“EIN OFFENES GEHEIMNIS”

Luis Betancourt Montenegro
forscht im Bereich sozio-ökologische Rechtslage des Amazonasgebietes und ist Aktivist für die Rechte der indigenen Bevölkerung. Er untersucht die gesundheitliche, sozio-kulturelle und Bildungssituation der Indigenen im venezolanischen Amazonasgebiet.
Seit 2019 koordiniert er die Amazonas-Forschungsgruppe (Grupo de Investigaciones sobre la Amazonía), die Forschung zu den Rechten der indigenen Bevölkerung und den Umweltrechten im Süden Venezuelas durchführt.
(Foto: privat)


Wie ist die aktuelle Situation in Puerto Ayacucho und im Süden Venezuelas?
Puerto Ayacucho hat eine sehr schwache Wirtschaft, die hauptsächlich auf illegalem Benzinverkauf, Bergbau und Schmuggel beruht. Früher, Ende der 1990er Jahre, war das anders, da gab es eine starke Tourismusindustrie mit Restaurants und einer Service-Infrastruktur. Durch die wirtschaftliche und politische Krise im Land hat sich das aber alles verändert. In der Umgebung von Puerto Ayacucho gibt es außerdem viele indigene Gemeinschaften, z.B. die Piaroa, Jivi und Kurripako.

Wie ist die Ernährungslage der indigenen Gemeinschaften?
Ob sie sich selbst versorgen können, hängt von der Region ab, in der sie leben. In der Nähe von Puerto Ayacucho zum Beispiel ist das Land sehr fruchtbar, im Südosten gibt es viel landwirtschaftliche Produktion und die dort lebenden indigenen Gemeinschaften können alles zu ihrer Selbstversorgung anbauen. Die Yanomami aber, die mit ca. 16.000 Personen die größte indigene Gruppe des venezolanischen Amazonasgebietes bilden, besiedeln Gebiete in der Kommune Alto Orinoco und dort sind die Böden eher sauer und dadurch nicht besonders fruchtbar. Aussaat oder Ernte ist hier fast unmöglich. Sie sind daher von wirtschaftlicher Unterstützung und den sehr unregelmäßigen Lieferungen der Regierung abhängig.

Bevor es solche Unterstützung durch die Nationalregierung gab, haben sie doch auch dort gelebt.
Ja, das Gebiet Alto Orinoco ist schon immer ihr Lebensraum. Und aufgrund der Unfruchtbarkeit der Böden sind sie nur teilweise sesshaft. Das heißt, dass sie oft weiter ziehen und sich in Gegenden niederlassen, die etwas fruchtbarer sind. Wenn dann nach einiger Zeit die Böden eines Gebiets ausgelaugt sind, ziehen sie wieder weiter in Gegenden mit besseren Bedingungen. So bewegen sie sich durch den gesamten Raum des Alto Orinoco.

Wie ist die Beziehung zwischen der Regierung und den indigenen Gemeinschaften?
Vor 1999 wurden die indigenen Gruppen Venezuelas weitgehend unsichtbar gemacht. Als es 1999 den revolutionären Verfassungsprozess gab, wurden die Indigenen zu Verbündeten von Hugo Chávez und der neuen Verfassung, an deren Ausarbeitung sie auch beteiligt waren. So sehr, dass das Kapitel VIII ausschließlich den Rechten der indigenen Bevölkerung gewidmet ist. Es gibt also eine sehr wichtige Anerkennung der indigenen Gruppen Venezuelas auf verfassungsmäßiger und rechtlicher Ebene. Ihnen wird das Recht auf eigene Bildung, Selbstbestimmung, auf ihr Territorium und interkulturelle Gesundheitsversorgung (die Berücksichtigung der Kultur der Patient*innen im Behandlungsprozess unter Einbeziehung ihres spezifischen medizinischen Wissens, Anm. d. Red.) garantiert. Diese Rechte wurden bis zum Jahr 2010 auch umgesetzt, danach begann es aber zu bröckeln, das heißt, alle Programme, die in den ersten zehn Jahren entwickelt worden waren, wurden immer mehr vernachlässigt. Vor allem die Gesundheits­pro­gramme, die ein sehr wichtiger Teil waren, weil sie auch die entferntesten Ecken des venezolanischen Amazonasgebiets erreichten, um die indigene Bevölkerung zu versorgen, gingen zurück. Ein Gesundheitsprogramm, der sogenannte Plan de Salud Yanomami, wurde mittlerweile leider eingestellt, weil es keine staatliche Unterstützung mehr gibt.

