ABSTIEG EINES KOMIKERS

Foto: Codeca

Vor zwei Jahren hatte Guatemala genug von der Korruption und seiner politischen Klasse. Monate zuvor war Ex-Präsident Otto Pérez Molina quasi aus dem Amt ins Gefängnis befördert worden, das gleiche Schicksal hatte schon zuvor Vizepräsidentin Roxana Baldetti ereilt. Ein „unbelasteter“ Politikertyp sollte her, dazu ein Mensch, der „populär“ genug ist, um Wahlen gewinnen zu können. Ausgerechnet der reaktionärste Teil des politischen Spektrums ritt am erfolgreichsten auf dieser Anti-Establishment-Welle. Die von Ex-Militärs gegründete und von Radikal-Evangelikalen gestützte Front der Nationalen Konvergenz (FCN) hatte bei den Wahlen vier Jahre zuvor kein einziges Mandat gewinnen können. 2015 aber zog ihr Kandidat, der zotige Fernsehkomiker Jimmy Morales, mit Heilsversprechen an allen anderen vorbei.

In der Stichwahl entfielen mehr als zwei Drittel der abgegebenen und gültigen Stimmen auf den damals 46-Jährigen – das zweitbeste Wahlergebnis seit der Wiederherstellung der Demokratie 1985. Doch schon damals prophezeiten viele, dass es dem politisch völlig unerfahrenen Morales, dem dazu Selbstverliebtheit und machistische Züge zugeschrieben wurden, kaum gelingen würde, ausgerechnet mit seiner Machtbasis verbrecherisch gestriger Generäle aus Zeiten von Diktatur und Völkermord ein „neues Guatemala“ zu erschaffen, frei von Korruption, in dem es jeder und jedem bessergehen würde.

Es fing schon nicht gut an. Morales’ designierter Regierungsminister, Ex-Militär César Cabrera, musste eine Woche vor der Vereidigung des Präsidenten das Handtuch werfen, angeklagt wegen Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur in den 1980er Jahren. Schon kurz nach Amtsantritt gab Kommunikationsministerin Sherry Ordóñez ihr Amt wegen Interessenskonflikten auf. Mittlerweile hat Guatemalas Oberster Rechnungshof Anzeigen gegen sieben der 14 Minister*innen wegen verschiedener strafrechtlich relevanter Vorgänge der Staatsanwaltschaft übergeben. Gegen Morales’ ehemaligen Sicherheitschef, den heutigen Kongressabgeordneten und Ex-Militär Armando Melgar Padilla, laufen Ermittlungen wegen seines unerklärlich großen Vermögens. Der Kongressabgeordnete, FCN-Gründer und Freund von Morales, Edgar Ovalle, ist seit März auf der Flucht, ebenfalls angeklagt wegen Beteiligung an Massakern während des bewaffneten Konflikts in den 1980er Jahren. Eineinhalb Jahre nach Beginn seiner Präsidentschaft sitzt Morales’ innerer Zirkel in Haft, ist auf der Flucht oder muss sich strafrechtliche Ermittlungen gefallen lassen.

Besonders dürften den Präsidenten aber die strafrechtlichen Ermittlungen gegen seinen Bruder Sammy treffen, ehemals sein engster Vertrauter und Berater, sowie jene gegen den eigenen Sohn, José Manuel. Seit September 2016 wird gegen beide in einem Fall von Betrug und Geldwäsche aus dem Jahr 2013 ermittelt. In drei Monaten könnte der Prozess beginnen, der gerade für den Bruder des Präsidenten böse enden könnte: Wird er der Geldwäsche schuldig gesprochen, könnten ihm zwischen sechs und zwanzig Jahre Haft blühen.

Doch all das ist nichts im Vergleich zu der kollektiven Abscheu, die Morales seit dem Verbrennungstod von 41 Mädchen in einem staatlichen Heim entgegenschlägt.

