WER AN DER RENTENREFORM VERDIENT

Auf vielen Plakaten, die Teilnehmer*innen der Proteste Mitte März gegen die Rentenreform bei sich trugen, wurde davor gewarnt, dass die Rentenrefom der Regierung Temer vor allem die Frauen hart treffen werde. Warum?
Sandra Quintela: Zunächst einmal ist das keine „Reform“ der Rente. Es handelt sich vielmehr um ein Projekt, dass öffentliche Mittel privaten Interessen, vor allem der Banken, zuschaufelt. Denn es sind Mittel der Öffentlichen Hand, die zuvor nicht nur die Rentenzahlungen, sondern auch die Sozialprogramme und die Gesundheit von Millionen von Brasilianer*innen garantierten – also das, was den gesamten Bereich der Sozialsysteme umfasst. Ein Angriff auf den ganzen Strukturrahmen, der die ganze Bandbreite an Sozialaufgaben des Staates umfasste – von Mutterschutz über Entgeltfortzahlungen im Krankheitsfall bis hin zu Sozialrenten bei begründet kürzerer Beitragszahlung oder Berufsunfähigkeit.
Wir Frauen werden davon am stärksten betroffen sein, da laut diesem Vorhaben das derzeit noch unterschiedliche Renteneintrittsalter bei Frauen und Männern nivelliert wird. Dies soll in Zukunft einheitlich bei 65 Jahren liegen. Ignoriert wird dabei aber die Ungerechtigkeit bei der Arbeitsteilung der Geschlechter, da den Frauen zusätzlich die Haushaltsarbeit sowie die Kindererziehung und Altenpflege auferlegt wird. Obwohl wir Frauen in Brasilien mit 51 Prozent in der Mehrheit sind, stellen wir nur 42,8 Prozent der offiziell als arbeitstätig Anerkannten dar. 57,2 Prozent belegen die Männer. Der Mangel an Horts und Kindergärten ist dabei einer der Hauptgründe, warum Frauen nicht im gleichen Maße eine Arbeitsstelle suchen können. Und obendrein erhalten Frauen bei gleicher Tätigkeit nur 76 Prozent des Lohnes, den Männer erhalten. In den vergangenen 20 Jahren stieg die Zahl der allein von Frauen geführten Familienhaushalte von 23 auf 40 Prozent. Solange diese Unterschiede nicht aufgehoben werden, wird nun ein einheitliches Renteneinstiegsalter die Missstände noch weiter verschärfen.

Worum geht es bei den geplanten Kürzungen des Rentenaufstockungsprogramms?
Dieses Programm sozialer Renten ist für jene Menschen gedacht, die aufgrund ihres Alters – 65 Jahre oder älter – oder aufgrund von Berufsunfähigkeit ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können. Die Höhe beträgt einen gesetzlichen Mindestlohn. Dazu muss die betroffene Person nachweisen, dass ihr Haushaltseinkommen bei weniger als einem Viertel des Mindestlohns liegt. Laut der nun vorgelegten Verfassungsänderung PEC 287 soll das Mindestalter, ab dem überhaupt dieses Rentenaufstockungsprogramm beantragt werden könnte, auf 70 Jahre angehoben werden. Hinzu kommt, dass diese Sozialleistung gar nichts mit dem Rentenprogramm zu tun hat, denn es ist ein Sozialprogramm. Es ist vollkommen unbegründet, diesen Änderungsvorschlag im Rahmen dieser Renten-Konterreform einzubringen.

Welche Konsequenzen bringen die Änderungen für Arbeitende auf dem Land und für Kleinfischer*innen?
Nach den neuen Regeln der PEC 287 steigt auch für Landarbeiter*innen das Renteneinstiegsalter auf 65 Jahre. Und dies selbst dann nur, sofern sie zuvor mindestens 25 Jahre lang monatlich Beiträge in die Rentenkasse eingezahlt haben. Um aber überhaupt den vollen Rentenbetrag zu erhalten, müsste sie 49 Jahre Beiträge gezahlt haben.
Seit der Verfassung von 1988 ist das Sozialrentensystem das zentrale Mittel sozialer Umverteilung in Brasilien. Die Wirtschaft ganzer Kleinstädte basiert zu einem Großteil auf den Renten der Senior*innen. Mit zunehmender Verarmung auf dem Land, bei verschärfter Dürre wie zum Beispiel im Nordosten des Landes, muss man sich fragen: Wie sollen die Familien diese monatlichen Beitragszahlungen leisten, wenn sie schon heute von Sozialprogrammen wie dem Familienzuschuss Bolsa Família leben müssen?
Dieses Bild lässt sich fortzeichnen bei den Quilombolas, den Nachkommen entflohener Sklaven, und bei den Kleinfischer*innen. Also genau diejenigen traditionellen Bevölkerungsgruppen, die zuvor ohnehin schon unter der Entwicklungswalze der industriellen Großprojekte gelitten haben, die von ihrem Land verdrängt wurden und deren Lebenswelten zerstört wurden.