Mit Ihrer Amazonas-Forschungsgruppe haben Sie den illegalen Bergbau angeprangert. Wie ist die aktuelle Situation im Bundesstaat Amazonas?
Es gibt den legalen Bergbau, der durch ein Gesetz oder einen Erlass geregelt ist und vom Staat oder demjenigen, dem er die Konzession erteilt, verwaltet wird. Es gibt aber auch das Dekret 269 aus dem Jahr 1989, welches jegliche Bergbauaktivitäten im Bundesstaat Amazonas verbietet. Das bedeutet, dass alle diese Aktivitäten dort illegal sind. Das heißt nicht, dass es keinen Bergbau gibt, sondern lediglich, dass er illegal betrieben wird.

Wer ist daran beteiligt und was wird abgebaut?
Soweit bekannt, handelt es sich hauptsächlich um Gold und die Akteure, die es dort abbauen, sind einzelne bewaffnete Gruppen. In den meisten Fällen kommen sie aus Kolumbien, in anderen aus Brasilien und nur in ganz wenigen Fällen aus Venezuela selbst. Es ist ein offenes Geheimnis. Alle wissen, was sich dort abspielt, aber die Regierung hat durch ihre Nachlässigkeit zugelassen, dass sich diese Gruppen dort etablieren. Sie hat es versäumt, sich ihnen entgegenzustellen.

Gibt es eine Verbindung zwischen der Regierung oder den Polizei- und Militärbehörden und den illegalen Gruppen, die im Amazonasgebiet Bergbau betreiben?
Objektiv gesehen kann ich Ihnen nicht im Detail sagen, worin die Verbindung besteht, aber wenn ich mir ansehe, wie der venezolanische Staat über alle seine Institutionen hinweg eine nachlässige, nahezu einvernehmliche Haltung gegenüber den illegalen Bergbaugruppen einnimmt, ist es offensichtlich, dass es irgendeine Art der Komplizenschaft geben muss. Ich würde sagen, dass es das vor 1999 nicht gab. Die Justiz ging noch Anfang der 2000er Jahre sehr entschieden gegen die illegalen Gruppen vor. Es wurden Dekrete gegen ihre Präsenz erlassen und das Militär bekämpfte sie, aber seit etwa 2010 wurde nichts mehr gegen sie unternommen. Vielmehr glaube ich, dass ihnen der Zugang zu den Gebieten noch erleichtert wurde.

Indigene arbeiten auch im illegalen Bergbau…
Von der schweren politischen und wirtschaftlichen Krise, die das Land durchlebt, sind die Indigenen mit am stärksten betroffen. Das Fehlen von Treibstoff im gesamten venezolanischen Amazonasgebiet birgt große Probleme für sie, weil sie ihre Produkte nicht mehr nach Puerto Ayacucho bringen können, um sie dort zu verkaufen, so wie sie es immer getan haben. Daher sahen sich die meisten von ihnen in Ermangelung dieses wirtschaftlichen Austausches leider dazu gezwungen, im Bergbau zu arbeiten, um den Lebensunterhalt ihrer Familien zu bestreiten.

Welche Auswirkungen hat der Bergbau auf die Gemeinden im Amazonasgebiet?
Die Folgen sind sehr ernst. Am meisten leidet die indigene Bevölkerung, denn durch das Eindringen des Bergbaus und der bewaffneten Gruppen in ihr Territorium werden ihre sozio-ökonomischen und politischen Strukturen beeinträchtigt. Es hat sich eine Abhängigkeit entwickelt, denn die Lebensgrundlage wird jetzt nicht mehr durch die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse erwirtschaftet, sondern durch den Abbau von Gold und dem Handel damit bzw. mit allem, was mit dem Bergbau zu tun hat.