Doch all das ist nichts im Vergleich zu der kollektiven Abscheu, die Morales und seiner Regierung seit dem Verbrennungstod von 41 Mädchen in einem staatlichen Heim und den folgenden Ermittlungen entgegenschlägt. In einem Saal des Heims war am 8. März ein Feuer ausgebrochen, bei dem 41 Mädchen starben und 15 verletzt wurden. Schnell ergaben die Ermittlungen, dass die Mädchen tags zuvor aus dem Heim ausgebrochen waren, nachdem sie monatelang Misshandlungen, sexuellen Missbrauch, ungeheuerliche hygienische Bedingungen und verdorbenes Essen erduldet hatten (siehe LN 514). Erste Anzeigen hatte es bereits im Jahr 2013 gegeben, also vier Jahre zuvor. Sicherheitskräfte hatten die 56 Jugendlichen zunächst eingefangen und dann stundenlang in einem Saal eingeschlossen. Als die Sicherheitskräfte sich auch nach Stunden weigerten, den Mädchen den Gang zur Toilette zu ermöglichen, zündeten diese eine Matratze an, um dadurch die Öffnung der Tür zu erzwingen. Die zuständigen Polizist*innen, so die Anklage, hätten aber die Tür nicht geöffnet und die Mädchen somit bewusst verbrennen lassen.

Der Fall Hogar Seguro („Sicheres Heim“) hatte noch im selben Monat zur Verhaftung des Direktors der präsidentiellen Wohlfahrtskommission, Carlos Antonio Rodas Mejía, und der dort für Kinderschutz zuständigen Vizedirektorin, Anahí Keller Zabala, geführt. Beide hatte Morales persönlich ernannt. Seit Mitte Juni sitzen zudem die Ombudsfrau für Kinderrechte, Gloria Patricia Castro Gutiérrez, der für Kinder und Jugendliche zuständige Oberstaatsanwalt Harold Augusto Flores Valenzuela und die Staatsanwältin für Fälle von Misshandlungen, Brenda Julissa Chamam Pacay, in Untersuchungshaft.

Auch Präsident Morales ging es nach dem Vorfall an den Kragen. Nicht nur wegen des Entsetzens, das dieses Verbrechen in weiten Teilen der Bevölkerung hervorrief, und weil der Ruf der staatlichen Institutionen Guatemalas ein weiteres Mal schwer beschädigt worden ist. Sondern auch, weil die Opposition im guatemaltekischen Kongress nach Enthüllungen einer direkten Einflussnahme des Präsidenten auf den Umgang mit der Affäre durch die Polizei die Aufhebung der Immunität des Präsidenten betrieb. Das Vorhaben scheiterte allerdings am 22. Juni vor dem Obersten Gerichtshof. Morales dürfte aufgeatmet haben.

Dabei sei nicht alles so schlecht, sagen zumindest einige politische Analyst*innen.

Dabei sei nicht alles so schlecht, sagen zumindest einige politische Analyst*innen. Die personellen Änderungen im Finanzministerium, in der in Verruf geratenen Steuerbehörde und im Regierungs- und Gesundheitsministerium galten zumindest zum Zeitpunkt der Ernennungen als recht kluge Personalentscheidungen. Die Verlängerung des Mandats der Internationalen Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) bis 2019 wurde gelobt. Aber anstatt die Erfolge dieser Minister*innen herauszustellen, fährt ihnen Morales allzu oft in die Parade: Dem Finanzminister wurde schon der Vorschlag einer Steuerreform untersagt, ohne die aber die versprochene Ausweitung von Bildungs- und Gesundheitsprogrammen nicht finanzierbar ist. Die Gesundheitsministerin ist mehrfach von Morales und der eigenen Partei vorgeführt worden. Dem Regierungsminister regiert Morales in interne Ministeriumsangelegenheiten hinein. Und den Chef der Steuerbehörde kritisierte Morales öffentlich wegen dessen Ermittlungen gegen Steuerhinterzieher*innen. So demontiert Morales seit 18 Monaten munter sein eigenes Bild eines angeblichen Saubermanns und versierten Staatslenkers.

An Morales sind all die Affären und Skandale nicht spurlos vorübergegangen. Der ehemalige Komiker ist dünnhäutig geworden. In einem Fernsehinterview mit dem Journalisten Jorge Ramos vom spanischsprachigen US-Fernsehsender Univision warf Morales der guatemaltekischen Justiz indirekt die Verletzung der verfassungsgemäßen und demokratischen Ordnung vor und relativierte die Geldwäschevorwürfe gegen seinen Bruder als Teil einer in Guatemala und ganz Lateinamerika verbreiteten und als normal empfundenen Korruption. Wenn dem so ist, dann ist beim selbst ernannten Kämpfer gegen die Korruption und vor kurzem noch strahlenden Wahlsieger jetzt auch ganz offiziell die Luft raus.

