SOZIALER PROTEST ZWISCHEN HOFFNUNG UND POLARISIERUNG

Gefährlicher Einsatz Politische Opposition fordert in Kolumbien viele Menschenleben (Foto: Comunicaciones CRIC)

Der Begriff Minga bezeichnet einen kollektiven Arbeitseinsatz und wird in Kolumbien inzwischen auch für politische Versammlungen verwendet. Die derzeit wichtigste heißt „Minga für die Verteidigung des Lebens, des Territoriums, der Gerechtigkeit und des Friedens“. Nach und nach haben sich der Minga-Blockade auf der Panamericana ebenfalls Bauern und Bäuerinnen, Afro-Kolumbianer*innen und indigene Gruppen aus anderen Regionen angeschlossen. Trotz abwechselnd schwerer Regenfälle und brennender Sonne, nahm die Zahl der Protestierenden seit Mitte März eher zu als ab. Die Hauptforderung: Präsident Iván Duque soll in den Cauca kommen, um Rechenschaft abzulegen – über die mehr als tausend vom kolumbianischen Staat nicht erfüllten Abkommen mit den Gemeinden und ihren Organisationen, seine als Unterminierung wahr­­genommene Haltung gegenüber dem Friedensprozess mit der demobilisierten FARC-Guerilla sowie den immer weiter zunehmenden Morden an lokalen Führungspersönlichkeiten und Menschenrechtsverteidiger*innen. 556 solcher gezielten Tötungen verzeichnet das Forschungsinstitut für Entwicklung und Frieden (INDEPAZ) zwischen Januar 2016 und Januar 2019 in Kolumbien, mit einem stetigen Anstieg. Die meisten Morde wurden mit 252 an der Zahl im Jahr 2018 verübt. Die Region Cauca ist in dieser Statistik mit einem Anteil von mehr als einem Fünftel trauriger Spitzenreiter. Aber die Fronten sind verhärtet. Der Präsident weigerte sich wochenlang direkt mit den Protestierenden zu verhandeln und entsendete nur Stellvertreter*innen. „Mit Blockaden verhandeln wir nicht“, wiederholte er immer wieder in einer offensichtlichen Paraphrasierung der gleichen Aussage in Bezug auf Terrorist*innen. Erst am 5. April kam es zu einem Durchbruch bei den Verhandlungen. Die Regierung stellte ein über 230 Millionen Euro schweres Investitionspaket im Rahmen des Nationalen Entwicklungsplanes sowie die direkte Präsenz des Präsidenten in der Folgewoche in Aussicht. Im Gegenzug erklärten sich die an der Minga beteiligten Organisationen bereit, zwar nicht die Minga zu beenden, aber zumindest die Blockade der Panamericana bis auf weiteres aufzuheben.

„Gegen die Minga wird mit militä-rischen Mitteln vorgegangen.“

Bisher setzte Präsident Duque auf die Strategie der Kriminalisierung sozialer Proteste, die sein Verteidigungsminister Guillermo Botero im letzten Jahr mit der Behauptung, alle indigenen Proteste seien vom Drogenhandel finanziert, auf die Spitze trieb. Der Vorwurf, der Protest sei von bewaffneten Gruppen unterwandert oder politisch von der demobilisierten Guerilla FARC kontrolliert, wird seitdem laufend wiederholt. Mitglieder der Regierungspartei Centro Democrático befüttern unter anderem den Twitterkanal #MingaDeLasFarc laufend mit Propaganda. Dass die indigenen Gemeinden seit jeher die Präsenz aller bewaffneten Akteur*innen – egal ob Armee, Guerilla oder Paramilitärs – in ihren Territorien ablehnen und die autonome indigene Justiz regelmäßig Waffen und anderes Kriegsmaterial beschlagnahmt und ausnahmslos vernichtet, wird ignoriert.  Das befördert einerseits die von einigen Vertreter*innen des Regierungslagers betriebene politische Polarisierung der kolumbianischen Gesellschaft, mit fortwährenden Anschuldigungen und Beleidigungen gegen jede Opposition und rechtfertigt andererseits nach außen ein hartes Vorgehen gegen die Blockade. „Gegen die Minga wird mit militärischen Mitteln vorgegangen“, stellt Omar Quirá vom Menschenrechtsprogramm des Indigenen Regionalrats des Cauca (CRIC) fest, welcher als Zusammenschluss von 90 Prozent der indigenen Gemeinden des Cauca maßgebliche Kraft hinter der Minga ist. „Es ist besorgniserregend, dass unter den zur Kontrolle der Minga entsandten Kräften nicht nur Polizisten, sondern auch Soldaten sind. Außerdem gab es mehrere Versuche, die Minga zu infiltrieren. Wir haben ungefähr zehn Militärangehörige identifiziert und an die Defensoría del Pueblo [nationale Ombudsbehörde, Anm.d.Verf.] sowie die UNO übergeben,“ ergänzt Quirá.