Gibt es Indigene, die aus ihren Gebieten vertrieben werden?
Natürlich. Es gab Fälle, in denen ganze Gemeinschaften ihr Gebiet verlassen mussten auf der Flucht vor der Gewalt, die von den bewaffneten Gruppen ausgeht. Es ist aber nicht nur die Gewalt, sondern es gibt auch gesundheitliche Gefahren, denn die Bergleute kommen aus städtischen Gebieten und bringen eine Reihe von Krankheitserregern mit, die für die Indigenen neu sind und damit eine Gesundheitsgefahr für sie darstellen.

Gab es Widerstand in der Region?
Ja, einige indigene Organisationen im Amazonasgebiet haben Erklärungen abgegeben, in denen sie die Präsenz der bewaffneten Gruppen in ihren Gebieten verurteilen und die Beendigung des Bergbaus fordern. Es geht ihnen darum, ihre Territorien und heiligen Stätten zu erhalten und zu schützen. Genau in diesen Gebieten agieren diese Gruppen. Bislang haben die Organisationen noch keine Antwort vom venezolanischen Staat erhalten. Hier zeigt sich die Komplizenschaft zwischen dem Staat und diesen illegalen Gruppen.

WEDER GOLD NOCH KOCHBANANEN

Foto: Daniela Rivas G.

Sie haben den Goldman-Umweltpreis erhalten. Was bedeutet das für Sie?
Ich habe gemischte Gefühle. Ich finde es gut, dass der Kampf von afrokolumbianischen Frauen anerkannt wird. Das ist wichtig für die Gemeinden und die nächsten Generationen. Es ist wichtig, sichtbar zu machen, dass wir Teil des globalen Kampfes für die Umwelt sind und Alternativen für die Landnutzung entwickeln. Ich zeige mein Gesicht, aber es ist eine kollektive Würdigung all der Menschen, die auf diesem Weg gestorben sind.

Was war der Auslöser für Ihre Aktivität?
Ich fing mit fünfzehn an, mich politisch zu engagieren. Motiviert hat mich die Umleitung des Flusses Ovejas für den Staudamm La Salvajena, der in den 1980er Jahren gebaut wurde. Dieses Projekt hat bereits damals Menschen vertrieben, die dabei ihre Einnahmequellen und die Beziehung zu dem Fluss Cauca verloren haben. Mitte der Neunziger Jahre wollte die Regierung im Namen von Fortschritt und Entwicklung eine Wirtschaftsordnung etablieren, die nicht im Sinne der Gemeinden war. Außerdem hatte ich eine besondere Beziehung zu dem Fluss. Es ist mehr ein Gefühl, etwas, das da ist, das Teil unseres Selbst ist. Das Land ist für uns ein Wesen, das lebt. Ich war oft im Fluss schwimmen oder habe mit anderen Gold gewaschen. Wir kochten dort, wuschen unsere Kleidung oder gingen nachts dorthin fischen.

Die Gemeinden haben damals die Umleitung des Flusses verhindert. Wie haben Sie diesen Prozess des Widerstands erlebt?
Eine gute Freundin von mir war die Sprecherin einer Gruppe von Jugendlichen. Da ich gerne Ausflüge machte, bat ich sie darum, mich mitzunehmen und so begann ich, die Treffen zu protokollieren. Im Anschluss habe ich dann die Gemeinde darüber informiert. Als ich 16 war, hatte ich schon einen Sohn. Am Anfang war es sehr schwierig, aktiv zu sein und mich um mein Kind zu kümmern, aber ich blieb dabei. Ich habe viel gelernt und dabei die Bedeutung meines afrokolumbianischen Daseins besser verstanden.

Wie war es, als der illegale Goldabbau begann?
Am Anfang sahen wir das nicht als großes Problem, denn es bedeutete Arbeit für die Leute in der Region. Ich habe selbst dort gearbeitet. Aber dann sahen wir die negativen Effekte. Wir verloren die Orte, wo wir arbeiteten, schwammen oder fischten. Für den Abbau wurde Quecksilber benutzt und das Flusswasser verschmutzt. Die großen Maschinen zerstörten die Flussufer und hinterließen riesige Löcher. Die waren so tief, dass es Erdrutsche gab, einmal starben 25 Menschen auf einmal. So etwas war mit den traditionellen Methoden vorher nicht passiert.

