// Wertekanon als Feigenblatt

„Demokratie und Freiheit gibt es nur, wenn das Militär dies wünscht”, sagte der ultrarechte Präsident Brasiliens Jair Bolsonaro Anfang März. Wenige Wochen später veröffentlichte der deutsche Außenminister Heiko Maas bei seiner Lateinamerika-Reise eine gemeinsame Erklärung mit seinem brasilianische Amtskollegen, in der es heißt: „Die Beziehungen zwischen Brasilien und Deutschland sind solide und eng und stützen sich auf gemeinsame Grundsätze und Werte.“ Bei einem Treffen mit der brasilianischen Zivilgesellschaft gab er zu, dass es dort „gefährliche Rückschritte“ gäbe. Doch vor seinem brasilianischen Kollegen kann er dies nicht äußern, will er doch anschließend andere Themen platzieren.
Gemeinsame Werte werden oft dann zum Thema gemacht, wenn es eigentlich um etwas anderes gehen soll. Sie erfüllen diplomatisch die einleitende Funktion, Gemeinsamkeiten zu betonen, bevor es um handfeste Interessen geht. So hält es offensichtlich auch Heiko Maas, welcher in diesen Tagen die neue Lateinamerika-Karibik-Initiative (LAK) der deutschen Bundesregierung ausrollt. In seiner Eröffnungsrede zur LAK-Konferenz Ende Mai, zu der mehr als 20 Außenminister*innen aus der Region anreisten, lief dann auch der Wertediskurs auf die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands hinaus. Auf der Suche nach Ursachen dafür, dass der Handel mit der Region gerade einmal 2,6 Prozent des gesamten deutschen Außenhandels ausmacht, werden von Maas fehlende Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit und Korruptionsbekämpfung identifiziert. Die allein würden jedoch nicht erklären, warum deutsche Exporte in die Region so gering ausfallen.

Werte dienen hier nur als Feigenblatt für die nackten Tatsachen kapitalistischer Wachstumsideologie.

China hingegen schafft es unter diesen Bedingungen in Lateinamerika an Einfluss zu gewinnen – ganz ohne Wertediskurs. Die wachsenden chinesischen Investitionen sehen zwar viele in Europa kritisch, doch stellt sich die Frage: Worin besteht der Unterschied zu den deutschen Absichten? Wichtige Vertreter der deutschen Wirtschaft waren zu der Konferenz in Berlin eingeladen. Siemens-Chef Joe Kaeser fühlte sich sichtlich wohl und erklärte den Anwesenden, dass „Außenpolitik auch Wirtschaftspolitik“ sei. In Richtung der Außenminister*innen erging er sich darin zu sagen: „Wir sind soweit, Sie auch?“
Die von Maas betitelten „Wirtschaftsführer“ sind die letzten, die der Bundesregierung bei einem Wertediskurs assistieren sollten. Bayer und BASF vermarkten in Lateinamerika an Pestizidwirkstoffen, was in der EU längst verboten ist; deutsche Zertifizierer wie TÜV-Süd sind mitverantwortlich für Dammbrüche im Bergbau; deutsche Stahlkocher kaufen unter desaströsen Umweltbedingungen hergestelltes Erz für den Exportmotor Nummer 1: die Autoindustrie; deutsche Turbinenhersteller liefern trotz Menschenrechtsverletzungen an umstrittene Wasserkraftwerke. Es ist eine nicht enden wollende Liste für die mangelnden Sorgfaltspflichten gegenüber Menschenrechten und Umwelt der deutschen Unternehmen, die in der Region tätig sind.
Deutschland ist auf der Suche nach neuen Partnern. Die Beziehung zu den USA ist schwierig und auch in Europa sind polarisierende Tendenzen deutlich zu spüren. China läuft wirtschaftlich in Lateinamerika allen den Rang ab. Die Antwort des Außenministers gegenüber Lateinamerika heißt: Den „Multilateralismus“ und die „wertebasierte Partnerschaft“ stärken. Dass in einigen Staaten der Region ein besorgniserregender politischer Rechtsruck zu beobachten ist, der Menschenrechte und Demokratie gefährdet, stört wenig, wenn es darum geht, verloren gegangenes Terrain zurück zu gewinnen. Denn für die Fortführung von Rohstoffexporten und die Vertiefung neoliberaler Wirtschaftspolitik, welche für die „Versorgungssicherheit“ der Industrieländer so fundamental wichtig sind, stellen diese Regierungen treffliche Partner dar.
Werte wie Demokratie, Menschenrechte und manchmal auch Klima- und Umweltschutz dienen hier nur als Feigenblatt für die nackten Tatsachen kapitalistischer Wachstumsideologie.

