DIE DRITTE REVOLUTION DER MODERNE

„Die Haitianische Revolution war die dritte Revolution der Moderne.“ Diese spannende These vertritt die haitianische Schriftstellerin Yanik Lahens in Anlehnung an den haitianischen Anthropologen Michel-Rolph Trouillot im Sammelband Haitianische Renaissance – Der lange Kampf um postkoloniale Emanzipation. Eine Revolution, die laut Trouillot mutwillig verschwiegen wurde. Die Amerikanische Revolution (1776-1783) brachte die Rechte des Individuums voran, behielt aber die Sklaverei fürs Erste bei. Die Französische Revolution (1789-1799) brachte zwar die Bürger*innen- und Menschenrechte voran, aber es war auch Frankreich, das die Kolonisierung über weite Teile der Welt mit verbreitet hat. Die einzige Revolution, die für ein Universalrecht eingetreten ist, war die haitianische: Alle polnischen und preußischen Soldaten, die sich mit der indigenen Armee solidarisierten, wurden zu Haitianern erklärt. „Das galt unabhängig von Hautfarbe, Sprache und Kultur. Zu diesem Schritt sind Europa und die Vereinigten Staaten bis heute nicht fähig“, weist Lahens auf diese Leerstelle in der modernen Geschichtsschreibung hin. Das Interview mit Lahens ist eines von vielen Prunkstücken in dem Buch, das facettenreich und eingebettet in den historischen und sozialen Zusammenhang vor allem die Gegenwart Haitis schildert. Ohne diesen Kontext ist das Land, das in den westlichen Medien stereotyp immer wieder als hoffnungsloser Fall und als ärmstes Land der westlichen Hemisphäre abgehandelt wird, heute nicht zu verstehen.

Haiti ist kein hoffnungsloser Fall, im Gegenteil: Für die beiden Herausgeberinnen Katja Maurer und Andrea Pollmeier steht fest, dass jede postkoloniale Ordnung dort ihren Ausgangspunkt nimmt. Und Haiti ist derzeit in Bewegung, auch wenn das von der Weltöffentlichkeit nur hin und wieder bemerkt wird. Dem Buch kommt der Verdienst zu, die jüngsten und seit 2018 anhaltenden politischen Konflikte in Haiti nicht nur als Moment der Krise zu schildern, sondern als Aufbruch und damit kontrafaktisch zu der üblichen Erzählung.

Haitianische Renaissance schildert eindrucksvoll und ohne die haitianischen Eliten freizusprechen, wie Haitis Entwicklung immer wieder Steine in den Weg gelegt wurden. 1825 mussten 150 Millionen Francs als Reperationszahlung an Frankreich gezahlt werden, als Preis dafür, wieder am internationalen Handel teilnehmen zu können. Eine Summe, die damals der dreifachen jährlichen Wirtschaftsleistung Haitis entsprach.

Zu Wort kommt erstmals in deutscher Sprache Ricardo Seitenfus, der ehemalige Repräsentant der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in Haiti. Er schildert im Interview, wie Vertreter der Gläubigerstaaten nach dem Erdbeben 2010 die Präsidentschaftswahlen manipulierten und versuchten, den Präsidenten René Preval zu putschen. Seitenfus konnte das verhindern und war daraufhin einer Hetzjagd ausgesetzt. Beeindruckend ist auch die Abrechnung des haitianischen Filmemachers Raoul Peck mit der Entwicklungshilfe. Ihr System sei in Haiti gescheitert, es müsse dringend ein anderes politisches Angebot ausgearbeitet werden. Yanik Lahens ist sicher: „In Haiti existieren Männer und Frauen, die dazu fähig sind.“ Im Land der dritten Revolution der Moderne.

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