LUXUSIMMOBILIEN STATT WOHNRAUM FÜR ALLE

In schwerer Montur 5.000 Polizist*innen rückten zur Räumung an – und auch die Besetzer*innen waren vorbereitet (Foto: Pedro Funes)

„Bei Sonnenaufgang hörten wir die ersten Schreie und sahen die blauen Helme am Horizont. Den Besetzer*innen wurde keine Zeit gelassen. Die Bewohner*innen des barrios La Lucha („Der Kampf“) mussten schnell ihre Kinder aufwecken und vor den Schlagstöcken der Polizei fliehen, während sie dabei zusahen, wie ihre prekären Behausungen abgebrannt wurden.“ So beschreibt die Studentin Matilda Guzzetti* den Morgen der Räumung der Landbesetzung in Guernica. Guzzetti war am 29. Oktober als Unterstützerin vor Ort, während Tausende Polizist*innen die besetzte Brache in einem der äußersten Vororte der Hauptstadt Buenos Aires räumten.

In der durch die Pandemie verschärften ökonomischen und sozialen Krise Argentiniens werden Menschen, die für ein Wohnen in Würde kämpfen, zu Protagonist*innen der Verteidigung von Menschenrechten. In diesem Zusammenhang hat die Landbesetzung in Guernica in den vergangenen Monaten große Aufmerksamkeit erregt: Ungefähr 2.500 Familien und Lebensgemeinschaften hatten dort eine etwa 100 Hektar große Brachfläche bezogen und forderten staatliche Lösungsansätze für das ihnen verweigerte Grundrecht auf Wohnraum.

Die Kürzungspolitik und Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen unter der Regierungsperiode Mauricio Macris von 2015 bis 2019 führte zu einer starken Verarmung breiter Bevölkerungsteile. Die Gesundheitskrise hat die Armut noch verstärkt: Der Anteil der Menschen an der Bevölkerung, der unter der offiziellen Armutsgrenze lebt, ist im ersten Halbjahr 2020 auf über 40 Prozent angestiegen (siehe Artikel S. 19).

Zwei Wochen lang kreiste jede Nacht ein Hubschrauber über der Besetzung

Die Besetzung in Guernica war somit auch ein Kampf um das tägliche Überleben. Der Großteil der Besetzer*innen hatte in der Pandemie die Arbeit verloren und konnte die Miete nicht mehr bezahlen. Auf dem besetzten Grundstück gab es kein Wasser, Nachbar*innen aus den umliegenden Stadtteilen stellten Strom zur Verfügung. Die Familien richteten sich in provisorischen Konstruktionen aus Pfählen, Plastiktüten und Planen ein. Dabei unterstützen sich die Bewohner*innen solidarisch, gelernte Maurer unter den Besetzenden halfen beispielsweise alleinerziehenden Nachbarinnen dabei, Wände hochzuziehen.

Die Art und Weise der widerständigen Organisierung und Bezugnahme der Bewohner*innen aufeinander ist bemerkenswert. So versahen sie das Grundstück mit Gräben, um es vor den wiederkehrenden Überschwemmungen durch starken Regen zu schützen. Sie kochten gemeinschaftlich und richteten mit Hilfe einer Gruppe solidarischer Dozierender eine Schule für Kinder ein, um ihnen auch ohne Internetanschluss Zugang zu Bildung gewährleisten zu können. Außerdem improvisierten Ärzt*innen und Medizinstudierende eine gesundheitliche Beratungsstelle auf dem Gelände.

Im Laufe der Besetzung haben verschiedene politische Organisationen zu intervenieren versucht. Einige waren stärker auf Linie der Regierung Alberto Fernández, andere oppositionell wie die trotzkistische Partei Frente de Izqierda y de los Trabajadores (FIT). Der Linken kam in der Verbreitung von Informationen über den Konflikt eine Schlüsselrolle zu, sowohl nach außen über die ebenfalls trotzkistische internationale Publikation La Izquierda Diario, als auch nach innen. Denn viele der Besetzer*innen haben kein Handy und sind auf die mündliche Überlieferung von Neuigkeiten angewiesen. Linke Unterstützer*innen haben außerdem zur demokratischen und horizontalen Selbstorganisierung in Versammlungen und Kommissionen ermuntert. So ist auch die Asamblea Feminista entstanden, in der viele der Frauen und Queers zusammengefunden haben, die mit ihren Kindern auf engem Raum und unter schwierigen Bedingungen in den Hütten lebten. Das Bedürfnis nach solidarischem Zusammenhalt ist gerade angesichts des Gefühls von Vereinzelung groß, von dem viele der zuvor von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen und Queers berichten.

Die gesellschaftliche Mobilisierung ist mit der Räumung nicht vorbei

Auf nationaler Ebene wurde durch die Besetzung die Diskussion um Privateigentum und Bodennutzung wiederbelebt. In Guernica wurden einige Teilgrundstücke von einem Unternehmen offensichtlich mit der Absicht zurückgefordert, auf ihnen Gated Communities für Reiche zu errichten – nachdem sie etwa 60 Jahre lang weitgehend ungenutzt brachlagen. Die Regierung, die auf nationaler Ebene wie auch in der Provinz Buenos Aires seit Dezember 2019 durch das peronistisch dominierte Bündnis Frente de Todos gestellt wird, hatte sich im Wahlkampf als Partei der von der Wirtschaftskrise betroffenen Armen inszeniert. Die Landbesetzung in Guernica warf daher die Frage nach den Prioritäten der Regierung auf: flächendeckende Gewährung festgeschriebener Grundrechte für alle oder die Garantie des Geschäfts mit Luxusimmobilien? Sowohl Teile der argentinischen Rechten, die mit der grundbesitzenden Elite sympathisieren, als auch die nationale und regionale Regierung haben sich im Fall Guernica für letzteres ausgesprochen und Landbesetzungen wie Besitzlose kriminalisiert.