Foto: Miguel Boller

Inzwischen sind mehrere Videos veröffentlicht worden, auf denen zu sehen ist, wie Soldaten mit auf Dauerfeuer geschalteten Waffen in Richtung der Protestierenden schießen. Mehrfach wurden auch die Zeltlager der Mingueroas angegriffen, obwohl sie abseits der Panamericana liegen. Militärflugzeuge, Drohnen und Hubschrauber überflogen trotz anders lautender Abmachungen immer wieder die Protestlager und warfen Propagandamaterial oder Leuchtkörper ab. Gleichzeitig versuchten anscheinend auch illegale bewaffnete Gruppen, die Situation zu nutzen, um ihre Positionen zu stärken oder gegen die autonomen Gemeinden vorzugehen, die für sie ein Hindernis bei der Durchsetzung ihres Machtanspruchs darstellen.

Die bisherige Bilanz: Über 100 Verletzte und 11 Tote auf Seiten der Mingueroas, darunter mehr als ein Dutzend durch Schusswaffen Verwundete. Außerdem wurde ein Polizist durch nicht identifizierte Heckenschützen erschossen. Die meisten Toten gab es bei einer noch ungeklärten Explosion in einer Hütte, in der sich mehrere Indigene ausruhten. Laut einem Überlebenden hatten Unbekannte einen Sprengsatz in die Hütte geworfen. Von der Regierungsseite wurden sofort Anschuldigungen laut, die Opfer hätten selbst mit Sprengstoff hantiert.Vom 3. auf den 4. April kam es in Popayán, der Hauptstadt des Cauca, zu massiven Übergriffen auf Gebäude und Installationen des Regionalrats des CRIC als wichtigste Kraft hinter der Minga. Außerdem wurden die Bauernorganisation CIMA und die nationale Ombudsbehörde angegriffen. Mehrere Menschen wurden teils schwer verletzt (siehe Kurznachrichten S.54).
Oberflächlich betrachtet ist der wichtigste Faktor hinter diesen Auseinandersetzungen die in Kolumbien allgegenwärtige Frage nach Landbesitz und einer Agrarreform. Die Bedeutung der Landfrage spiegelt sich auch darin dass die „Integrale Reform des ländlichen Raums“ der erste Punkt der Friedensabkommen von Havanna ist. Laut Daten von Oxfam ist die Ungleichheit in der Landverteilung in Kolumbien weiterhin extrem und hat seit den 1990er Jahren sprunghaft zugenommen: Nur ein Prozent der landwirtschaftlichen Produktionseinheiten kontrollieren über 70 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche.

Hier prallen Welten aufeinander

Im Cauca werden diese Gegensätze besonders deutlich: Auf der einen Seite stehen traditionelle Großgrundbesitzer*innen wie die Zuckerrohrbaron*innen im Norden des Departements, deren Felder sich über tausende Hektar in den am einfachsten zu bewirtschaftenden Ebenen vom Norden des Cauca bis in das Nachbardepartement Valle del Cauca erstrecken. Auf der anderen Seite finden sich tausende Kleinproduzent*innen in den indigenen, afrokolumbianischen und Campesino-Gemeinden, deren Ländereien häufig an den schwer zu bearbeitenden Andenhängen liegen und in vielen Fällen nicht einmal die Größe erreichen, die nach offiziellen Daten für den Unterhalt einer Familie ausreicht. Hinzu kommen relativ neue Akteur*innen wie Cartón Colombia, eine Tochterfirma der europäischen Smurfit Kappa mit Sitz in Irland. 2015 besaß Smurfit Kappa, unter anderem auch Deutschlands größter Hersteller von Kartonverpackungen, in Kolumbien knapp 68.000 Hektar. Mit Slogans wie „Better Planet Packaging“ bastelt die Firma in Europa an ihrem Nachhaltigkeitsimage und schafft es sogar noch, für völlig sterile Fichten- und Eukalyptus-Monokuturen Aufforstungs- und Klimaboni einzustreichen. Hier prallen nicht nur Welten aufeinander, sondern auch Produktionsmodelle: Agrarindustrie und kleine, diversifizierte Produktionsflächen, die neben der Produktion für den Verkauf auch der Selbstversorgung dienen.

