueblos zum Thema Land und Territorium. Dort war die Diskussion zum Frieden sehr präsent. Schließlich wurde im August diesen Jahres im Cauca die Ruta Social Común para la Paz (gemeinsamer sozialer Friedenspfad) beschlossen, um der Teilhabe der sozialen Bewegungen eine Struktur zu geben und an der sozialen Agenda des Friedensprozesses zu arbeiten. In der Comosocol (Nationale Koordination der sozialen Bewegungen und Organisationen Kolumbiens) streben die sozialen Bewegungen außerdem seit zwei Jahren eine stärkere Einheit an. Zu Beginn der Friedensgespräche in Oslo riefen sie zu einer Semana de Indignación (Woche der Empörung) auf.

Welche Gefahren und Herausforderungen sehen Sie für die Friedensbewegung in Kolumbien?
Eine der größten Herausforderungen ist es, einen Weg zu finden, wie die sozialen Bewegungen trotz unterschiedlicher Positionen und ihrer Zersplitterung gemeinsam am Friedensprozess teilnehmen können. Außerdem gibt es bislang keine klare Perspektive, wie die strukturellen Ursachen des Konfliktes behandelt werden, da das die Regierung ausdrücklich ausgeschlossen hat. Eine weitere Schwierigkeit sind die fehlenden Sicherheitsgarantien. Der Paramilitarismus existiert weiter, hat aber neue Formen angenommen. Damit verändert sich auch der Angriff auf die sozialen Bewegungen. Neben der gewaltsamen Verfolgung tritt zunehmend eine subtile Repression in Erscheinung. Sie äußert sich im Aufbau von Konkurrenzstrukturen zu den sozialen Organisationen oder durch die Kooptation durch vorgebliche Partizipationsmechanismen.

Wie ist die Situation der sozialen Bewegungen im Cauca?
Die indigene Bevölkerung im Cauca verteidigt seit langem ihre territoriale Autonomie und hat dafür die Guardia indígena (indigene Wache) aufgebaut. Dies wird von den Konfliktparteien jedoch nicht respektiert. Sowohl das Militär als auch die FARC-Guerilla oder Paramilitärs üben Einfluss in ihrem Territorium aus, was sich durch die Aktivität multinationaler Unternehmen verschärft. Nichtsdestotrotz hat die Guardia im Juli sowohl Soldaten als auch Guerilleros unbewaffnet konfrontiert und aus ihrem Gebiet geworfen. Für diese Aktionen gegen das Militär wurden die indigenen Gemeinden heftig in der Öffentlichkeit kritisiert. Zurzeit führen sie dazu Verhandlungen mit der Regierung, kontrollieren ihr Territorium aber weiterhin. Aber natürlich geht auch die Auseinandersetzung zwischen Armee und Guerilla weiter, mit Toten in der Bevölkerung und der Zerstörung der Gemeindeinfrastruktur.

Und bei der Bauernbewegung in Cajibío?
Bei uns ist der Landkonflikt die Hauptsorge. Vor allem die extensiven Forstwirtschaftsprojekte des multinationalen Unternehmens Smurfit Kappa, begleitet durch eine starke Militärpräsenz zu dessen Schutz. Dagegen wehren wir uns, weshalb wir bedroht wurden. Gerade sind wir dabei analog zu den indigenen Gemeinden eine Guardia campesina (bäuerliche Wächter) zu gründen. Das geschieht zum einen aus Notwendigkeit, denn wir sind nicht bereit, unsere Angelegenheit in die Hände der bewaffneten Akteure zu legen. Zum anderen ist es eine Umsetzung des Mandats des Congreso de los Pueblos. Die Guardias verteidigen die territoriale Autonomie, mobilisieren die Bevölkerung und drängen den Einfluss der Konfliktparteien zurück. Für diese sensible Aufgabe inmitten des Konfliktes durchlaufen sie eine intensive politische Schulung, da immer auch ihr ziviler Charakter gewahrt werden muss.

Was erwartet der Congreso de los Pueblos an internationaler Solidarität?
Für eine Verhandlungslösung muss der Friedensprozess international begleitet und gestützt werden. Die internationale Gemeinschaft sollte außerdem die aktive Teilhabe der Bevölkerung und der sozialen Bewegungen bei der Regierung und den Guerillas einfordern. Es wäre auch wünschenswert, wenn die partizipativen Anstrengungen der sozialen Bewegungen unterstützt würden. Vom Congreso de los Pueblos laden wir zur Teilnahme am Friedenskongress im März 2013 ein, damit es auch möglich wird, persönlich präsent zu sein.

Wie verhält es sich mit den europäischen Regierungen und der EU? Schließlich haben sie ein Freihandelsabkommen mit der kolumbianischen Regierung abgeschlossen?
Die kolumbianische Regierung braucht ein Ende des Konfliktes. Für seine internationalen Wirtschaftsverpflichtungen zur Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, das Inkrafttreten der Freihandelsabkommen und die Sicherheit ausländischer Unternehmen ist der Konflikt mehr denn je ein Hindernis. Das erschwert natürlich auch den internationalen Beitrag für einen dauerhaften Frieden in Kolumbien. Gegenwärtig hieße ein aktives Friedensengagement der europäischen Regierungen, das Abkommen aufzukündigen, sofern sie den Forderungen nach Frieden mit sozialer Gerechtigkeit nicht widersprechen wollen.

Infokasten:

Marylén Serna

von der Bäuerinnen- und Bauernbewegung in Cajibío im kolumbianischen Department Cauca ist Sprecherin der basisdemokratischen „Minga de Resistencia Social y Comunitaria“, einer Allianz der sozialen Bewegungen Kolumbiens, die sich 2008 nach heftigen Protesten der indigenen Bevölkerung gründete.
Zum Aufbau einer Regierung von unten berief die Minga 2010 den ersten zivilgesellschaftlichen Congreso de los Pueblos ein. Seither tagt dieser zu Kerninhalten der sozialen Bewegungen, so 2011 zu „Territorium, Land und Souveränität“. Im März 2013 wird er das Thema „Frieden“ behandeln.