Die Frage ist: Welche Konsequenzen wird das haben? Rücktrittsforderungen kommen nicht nur aus dem guatemaltekischen Kongress, auch die Massendemonstrationen in Guatemala-Stadt sind wieder zurück. Guatemalas Kleinbauern- und Indigenen-Organisation Codeca hat Mitte Juli bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr zum Generalstreik aufgerufen und landesweit Straßen blockiert. Auch die nationale Presse geht mit Morales und seinen Leuten durchaus hart ins Gericht. Aber das muss nicht unbedingt bedeuten, dass Jimmy Morales das gleiche Schicksal blüht wie seinem Vorgänger Otto Pérez Molina.

Denn gegen den Präsidenten selbst wird in keiner der genannten Affären ermittelt. Für Politikwissenschaftlerin Geidy de Mata, Professorin an der staatlichen autonomen Universität San Carlos (USAC) zeigen die Rücktritte und Verhaftungen, dass Präsident*innen ihr Personal nicht nach Befähigung auswählen, sondern über die Auswahl geleistete Gefälligkeiten honorieren würden. Unfähigkeit und Verantwortungslosigkeit würden dabei sowohl die Ernannten wie die Ernennenden charakterisieren. Dies ist in Guatemala aber nicht neu – und wird der Bogen nicht überspannt – auch nicht strafbar.

Guatemaltekische Leitartikel diskutieren zwar seit fast einem Jahr über die Möglichkeit eines nahenden Endes der Präsidentschaft von Jimmy Morales. Helen Mack, angesehene Menschenrechtlerin und Schwester der 1990 ermordeten Anthropologin Myrna Mack, prophezeite schon im Oktober letzten Jahres, dass Morales im Falle der Verhaftung seines Bruders und Sohnes zurücktreten würde. Eingetreten ist davon allerdings bislang nichts. Und nicht nur guatemaltekische Präsidenten halten traditionell so lang wie irgend möglich am Amt fest.

„DAS WAR KEIN UNFALL“

Am 7. März gegen Abend waren 50 Mädchen und Jungen aufgrund der miserablen Zustände aus dem Kinderheim in die nahe gelegenen Wälder geflohen. Die nationale Zivilpolizei (PNC) bringt sie auf direkte Anweisung des guatemaltekischen Präsidenten zurück und überwacht die Jugendlichen nach dem Fluchtversuch. Am frühen Morgen werden 52 Mädchen in einen Klassenraum gesperrt und weiterhin von der PNC überwacht, diese Maßnahme kann juristisch als institutionelle Entführung gewertet werden. Als die Mädchen trotz Bitten auf die Toilette gehen zu dürfen, nicht heraus gelassen werden, beginnen Tumulte, bei denen einige Mädchen Matratzen im Klassenzimmer angezündet haben sollen. Das Feuer breitet sich schnell aus und noch immer wird den Mädchen die Befreiung aus dem Klassenzimmer verwehrt. Viele verbrennen vor den Augen der PNC. Diese soll die Kontrolle über das Einschließen der Mädchen gehabt haben, diese werden nicht heraus und die bald eintreffende Feuerwehr erst nach 40 Minuten herein gelassen. 19 Mädchen sterben in dem Feuer, die Zahl der in den Krankenhäusern Verstorbenen steigt innerhalb von drei Tagen auf 40 an.

Das 2006 zum Schutz der Kinder gegründete Heim ist eine staatliche Institution.

Das Kinderheim, welches im Jahre 2006 als Refugium zum Schutz von Minderjährigen gegründet wird, ist eine staatlich geführte Institution. Es beherbergt Kinder und Jugendliche von Null bis 18 Jahren, betroffen von Kindesmisshandlung, „leichten Behinderungen“, sexueller, psychischer und physischer Gewalt, Opfer von Menschenhandel, sexueller Ausbeutung und ohne familiäre Zufluchtsmöglichkeit.