Warum sind die Militärs sind von den Plänen zur Rentenreform bisher ausgenommen?
Die Militärs werden in einem gesonderten Gesetzesvorhaben abgehandelt, nachdem die einzelnen Bundesstaaten die neuen Berechnungen für die Militärs durchführen sollen – also für die mit 50 Jahren in Rente gehenden männlichen Militärs und für die mit 45 Jahren in Rente gehenden Frauen beim Militär. Dahinter steckt das taktische Interesse der Regierung, einer unpopulären Regierung ohne Rückhalt in der Bevölkerung und die nie in Wahlen legitimiert worden war: Ohne sich taktisch politische Unterstützung bei Gruppen wie den Militär- oder Polizeikräften zu holen, hat diese Regierung keine politische Chance.

Die Befürworter*innen der Rentenreform verweisen auf die Defizite in der Rentenkasse. So habe dieser Wert 1997 bei 0,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukt gelegen, 2017 nun bei 2,7 Prozent. Die Brasilianer*innen lebten länger, mehr Alte bedeuteten mehr Rentner*innen und weniger Beitrags-Zahler*innen durch die alternde Bevölkerung. Die Financial Times frohlockte gar, um „Brasiliens Rentenlast zu reduzieren, hat Präsident Temer nun die Chance, eine Reform durchzusetzen, die Brasiliens Pleite abwendet“. Was entgegnen Sie solcher Argumentation?
Die Zahlen des brasilianischen Finanzministeriums sind klar: die Renten- und Sozialeinnahmen liegen über den Ausgaben. Brasiliens Sozialsystem erwirtschaftet sogar Überschüsse! 2012 lag der bei 82,7 Milliarden Reais, 2013 bei 76,2, 2014 bei 53,8 und 2015 bei 23,9 Milliarden Reais. Die von der Regierung in die Welt gesetzten Zahlen splittet die Konten der Rente und derer des Sozial- und Gesundheitswesens. Dies ist illegal, weil die Berechnung seit der Verfassung von 1988 zusammen erfasst wird. Dieses Splitten der Konten in zwei Bereiche ist ein klarer Versuch, die Banken zu privilegieren. Nicht umsonst stammt die PEC 287 aus der Feder des Finanzministers Henrique Meirelles, der zuvor bei der Bank of Boston gearbeitet hat. Vor kurzem hat eine Richterin der brasilianischen Bundesregierung gerichtlich untersagt, weiterhin Werbebotschaften dieser Form und Inhalts in die Welt zu setzen. Die Richterin sah es als erwiesen an, dass die Bewerbung der Rentenreform durch die Regierung den in der Verfassung Brasiliens festgeschriebenen Vorgaben für Werbemaßnahmen der Regierung widersprach: Sie dienten weder Zwecken der Bildung, noch der Information oder sozialer Orientierung.

Die Regierung Temer argumentiert zudem, die Rentenreform mache nur Sinn, wenn zugleich die große fiskalpolitische Haushaltssperre komme. Dies bei Inflationsraten von derzeit knapp fünf Prozent. Was ist von diesem politisch gesetzten Junktim zu halten?
Die große Haushaltsbremse, die die sogenannte PEC 55 vorgibt, friert die Höhe der Ausgaben für 20 Jahre ein. Eine Ausnahme ist dabei vorgesehen: die Kosten für Zins- und Zinstilgungen des Schuldendiensts. Dessen Ausgaben steigen von 42,43 Prozent 2016 auf 50,66 Prozent 2017. Obendrein hat der Putschpräsident Michel Temer den für Budgetverschiebungen erlaubten Rahmen von 20 auf 30 Prozent erhöht. Diese Erhöhung der Bandbreite um die Hälfte ermöglicht der Regierung, die vom Kongress bewilligten Haushaltslinien um bis zu 30 Prozent umzuschichten. So kann die Regierung von nun an, dem Sozialhaushalt oder dem Bildungshaushalt einfach so je 30 Prozent wegnehmen. So erleichtert das der Regierung, dieses Geld dem Schuldendienst zuzuschlagen. Tag für Tag tritt klarer zutage, dass der im August 2016 orchestrierte Putsch von den Eliten, den Medien und dem Justizsektor durchgezogen wurde, um alle sozialen Errungenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts und der ersten Jahre dieses Jahrhunderts zu schleifen. Mit unabsehbaren Folgen. Das fängt mit der Reform der Rente und des Arbeitsgesetzes an und geht über den Ausverkauf der Landflächen an ausländische Investor*innen und reicht bis hin zur Schleifung der Umweltgesetzgebung. Brasilien wird so den Interessen des internationalen Finanzwesens untergeordnet. Dieser Putsch richtet sich gegen die Klasse der Arbeitenden.