Auf wackligen Friedenspfaden

In Oslo geht es los, in Havanna geht es weiter. Der grobe Fahrplan für die Friedensverhandlungen zwischen den Bewaffneten Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) und der kolumbianischen Regierung steht. Zentraler Punkt der in sechsmonatigen Sondierungsgesprächen ausgehandelten Vereinbarung zur Beendigung des Konflikts ist eine Fünf-Punkte-Agenda: landwirtschaftliche Entwicklung, politische Teilhabe der Opposition, die Niederlegung der Waffen der Rebellen sowie der Kampf gegen den Drogenhandel und die Wahrung der Rechte der Opfer des Konfliktes. Darüber soll auf Kuba verhandelt werden. Nach Übereinkunft über diese Punkte und der Unterzeichnung eines Friedensvertrages soll in einer dritten Phase dessen Implementierung folgen.
Wenngleich die breite Mehrheit der gesellschaftlichen Gruppen die Nachricht mit Wohlwollen aufgenommen hat, gibt es einige Gründe skeptisch zu sein. Eine zentrale Rolle kommt im Zuge der Verhandlungen der ländlichen Entwicklung zu, die das erste Thema der Verhandlungen sein wird. Das verwundert wenig: Die Ausbeutung der Rohstoffe im Zuge der „Lokomotive Bergbau“ sowie großflächige Agrarindustrieprojekte sind ein zentraler Eckpfeiler der kolumbianischen Wirtschaft, Sektoren mit großem Wachstumspotenzial und zugleich Ursache vieler lokaler und regionaler Sozialkonflikte (siehe LN 459).
Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos hat in den letzten Wochen immer wieder betont, dass es gelte die „Fehler“ der gescheiterten Verhandlungen von San Vicente de Caguán (1999 – 2002) zu vermeiden. Damals wurde der FARC die Region Caguán komplett überlassen. Diese Einstellung Santos‘ liegt auch darin begründet, dass die „Lokomotive“ durch die vollständige militärische Kontrolle auch abgelegener Regionen ihre Fahrt fortsetzen und Investor_innen das Feld bereiten kann. Beispielsweise planen kolumbianische und internationale Unternehmen, die östliche Flachlandregion Llanos Orientales nach dem Vorbild Brasiliens in eine „Kornkammer“ der Region zu verwandeln beziehungsweise Produkte wie Ölpalmen und Soja für die Herstellung von Biosprit anzubauen.
In diesem Sinne lässt sich ebenfalls die Bereitschaft der Regierung Santos interpretieren, Friedensverhandlungen mit der Guerilla aufzunehmen: Im Falle einer Demobilisierung der Guerilla würde sich das Investitionsklima weiter verbessern und der Staat die Kontrolle über jene ländlichen Regionen erhalten, in denen die Guerilla stark präsent ist (Region Tumaco, Catatumbo, Putumayo, Caquetá, Arauca, Norte de Antioquia, Cauca, Tolima) und dergestalt den Aktionsradius wirtschaftlicher Initiativen ausweiten.
Nicht umsonst beeilten sich Regierung und Wirtschaftsvertreter_innen kurz nach der Ankündigung von Friedensgesprächen zu betonen, dass die kolumbianische Wirtschaft im Falle eines Friedensabkommens und den Freihandelsverträgen mit EU und Vereinigten Staaten um bis zu acht Prozent jährlich wachsen könnte. Die Aufnahme des Präsidenten des wichtigen Wirtschaftsverbandes ANDI, Luis Carlos Villegas, in die Verhandlungsdelegation ist ebenfalls als Signal zu verstehen, die bisherige Linie in der Wirtschaftspolitik nicht aufgeben zu wollen.
Organisationen wie die linke Sammelbewegung Marcha Patriótica weisen darauf hin, dass es „kein Ende des Konflikts ohne eine Änderung des neoliberalen Kurses geben wird, der auf Ausbeutung von Primärressourcen bei gleichzeitiger Kürzung sozialer Leistungen basiert“. Dass die Regierung bereit ist, ihren Wirtschaftskurs mit der Guerilla auf Kuba zu diskutieren, ist eher zweifelhaft. Andererseits deutet diese Analyse an, was in den allgemeinen Jubelstürmen anlässlich der Ankündigung von Friedensverhandlungen weitgehend unterging: Zwar würde ein Niederlegen der Waffen einige Probleme der ländlichen Regionen lösen, doch wird dabei übersehen, dass die starke Militarisierung der Gesellschaft und das Problem des Neoparamilitarismus davon unberührt bliebe.
Die offiziell als kriminelle Banden (BACRIM) bezeichneten Gruppierungen sind weit davon entfernt, den Einfluss der unter Uribe demobilisierten paramilitärischen Selbstverteidigungsgruppen (AUC) zu erreichen. Doch die BACRIM haben in einigen Regionen enormen Einfluss beziehungsweise haben punktuelle politische Verbindungen zu lokalen Politiker_innen und Unternehmer_innen.
Darüber hinaus sorgen die sozialen Probleme und die ökonomische Ungleichheit im Land nicht nur dafür, dass diese bewaffneten Strukturen nach wie vor Zulauf haben, sondern auch dafür, dass soziale Forderungen und die Stärkung kleinbäuerlicher Strukturen immer wieder auf gewaltsamen Widerstand von Akteur_innen des Drogenhandels sowie der Regionaleliten stoßen. Deren lautester Fürsprecher ist Álvaro Uribe, der Vorgänger von Santos im Präsidentenamt.
Die Regierung dürfte bereit sein, Ländereien beispielsweise für die Schaffung der sogenannten kleinbäuerlichen Reservate (reservas campesinas) bereitzustellen. Ein Blick in die jüngere Geschichte der Reservate lehrt freilich Skepsis: Die aus den 80er Jahren stammende Idee soll gewisse Gebiete vor der Konzentration von Landbesitz in den Händen weniger schützen und die kleinbäuerliche Produktion stärken. Waren die reservas campesinas unter der Regierung Uribe praktisch von der politischen Bildfläche verschwunden, hat dieses Konzept unter der Regierung Santos zumindest diskursiv einen erneuten Schub erhalten.
An der Spitze des zuständigen Instituts zur ländlichen Entwicklung (Incoder) steht seit April 2012 Miriam Villegas, die als Akteurin des EU-finanzierten Friedenslaboratoriums im Magdalena Medio die Einrichtung der reserva campesina im Valle del Rio Cimitarra begleitet hat. Villegas gilt zwar einerseits als Vertreterin der Interessen der bäuerlichen Bevölkerung, verteidigt andererseits aber auch die sogenannten Produktionsallianzen (alianzas productivas) zwischen Unternehmer_innen und Bäuerinnen und Bauern, wie sie beispielsweise im Falle der Palmölkulturen gängig sind.
Die Regierung geht derzeit davon aus, dass die Verhandlungen in Kuba lediglich sechs bis acht Monate in Anspruch nehmen werden. Dieser Einschätzung hat der FARC-Chef Timochenko kürzlich entschieden widersprochen. In einem Interview mit der kommunistischen Wochenzeitung VOZ sagte er, eine Vereinbarung während der Sondierungsgespräche sei gewesen, keine Zeitlimits zu setzen. Ziel der Regierung könnte sein, so schnell wie möglich und weitestgehend abgeschottet von der kolumbianischen Öffentlichkeit, den formalen Frieden herzustellen und sodann mit der dritten Phase des Friedensprozesses fortzufahren.
Unklarheit besteht ebenfalls darüber, inwieweit und über welche Wege die Zivilgesellschaft an den Verhandlungen beteiligt sein wird. Kritiker_innen hatten bemängelt, dass Vertreter_innen der Gewerkschaften, Indigene und Bauernverbände (im Gegensatz zu Militärs, Polizei und Wirtschaft) keinen Platz am Verhandlungstisch erhalten werden. Darüber hinaus vertritt die Guerilla bei weitem nicht alle Interessen der ländlichen Bevölkerung und steht teilweise in offenem Konflikt mit ihnen. Der viel zitierte Satz Timochenkos, der Schlüssel zum Frieden liege beim kolumbianischen Volk, muss vor diesem Hintergrund angezweifelt werden.
Während die sozialen Bewegungen deshalb vor allem auf die Mobilisierung auf der Straße setzen, um Themen an den Verhandlungstisch zu tragen, sieht eine „institutionelle Lösung“ vor, die aus dem Kongress hervorgehende Nationale Friedenskommission wiederzubeleben, in der neben Parlamentarier_innen auch Vertreter_innen sozialer Organisationen einen Platz haben sollen. Die Stigmatisierung der sozialen Bewegungen, insbesondere der im April ins Leben gerufenen Sammelbewegung Marcha Patriótica, als von der Guerilla finanzierte Organisationen könnte im Kontext von Mobilisierungen alte Traumata wiederbeleben.
Das beste Argument der Guerilla gegen die Option einer politischen Opposition innerhalb der staatlichen Institutionen war in der Vergangenheit immer das Schicksal der Unión Patriótica gewesen, einer 1985 gegründeten FARC-nahen Partei. Ende der 80er Jahre wurden 2.000 bis 3.000 Mitglieder der UP, die FARC spricht von bis zu 5.000, von Paramilitärs wie der AUC gezielt ermordet. Die Sammelbewegung Marcha Patriótica, die sich aus rund 2.000 Bauern-, Studierenden-, Indigenen- und Menschenrechtsorganisationen zusammensetzt und deren sichtbarste Figur die ehemalige Senatorin Piedad Córdoba ist, könnte das gleiche Schicksal ereilen. Die Marcha wurde seit ihrer Gründungsdemonstration im April von Politik, Militär und einigen Medienvertreter_innen bewusst stigmatisiert und als von der Guerilla gegründete und gesteuerte Bewegung bezeichnet. Wiederholt kam es in den vergangenen Wochen vor, dass ihre Mitglieder unter dem Vorwurf, Mitglieder der FARC zu sein, von Staatsanwaltschaft und Polizei kurzzeitig festgenommen wurden, ohne dass entsprechende Beweise vorlagen. Unbestreitbar ist, dass sich Guerilla und einige Mitgliedsorganisationen der Marcha ideologisch nahe stehen, beispielsweise in der Ablehnung der neoliberal orientierten Wirtschafts- und Sozialpolitik. Ob die Marcha eine „politische Landebahn“ für die Guerilla sein kann, ist eine der spannenden Fragen, die der Prozess aufwirft. Ab Mitte Oktober kommen die Antworten näher.