Dass es gerade im Cauca immer wieder sowohl zu Gewaltausbrüchen als auch zu längeren Auseinandersetzungen zwischen sozialen Bewegungen kommt, hat weitere Gründe. Zum einen haben die unterschiedlichen bewaffneten Gruppen ein hohes Interesse an der Kontrolle sowohl von Anbaugebieten von Koka und Marihuana als auch an den unterschiedlichen Routen in Richtung Pazifik, wo die Drogen zum Export verladen werden. Zum anderen ist wohl nirgendwo in Amerika, mit Ausnahme der zapatistischen Gemeinden in Mexiko, die indigene Autonomie so weit entwickelt wie im Cauca. Der CRIC ist von fünf Gemeinden bei ihrer Gründung 1971 auf inzwischen 126 Gemeinden mit etwa 270.000 Einwohner*innen in der gesamten Region angewachsen. Die indigene Justiz setzt ihre Eigenständigkeit mit viel Selbstbewusstsein durch. Sie beschlagnahmt und zerstört Waffen und Drogen, und große Infrastruktur- oder Bergbauprojekte müssen regelmäßig mit gut organisiertem Widerstand rechnen. Es gibt autonome Schulen, ein eigenes Gesundheitssysstem und die Gemeinden schrecken auch vor Besetzungen von Ländereien der Familien mit Großgrundbesitz nicht zurück. Der Aufbau eigener Strukturen wurde außerdem von Beginn an mit einer juristischen Strategie begleitet. Damit konnten bestehende Normen und sogar Regelungen, die noch aus der Kolonialzeit stammen, subversiv zur Untermauerung von Forderungen und zur Absicherung von Erreichtem genutzt werden. Zusätzlich wurde efolgreich Lobbyarbeit für Gesetzesreformen betrieben, die auch nationale Auswirkungen haben.

Minga ist mehr als eine Blockade

Dadurch haben sich die indigenen Gemeinden des Cauca zu einem Machtfaktor entwickelt, der den bewaffneten Akteuren genauso ein Dorn im Auge ist wie der Regierung und den Großgrundbesitzer*innen. Diese greifen zur Verteidigung ihres Machtanspruchs immer wieder zu Gewalt und Kriminalisierung oder versuchen bei anderen benachteiligten Sektoren Neid auf die politischen und materiellen Errungenschaften der indigenen Bewegung zu schüren und sie gegeneinander auszuspielen. In letzter Zeit ist es dennoch mehrfach gelungen, vor allem die unterschiedlichen Gruppen aus dem ländlichen Raum zu koordinieren und eine gemeinsame Agenda auszuhandeln, so auch bei der aktuellen Minga. José Ildo Pepe, einer der von der Minga benannter Sprecher stellt fest: „Unsere Minga fordert die Umsetzung bestehender Abkommen und Rechte für die afrokolumbianischen Gemeinden, für die Campesinos und für uns Indígenas. Unsere Minga hat nationale Reichweite. Die Themen sind struktureller Art: Land, Schutz des Lebens und der Umwelt, Wasser, nicht nur im Cauca, sondern im ganzen Land. Die Regierung denkt, es geht nur um den von ihr vorgelegten Nationalen Entwicklungsplan. Aber es geht um mehr: Es geht um die Bewahrung des Lebens in seiner Ganzheit.”