Die räumlichen Kapazitäten der Herberge liegen bei 400-500 Kindern und Jugendlichen, zum Zeitpunkt des Brandes waren 807 Kinder und Jugendliche dort untergebracht. Einige Kinder wurden als Resultat sexuellen Missbrauchs – seitens der Lehrer*innen und Autoritäten der zuständigen Aufsichtsbehörde – innerhalb des Heims geboren. Bei der zuständigen staatlichen Wohlfahrtsbehörde (SBS) gingen immer wieder Anzeigen unter anderem wegen Prostitution, sexuellen Missbrauchs, körperlichen, psychischen, verbalen Miss­handlungen und fehlender medizinischer Versorgung innerhalb des Kinderheims ein. Zudem sollen Autoritäten der Behörde selbst an sexuellem Missbrauch beteiligt gewesen sein. Die Aufsichtsbehörde hat die Weiterreichung der Anzeigen an die Staatsanwaltschaft in vielen Fällen verhindert und Namen sowie Details den zuständigen Behörden vorenthalten. Zwischen Januar und August 2014 waren 28 Anzeigen dokumentiert worden, es kam zu einzelnen juristischen Prozessen. Darunter war auch die Anzeige gegen den Maurer José Arias, der 2013 ein 17-jähriges Mädchen mit „kognitiven Defiziten“ in einem Klassenraum vergewaltigte und sich nun für acht Jahre in Haft befindet; oder gegen den Lehrer Edgar Rolando Dieguez Ispache, welcher mehrfach Kinder innerhalb seines Unterrichts demütigte und einzelne zu Oralverkehr zwang. Der Gerichtsprozess gegen ihn läuft seit 2016. Die meisten Anzeigen bleiben jedoch in der Investigationsphase stecken oder werden der Staats­anwaltschaft gar nicht erst übermittelt. Der nationale Adoptionsrat überprüfte das Heim trotz der Anzeigen nicht.

Dem Heim wird Kinderhandel vorgeworfen.

Am 11. März kommt es zu den ersten Massenprotesten in der Hauptstadt Guatemalas und vor den guatemaltekischen Botschaften verschiedener Länder. Auch hier findet der Verdacht auf ein Staatsverbrechen Ausdruck und die Aktivist*innen beginnen, über ein Netzwerk von Menschenhandel zu sprechen.
Die lokale Organisation „Kinder“ der Verschwundenen des Genozids („Hijos“) fordert in einem öffentlichen Schreiben Interventionen seitens nationaler und internationaler Menschenrechtsorganisationen, unter anderem durch die Internationale Kommision gegen Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) zur Tatortermittlung sowie die präventive Festnahme der Verantwortlichen unter dem Verdacht des Femizids.

Schon im November 2016 informierte die Ombudsstelle für Menschenrechte über möglichen Menschenhandel durch das Kinderheim. Eine anonyme Richterin erzählt in einem Interview mit dem Journalisten Francisco Goldman, dass 62 Kinder aus dem Heim verschwunden seien und dass sie glaube, diese seien noch vor dem Brand ermordet worden. Weiterhin berichtet sie über die Zwangsprostitution innerhalb des Kinderheims, auch wenn noch unklar sei, wer genau dahinter stecke.Der Journalist Camilo Villatoro bezeichnet die Tragödie des Kinderheims als „geplante Massenvernichtung um Zeuginnen und Betroffene eines möglichen kriminellen Netzwerks von Kinderhandel und Sexsklaverei zu eliminieren.“

Wegen der Vorfälle im Kinderheim sollen nun erneut die Untersuchungen bezüglich Kinderhandel aufgenommen werden. Aufgrund des Verschwindens vieler Mädchen existiere der Verdacht, dies sei zu Zwecken der Prostitution geschehen, sagt der Anwalt und Aktivist Alejandro Axpuac.

Der guatemaltekische Präsident Jimmy Morales sowie der Sekretär des Büros für Gemeinwohl, Carlos Rodas, weisen alle Verantwortung und den Vorwurf eines Staatsverbrechens öffentlich zurück. Zwei Tage später, am 12. März, verstrickt sich Morales jedoch in seiner Argumentation während eines Interviews mit CNN. Er bejaht die Unfähigkeit der guatemaltekischen Instanzen und bestätigt den Vorwurf, die PNC habe auf seine Anordnung hin die Mädchen festgehalten. So bezeugt Morales, dass der Staat mit repressiven Mitteln agierte und die Sicherheit der Jugendlichen nicht priorisiert wurde.

Am 13. März werden drei leitetende Angestellte der SBS präventiv festgenommen. Die Anordnung kam von der Richterin Claudia Blandón Alegría unter dem Vorwurf von Mord, Nichterfüllung ihrer Aufgaben und Misshandlung von Minderjährigen.

Die Proteste in Guatemala halten an, einige Aktivist*innen fordern den Rücktritt des Präsidenten Morales. Es bleibt die Frage nach der Verantwortung der Gesellschaft.

 

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