NEUE MÖGLICHKEITEN ZUM DIALOG?

Norwegens Regierung vermittelt zwischen den verhärteten Fronten der venezolanischen Regierung und Opposition: Berichten zufolge wurden Gespräche mit Kommunikationsminister Jorge Rodríguez und Héctor Rodríguez, dem Gouverneur des Bundesstaates Miranda, geführt. Beide gehören der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) von Nicolás Maduro an. Von der Opposition reiste der Vizepräsident des Parlaments, Stalin González, mit zwei politischen Beratern nach Oslo. Aus diesen Gesprächen, die jeweils einzeln mit den Vermittler*innen des norwegischen Außenministeriums stattfanden, wurden keine Ergebnisse bekannt. In einer zweiten Sitzung am 29. Mai verhandelten Regierung und Opposition direkt miteinander. Die norwegische Außenministerin Ine Eriksen Søreide betonte, beide Gesprächsparteien hätten ihre Bereitschaft gezeigt, „bei der Suche nach einer gemeinsam vereinbarten und verfassungsmäßigen Lösung für das Land voranzukommen, welche Aspekte der Politik, Wirtschaft und Wahlen einschließt“. Norwegen hat eine lange Tradition als Friedensvermittler: Seit 1990 hat das Land mehr als zwanzig Friedensprozesse begleitet, unter anderem für Guatemala und Kolumbien.
Trotz der Sondierungsgespräche gehen die Konfrontationen in Venezuela weiter. Medienberichten zufolge wurde Edgar Zambrano, Vizepräsident der Nationalversammlung, am 9. Mai vom venezolanischen Geheimdienst (SEBIN) festgenommen, nachdem seine parlamentarische Immunität von der Verfassungsgebenden Versammlung aberkannt worden war. Weitere dreizehn Abgeordnete verloren ihre Immunität. Einige wurden ebenfalls verhaftet, während andere in ausländische Botschaften in Caracas flüchteten. Der Oberste Gerichtshof klagt die Abgeordneten wegen sieben Verbrechen an, darunter Landesverrat, Verschwörung und Anstachelung zum Aufstand für den Putschversuch am 30. April (siehe LN 539).
Auch auf internationaler Ebene gibt es weiterhin Konflikte. Die US-amerikanische Regierung hat Carlos Vecchio als Botschafter des selbsternannten Interimspräsidenten Juan Guaidó anerkannt und stellt sich damit zum wiederholten Male hinter Guaidó. Vecchio übernahm anschließend das venezolanische Generalkonsulat in New York. Als Reaktion darauf ist eine Gruppe von Aktivist*innen des „Kollektivs zum Schutz der Botschaft“ auf Einladung der Maduro-Regierung am 11. April in die venezolanische Botschaft in Washington D.C. eingedrungen, um diese „zu beschützen“.
Die Mitglieder des Kollektivs blieben mehrere Wochen in der Botschaft, während Guaidó-Sympathisant*innen vor dem Gebäude protestierten. Nach dem 30. April verhärteten sich die Fronten. Die örtlichen Behörden unterbrachen die Wasser- und Stromversorgung des Gebäudes und blockierten die Zulieferung von Nahrungsmitteln. Am 14. Mai erwirkte die Polizei einen Räumungsbescheid, doch das Kollektiv weigerte sich weiterhin, die Botschaft zu verlassen.
Schließlich wurde das Gebäude am 16. Mai geräumt und die vier Aktivist*innen, die sich noch vor Ort befanden, wurden verhaftet. Allerdings wurden sie einen Tag später wieder freigelassen, mit der Auflage, am 12. Juni vor Gericht zu erscheinen. Auf einer Pressekonferenz vor dem Botschaftsgebäude verkündete Vecchio: „Heute sind wir in dieses Gebäude gekommen, aber bald werden wir in Miraflores (Anm. d. Red.: Sitz des Präsidenten in Caracas) ankommen.“
Von dort deklarierte Maduro die Übernahme des Generalkonsulats in New York als einen „illegalen Angriff“, der das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen verletze. Zeitgleich lud die Regierung im Zuge der Kampagne #TrumpDesbloqueaVenezuela (Appell für eine Aufhebung der Sanktionen gegen Venezuela, Anm. d. Red.) zu Pressekonferenzen in den europäischen Botschaften ein, auf denen es um die Auswirkungen der wirtschaftlichen Sanktionen auf Venezuela ging.