Chávez ist ein „Stabilitätsfaktor in Lateinamerika“

Die Ära Chávez geht weiter. Trotz Krebserkrankung und der offensichtlichen Bürokratisierungserscheinungen seiner bolivarianischen Revolution hat Präsident Chávez es wieder geschafft, aus den Wahlen am 7. Oktober erneut als Sieger hervorzugehen und sich ein Mandat bis 2019 zu sichern. Zu eindeutig repräsentierte der Kandidat der Rechten, Ex-Bürgermeister Henrique Capriles Radonski, die traditionellen Eliten, die auch nach 13 Jahren Linksregierung über unglaublichen Reichtum verfügen und der übrigen Bevölkerung überwiegend mit Verachtung begegnen. Capriles, der von brasilianischen Wahlkampfexpert_innen beraten wird, bemühte sich zwar um eine sozialdemokratische Rhetorik und versprach, an den bestehenden Sozialprogrammen festzuhalten. Trotzdem ist absehbar, welche Veränderungen ein Sieg der Opposition nach sich ziehen würde: Venezuela würde sich wieder stärker den ökonomischen und geopolitischen Interessen der USA unterordnen (das heißt auch eine deutlich geringere Beteiligung an den Öleinnahmen akzeptieren) und zur neoliberalen Privatisierungspolitik zurückkehren.
Ein wesentliches Problem für die bürgerlichen Parteien ist weiterhin, dass sie – anders als etwa die Rechte 1990 in Nicaragua – nicht auf den Angstfaktor zählen kann. Bei der Abwahl der sandinistischen Revolution 1990 spielte die Furcht, ein neuerlicher Sieg der Linken könnte den Contra-Krieg neu aufflammen lassen, eine entscheidende Rolle. In Venezuela heute ist es umgekehrt: Ungewiss ist die Zukunft ohne Chávez. Denn eine Rechtsregierung müsste mit heftigem Widerstand aus der Bevölkerung und Teilen des Staatsapparates rechnen. Vieles spricht dafür, dass ihr die Lage dabei außer Kontrolle geraten könnte.
Doch was macht Chávez – der schon jetzt mehr Wahlen gewonnen hat als fast alle europäischen Politiker_innen (selbst Helmut Kohl wurde nur dreimal im Amt bestätigt) – eigentlich so erfolgreich? Eigentlich gäbe es ausreichend Gründe für eine Abwahl des Präsidenten: Obwohl in der Verfassung vom Aufbau einer Beteiligungs- und Rätedemokratie die Rede ist, erweist sich der Klientel-Staat in Venezuela als quietschlebendig. Die im ganzen Land gegründeten Nachbarschaftsräte (Consejos Comunales), die eigentlich die lokale Selbstregierung sicher stellen sollten, sind heute in erster Linie damit beschäftigt, sich untereinander um den Zugang zu Geldern zu streiten. Gleichzeitig ist im und beim Staat eine neue, aufstrebende Oberschicht entstanden, die berüchtigte „Boli-Bourgeoisie“. Anders als viele Linke unterstellen, hat das weniger mit „Verrat“ als mit der staatlichen Struktur selbst zu tun: Da der gesellschaftliche Reichtum in Venezuela von den Öleinnahmen abhängt und diese über den Staat verteilt werden, bilden Staatsbeamt_innen und Privatunternehmer_innen immer wieder von Neuem einen unauflösbaren polit-ökonomischen Filz aus. Oder wie es beim frühen Marx so schön heißt: Wenn sich Idee und Interesse begegnen, blamiert sich in der Regel die Idee.
Auch der Umbau Venezuelas in Richtung einer weniger vom Rohstoffexport abhängigen sozialistischen oder wenigstens gemischten Ökonomie ist kaum vorangekommen. Der chavistische Ökonom Victor Álvarez hat das in einer aktuellen Studie skizziert: Der Anteil der verarbeitenden Industrie ist seit 1987 von 22,1 % des Bruttoinlandsprodukts auf 14,4 % gefallen. Zwar ist die Wirtschaft im gleichen Zeitabschnitt stark gewachsen, doch davon haben vor allem Handel und Bausektor profitiert, die sich in den Händen der Privatwirtschaft befinden. Dank der Sozial- und Beschäftigungspolitik der Regierung ist zwar die Armut deutlich zurückgegangen und auf den Straßen sind kaum noch Menschen zu sehen, die im Müll nach Verwertbarem suchen. Doch der Anteil der Löhne am Gesamteinkommen ist nicht gestiegen. Er liegt mit 37% auf dem gleichen Niveau wie 1997 (während das Einkommen aus Kapitalbesitz weiterhin bei 42% liegt). Die Kooperativen schließlich, denen in der demokratisch-sozialistischen Umgestaltung eine Schlüsselrolle zugedacht war, sind ebenfalls kaum von der Stelle gekommen: Gerade einmal 2% der ökonomischen Aktivitäten gehen auf das Konto des Genossenschaftssektors.
Dramatisch ist die Gewaltsituation: Auch wenn die genauen Zahlen umstritten sind, lässt sich nicht leugnen, dass Caracas eine der höchsten Mordraten in Lateinamerika hat. Stadtteil-Aktivist_innen weisen in diesem Zusammenhang immer wieder darauf hin, dass die „bolivarische Revolution“ einen großen Teil der Jugendlichen offensichtlich überhaupt nicht erreicht. Das soziale Ansehen des mit Konsumgütern ausgestatteten Kriminellen ist höher als das eines Jugendlichen, der seinen Abschluss an einer der vielen neu gegründeten Fachhochschulen macht und zwar einen Job, aber eben keinen besonderen Reichtum erwarten kann.
So bleiben als große innenpolitische Errungenschaften der letzten Jahre vor allem die Misiones – eine Reihe von Sozialprogrammen, die 1998 von Chávez einberufen wurden und der Armutsbekämpfung und der sozialen Sicherheit der Bevölkerung dienen sollen. 40 Milliarden US-Dollar hat der staatliche Erdölkonzern PDVSA allein 2011 in die Bildungs-, Gesundheits-, Wohnungsbau- und Entwicklungsprogramme investiert. Ermöglicht wurde das nicht nur durch die hohen Ölpreise, sondern auch durch die Bereitschaft der Regierung, die Öleinnahmen zugunsten der Bevölkerungsmehrheit zu verwenden. In Zeiten neoliberaler Raubideologie wahrlich keine Kleinigkeit. Doch es gibt auch noch ein zweites wichtiges Argument, warum die arme Bevölkerung mehrheitlich nach wie vor hinter Chávez steht.
Die Veränderungen in Venezuela werden von Gegner_innen wie Anhänger_innen Chávez meist ausschließlich mit dem Präsidenten selbst erklärt. Dabei wird ausgeblendet, dass die Bevölkerung seit 1989 immer wieder gegen die politische Klasse rebelliert und dem Neoliberalismus schon vor Chávez‘ Amtsantritt eine entscheidende Niederlage zugefügt hatte. Der konstante, kaum von Organisationen getragene Widerstand machte das Land in den 1990er Jahren faktisch unregierbar. Der Soziologe Andrés Antillano spricht in diesem Sinne vom Entstehen einer „plebejischen Macht“, die seiner Meinung nach den entscheidenden Motor der Veränderungen im Land darstellt.
Antillano zufolge ist das Verhältnis dieser gesellschaftlichen Kraft zur Regierung durchaus komplex. Viele Venezolaner_innen würden präzise zwischen Oficialismo und Chavismo unterscheiden: Man verweigere sich jeder politischen Repräsentation, auch der der Regierungspartei PSUV, aber man sei für den Präsidenten. In den Worten Antillanos: „Chávez wird als Negation der Repräsentation betrachtet: der Kommandant, der die Abwesenheit eines Chefs gewährleistet, der Caudillo als Garant der Selbstbestimmung. Oder wie es in einer Parole heißt: ‚Mit Chávez regiert das Volk‘.“
Das mag bizarr klingen – doch richtig daran ist, dass Chávez, obwohl alle Entscheidungen im Land über ihn laufen, immer wieder für ein Machtvakuum sorgt, in dem Slum-Bewohner_innen und Kleinbäuer_innen zum ersten Mal in der Geschichte etwas zu bestimmen haben.
Auch außenpolitisch würde eine Niederlage des Präsidenten in der Region Einiges zum Schlechteren drehen. Dabei sind die Prinzipien der venezolanischen Außenpolitik in vieler Hinsicht skandalös. Das Gerede von der „antiimperialistischen Schwesterrevolution im Iran“ oder die demonstrative Freundschaft mit Despotien in der ganzen Welt können einem – auch wenn man die Demokratie- und Menschenrechtsrhetorik von EU und USA nicht minder abstoßend findet – nur den Magen umdrehen. Die Chávez-Regierung hält offensichtlich entschlossen an der ebenso simplen wie unsinnigen Position fest, dass gut sein muss, was Washington für schlecht befindet.
Doch selbst wenn es daran nichts zu verteidigen gibt, stimmt auf der anderen Seite eben, dass die Außenpolitik Venezuelas in Lateinamerika zu einer Verschiebung der Kräftekonstellation beigetragen hat. Die US-Dominanz scheint gebrochen. Selbst treue Verbündete wie Kolumbien, das in den vergangenen 15 Jahren zu den wichtigsten Empfängern von US-Militärhilfe in der Welt gehörte, sind ein Stück von Washington abgerückt.
Tatsächlich war die lateinamerikanische Politik im vergangenen Jahrzehnt von einer bemerkenswerten Arbeitsteilung zwischen Brasilien und Venezuela bestimmt: Während die Chávez-Regierung „für´s Grobe“ zuständig war – antiimperialistische Rhetorik, Bündnisse mit „Schurkenstaaten“ und der Aufbau eines sozialistischen Lagers mit Kuba, Bolivien und Ecuador –, hat Brasilien den Aufbau eigenständiger lateinamerikanischer Strukturen vorangetrieben: Mit der UNASUR (Union Südamerikanischer Nationen) existiert heute eine amerikanische Staatengemeinschaft, in der Washington nichts mehr zu melden hat. Auf die Staatsstreiche und Umsturzversuche in Honduras, Paraguay und Bolivien hat die Staatengemeinschaft dementsprechend, anders als früher, mit einer Isolation der Putschist_innen reagiert. Handels- und Entwicklungsvereinbarungen trifft man heute lieber vor Ort. Ob sich dadurch etwas Grundsätzliches ändert, mag dahingestellt sein. Brasilianisches Kapital treibt die Erschließung von Erdölvorkommen in Regenwaldregionen, die Ausweitung von Soja-Plantagen oder den Bau von Super-Häfen entschlossen voran. Die Entwicklungsmodelle bleiben die alten, nur die Staatsangehörigkeit der Investor_innen ändert sich. Immerhin: Wenn man bedenkt, mit welcher Aggressivität Lateinamerika von Europa und den USA ausgeplündert wurde, stellt ein solcher Perspektivwechsel wahrscheinlich doch einen Fortschritt dar.
Die Chávez-Regierung ist noch in weiterer Hinsicht außenpolitisch erfolgreicher, als es auf den ersten Blick scheint. Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos, Vertreter der traditionellen Oberschicht seines Landes, überraschte die Öffentlichkeit vor einigen Monaten mit der Aussage, Chávez sei ein Stabilitätsfaktor in der Region. Viele glaubten kaum, was sie da hörten: Ausgerechnet Chávez, der von Washington der Unterstützung von Guerillas und islamischen Netzwerken bezichtigt wird, soll ein Stabilitätsfaktor sein?
Offensichtlich kommt es auf die Perspektive an. Dass bewaffnete Aufstände heute in Lateinamerika diskreditiert sind, hat auch mit Venezuela zu tun. Der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, der eher einer Renaissance des Wohlfahrtsstaates als einem Sozialismus ähnelt, verweist auf die Möglichkeit, dass sich durch Wahlen bisweilen doch etwas verändern lässt.
Nicht zuletzt für Kolumbien ist die Perspektive interessant. Es ist kein Zufall, dass die Chávez-Regierung eine zentrale Rolle bei der Vorbereitung der Friedensverhandlungen zwischen Bogotá und der FARC-Guerilla (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) gespielt hat. Schon vor Jahren ist Venezuela auf Distanz zu den kolumbianischen Guerillas gegangen und hat diese zu einer Beendigung des bewaffneten Kampfes aufgefordert.
Das Schicksal der südamerikanischen Nachbarstaaten ist miteinander verwoben. Wie erwähnt, ist die Lage in Venezuela durchaus explosiv – und zwar nicht aufgrund „chavistischer Sabotage“, sondern wegen der sozialen Widersprüche im Land selbst. Vor allem im Westen Venezuelas haben Großgrundbesitzer_innen, kolumbianische Paramilitärs und Drogenhändler_innen, korrupte Einheiten der Nationalgarde sowie – untereinander teilweise verfeindete – Guerilla-Gruppen aus Venezuela (FBL – Bolivarische Befreiungskräfte) und Kolumbien (FARC und ELN – Nationale Befreiungsarmee) parallele Machtstrukturen aufgebaut. Ohne Chávez, der ein gewisses Gleichgewicht garantiert, könnte daraus schnell ein Flächenbrand werden. Man muss keine prophetischen Fähigkeiten besitzen, um zu begreifen, dass ein solcher Konflikt an den Landesgrenzen nicht halt machen würde.