 

PEC DES TODES

Auf einmal bist du Superstar. So erging es der Schülerin Ana Júlia Ribeiro, nachdem Ende Oktober ein Video einer Rede der Schülerin viral ging. Innerhalb weniger Tage klickten hunderttausende Brasilianer*innen den Clip an. Eine Einladung in die Hauptstadt Brasília zu einer öffentlichen Anhörung zum Thema Bildung folgte. Sogar Ex-Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva erklärte, dass ihn das Video „gerührt“ habe und telefonierte mit der 16-Jährigen. In ihrer emotionalen Rede verteidigte Ribeiro die Schulbesetzungen, die momentan in ganz Brasilien für leere Klassenzimmer sorgen. Mehr als 1.000 Schulen werden derzeit besetzt gehalten. Die Besetzungen richten sich nicht nur gegen den Bildungsnotstand, sondern auch die Verfassungsreform PEC 241, von der erhebliche Kürzungen der Sozialausgaben erwartet werden. Ribeiro nannte die Reform einen „Affront“.
Am 25. Oktober votierte die Abgeordnetenkammer in einer zweiten Lesung mit großer Mehrheit für die umstrittene Verfassungsänderung. Damit hat Präsident Michel Temer die erste Hürde für einen von langer Hand geplanten Richtungswechsel genommen.
Nachdem der Senat Ende August Dilma Rousseff von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei PT in einem juristisch fragwürdigen Amtsenthebungsverfahren endgültig abgesetzt hatte, übernahm Temer als Vizepräsident die Führung des größten Staates Lateinamerikas. Mit der geplanten Verfassungsänderung holt er nun zum nächsten großen Schlag aus. Die PEC 241 sieht vor, die Bundesausgaben in den nächsten 20 Jahren zu beschränken. Das Budget des Vorjahres soll von nun an die Grundlage der öffentlichen Ausgaben sein, diese sollen nur noch in Höhe der Inflationsrate steigen. Bislang ist in der Bundesverfassung zudem ein bestimmter Prozentsatz für Sozialausgaben reserviert, der nun wegfallen soll.
Die Initiative stammt maßgeblich von Temer und Finanzminister Henrique Meirelles. Bereits im vergangenen Jahr hatte Temers Mitte-rechts-Partei PMDB mit dem Programm „Eine Brücke in die Zukunft“ einen Entwurf der neuen Politik vorgelegt. Darin kündigte sie an, auch Sozialprogramme zu kürzen und Partnerschaften mit dem privaten Sektor, vor allem aus dem Ausland, anzustreben. Das neue Programm hat nun Vorrang. So erklärte Temer Ende September während eines Vortrags in New York unverhohlen, dass seine Partei die Absetzung Rousseffs eingeleitet hatte, weil die PT nicht bereit war, dieses mitzutragen. Damit konterkariert er die offizielle Version, dass Rousseff ihren Posten räumen musste, weil sie sich des Amtsmissbrauchs schuldig gemacht habe.
Die geplante Haushaltsdeckelung begründet die Regierung mit der angespannten wirtschaftlichen Lage. Die Sparpolitik werde helfen, den gigantischen Schuldenberg zu verringern und das krisengebeutelte Land so zu stabilisieren. Nur durch solche „Strukturreformen“ könne Brasilien wieder wachsen und wettbewerbsfähig werden, heißt es aus Regierungskreisen. „Es gibt keine Möglichkeit, uns wirtschaftlich zu entwickeln, wenn wir viel mehr ausgeben, als die Gesellschaft bezahlen kann“, sagte der Finanzminister und frühere Zentralbankpräsident Meirelles.

