
Die brasilianische Bevölkerung hatte das Bier schon kaltgestellt, in der Hoffnung, dass Bolsonaro jeden Moment verhaftet würde. Er und sieben weitere Angeklagte werden vom Obersten Bundesgericht wegen eines Putschversuchs verhört, der während der Invasion des Platzes der drei Gewalten am 8. Januar 2023 (siehe LN 609) unternommen wurde – eine Woche nach der Amtseinführung von Präsident Lula, der Bolsonaro in einer Stichwahl im Oktober des Vorjahres knapp besiegt hatte.
Sie werden wegen fünf Straftaten angeklagt: bewaffnete kriminelle Vereinigung; schwere Sachbeschädigung durch Gewalt und schwere Bedrohung des Bundesvermögens mit erheblichem Schaden für das Opfer; Beschädigung von denkmalgeschütztem Eigentum; Versuch der gewaltsamen Abschaffung des demokratischen Rechtsstaats und schließlich Staatsstreich. Das Urteil wird auf fünf Tage verteilt, wobei die letzte Sitzung am 12. September stattfindet.
Im Laufe der Ermittlungen wurden gegen Bolsonaro vorsorgliche Maßnahmen verhängt. Wegen Verletzung dieser Maßnahmen wurde er am 4. August unter Hausarrest gestellt. Seine Untersuchungshaft ist bereits ein vorläufiger Sieg für die brasilianische Bevölkerung, die während seiner Amtszeit (2019-2022) unter Angriffen und Hassreden gegen die Schwarze und Indigene Bevölkerung, LGBTQ+, Frauen und andere marginalisierte Gruppen gelitten hat. Eine Regierung, die vor allem während der Pandemie grausam war: nicht nur wegen ihrer Nachlässigkeit, sondern auch wegen der leugnenden politischen Maßnahmen, Kritik an Impfungen und vor allem wegen ihrer Gleichgültigkeit gegenüber mehr als 700.000 Todesfällen durch Covid-19.
2022 verlor Jair Bolsonaro (Liberale Partei) die Wahlen gegen Luiz Inácio Lula da Silva (Arbeiterpartei) in einem hart umkämpften Wahlkampf mit 1,8% Unterschied. Bolsonaro und seine Anhängerinnen reagierten darauf mit der Behauptung, die Wahl sei manipuliert worden.
Am 8. Januar 2023 drangen selbsternannte „Patrioten” in den Platz der drei Gewalten in Brasília ein und verwüsteten ihn. Nach Untersuchungen wurde das Attentat als Putschversuch angesehen, und Bolsonaro wurde als einer der Verdächtigen identifiziert, da er bei der Planung der Angriffe geholfen haben soll.
Lange Liste der Anklagen
Am 30. Juni 2023 erklärte das Oberste Wahlgericht Bolsonaro bis zum 2. Oktober 2030 für nicht wählbar. Der Grund dafür ist ein Treffen mit ausländischen Botschafterinnen im Jahr 2022, bei dem Bolsonaro das Wahlsystem attackierte. Das Treffen wurde als Missbrauch politischer Macht und als missbräuchliche Nutzung der Medien angesehen.
Im November 2024 wurde Bolsonaro schließlich im Rahmen einer Untersuchung wegen des Putschversuchs vom 8. Januar angeklagt. Laut dem Bericht der Bundespolizei soll Bolsonaro „vollständige Kenntnis” von dem Vorhaben gehabt haben und wurde wegen gewaltsamer Abschaffung der demokratischen Rechtsstaatlichkeit, eines Staatsstreichs und der kriminellen Vereinigung angeklagt. Die Ermittlungen ergaben auch, dass der Putschversuch einen Plan zur Ermordung von Präsident Lula, seinem Vizepräsidenten Geraldo Alckmin und dem Minister des Obersten Bundesgerichts, Alexandre de Moraes, beinhaltete.