Kalter Putsch in Paraguay

Paraguays Ausflug in die Demokratie ist nach kurzer Zeit beendet. Am 22. Juni enthob der Senat des Landes den 2008 gewählten Präsidenten, Fernando Lugo, durch einen politischen Prozess seines Amtes. Als Nachfolger bestimmten die Senator_innen den bisherigen Vizepräsidenten, Federico Franco, von der Radikalen Authentischen Liberalen Partei (PLRA), mit der Lugo lange koalierte. Franco galt intern schon länger als schärfster Widersacher Lugos. Francos Partei vertritt die Interessen der Großgrundbesitzer_innen; zu Lugos buntem Unterstützer_innenkreis gehören vor allem Arme, Landlose sowie Kleinbauern und Kleinbäuerinnen.
Begründet wurde das politische Gerichtsverfahren mit einem blutigen Zusammenstoß zwischen Landbesetzer_innen und der Staatsmacht am 15. Juni in Curuguaty, nahe der brasilianischen Grenze. Dort besetzten Aktivist_innen ein Landstück des Großgrundbesitzers Blas Riquelme. Nach einigen Wochen der Besetzung ließ Riquelme Ende Juni „sein“ Grundstück mit Polizeigewalt räumen. In mehrstündigen Kämpfen starben dabei mindestens 17 Menschen, darunter sieben Polizisten, viele andere wurden verletzt. Woher die ersten Schüsse kamen, ist bislang ungeklärt. In einem Bericht der linken Nachrichtenwebseite Toward Freedom wurde beschrieben, wie die Polizei nach den Zusammenstößen Menschenrechtsgruppen nicht auf das Gelände ließen. Zahlreiche Beweise seien vernichtet worden. Augenzeug_innen berichteten davon, dass Scharfschützen die ersten Schüsse abfeuerten. Angesichts dieser Informationen wirkt es unglaubwürdig, dass die Gewalt wirklich von den Besetzer_innen ausging.
Der Jesuit Franco Oliva sprach im Interview mit der Agentur adital von einer „gut vorbereiteten Falle“, in die Lugo gelockt wurde. Die rechtskonservative Colorado-Partei Asociación Nacional Republicana (ANR) und die Liberalen hätten gespürt, dass sich in den sozialen Bewegungen zuletzt viel tat – und zogen die Reißleine, sagte der Befreiungstheologe.
Direkt nach den Vorfällen in Curuguaty hatte Lugo den Polizeichef entlassen, sein Innenminister Fillizola trat zurück. Landesweit protestierten Tausende gegen den Vorfall. Schließlich initiierte die Legislative das Amtsenthebungsverfahren gegen Lugo. Es wirkt so, als hätten seine Koalitionspartner, die Liberalen der PLRA, nur auf eine Gelegenheit gewartet, um mit ihren ehemaligen Erzfeinden, den Colorados der ANR, gemeinsame Sache zu machen, und ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten.
Liberale und Colorados warfen Lugo unter anderem „schlechte Amtsführung“ vor. Die Verfassung Paraguays sieht tatsächlich seit 1992 bei schlechter Amtsführung ein politisches Gerichtsverfahren vor. Was das aber bedeuten soll, ist völlig unklar. Durchgeführt wurde das Verfahren niemals – es gibt nicht einmal ein Regelwerk dafür. Am Donnerstag, dem 21. Juni, stimmten 76 von 80 Kongressmitgliedern für die Durchführung eines Amtsenthebungsverfahrens. Tags darauf hatten zwei seiner Anwälte ganze zwei Stunden Zeit, ihn vor dem Senat zu verteidigen. Danach entschieden sich die Senator_innen mit 36 zu 4 Stimmen für die Amtsenthebung. Die Mehrheit in der Kammer hat die ANR, gemeinsam mit den Stimmen der rechtsliberalen PLRA kamen sie leicht auf die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit. Nur 24 Stunden nach der Eröffnung des Prozesses schwor der ehemalige Vizepräsident Franco seinen Amtseid.
Die Vorwürfe, die Lugo gemacht wurden, wirken zusammengeschustert und konstruiert. Angeblich habe der Präsident die Guerilla Paraguayische Volksarmee (EPP) unterstützt. Die EPP weist dies zurück, gegen die absurden Vorwürfe konnte sich Lugo nie richtig verteidigen. Die International Herald Tribune kommentierte, „das Amtsenthebungsverfahren gegen Lugo kam kaum auf das Niveau eines Schauprozesses.“
Nun regieren die Liberalen wieder das Land, zum ersten Mal seit 1936. Pikanterweise tun sie das mit dem Segen ihrer historischen Feinde, der Colorados. Die Colorados und die Liberalen hatten sich noch 1947 in einem Bürgerkrieg bekämpft. Unter der Diktatur des Colorados Alfredo Stroessner (1954-1989) war die PLRA lange verboten. Doch eigentlich vertreten beide Parteien vor allem die Interessen der mächtigen Agrarlobby.
Der Gegensatz zwischen der armen Landbevölkerung Paraguays und den Großgrundbesitzer_innen, die mit industrieller Landwirtschaft ein Vermögen verdienen, liegt allen politischen Konflikten des Lande zugrunde. Auch bei den Zusammenstößen in Curuguaty ging es um diesen Grundkonflikt. Die Proteste richten sich gegen den ehemaligen Funktionär der ANR Blas Riquelme, dessen Partei von 1947 bis zur Wahl Lugos mehr als 60 Jahre die Regierungsgewalt innehatte. Riquelme hatte den Landstrich in den 1970er Jahren, wie so viele andere Vertraute des Regimes von Diktator Alfredo Stroessner, erhalten. Diese Art der Besitzverteilung war lange normal in Paraguay. Schätzungen sprechen davon, das Stroessner während seiner Diktatur etwa 19 Prozent der Landesfläche an seine persönlichen Verbündeten verschenkte.
Nicht zuletzt wegen der engen Bindung der Agrarindustrie an die langjährige Stroessner-Diktatur besitzen heute weniger als drei Prozent der Bevölkerung rund 80 Prozent des Bodens. Obwohl seit 1989 die Stroessner-Diktatur beendet war, konnte man nicht von einer wirklichen Demokratisierung sprechen. Die Colorado-Partei regierte weiter im Interesse der Großgrundbesitzer_innen. Ihre zahlreichen Verbrechen wurden nicht geahndet, jeder Protest gegen sie aber kriminalisiert.
Fernando Lugos Erfolg bei den Präsidentschaftswahlen 2008 basierte auf diesem Umstand. Lugo war Priester und seit 1994 Bischof der verarmten Diözese San Pedro. Stark beeinflusst von der Befreiungstheologie, die Katholizismus mit sozialistischen Positionen vereinbaren wollte, entschied er sich, sein Priesteramt aufzugeben und in die Politik zu gehen. Von der Hoffnung getragen, die bestehende Ungerechtigkeit im Land und die Herrschaft der Colorados zu beenden, wurde er 2008 mit überwältigender Mehrheit zum Präsidenten gewählt.
Doch bisher war er damit kaum vorangekommen. Gegen die Stimmenmehrheit der Opposition im Parlament und gegen die Liberale PLRA in der eigenen Regierung vermochten es Lugo und seine Getreuen nicht, eine Landreform durchzusetzen. Landbesetzungen sind an der Tagesordnung, Menschenrechtsgruppen sprechen von mehr als 100 Toten, die in diesem Zusammenhang in den vergangenen Jahren zu beklagen waren. Zunehmend waren auch die Unterstützer_innen Lugos von seiner Regierung enttäuscht, weil keine Landreform durchgeführt wurde. Für die Wahlen im kommenden April sahen Beobachter_innen schon vor dem Putsch eher einen Wahlsieg der Colorados voraus. Doch bis nächsten August, wenn der neue Präsident vereidigt wird, wollten Liberale und Colorados wohl nicht warten und fertigten den Präsidenten im Schnellverfahren ab.
Fast alle lateinamerikanischen Staaten verurteilten den Vorgang scharf. Selbst Kolumbiens Regierung, übermäßigen Sympathien für linke Regierungen völlig unverdächtig, sprach von einem „irregulären Verfahren“.
Deutschlands Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, hingegen gehört zu den wenigen, die den Umsturz begrüßten. Der FDP-Politiker war als erster europäischer Minister vor Ort und gratulierte dem Parteifreund Franco. Während mehrere Staaten ihre Botschafter_innen abzogen und von einem verkappten Putsch sprachen, sagte Niebel laut deutschen Medien:„Es gibt keine Anzeichen dafür, dass es bei dem Regierungswechsel verfassungswidrig zugegangen ist.“ Mit der Meinung stand und steht er ziemlich alleine da, sogar das Auswärtige Amt ruderte inzwischen zurück und will die Situation eingehend prüfen.
Lugo selbst akzeptierte die Entscheidung des Senats – zunächst. Auch, um eine Eskalation der Gewalt zu verhindern. Denn bereits am Tag des Prozesses hatten sich etwa 5.000 Demonstrant_innen am Parlamentsgebäude eingefunden. Viele beklagten, dass das Busunternehmen die Verbindungen eingestellt hatten. Die Lizenzen für die Busse werden meist an politische Mandatsträger_innen verteilt. Nach der Verkündung der Entscheidung schlugen Polizist_innen los. Tränengas und Schlagstöcke wurden eingesetzt und die Menge auseinander getrieben. Bis zum Redaktionsschluss wurde überall im Land von Protesten gegen das neue Regime berichtet. Die Aktivist_innen vernetzen sich über die Webseite paraguayresiste.com.
Zu Treffen des MERCOSUR und des UNASUR luden die Mitglieder Lugo ein, die Regierung Franco wurde ausgeladen. Der geschasste Präsident sagte sein Kommen beim MERCOSUR-Gipfel in Mendoza zunächst ab. Die Mitglieder schlossen Paraguay bei dem Treffen aus der Staatenvereinigung vorläufig aus und nahmen dafür Venezuela auf. Genau das Land, dessen Aufnahme die paraguayische Agrarlobby stets zu verhindern wusste.
„Wir bedauern die Situation, aber es gibt zur Zeit in Paraguay keine funktionierende Demokratie“, sagte der brasilianische Außenminister Antonio Patriota. Lugo begrüßte den Entschluss. Eliten des neuen Regimes wiesen ihn zurück und brachten eine Volkabstimmung über einen Verbleib Paraguays in der Gemeinschaft ins Spiel.
Als Retourkutsche für die internationale Isolierung des Landes sucht nun der neue Außenminister Francos, Juan Fernández Estigarribia, die Nähe Großbritanniens. Dieses befindet sich mit Argentinien im Streit um die Malvinen/Falkland Inseln im Südatlantik vor der argentinischen Küste. Das Außenministerium in London kündigte an, die seit 2005 geschlossene Botschaft in Asunción wieder zu öffnen. In der Colorado-eigenen Netzzeitung El Colorado wurde bereits die Botschaft der „befreundeten Nachbarn“ begrüßt, eine eindeutige an Argentinien gerichtete Provokation.
War das Amtsenthebungsverfahren nun ein Parlamentsputsch oder nicht? Dieser Frage ging das paraguayische Verfassungsgericht am Montag, dem 25. Juni, nach. Nein, alles sei verfassungsmäßig abgelaufen. Formaljuristisch mag das stimmen, doch wenn man sich die Anklagepunkte anschaut, nach denen Präsident Lugo verurteilt wurde, bekommt man an der Legitimität der Entscheidung seine Zweifel. Wenn man bedenkt, wie schnell Lugo abgefertigt wurde, erst recht.
Dies sah auch die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte CIDH so. Die unabhängige Kommission der Organisation Amerikanischer Staaten OAS schrieb in einer Pressemitteilung vom 23. Juni, dass „die Geschwindigkeit, mit der die Amtsenthebung durchgeführt wurde, unannehmbar“ sei. Die Kommission sehe die Rechtsstaatlichkeit in Paraguay gefährdet.
Die Politik- und Wirtschaftswissenschaftler Iñigo Errejón und Alfredo Serrano attestierten im Fall Paraguay in der Zeitung El Ciudadano einen golpismo blando – einen „sanften Staatsstreich“. Dabei handele es sich um eine neue Form des undemokratischen Putsches. Zuletzt haben in verschiedenen lateinamerikanischen Staaten staatliche Institutionen versucht, einen politischen Umsturz unblutig auf diese Art zu erzwingen, analysierten sie.
Berichten zufolge könnte der Parlamentsputsch von Akteuren aus der multinationalen Agrarindustrie gestützt worden sein. Saatgutunternehmen wie Monsanto und Cargill haben sich demnach mit Großgundbesitzer_innen und der Liberalen Partei verbündet, wodurch genmanipulierte Saat in Paraguay zunächst zugelassen wurde. Vertreter_innen eines von den Unternehmen dominierten Verbandes fuhren seit Längerem eine mediengestützte Hetzkampagne gegen Lugo-treue Regierungsmitglieder, hieß es.
Das hält auch Martin Almada, Träger des Alternativen Nobelpreises und Menschrechtsaktivist für plausibel. Er fordert eine rasche Untersuchung sowohl der tödlichen Kämpfe als auch der Amtsenthebung durch eine internationale und neutrale Kommission. „Wieder einmal wurden Recht und Gerechtigkeit ausgehebelt, wieder einmal auf dem Rücken der arbeitenden Klasse und der Kleinbauern“, sagte er. Almada fürchtet einen Rückfall in diktatorische Zeiten, etwa durch das Ausrufen eines Ausnahmezustandes und zunehmende politische Isolation des Landes.
Es sieht so aus, als könne die Agrarlobby nun wieder ungestört im Lande schalten und walten. Einige Agrarunternehmer_innen begrüßten bereits gegenüber der uruguayischen Zeitung El Observador die Ankündigung der Regierung Francos, Umweltstandards zu lockern. Künftig soll es wesentlich einfacher werden, Waldgrundstücke in Viehweiden umzuwandeln.
Allerdings könnte der Fall am Ende eine ganz neue Wendung nehmen. Der Widerstand gegen die Agrarlobby mehrt sich – und auch der Parlamentsputsch provozierte zahlreiche Proteste. So einfach wie zu Stroessners Zeiten wird sich nicht gegen die Interessen der armen Bevölkerungsmehrheit regieren lassen. Egal, wer die nächsten Wahlen gewinnt.