(Foto: Comunicaciones CRIC)

 

Diese Sichtweise zeigt sich auch in den anderen Gesichtern der Minga, abseits der Konfrontationen mit der Staatsmacht, von Außenstehenden nur selten wahrgenommen. „Die Kreativität der Menschen, um unter solchen Bedingungen durchzuhalten, ist unglaublich“, erzählt Omar Quirá mit einem breiten Grinsen. „Es wurden zum Beispiel schon Fußballturniere und Unterricht in traditionellen andinen Tänzen mitten auf der Panamericana organisiert. Und ein paar Jugendliche drehen mit einer Kameraattrappe aus Pappe Runden durch die Protestlager, führen Interviews, verbreiten Neuigkeiten und bringen nebenbei die Leute zum Lachen.“ Auch die basisdemokratischen Elemente der indigenen Kultur sind ein wichtiger Bestandteil. „Nach jeder Verhandlungsrunde finden Versammlungen statt, um die Menschen zu informieren, zu hören, was sie denken, politische Themen zu diskutieren sowie Empfehlungen und Anweisungen an die Sprecher*innen und Verhandlungsführer*innen zu vereinbaren“, führt Quirá aus. „All das verwandelt sich in neue Protestformen, stärkt den Zusammenhalt und unsere autonome Kultur.“

 


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EIN STAUDAMM WENIGER

Im Inneren von El Diquís                                  Foto: La Nacion de Costa Rica

Bereits in den 1980er Jahren gab es die ersten Pläne für das Projekt El Diquís – das mit 650 Megawatt Kraftwerksleistung größte Wasserkraftwerk Zentralamerikas. Ein Prestigevorhaben für das Land, das bereits fast 100 Prozent seiner Elektrizität aus regenerativen Energiequellen bezieht und durch die Wassermenge- und Sicherheit sowie die Fließgeschwindigkeit der Flüsse aus den faltenreichen Gebirgsformationen ideale Bedingungen für Wasserkraftwerke bietet.
„Diquís“ bedeutet „großer Fluss“ oder „breiter werdender Fluss“ in der Sprache der Teribe und Boruca, der Nachkommen der indigenen Diquís. Heute wird der Fluss Río Térraba genannt. Knapp 700 Jahre lang dominierte die Hochkultur der Diquís die südliche Pazifikküste Costa Ricas, bis zur Eroberung durch die Kolonisator*innen.
Das Staudammprojekt El Diquís war von Beginn an umstritten, weil es den Lebensraum der Teribe und Boruca gefährdet. Bis heute wurden nur einige Vorarbeiten umgesetzt, dabei hatten sich die Pläne bereits Anfang des 21. Jahrhunderts konkretisiert und El Diquís 2014 zum Vorzeigeprojekt der damaligen Regierung gemacht. Javier Orozco, Planungsdirektor des staatlichen Stromanbieters ICE, bezeichnete das Projekt noch 2017 als „essentiell, um dem steigenden Strombedarf des Landes gerecht zu werden.“ Luis Pacheco, ICE-Vorstand für Elektrizität, ging im April 2018 noch weiter: „Costa Rica muss seine Wirtschaft stärken, dafür braucht es Energie.“ Das Kraftwerk könne eine „Batterie“ des zentralamerikanischen Netzes werden, welches nach Kolumbien und Mexiko ausgebaut werden könne. Bedarfsstudien gibt es jedoch bis heute nicht.
Derartige Prognosen und vage Träume waren Argument genug, um mit über zwei Milliarden Dollar knapp 7.000 Hektar Land unter Wasser zu setzen und 1.500 Familien umzusiedeln. Doch die indigene Bevölkerung wehrte sich von Beginn an. Donald Rojas ist Buruca und Repräsentant der Mesa Nacional Indígena de Costa Rica, einer unabhängigen indigenen Interessenvertretung auf Landesebene. Ruhig zählt er die Befürchtungen der Bevölkerung vor Ort auf: „Mindestens 25 Prozent des Landes der Teribes und 10 Prozent anderer Völker gehen verloren. Ein Tunnel untergräbt unser Land, wir haben Zweifel an der technischen Umsetzung. Es gibt zudem keine Studien über die Umweltschäden.“ Denn Wasserkraft ist zwar regenerativ, aber keine saubere Art der Energiegewinnung. Sie verändert und zerstört den Fluss und das gesamte Ökosystem, das er prägt. „Zudem wirkt sich ein See solchen Ausmaßes auf das Mikroklima aus. Die Menschen vor Ort leben hauptsächlich von der Landwirtschaft. Auch die nötige Infrastruktur wird unser Land beeinflussen“, so Rojas. Allgemeines Misstrauen gegenüber dem Bauwerk wurde geäußert. Ausreichende Sicherheit könne in einer von Erdbeben und Tropenstürmen geprägten Gegend nicht gewährleistet werden.
Fünf Monate nachdem Vorstandsmitglied Luis Pacheco die Bedeutung des Staudamms betonte, erklärte die ICE-Vorsitzende Irene Cañas im November 2018 überraschend das Ende des Projekts. Costa Rica habe keinen Bedarf an zusätzlicher Energie und die Digitalisierung werde den Verbrauch eher senken. Belege oder Gutachten hat die Unternehmensleiterin dafür nicht. Die indigene Aktivistin Elides Rivera aber ist hocherfreut: „Dieser Kampf war für uns autochthone Völker sehr wichtig, weil wir unser Land verteidigt haben, das unser zu Hause ist; weil wir den Fluss verteidigt haben, der uns das Leben schenkt, und auch den Wald, den wir beinahe verloren haben und der für uns Leben bedeutet.“ Sie wertet das Projektende als klaren Sieg des Widerstandes. Vor allem der im Jahr 2018 beschlossene neue Konsultationsmechanismus habe dem Projekt das Genick gebrochen. Dieser setzt die indigenen Völkern durch Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) garantierte Kontrolle über ihre Territorien in nationales Recht um: Ohne die Zustimmung einer indigenen Gruppe im Rahmen in eines geregelten Konsultationsdialoges dürfen in ihrem Gebiet keinerlei Aktivitäten stattfinden. Donald Rojas hingegen wirkt nicht, als hätte er gerade einen jahrzehntelangen Kampf gewonnen. Auf seine Meinung angesprochen, warum das Staudammprojekt abgebrochen wurde, lacht er zunächst emotionslos.