Monate später, im Februar 2025, wurden Bolsonaro und sieben weitere Mitglieder seiner Regierung auch wegen des versuchten Staatsstreichs und anderer Verbrechen im Zusammenhang mit dem Anschlag angeklagt.
Am 18. Juli verhängte Alexandre de Moraes einige vorsorgliche Maßnahmen gegen Bolsonaro, unter anderem wegen Fluchtgefahr, Behinderung der laufenden Ermittlungen vor dem Obersten Gerichtshof, Angriff auf die nationale Souveränität und internationale Zusammenarbeit gegen den Obersten Gerichtshof. Zu den Maßnahmen gehören das Tragen einer elektronischen Fußfessel, Hausarrest, das Verbot der Nutzung sozialer Netzwerke und das Verbot der Kommunikation mit Diplomatinnen, Botschafterinnen, Angeklagten und Verdächtigen.
Einige Tage nach der Verhängung der Maßnahmen zeigte Bolsonaro der Presse seine elektronische Fußfessel und erklärte, er sei unschuldig und Opfer einer „extremen Demütigung”. Am 3. August, erschien Bolsonaro in den sozialen Netzwerken seiner drei Söhne bei Demonstrationen der extremen Rechten, die die Judikative attackierten.
Laut Moraes habe Bolsonaro durch soziale Netzwerke Botschaften verbreitet, die „eindeutig zu Angriffen auf den Obersten Gerichtshof auffordern und offen die Einmischung des Auslands in die brasilianische Justiz unterstützen”.
So wurde am 4. August Hausarrest für Jair Bolsonaro angeordnet. Nach dem Urteil könnte Bolsonaro laut Juristinnen für die begangenen Verbrechen zu einer Gesamtstrafe von 43 Jahren verurteilt werden, mindestens aber zu 12. Obwohl sich das Urteil gegen Bolsonaro vor allem auf den Putschversuch bezieht, hat es auch eine symbolische Bedeutung als historische Wiedergutmachung für den Schaden, den er in seinen vier Jahren als Präsident angerichtet hat, unter anderem durch die aktive Vernachlässigung des Schutzes der Bevölkerung während der Pandemie. Bolsonaro verspottete die 700.000 Menschen, die an Covid-19 starben, sprach sich aktiv gegen Impfungen aus und verhinderte den Zugang zu diesen.
Politik mit vielen Opfern
Untersuchungen der parlamentarischen Untersuchungskommission zur Pandemie, die zwischen April und Oktober 2021 stattfanden, ergaben, dass die Regierung Bolsonaro mindestens elfmal Angebote zum Kauf von Impfstoffen ablehnte. Nach Berechnungen des Epidemiologen Pedro Hallal hätten mindestens 95.000 Menschenleben gerettet werden können, wenn die Regierung Bolsonaros die Impfstoffangebote nicht ignoriert hätte. Dimas Covas, Direktor des Butantan-Instituts, erklärte im Mai 2021 in einer Anhörung vor dem Untersuchungsausschuss zur Pandemie, dass Brasilien das erste Land der Welt gewesen wäre, das mit der Impfung begonnen hätte, „wenn alle Akteure zusammengearbeitet hätten“. Die Bolsonaro-Regierung hat nicht nur Todesfälle verursacht. Sie hat auch Zerstörung und Hass gefördert: Sie hat die Verwüstung des Amazonasgebiets und die Invasion Indigener Gebiete zu verantworten und homophobe, rassistische und frauenfeindliche Äußerungen normalisiert, die weiterhin von seinen Anhängerinnen verbreitet werden.
Bis zum 12. September bleibt die Hoffnung, dass Gerechtigkeit walten wird und dass ein Land des globalen Südens als Beispiel dafür dienen kann, dass die Demokratie trotz ihrer Mängel keine rechtsextremen Putschist*innen toleriert. Und bis dahin wird Bolsonaro gezwungen sein einen Lockdown einzuhalten, den er vor fünf Jahren im Kontext der Pandemie dämonisierte.