„Mit Büchern gegen Gewehrkugeln“

Guillermo Antonio Correa, Sie sind Autor der Studie Mit Büchern gegen Gewehrkugeln, die Sie nun in Europa vorstellen. Was kann ein Buch bewirken anlässlich der anhaltenden Verfolgung von Gewerkschaftern in Kolumbien?
Correa: Uns ging es darum die Geschichte der Opfer am Beispiel einer spezifischen Gewerkschaft von Lehrern in einer bestimmten Region Kolumbiens, in Antioquia, aufzuzeichnen. Zudem hat es uns interessiert, ob sich die Vorgehensweise gegen organisierte Lehrer von der gegen organisierte Arbeiter unterscheidet.

Ist dem so?
Correa: Wir haben festgestellt, dass diese eine Gewerkschaft mehr als 350 Opfer, Lehrer, Professoren, wissenschaftliche Mitarbeiter, zu beklagen hatte in einem Zeitraum von 30 Jahren. Diese Lehrer sind meist die am besten informierten, die lesenden Gesellschaftsmitglieder, die ein hohes Ansehen genießen und ihre Schüler und ihre Studenten informiert und verteidigt haben. Das war oft schon der zentrale Grund für ihre Ermordung durch die Paramilitärs oder die Guerilla und diese gingen genauso vor wie bei der Verfolgung von Gewerkschaftern anderer Sektoren.

Ziel des Buches war es Strukturen aufzudecken?
Correa: Ja, wir wollen die Strukturen hinter den Morden und die Geschichte der Opfer aufdecken.

Hat sich daran etwas geändert? Die Zahl der Morde an Gewerkschafter_innen ist in Kolumbien gesunken, auch der Anteil der Lehrer_innen an den Ermordeten?
Correa: In diesem Jahr hat es bisher acht Morde an Gewerkschaftern gegeben und alle sind hochrangige Gewerkschaftsfunktionäre und das Gros stammt aus dem Verwaltungsdistrikt Valle de Cauca, anders als vorher als wir viele Morde in Santander und in Antioquia zu verzeichnen hatten.

Warum ist der Verwaltungsdistrikt so riskant?
Morantes: Wir als CTC (Gewerkschaftsdachverband, Amn. d. Red) sind in der Region sehr aktiv und viele der Opfer gehören unseren Gewerkschaften an – wie der SintraXamundi. Das ist eine neue Organisation, die Arbeiter im öffentlichen Sektor vertritt und im Fokus der Verfolgung steht, obwohl der oberste Dienstherr letztlich der Bürgermeister der Stadt Jamundí ist. Er weigert sich Verhandlungen mit der Gewerkschaft, die erst im Januar gegründet wurde, aufzunehmen. Ein Grund ist sicherlich die Korruption im öffentlichen Sektor, die ja wiederholt Schlagzeilen gemacht hat, aber auch die diversen Skandale der Regierung von Álvaro Uribe Vélez, die nun ans Tageslicht kommen. Eine unserer Direktoren musste in diesem Kontext nach Panama gehen, weil sie abgehört und bedroht wurde im Kontext des Geheimdienstskandals. Da hat der DAS, der mittlerweile aufgelöste Geheimdienst, im Auftrag des Präsidentenpalastes Richter, Politiker, Gewerkschafter und Journalisten, insgesamt mehr als einhundert Menschen des öffentlichen Lebens, abgehört und überwacht.

In Deutschland kommt dazu wenig an, da wird registriert, dass die Zahl der ermordeten Gewerkschafter sinkt und das wird als positive Entwicklung wahrgenommen. Ist es so einfach?
Morantes: Nein, denn es gibt nicht mehr Sicherheit. Zum Beispiel gab es früher 5000 gepanzerte Wagen für gefährdete Personen, heute sind es 3000.

Wie reagiert denn die Regierung auf die Situation im Valle de Cauca und in Jamundí?
Morantes: Wir haben mit dem Vizepräsident gesprochen, der hat einen Brief auf den Weg gebracht und die lokalen Verantwortlichen gebeten sich zu kümmern.
Correa: Generell kann es sein, dass sich oben etwas tut und neue Positionen vertreten werden, aber in der Verwaltung gibt es viele Leute, die alles andere als gewerkschaftsfreundlich eingestellt sind und dann kann es vorkommen, dass eine Anweisung von oben kommt, die verschleppt wird. Die Form kann sich durchaus ändern und das hat sie auch, aber unter dem Strich ist dabei nicht viel herausgekommen.