„Ein Wunder, dass es keine Toten gab“


Das soll nicht bedeuten, der Widerstand wäre nicht vehement gewesen. „Es ist ein Wunder, dass es keine Toten gab“, meint Roy Arias. Er arbeitet seit über 15 Jahren mit den indigenen Völkern im Süden Costa Ricas zusammen. „Die Bevölkerung und ihre Meinungen vor Ort sind heterogen und die Situation war sehr angespannt.“ Das ICE habe versucht, einen Keil zwischen die Parteien zu treiben. Costa Rica ist ein demokratisches Land ohne Armee, die den Willen der Regierung umsetzen kann. Repressionen erfolgten eher strategisch und vor allem durch politische Institutionen. Zum einen wurde die nicht-indigene Bevölkerung motiviert, sich für den Staudamm auszusprechen. Diese erwarb im Laufe des letzten Jahrhunderts teils durch illegalen Landerwerb bis zu 70 Prozent des Territoriums der Teribe. Und unter den indigenen Bewohner*innen stiftete die Nationale Kommission für indigene Angelegenheiten (CONAI) Zwist. „Die CONAI ist eine staatliche Institution, die von keiner indigenen Gruppe als Vertretung anerkannt wird, diese aber offiziell innerhalb des politischen Systems vertritt“, erklärt Roy Arias. „Gemeinsam mit dem ICE haben sie Fehlinformationen verbreitet und versucht, die Indigenen durch scheinheilige Angebote von ihrem Territorium zu locken.“
Diese Institutionen, ihre verheißungsvollen Versprechungen, in Aussicht gestellte Ausgleichszahlungen und gezielte Fehlinformation erzeugten ein Klima der Unruhe. 2011 wendeten sich die Teribe an den interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte und die UN sandte einen Sonderbeauftragten nach Costa Rica. Er kritisierte vor allem die Konsultationsweise des ICE, die nicht mit der ILO-Konvention 169 vereinbar sei (siehe LN 449). Für das ICE war dies ein harter Schlag, da es sich als besonders nachhaltiges Unternehmen sieht. Auch die Informationspolitik und Repressionen gegen die Bevölkerung vor Ort wurden angesprochen. Eine Zustimmung zum Projekt habe es nie gegeben, betont Roy Arias. „Nur ein kleiner Teil der Menschen war dafür, vor allem Nicht-Indigene und Mitarbeiter*innen des CONAI. Ein etwas größerer Teil war entschieden dagegen. Und der allergrößte Teil hatte schlichtweg keine Ahnung.“ Über das Ausmaß, Risiken, Folgen des Vorhabens und potenzielle Entschädigungen wurde nie ausreichend informiert. Warum das Projekt letztendlich abgebrochen wurde, weiß Arias nicht.
Die Antwort liefert ausgerechnet Jesús Orozco, ICE-Finanzvorstand. Ein Problem sei der tortuguismo − der Schildkrötismus, also das bewusste Verschleppen von Projekten durch Mitarbeiter*innen, um länger von den Zahlungen zu profitieren. Zudem sei das ICE nicht nur den Indigenen gegenüber sehr verschlossen, sagte er der Tageszeitung La Nación. Die Ankündigung des Projektendes geschah auf der ersten Pressekonferenz seit Jahren. Informationen zu Projektabläufen, Kosten und dem Zustand des Unternehmens gibt es nicht. Das Management habe verheerende Arbeit geleistet, das Unternehmen stehe finanziell sehr schlecht da.
Am Ende äußert sich auch Donald Rojas noch zu den Gründen: „Die aktuelle Regierung sieht den Staudamm auch als unvereinbar mit dem Image Costa Ricas als nachhaltiges, umweltfreundliches und tolerantes Land. Der indigene Widerstand hat das Thema öffentlich gemacht. Und auch wenn der neue nationale Konsultationsmechanismus letztendlich durch das Projektende gar nicht zur Anwendung kam, so erhöhte er doch die Kosten des Projektes.“ Dies könne auch verhindern, dass das Projekt in Zukunft wieder aufgegriffen werde. Kleine, aber entscheidende Faktoren. Die Hauptgründe für den Projektabbruch sind aber wohl, wie es auch Rojas sieht, die Wirtschaftslage, fehlendes Wissen und langjährige Intransparenz innerhalb des ICE sowie laxe Kontrollen des demokratischen Apparates. Letztendlich führte ausgerechnet der schlechte Zustand der costa-ricanischen Demokratie und ihrer Unternehmen zu einem vorerst guten Ende für die im Staudammgebiet lebenden Menschen.