Der illegale Goldabbau ist Teil des Finanzierungsmodells der bewaffneten Gruppen. Wie hat sich das in der Region bemerkbar gemacht?
Die Präsenz bewaffneter Akteure rund um den illegalen Bergbau bedeutet Unsicherheit für die Gemeinde. Damit gehen Menschenrechtsver- letzungen, Morde und Bedrohungen von Aktivist*innen einher, Prostitution breitet sich aus. Ein Stück goldhaltiges Mineral wird von den Maschinenbetreibern für Sex gehandelt. Frauen sind besonders betroffen, denn wir waren diejenigen, die auch vorher traditionellen Goldabbau betrieben haben. Aber früher gingen wir zwei Tage die Woche in die Minen, die anderen Tage waren wir auf den Feldern. Erst als die Maschinen kamen, wurden die Felder aufgegeben und man ging jeden Tag in die Mine. Die Wirtschaft und Nahrungssicherheit in der Region waren damit zerstört. Am Ende gab es weder Gold noch Kochbananen. Gar nichts.

Welche Rolle spielen in diesem Kontext die großen Bergbauunternehmen?
Das Problem ist nicht nur der illegale Bergbau, denn die Abbaurechte wurden bereits vergeben, bevor dieser in der Region ankam, aber ohne Befragung der Gemeinden. 2001 gab es Paramilitärs in der Region und die Bevölkerung war verängstigt. Das Massaker von Naya (Paramilitärs ermordeten 24 Menschen und vertrieben circa 3.000 weitere, Anm. der Red.) hat seine Spuren in den Gemeinden hinterlassen. Als 2009 die großen Unternehmen in der Region ankamen und die ersten Räumungsbefehle erteilt wurden, organisierten wir uns und sagten: „Wir gehen hier nicht weg!“ Wir haben eine Widerstandsgruppe gegründet, Lobbyarbeit in den USA gemacht und eine Klage gegen die Bergbauunternehmen eingereicht, die wir 2010 gewonnen haben. Aber der illegale Bergbau ist geblieben. Ich wurde Vertreterin im Netzwerk afrokolumbianischer Organisationen CPN und musste mich den illegalen Bergbaubetreibern gegenüberstellen. Ich und andere aus der Gemeinde bekamen Todesdrohungen. Viele mussten die Region verlassen.

2014 organisierten Sie die „Mobilisierung afrokolumbianischer Frauen für die Sorge um Leben und Lebensraum“, einen Marsch vom Cauca bis in die Hauptstadt …
Damals sagte die Regierung des Verwaltungsbezirks Cauca, dass es in der Region 2000 Bagger gebe, die illegalen Bergbau betreiben. 2000! Und das obwohl Cauca so ökologisch wertvoll und vielfältig ist! Dort entspringen die meisten Flüsse des Landes. Ich habe überall versucht, Anzeige zu erstatten, aber irgendwann wusste ich nicht mehr weiter. Wir organisierten den Marsch nach Bogotá, um die Folgen des illegalen Bergbaus öffentlich zu machen. Als Frauen forderten wir, dass für die Umwelt gesorgt wird, so wie wir uns um unsere Kinder kümmern. Am Ende schlossen wir einige Verträge mit der Regierung, aber diese wurden nicht eingehalten. Aber wir haben dadurch an innerem Zusammenhalt gewonnen.

Der Frauenmarsch hat gezeigt, dass die Zivilgesellschaft Druck auf die Regierung ausüben kann. Welche Rollen spielen die Frauenbewegungen in diesem Kontext?
In Kolumbien gibt es sehr viele Frauenorganisationen. Noch existiert der weiße Feminismus, der die zusätzliche Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe oder Einkommensklassen nicht wahrnimmt. Es gibt aber auch Frauen in ländlichen Regionen, die solche technischen Begriffe nicht kennen. Es ist wichtig, intersektional zu denken. Frauen sind der Antrieb von politischen und sozialen Kämpfen. Auch wenn sie manchmal nicht an vorderster Front stehen, gestalten sie den Alltag. Es ist aber auch wichtig, dass Männer und Frauen zusammen das patriarchale System dekonstruieren und es gemeinsam verändern. Wirmüssen den Feminismus anders denken. Man kann kein Feminist sein kann, ohne Rassismus und das Wirtschaftssystem zu bekämpfen.

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