Gibt es denn den politischen Willen die Gewerkschaften zu schützen?
Morantes: Nein, den gibt es nicht und das beweist folgende Tatsache. Bei jeder neu gegründeten Gewerkschaft in Kolumbien werden am nächsten Tag die Leute entlassen, auch im öffentlichen Sektor und obwohl die Gesetze das verbieten. Sie werden schlicht nicht respektiert, obwohl es geltendes Recht ist.
So versucht man in Kolumbien die Organisationsstrukturen von vornherein zu unterbinden und die Zahlen der organisierten Arbeiter klein zu halten und zu reduzieren. Früher war die Strategie Leben auszulöschen, heute löscht man Organisationen aus, versucht die organisatorischen Grundlagen der Gewerkschaftsarbeit zu treffen.

Ist das ein Strategiewechsel?
Morantes: Genau, das ist neu, viel schwieriger zu beweisen und zu bekämpfen. Es ist richtig, dass die Gewalt abgenommen hat, aber sie ist nicht verschwunden. Sie ist nur weniger sichtbar.
Correa: Das hat auch einiges mit den Forderungen der USA zu tun, die verlangt haben, dass Kolumbien sicherer für Gewerkschafter werden muss. Deshalb wurde das Freihandelsabkommen auf Eis gelegt und da musste sich die Regierung bewegen und Änderungen einleiten. So wurde zum Beispiel eine Form von Subunternehmen, die Cooperativas de Trabajo Social, die keinerlei gewerkschaftliche Organisation dulden, verboten. Doch daraufhin wurden die Sociedades anónimas simplificadas gegründet – das gleiche Modell unter anderem Namen.

Also ein Etikettenschwindel… Hat sich denn gar nichts geändert, nach dem Druck der USA, den internationalen Debatten und den zahlreichen Artikeln?
Correa: Doch, es gibt schüchterne Reformen. Es gibt ein neues Gesetz zum Schutz der Gewerkschafter, welches in der Praxis aber nicht anwendbar ist und der Geheimdienst wurde wegen seiner Verwicklungen mit den Paramilitärs aufgelöst. Doch die Leute, die dort arbeiteten musste man weiterbeschäftigen und sie untersuchen nun die Verbrechen gegen die Gewerkschaften. Aber noch einmal: Es gibt Änderungen, aber es ist noch nicht absehbar, ob sie zum Erfolg führen, denn für den Gewerkschafter in Kolumbien sind sie nicht spürbar. Sie ändern bisher nichts an deren Realität.
Morantes: Es fehlt am politischen Willen dahinter und nun hat die US-Regierung schließlich das Freihandelsabkommen unterzeichnet.

Die Unterzeichnung mit der Europäischen Union steht noch aus. Wie denken Sie darüber?
Morantes: Das Abkommen wird uns weitere Armut bringen, denn wir sind darauf gar nicht vorbereitet. Die ohnehin schon weit auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich wird noch weiter auseinandergehen, denn unsere Regierung ist eine neoliberale. Das belegt auch der Gini-Koeffizient, der den Grad der Ungleichheit misst. Der ist gravierend in Kolumbien und die kleinen Unternehmen sind genauso dabei zu verschwinden wie die kleinen Bauern. Folgerichtig wird die Arbeitslosenquote steigen.

Was versprechen Sie sich von dem Besuch in Deutschland?
Morantes: Wir möchten aufklären, werben um Solidarität und hoffen auf öffentlichen Druck bevor der Freihandelsvertrag unterzeichnet wird. Auch wenn es letztlich schon zu spät ist.

Wie viele Mitglieder hat denn der CTC?
Morantes: Die FENASER, die Gewerkschaft der öffentlich Beschäftigten hat etwa 10.000 Mitglieder, der CTC vielleicht 50.000 und die Tendenz ist sinkend. Insgesamt gibt es in Kolumbien drei Gewerkschaftszentralen mit rund 500.000 Mitgliedern und die drei Dachverbände arbeiten zum Beispiel im öffentlichen Sektor zusammen. Generell ist es sehr schwierig in Kolumbien als Gewerkschaft zu wachsen, die hohe Arbeitslosigkeit und die geschilderten Bedingungen machen das fast unmöglich.

Gibt es faire Unternehmen wie den Zement-hersteller Argos, die anders mit ihren Arbeiter_innen umgehen, fair und dialogbereit?
Morantes: Ja, die gibt es. Meist sind es kleinere Unternehmen wie Colombina. Oder derzeit versucht die Supermarktkette Carrefour eine Gewerkschaft in dem Unternehmen zuzulassen und geht neue Wege. Aber ein deutsches Unternehmen fällt mir in diesem Kontext leider nicht ein.

Wie beurteilen Sie die Perspektiven der Gewerkschaften?
Correa: Die Geschichte der Gewerkschaften ist eine Geschichte des Widerstands und ich bin ein optimistischer Mensch. Ich hoffe, dass die Kolumbianer und die Kolumbianerinnen irgendwann die Nase von so viel Konservatismus, von so viel rechtem Gedankengut voll haben und sich neu orientieren – zumindest etwas demokratischer. Ich hoffe, dass unsere Zukunft dann anders aussieht.

Kasten:

Guillermo Antonio Correa ist stellvertretender Direktor der Nationalen Gewerkschaftsschule ENS in Medellín und Direktor der Forschungsgruppe zur Welt der Arbeit in Kolumbien, Miguel Enrique Morantes Sabogal ist Buchhalter und Direktor für Kommunikation im Vorstand des Gewerkschaftsdachverbandes CTC. Die beiden sind derzeit gemeinsam in Europa unterwegs, um auf die anhaltend schwierige Situation von Gewerkschaftern in Kolumbien aufmerksam zu machen.

„FMLN, keine falschen Versprechen mehr“

Wie schätzen Sie die gegenwärtige Situation der Linken in El Salvador und ihre Beziehung zu den sozialen Bewegungen ein?
Ich glaube, dass die Linke in El Salvador – die unterschiedlich ist, sodass wir besser von „den Linken“, den linken Strömungen sprechen sollten – die Krise der Zivilisation, in der wir alle leben, nicht richtig versteht. Ich denke, wir haben nicht nur eine globale und strukturelle Krise des kapitalistischen Systems oder des neoliberalen Modells, sondern eine zivilisatorische Krise, in der das gesamte Modell unseres Lebens bedroht ist. Als Linker sehe ich diese Realität unter dem Blickwinkel einer politischen Ökologie. In diesem Sinne müssen wir, wenn wir das klassische marxistische Instrumentarium anwenden, in die traditionelle Klassenanalyse die Kämpfe integrieren, die feministische Genoss_innen führen. Außerdem die Kämpfe für Umwelt und Ökologie und die für die Anerkennung der indigenen Völker, die in den Mittelpunkt das Paradigma eines „guten Lebens“ stellen. Ich denke also, dass all diese Elemente von den salvadorianischen Linken noch bearbeitet werden müssen.

Welche Faktoren hindern die salvadorianischen Linken daran, eine adäquate Interpretation des aktuellen Zusammenhangs vorzunehmen?
Die salvadorianische Linke durchlebte einen starken, einheitlichen Prozess in den schlimmsten Zeiten der Repression, die zum revolutionären Volkskrieg führte und in das Friedensabkommen von 1992 mündete. Ich denke, dass wir, die wir die unterschiedlichen Linken bilden, nicht verstehen, dass mit dem Ende des Krieges die fortschrittliche revolutionäre Bewegung eine strategische Niederlage erlitt.
Ich sehe das so: Die Linke ging gut aus dem Friedensabkommen hervor, doch den rechten Kräften, sowohl denjenigen, die von den USA unterstützt wurden als auch der Finanzoligarchie, gelang es, der revolutionären Bewegung eine strategische Niederlage zuzufügen, indem sie mit der Einführung des Neoliberalismus einen totalen gesellschaftlichen Wandel herbeiführten.
Der Neoliberalismus in El Salvador ist eine Art Revolution von oben, und ich glaube, die Auswirkung dieser Konterrevolution durch die rücksichtslose Durchsetzung dieses Modells während der drei ersten Regierungen der Republikanisch Nationalistischen Allianz (ARENA) hat die salvadorianische Linke in ernste Schwierigkeiten gebracht.

Heißt das, die Rechte zwang dem Feld der sozialen Kämpfe nach dem Krieg ihre Bedingungen auf?
Ja, denn wir haben die Auswirkungen der Einführung des Neoliberalismus nicht in ihrer ganzen Dimension begriffen. Der Neoliberalismus ist ja nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein soziales, politisches und sogar kulturelles Projekt. Er hat Gegenreformen durchgesetzt, die nur noch schwer rückgängig zu machen sind. Mit der Demontage des Staats und der Politik arbeitsrechtlicher Flexibilisierungen nach dem Krieg ist der gewerkschaftliche Kampf geschwächt und die Situation der Arbeiter_innen stark verschlechtert worden. Unter dem Neoliberalismus müssen die Menschen, die einen geregelten Arbeitsplatz haben, aufpassen, dass sie ihn nicht verlieren. Sie dürfen nicht protestieren, denn die Alternative ist für sie informelle Arbeit. Doch hat diese Konterrevolution nicht nur die Linke als soziale Bewegung in Mitleidenschaft gezogen, sondern auch die Linke als Partei, denn man kann kaum die Absetzbewegung der vielen Intellektuellen erklären, die während der Jahre des Krieges bei der Linken waren und jetzt ganz problemlos mit der Führung der Privatwirtschaft zusammenarbeiten.