Über den gesamten Zeitraum der Besetzung hatte die Provinzregierung unter Axel Kicillof permanent mit der Räumung des Geländes gedroht. Nur der gemeinsame Einsatz der Bewohner*innen, die bis zuletzt widerständig geblieben sind, verhinderte, dass die Regierung nach der Räumung in einem guten Licht dasteht. Um eine entsprechende Darstellung bemühte sich Kicillof: „Weder Besetzungen noch brutale Räumungen sind die Lösung“, schrieb er auf Twitter und zeigte sich zufrieden mit der Art und Weise, in der die Räumung verlaufen war. Über Verletzungen und den Einsatz von Tränengas schwieg er ebenso wie über das unmittelbare Schicksal der Besetzer*innen. Sergio Berni, Sicherheitsminister der Provinz, hatte gemeinsam mit Vertreter*innen der Justiz einen Zeitraum von 15 Tagen für eine mögliche Räumung angegeben. In jeder Nacht während dieser zwei Wochen schwebte ein Polizeihubschrauber über dem Grundstück, um die Bewohner*innen einzuschüchtern und ihre Kinder um den Schlaf zu bringen. Zusätzlich versuchte die Polizei um jeden Preis zu verhindern, dass Baumaterialien auf das Gelände gerieten, Menschen wurden ohne Begründung festgenommen.

Diese Strategie erwies sich insofern als erfolgreich, als dass viele Bewohner*innen bereits vor der Räumung das Grundstück verließen. Währenddessen war im landesweiten Fernsehen Berni zu sehen, der die Besetzer*innen verständnis­los als Kriminelle bezeichnete. „Hinter den Landbesetzungen steht der Drogenhandel“, wird er beispielsweise auf dem Nachrichtenportal Infobae wörtlich zitiert. Zusätzlich haben die oppositionelle Rechte sowie einige Regierungs­mitglieder diskursiv ein Feindbild der Mittel­schicht belebt. Sinngemäß: „Dein Grundstück könnte das nächste sein, das besetzt wird.“

Die endgültige Antwort der Provinzregierung auf die Besetzung kam am frühen Morgen des 29. Oktober. Unter dem Kommando Bernis betraten 4.000 Polizeibeamte das Gelände. Die 26-jährige Studentin Guzzetti erinnert sich gut an den Morgen der Räumung: „Als wir am Grundstück ankamen, lag eine gewisse Unsicherheit in der Luft. Niemand wusste, ob in derselben Nacht geräumt werden würde oder erst in den folgenden Tagen. Alle waren angespannt und horchten auf jedes leise Geräusch. Dieses Gefühl haben die Bewohner*innen der Brache seit Monaten spüren müssen.“

Doch die Räumung verlief nicht ohne Widerstand, berichtet Guzzetti: „Die Bewohner*innen waren auf jeden Fall vorbereitet: Es gab je eine Barrikade an den Eingängen zu den vier barrios. Gemeinsam mit einigen Dozent*innen und anderen Arbeiter*innen stellten wir Studierende der Universidad de Buenos Aires uns an diese Blockadepunkte. So verbrachten wir die Nacht.“ Am frühen Morgen wurden die verbliebenen Bewohner*innen unter Einsatz von Gummigeschossen, Tränengas und Schlagstöcken von der Fläche gedrängt. Für die meisten bedeutet die Räumung, von nun an wieder ohne ein Dach über dem Kopf dazustehen. „Am stärksten getroffen hat mich der Anblick der Kinder, die bis zum letztmöglichen Moment gespielt haben, ohne das Kommende zu begreifen: dass sie bald wieder auf der Straße schlafen würden“, erzählt Guzzetti.

Die Kriminalisierung der Landbesetzung hat auch nach der Räumung nicht nachgelassen. Für das Abbrennen ihrer Hütten werden in der bürgerlichen Presse wahlweise die Bewohner*innen selbst oder ihre Unterstützer*innen verantwortlich gemacht. Provinzsicherheitsminister Berni behauptete am Tag nach der Räumung auch, letztere hätten während der Auseinandersetzungen mit der Polizei Tränengas eingesetzt. Ein Vorwurf, den zahlreiche Bildaufnahmen inzwischen widerlegen konnten.

Doch die gesellschaftliche Mobilisierung, die in Guernica entstand, ist mit der Räumung der Besetzung nicht beendet, sondern wird an anderen Stellen fortgeführt. Die Schule und der improvisierte Gesundheitsposten wurden im Garten einer solidarischen Nachbarin erneut errichtet. Die geräumten Bewohner*innen haben Versammlungen einberufen, ein Zelt gegenüber dem Gebäude der Gemeindeverwaltung aufgestellt und mehrere Demonstrationen im Stadtzentrum von Buenos Aires organisiert.

Am 21. November nahmen an der Besetzung beteiligte Familien an einer Versammlung des Netzwerks prekarisierter Arbeiter*innen und Erwerbs­losen teil. Hier organisieren sich sonst prekär Beschäftigte, beispielsweise von Essenslieferdiensten oder Callcentern. An jenem Tag überlegten sie, wie den Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen und menschenwürdiger Unterbringung gemeinsam Nachdruck verliehen werden kann. Zusammen wurde entschieden, eine wichtige Brücke, die die südlichen Vororte von Buenos Aires mit dem Zentrum verbindet, zu blockieren.
* Name geändert

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