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DAS LEBEN IM TOD IM LEBEN

Foto: © Los Niños Films


Am entscheidenden Tag solle sie bei Sonnenaufgang etwas essen, aber getrennt von den Gästen und nur das, was man ihr gebe. Dann gehe es los, und vielleicht werde sie etwas Angst haben. Wenn alles vorbei sei, solle sie ein kleines bisschen Alkohol trinken, und erst dann dürfe sie sich auch ausruhen. Diese Worte ihrer Großmutter zu Beginn des Films Lapü sollen die Hauptperson Doris auf das ihr bevorstehende Ritual vorbereiten.
Hintergrund der Planungen: Doris hat schon vor Jahren einen lieben Menschen verloren: ihre Cousine, mit der sie viele schöne Erinnerungen verbinden, starb fern ihres Heimatdorfes. Eines Nachts träumt sie von ihr, während der Wind über ihre Hütte in der trockenen kolumbianischen Halbwüste auf der Halbinsel Guajira am nördlichsten Ende Südamerikas weht. Im Gespräch mit ihrer Großmutter findet sie heraus, dass die Cousine sie durch den Traum bittet, ihre sterblichen Überreste zu exhumieren, zu säubern und in ihrem Dorf neu zu bestatten. Nur so könne sie ihre Ruhe finden.
© Los Niños Films
Doris wird sich der Aufgabe stellen. Das Ritual der zweiten Bestattung hat bei den Wayúu, der größten indigenen Gruppe in Kolumbien und Venezuela, eine wichtige Bedeutung und ist nach dem Ritual um die erste Menstruation bereits das zweite aus ihrer Kultur, das binnen weniger Jahre den Weg ins Kino findet (siehe La eterna noche de las doce lunas, LN 465). Mehr noch als um das Ritual selbst geht es Lapü jedoch um den Umgang mit dem Tod und seiner Rolle im Leben. In westlichen Gesellschaften wird er tabuisiert und verdrängt, sodass er, wenn er eintritt, die Zurückbleibenden aus der Bahn wirft. In Kolumbien gilt letzteres nach dem jahrelangen bewaffneten Konflikt mit vielen Opfern umso mehr. „Aber die Art und Weise, in der man den Tod versteht, ist die gleiche Weise, in der man auch das Leben versteht“, sagt César Alejandro Jaimes. „Haben wir die Fähigkeit verloren, den Tod als etwas für unser Leben zutiefst Wertvolles zu betrachten?“, fragen er und sein Regiekollege Juan Pablo Polanco sowohl sich selbst als auch das Publikum. Sie schreiben zu ihrem Werk, „Lapü ist ein Versuch, diese Beziehung zum Tod zu fühlen und wieder mit Bedeutung zu füllen, mit Verlust und Erinnerung; ein Versuch, ihn zu verbiegen und mit dem Leben zu verschmelzen.“
Dem Film gelingt es, eine für diese Thematik passende und einfühlsame Bildsprache zu finden. Genau wie Tag und Nacht in einer Sequenz mehrfach ineinander übergehen, spricht Doris in einem Moment noch mit ihrer Familie über die verstorbene Cousine und kurz darauf mit der Cousine selbst. Die Übergänge sind hier wie dort fließend, und die Grenzen zwischen Traum, Erinnerung und Fiktion verschwimmen.
© Los Niños Films