Die Linke war also auf diese Konterrevolution, so, wie sie sich konkret zeigte, nicht vorbereitet?
Mir scheint, dass die Linke nicht nur militärisch die Waffen niederlegte, sondern auch politisch und ideologisch. Es ist zum Beispiel kein Zufall, dass die wichtigsten Kader der FMLN Fortbildungen im unternehmerischen Ausbildungsinstitut INCAE erhielten. INCAE gilt als eine Kaderschmiede der Privatwirtschaft. Ich glaube, wir haben dieses Phänomen ideologischer Abwanderung unter dem Einfluss des Neoliberalismus, der sich als „Alternative ohne Alternative“ präsentiert, nicht ausreichend untersucht. Es ist auch kein Zufall, dass die Privatisierungen und der Prozess der Verkleinerung des Staates ohne größeren Widerstand aus der Bevölkerung von statten gegangen ist, es ergab sich nämlich ein Zusammentreffen politischer, sozialer, kultureller und stimmungsbezogener Faktoren. Meine These ist, dass die rechten Kräfte nach dem Krieg erreichten, was sie während des Krieges nicht erreicht hatten, nämlich die Niederlage der sozialrevolutionären Bewegung.

Waren sich denn die sozialen Bewegungen, die die Kandidatur von Mauricio Funes unterstützten, darüber im Klaren, auf welcher Basis sie dies taten, und wie ist die Situation heute, drei Jahre nach dieser Kampagne?
2009 wurde vieles richtig und vieles falsch gemacht. Wir als Umweltaktivisten mit einer Philosophie, die stärker auf einer politischen Ökologie aufbaut, unterstützten die FMLN und ihren Kandidaten mit dem klaren politischen Ziel, die Herrschaft der Rechten zu beenden, die die Möglichkeiten, eine andere Gesellschaft aufzubauen, blockierte.
Allerdings herrschte bei diesem politischen Kampf, der in die Wahlauseinandersetzung mündete, keine Klarheit über Programm und Verpflichtungen, sodass schließlich auf einer linken Plattform eine Regierung gewählt wurde, die die Politik der Rechten fortführte. Diese Regierung ähnelt der vorigen ARENA-Regierung von Tony Saca mehr als wir je für möglich gehalten hätten, einiges macht sie besser, anderes aber viel schlechter als Tony Saca. So ist die Regierung von Mauricio Funes, was die Haushaltspolitik angeht, nicht besser als die Saca-Regierung. Und man muss sagen, dass Funes im Bezug auf die öffentliche Sicherheit schlechter abschneidet als Saca; so hat er nicht nur die Polizei militarisiert, sondern auch offen sein Scheitern gezeigt, denn die Sicherheit der Bürger hängt inzwischen nicht mehr vom Handeln der Polizei ab, sondern vom Abkommen, das mit den zwei gefährlichsten Straßenbanden von El Salvador geschlossen wurde.

Während der früheren ARENA-Regierungen gingen die sozialen Bewegungen wegen unerfüllter Forderungen auf die Straße und hofften dabei auf die Unterstützung eines politischen Instruments namens FMLN. Jetzt, wo diese an der Regierung ist, besteht das Dilemma, dass die Forderungen der Bewegungen, die diese Regierung an die Macht gebracht haben, nicht erfüllt werden.
Die soziale Bewegung ist ja nicht einheitlich, monolithisch. Zwar gibt es da Bewegungen, die wie Anhängsel der Partei funktionieren. Doch entsteht gleichzeitig auch eine soziale Bewegung mit größerer Autonomie: die feministische Bewegung; die Umweltbewegung, mit all ihren Schwächen; die Verteidiger der Menschenrechte und diejenigen, die im Interesse der Opfer des bewaffneten Konflikts arbeiten haben alle große Autonomie gegenüber der FMLN.
Es kam ja auch dazu, dass viele Personen, die in Opposition zu ARENA standen, von der neuen Regierung eingestellt wurden und jetzt als Angestellte des öffentlichen Dienstes die Position des Präsidenten vertreten oder zumindest respektieren müssen. Das war der Fall im Bezug auf die sozialen Bewegungen, die von der FMLN abhängen, also bei den autonomen Bewegungen. Außerdem gibt es Führer der Campesino-Bewegung und Führer der Gemeindebewegung, die in der Regierung sind und Mitarbeiter nationaler und internationaler Nicht-Regierungsorganisationen.

Hattet ihr erwartet, dass die FMLN versuchen würde, die autonomen sozialen Bewegungen zum Schweigen zu bringen, wie das in jüngster Zeit passiert ist, indem sie als rechte Initiativen bezeichnet wurden?
Mir kommt es wie ein Science-Fiction-Film vor, dass ARENA und ihr angeschlossene Organisationen wie der Unternehmerverband ANEP, die Stiftung für wirtschaftliche und soziale Entwicklung FUSADES und die Handelskammer in diesem Land vom Kampf gegen die Korruption, der Verteidigung der Demokratie und Gewaltenteilung sprechen. Das zeigt, dass die Rechte bankrott ist, dass ihre Ideologen gescheitert sind und dass das neoliberale Modell überall auf der Welt Leck geschlagen ist.
Weil die Rechte keine eigenen politischen Inhalte besitzt, versucht sie in dieser Situation, Felder und Themen zu besetzen, die vorher nur der Linken gehörten. Das Schlimme ist, dass diese oligarchischen und korrupten rechten Sektoren heute links von der FMLN und bestimmten sozialen Bewegungen auftauchen. Das ist dramatisch für die Rechte und für uns selbst, weshalb sich auch die FMLN darum kümmern muss und nicht nur darum, ob die Magistratswahlen im April oder im Juli abgehalten werden. Dies zeigt, dass wir, die inner- und außerparteiliche Linke, nicht die Wirklichkeit analysieren, in der wir leben. Dass Sektoren der Linken die FMLN angreifen und umgekehrt, ist das Schlimmste, was uns passieren kann, denn dieses Land ist nah an dem, was Rosa Luxemburg auf die Tagesordnung gesetzt hat: „Sozialismus oder Barbarei“.

Und was ist dann die Herausforderung, der sich die Linke in den nächsten Präsidentschaftswahlen stellen muss?
Diejenigen, die wir der Linken angehören, sowohl der nicht-parteilich organisierten wie die der FMLN und anderen parteipolitischer Initiativen wie die, an deren Spitze Dagoberto Gutiérrez steht, dürfen den Graben nicht weiter vertiefen, der zwischen uns besteht. Sie müssen vielmehrdamit beginnen, die politische und soziale Kraft aufzubauen, die bei den Wahlen 2014 nicht nur in der Lage ist, die Rechte zu schlagen, sondern mit einem linken Konzept ein linkes Programm durchzusetzen. Die FMLN darf nicht hinter berühmten Leuten her sein, damit sie als Kandidaten antreten, es stellt eine Schwäche dar, wenn die FMLN nicht auf ihre eigene Stärke vertraut.
Wir müssen eine vereinigte linke Front bilden, nicht gegen die FMLN, sondern mit ihr, um so dem Land die Hoffnung im Bezug auf die Glaubwürdigkeit der Linken zurück zu geben. Was die Linke in Europa und Südamerika mit neuem Leben füllt, ist, dass sie sich als unterschiedlich anerkennt und in gemeinsamen Punkten Übereinstimmung sucht.

Leicht gekürztes Interview der Internetzeitung Contrapunto, El Salvador.

Kasten:

Ángel María Ibarra Turcios ist Mitbegründer der FMLN und war bis zum Jahr 1994 Mitglied der nach dem Bürgerkrieg zur Partei gewandelten Ex-Guerilla. Heute ist er Professor für Umweltpolitik, Umweltaktivist und Direktor der ökologischen Dachorganisation „Unidad Ecológica Salvadoreña (UNES)“.

Späte Gerechtigkeit?