PEC tötet!
Proteste gegen die Verfassungsreform PEC 241 (Foto: Christoph Hedtke)

Soziale Bewegungen und die linke Opposition befürchten nun erhebliche Einschnitte. „Die Verfassungsreform friert die Sozialausgaben ein. Das wird das Leben von vielen Menschen beeinflussen“, sagte Augusto Malaman von der linken Jugendorganisation RUA den Lateinamerika Nachrichten. „Sie wird eine drastische Veränderung der Lebensqualität zur Folge haben. Wir steuern auf traurige Jahre zu.“ Insbesondere in die sanierungsbedürftige Gesundheits- und Bildungsversorgung würde kein zusätzlicher Centavo investiert.
Sozialprogrammen könnten dramatische Kürzungen bevorstehen und auch der Mindestlohn soll nur noch in Höhe der Inflation steigen. Somit dürfte die „Haushaltskonsolidierung“ vor allem die ärmsten Brasilianer*innen treffen, deren Lage sich unter den PT-Regierungen verbessert hatte. Guilherme Boulos, der Sprecher der Wohnungslosenbewegung MTST, verurteilte die Reform in seiner Kolumne in der Tageszeitung Folha de São Paulo scharf: „Die PEC 241 ist der schwerste Angriff auf das brasilianische Volk seit der Militärdiktatur.“ Es handele sich um „eine Ode an die soziale Ungleichheit“.
Soziale Bewegungen haben Widerstand gegen die Austeritätspolitik angekündigt. Am 11. November soll ein landesweiter Generalstreik stattfinden. Immer mehr Schulen schließen aus Protest gegen die „PEC des Todes“ genannte Reform ihre Tore. Einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Vox Populi zufolge lehnen 70 Prozent der Brasilianer*innen die Verfassungsänderung ab. Trotzdem hat die Regierung gute Chancen, die PEC 241, über die nun noch zweimal im Senat abgestimmt werden muss, durchzubringen. Temers PMDB, die bis Anfang des Jahres noch mit der PT koalierte, hat es geschafft, eine wirtschaftsliberale Allianz im Parlament zu schmieden. Das Bündnis mit der bisherigen Oppositionspartei PSDB verschafft ihr Mehrheiten im Kongress. Wohl lediglich der Oberste Gerichtshof könnte das Vorhaben der Regierung noch vereiteln, mehrere Abgeordnete linker Parteien haben Klagen gegen die PEC 241 eingereicht. Derweil hat die Regierung eine Kampagne für die Verabschiedung der Verfassungsreform begonnen. „Wenn du gegen die PEC bist, bist du gegen Brasilien“, heißt es in Anzeigen vieler großer Zeitungen.
Die PEC 241 stellt sich für Temer als eine erste Machtprobe dar. Gelingt es ihm, die umstrittene Verfassungsänderung durchzusetzen, könnten andere unpopuläre Reformen wie eine Anhebung des Rentenalters oder eine Flexibilisierung des Arbeitsrechts folgen. Anfang Oktober stimmte in diesem Sinne der Kongress dafür, die Regularien für die Ausbeutung des pré-sal, der riesigen Öl- und Gasvorkommen vor der Küste Brasiliens, zu ändern. Die vorgeschriebene Beteiligung des halbstaatlichen Erdölkonzerns Petrobras wurde außer Kraft gesetzt, ausländischen Unternehmen wird freie Hand gelassen. Kritiker*innen werfen der Regierung einen Ausverkauf des Erdöls vor. Zudem kündigte die Regierung eine Privatisierungswelle an.
Für Temer, der eine Kandidatur für die Wahlen 2018 ausschließt, haben diese neoliberalen Reformen Priorität, auch wenn dabei seine Popularität auf der Strecke bleibt. Einer Studie der Meinungsforschungsinstitute CNI und Ibope zufolge hat Temer Zustimmungswerte von gerade einmal 14 Prozent. Damit ist der Hobbypoet aus São Paulo fast so unbeliebt wie seine Vorgängerin Dilma Rousseff. Allerdings hat Temer bereits einen Etappensieg errungen. So ist es der alten Elite geglückt, ohne Wahlen an die Macht zurückzukehren. Brasilien steuert in vergangene Zeiten zurück.

Newsletter abonnieren