Die beiden Regisseure haben ihren ersten Film behutsam zusammen mit ihrer Hauptperson entwickelt und das Ritual sowie Doris’ Weg dorthin mit der Kamera begleitet. Diese wird zur teilnehmenden Beobachterin des Alltags, wenn Menschen in ihren Hängematten liegen, sich unterhalten, auf Bäume klettern und Wasser holen. Die Zuschauer*innen bekommen eine Vorstellung davon, dass das Leben in dieser Gemeinschaft nach einem eigenen – für unsere Wahrnehmung langsameren – Rhythmus abläuft und tauchen in diesen ein. In einigen Momenten, etwa während Doris die sterblichen Reste ihrer Cousine aus dem Grab holt oder wenn das Töten einer Kuh gezeigt wird, wirkt der Film dagegen verstörend. Gleichzeitig wird klar, dass diese Geschehnisse für die Wayúu einen selbstverständlichen Teil des Lebens darstellen. Die Diskrepanz darin ist gewollt und stimmt die Betrachter*innen nachdenklich. Nur subtil klingt an, dass sich die Wayúu wie so viele indigene Gruppen auch mit äußeren Einflüssen auseinandersetzen müssen – aber noch hören junge Menschen wie Doris ihren Großmüttern zu.

Lapü läuft 2019 im Berlinale Forum.


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REGIERUNG UND MOB AUF ANGRIFF


Fürchtet einen Genozid an den indigenen Völkern Brasiliens Sônia Guajajara (Foto Senado Federal, Flickr CC BY 2.)

Bereits im Januar stiegen die gewalttätigen Übergriffe in indigenen Territorien deutlich an. Der Indigenenmissionsrat CIMI und das Observatorium „De Olho nos Ruralistas“, die Menschenrechtsverstöße gegen Indigene und das Vorgehen des brasilianischen Agrobusiness dokumentieren, zählten für die ersten drei Wochen der Regierung Bolsonaro allein acht Angriffe. Sie trafen die vier indigenen Völker der Uru Eu Wau Wau, Arara, Xavante und der Guarani Mbyá in den Bundesstaaten Rondônia, Pará, Maranhão und Mato Grosso. Außerdem wurden Siedlungen und Zeltstädte der indigenen Guarani-Kaiowá in Mato Grosso do Sul durch paramilitärische Milizen bedroht und beschossen.
In Mato Grosso wurde am 5. Januar der 38-jährige Kleinbauer Eliseu Queres von Pistoleiros erschossen. Queres wohnte zusammen mit 200 weiteren Familien auf einer Landbesetzung mi Munizip von Colniza, im Norden des Bundesstaats von Mato Grosso. Das Gelände ist eigentlich in staatlichem Besitz, wurde aber vom früheren Gouverneur des Bundesstaats, Silval Barbosa, und einem weiteren Landespolitiker illegal in Besitz genommen. Später wurde das Land, da es landwirtschaftlich nicht genutzt wurde, von Kleinbäuerinnen und -bauern besetzt, um es im Rahmen der Agrarreform der familiären Landwirtschaft zuzuführen. Eliseu Queres war zusammen mit anderen in der Nacht auf dem Weg, um Wasser zu holen, als sie aus dem Hinterhalt von Pistoleiros beschossen wurden, wie die Landpastorale CPT berichtet. Neun weitere Personen wurden verletzt; fünf von ihnen so schwer, dass sie weiterhin auf der Intensivstation behandelt werden müssen.