Am Mittwoch, dem 23. Mai, demonstrieren vor dem Obersten Gerichtshof Guatemalas rund 300 Angehörige der indigenen Bevölkerungsmehrheit des kleinen, zentralamerikanischen Landes. Sie fordern Gerechtigkeit für die Gräueltaten, die während der Militärdiktatur von Soldaten und Milizen an Maya-Gemeinden begangen wurden. Auch Juana Sánchez Tom aus der kleinen Gemeinde San Juan Cotzál in der Hochlandprovinz Quiché ist heute hier. Sie schildert den Angriff des Militärs auf ihr Dorf vor fast genau dreißig Jahren: „Am 19. April 1982 sind Soldaten in unser Dorf eingefallen. Sie haben mich in die Kirche verschleppt und mich und viele Frauen mehr dort vergewaltigt.“ Viele Dorfbewohner_innen, Familienangehörige wie Nachbar_innen, seien an diesem Tag massakriert oder verschleppt worden. Die Soldaten hätten die gesamte Ernte und viele Häuser niedergebrannt. Juana muss auch nach dreißig Jahren noch mit den Tränen ringen: „Warum haben sie das getan? Wir hatten keine Waffen, wir waren arm, wie hatten gar nichts. Wir sind doch nur einfache Bauern.“
Anfang der 1980er Jahre überzogen die Militärs das Land mit einer Politik der verbrannten Erde. Die Armee löschte ganze Maya-Dörfer im Hochland Guatemalas aus, weil sie die Indigenen verdächtigten, die Guerilla zu unterstützen. Anhand von Juana Sánchez‘ Dorf San Juan Cotzál, zwei Nachbargemeinden im sogenannten Ixil-Dreieck im Departamento Quiché, sowie an einem weiteren Massaker in der Gemeinde Dos Erres, im nördlichen Departamento Petén, versucht die Staatsanwaltschaft, dem ehemaligen Staatschef Ríos Montt den Tatbestand des Völkermordes nachzuweisen.
Bereits Ende Januar hatte die Richterin Carol Patricia Flores die Eröffnung eines Strafverfahrens wegen der Massaker in Quiché angeordnet und den Ex-General unter Hausarrest gestellt. Auch für das Massaker in Dos Erres sieht sich Ríos Montt nun mit einer Strafverfolgung konfrontiert, eine Untersuchungshaft bleibt ihm aber gegen Zahlung von weiteren 50.000 Euro Kaution erspart.
Francisco Soto vom Menschenrechtszentrum CALDH, das die Hinterbliebenen als Nebenkläger vertritt, fasst die Begründung der Anklage zusammen. Ríos Montt habe als Präsident der Republik und oberster Armeechef die Verantwortung für die sogenannte „Aufstandsbekämpfungspolitik“ gehabt. Dokumente und Aussagen von ehemaligen Offizieren belegen, dass Ríos Montt über die Truppenbewegungen informiert war und die blutigen Offensiven „Victoria `82“ und „Firmeza `83“ mitentworfen habe. Ríos Montt sei somit einer der Erfinder dieser Politik, in deren Folge all jene Massaker begangen wurden.
Die juristische Aufbereitung des guatemaltekischen Völkermordes hat erst in den letzten Jahren entscheidende Fortschritte gemacht. 2011 sind mit den Generälen López Fuentes und Rodríguez Sánchez zwei hochrangige Vertreter der damaligen Militärjunta verhaftet worden und müssen sich vor Gericht verantworten, mit General Mendoza Garcia ist ein weiterer flüchtig. Fünf Angehörige der Streitkräfte und der Sondereinheit Kaibiles, die für das Massaker in Dos Erres verantwortlich waren, sind in der Vergangenheit zu je 6.000 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Diese astronomische Höhe der Strafe ist symbolisch, da das guatemaltekische Recht verbietet, einen Menschen für länger als 50 Jahre hinter Gitter zu setzen. Efraín Ríos Montt genoss dagegen als Abgeordneter und sogar Kongresspräsident über ein Jahrzehnt lang Immunität. Erst jetzt, nach dem Ende seiner politischen Laufbahn, ist eine Verfolgung des ehemaligen Regierungschefs möglich.
Doch bis zu rechtskräftigen Verurteilungen ist es noch ein weiter Weg. Die Verteidigung der Generäle Ríos Montt, López Fuentes und Rodríguez Sánchez sorgt mit Verfassungsbeschwerden und Befangenheitsanträge immer wieder für Verzögerungen des Prozessauftakts. Nur zwei Richter_innen befassen sich in Guatemala überhaupt mit Anklagen dieser Schwere. Die erste Richterin konnten die Verteidiger_innen bereits ausbooten, der aktuelle Richter, Miguel Ángel Gálvez, ist ebenfalls schon in das Visier der Verteidigung geraten. Bis zur Bestellung eines neuen Richters wäre der Prozessbeginn für unbestimmte Zeit vertagt worden. Doch der Befangenheitsantrag der Verteidigung wurde zurückgewiesen.
Bereits im Januar hatten Menschenrechtsorganisationen und Opfervereinigungen die Verfahrenseröffnung gegen Ríos Montt gefeiert. Nery Rodenas, Direktor des erzbischöflichen Büros für Menschenrechte Guatemalas, lobte damals Richterin Flores für ihre „mutige Entscheidung“, die nun die Möglichkeit eröffne, Befehlsketten und Verantwortlichkeiten für die Verbrechen der Diktatur zu klären. Dies zeige, dass niemand über dem Gesetz stehe. Der Strafrechtler Oswaldo Samayoa vom Institut für Vergleichende Studien in der Kriminalwissenschaft (ICCPG) kritisierte hingegen die Entscheidung der Richterin, Ríos Montt nur unter Hausarrest zu stellen. Für eine Anklage dieser Schwere sehe das guatemaltekische Strafrecht ausschließlich Untersuchungshaft vor, zumal bei Ríos Montt Fluchtgefahr bestehe und er seine politischen Kontakte zur Strafvereitelung nutzen könnte.
Beobachter_innen gehen davon aus, dass die Verteidigung für den nun wahrscheinlichen Fall, dass es zu einem Prozess kommt, versuchen wird, dem Genozidvorwurf zu entgegnen, dass es gar keinen Völkermord in Guatemala gegeben habe. Ríos Montts Anwält_innen räumen zwar ein, dass es während der Militärdiktatur Massaker an Zivilist_innen gegeben hätte, argumentieren aber, dass Anzahl und Schwere dieser Verbrechen in der „Regierungszeit“ ihres Mandanten abgenommen hätten. Zudem wäre die militärisch-politische Linie, in deren Folge die Massaker in Guatemala begangen wurden, bereits im Jahr 1965 ins Leben gerufen worden. Deshalb sei es unzulässig, den Mandanten als Verantwortlichen dieser Doktrin zur Rechenschaft zu ziehen. Auch Ríos Montt selbst versucht seine 16-monatige, blutige Herrschaft in ein für ihn günstigeres Licht zu rücken. Sein Putsch gegen den damaligen Junta-Chef Fernando Romeo Lucas García sei unter anderem mit dem Ziel erfolgt, die Schreckensherrschaft abzumildern und eine Art „Nationbuilding“ in Guatemala zu initiieren – Ríos Montt als erster Friedensgeneral, diese Theorie müssen Opferverbände und Menschenrechtsorganisationen als Verhöhnung empfinden.
Auch die Untersuchungsberichte über den bewaffneten Konflikt in Guatemala sprechen hinsichtlich Ríos Montt eine deutliche Sprache: Der Abschlussbericht der UNO-Kommission für geschichtliche Aufklärung (CEH) aus dem Jahr 1999 weist rund die Hälfte aller Menschenrechtsverbrechen der 36-jährigen Militärdiktatur der Regierungszeit Ríos Montt zu. Gemäß des UNO-Berichtes ist der guatemaltekische Staat durch Armee und Paramilitärs für über 80 Prozent aller während der Diktatur begangenen Verbrechen gegen die Menschheit verantwortlich.
Dennoch ist die Strategie der Verteidigung, im Prozessfall den Völkermordvorwurf an sich auszuhebeln, nicht ohne mächtige Fürsprecher_innen. Guatemalas neuer Präsident, Otto Pérez Molina, erneuerte seine Behauptung, in Guatemala habe es keinen Völkermord gegeben, sondern (nur) einen bewaffneten internen Konflikt. In einem Interview mit dem Internetmedium PlazaPública erklärte Pérez Molina im vergangenen Jahr, dass die seinerzeit im Quiché operierende „Guerilla-Armee der Armen“ Kinder und Frauen bewaffnet habe. Die Massaker im Quiché seien geschehen, „weil da Menschen an Guerilla-Aktionen beteiligt und auf dem Schlachtfeld waren.“ Weil die massakrierten Dörfer somit direkte Kriegsteilnehmer waren, habe es keinen Genozid gegeben.
Diese Einschätzungen stammen noch aus der Zeit des Wahlkampfes. Wie sich der Präsident Otto Pérez Molina im Prozessfalle verhalten wird, ist derzeit noch nicht abzusehen. Immerhin hatte der Staatschef angekündigt, die unter seinem Vorgänger Alvaro Colom eingesetzte und sehr engagierte Oberstaatsanwältin Claudia Paz y Paz im Amt zu belassen. Francisco Soto vom Menschenrechtszentrum erwartet vom Präsidenten Neutralität, wie es die guatemaltekischen Verfassung gebiete: „Der Fall Ríos Montt ist wie jeder andere Strafrechtsfall Sache der Gerichte und wir erwarten, dass der Präsident die Gewaltenteilung und die Justiz in Guatemala respektiert.
Die internationale Gemeinschaft spielt in den Bemühungen, Ríos Montt den Prozess zu machen, ebenfalls eine Rolle. Auch wenn die UNO-Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) keinen Einfluss auf die Ermittlungen und den Prozess hat, so trage die von der Kommission betriebene Stärkung der guatemaltekischen Staatsanwaltschaft und Justiz doch Früchte. Die Schaffung der Position von Sonderrichter_innen, die sich speziell mit Verfahren dieser Schwere beschäftigen, gehe beispielsweise auf die CICIG zurück. Für Ríos Montts Verteidigung hingegen würden vor allem „die internationalen Gemeinschaft und jene, die von der Armut Guatemalas leben würden, ihn (Ríos Montt, Anm. d. Autors) im Gefängnis sehen“ wollen.
Ein Schuldspruch wäre laut Francisco Soto ein wichtiges Signal. Zum einen würde den Opfern späte Gerechtigkeit widerfahren. Zum anderen bedeute eine Verurteilung eine deutliche Stärkung der guatemaltekischen Justiz und einen wichtigen Erfolg gegen die notorische Straflosigkeit in Guatemala. Nur wenn die Justiz in der Lage sei, solche Verbrechen zu verfolgen, könne es eine Garantie geben, dass sich Derartiges niemals wiederhole. Ein Schuldspruch wäre darüber hinaus eine Warnung an die junge Generation von Offizieren, dass sie zur Verantwortung gezogen werden, sollten sie jemals solche Verbrechen begehen. Und nicht zuletzt würde ein Prozess gegen Efraín Ríos Montt eine Botschaft an alle Guatemaltek_innen in hohen Positionen sein, dass sie nicht mehr damit rechnen können, bei von ihnen begangenen oder in Auftrag gegebenen Delikten und Verbrechen in Zukunft straffrei zu bleiben.

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