Die Reaktionen der deutschen Regierung auf die Vorkommnisse in Venezuela bleiben widersprüchlich

Laut Maduro-Regierung sind über fünf Milliarden Dollar des venezolanischen Vermögens auf internationalen Bankkonten eingefroren worden, ein Großteil davon in England. Mehrere hunderte Millionen Dollar befänden sich in der Hand von US-amerikanischen, portugiesischen und belgischen Banken. Laut dem venezolanischen Botschafter in Deutschland, Orlando Maniglia, waren diese Summen ursprünglich dafür vorgesehen, den Bedarf des Landes mit Nahrungsmitteln, Medikamenten und Ähnlichem zu decken.
Maniglia bestätigte außerdem, „normale Beziehungen” zum Auswärtigen Amt zu führen. Die Reaktionen der deutschen Regierung auf die Vorkommnisse in Venezuela bleiben indessen widersprüchlich. Einerseits hat die deutsche Regierung Otto Gebauer nicht als venezolanischen Botschafter in Deutschland anerkannt, den Guaidó für diese Position ernannt hatte. Andererseits erkennt Deutschland Guaidó prinzipiell als Präsidenten an. Während seines Besuchs in Kolumbien am 1. Mai hat sich der deutsche Außenminister Heiko Maas mit Vertretern der Opposition getroffen und die deutsche Haltung wie folgt auf den Punkt gebracht: „Für uns ist Juan Guaidó der Übergangspräsident, der den Auftrag hat, Neuwahlen zu organisieren. Das ist auch das Ziel, das wir weiter verfolgen.” Folglich wurde der Außenminister der Maduro-Regierung, Jorge Arreaza, als einziger Außenminister nicht zu der Lateinamerika und Karibik Konferenz im Auswärtigen Amt eingeladen, an der über 20 seiner lateinamerikanischen Amtskolleg*innen am 28. Mai in Berlin teilnahmen.
Inmitten dieser politischen Spannungen auf internationalem Niveau hat sich mit den Gesprächsrunden in Oslo eine neue Möglichkeit zum Dialog zwischen beiden Parteien aufgetan. Neben diesen Gesprächen eröffnet die „Allianz für ein konsultatives Referendum” (ARC) die Möglichkeit einer alternativen Lösung vor Ort in Venezuela. Die ARC ist ein Bündnis von ehemaligen Minister*innen, moderaten Oppositionellen, Intellektuellen und linken Aktivist*innen, die am 16. Mai eine Kampagne für eine „pazifistische, demokratische, souveräne und konstitutionelle“ Lösung des festgefahrenen politischen Konflikts in Venezuela gestartet hat. Eine Unterschriftenaktion soll die politischen Akteur*innen dazu bringen, ein Referendum durchzusetzen, in welchem die Bevölkerung darüber entscheiden soll, „ob es will oder nicht will, dass Nicolás Maduro weiterhin an der Macht ist“.
Diese Initiativen verfolgen, im Gegensatz zur US-amerikanischen Isolierungsstrategie, einen lösungsorientierten Ansatz. Dennoch müssen auch sie auf ein politisches Szenario reagieren, das von einer starken Polarisierung geprägt ist – sowohl unter Politiker*innen als auch bei den Bürger*innen. Der venezolanische Sozialwissenschaftler Edgardo Lander analysiert diese Situation so: „Die venezolanische Gesellschaft ist so stark polarisiert, dass die Anhänger beider Lager in unterschiedlichen Wirklichkeiten leben. (…) Im Moment haben wir eine Situation, in der sich zwei Kräfte in einer Freund-Feind-Logik gegenüberstehen und sich gegenseitig auslöschen wollen” (siehe LN 539). Mit den Oslo-Gesprächen wird versucht, dieser Polarisierung entgegenzuwirken. Bisher sieht es jedoch nicht so aus, dass die Bemühungen erfolgreich sein werden.

 

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