„Der Präsident verglich unsere Lebensweise in unseren traditionellen Territorien mit Tieren im Zoo.”

Bei den bewaffneten Übergriffen auf Xavante-Indigene im indigenen Territorium Marãiwatsédé im Bundesstaat Mato Grosso beriefen sich die Eindringlinge auf den mit Bolsonaro verbündeten Politiker Nelson Barbudo der PSL. Dieser fordert seit 2012, den Status des indigenen Territoriums Marãiwatsédé als geschütztes Gebiet abzuerkennen und dessen Aneignung durch Farmer*innen zu ermöglichen. In Südbrasilien, im Bundesstaat Rio Grande do Sul, wurden Guarani auf ihrem Gebiet Ponta do Arado von Unbekannten beschossen und ihnen befohlen, binnen weniger Tage das Gebiet zu räumen; andernfalls würden sie getötet.  „Keinen Zentimeter mehr demarkiertes Land“ wolle er den Indigenen zugestehen, so hatte Bolsonaro vor der Wahl verkündet. Nach der Wahl übertrug er die Entscheidungshoheit über Demarkationen indigenen und Quilombola-Landes an das Agrarministerium. Ministerin wurde Tereza Cristina, die als „Muse des Agrargiftes“ bekannte Vorsitzende der Agrarindustrie im brasilianischen Nationalkongress. Die Indigenenbehörde FUNAI wurde in dem von Damares Alves unterstellten Ministerium für Frauen, Familie und Menschenrechte eingegliedert. Alves ist evangelikale Pfarrerin, Verfechterin der sogenannten „Schule ohne Partei“ und der Bekämpfung der „Geschlechterideologie“. Bolsonaro selbst erklärte, er wolle den Indigenen helfen, ihrer „Rückständigkeit“ zu entkommen und sich als vollwertige Brasilianer*innen zu integrieren. Dies will er dadurch erreichen, dass indigene Territorien für die wirtschaftliche Inwertsetzung durch Landwirtschaft und Bergbau freigegeben werden – und Indigene daran „verdienen“ könnten, zum Beispiel durch Verpachtungen. „Diese Gerede von Bolsonaro und seinem Team über indigene Völker ist rückwärtsgewandt und behandelt uns respektlos, unsere Geschichte, unsere Abstammung!“, protestierten 200 indigene Frauen aus dem Gebiet des unteren Tapajós-Flusses in Amazonien in einer gemeinsamen Erklärung, die sie Mitte Januar veröffentlichten. Die indigenen Frauen hatten sich versammelt, um über die neuen Angriffe der Bolsonaro-Regierung auf ihre Lebensweise und ihre Gebiete zu debattieren. Ihr Urteil fiel harsch aus: „Der Präsident verglich unsere Lebensweise in unseren traditionellen Territorien mit Tieren im Zoo, die in einem Käfig gefangen seien. Er macht absurde Aussagen über unsere Lebensweise und über unsere Wünsche als brasilianische Bürgerinnen.“

„Das ist keine Regierung, das ist ein Angriff!“, kommentierte auch der bekannte brasilianische Philosoph und Kolumnist Vladimir Safatle die bisherigen Entscheidungen der neuen Regierung. Kurz zuvor hatte Staatsminister Onyx Lorenzoni, die rechte Hand Bolsonaros, eine rasche „Säuberung“ der Verwaltung in die Wege geleitet. Die Maßnahme zielt auf Anhänger linker Parteien, insbesondere der oppositionellen Arbeiterpartei, die von 2003 bis 2016 die Regierung stellte. Mitarbeiter*innen in den Ministerien, die mit der Regierung ideologisch nicht auf einer Linie liegen, sollten entlassen werden, sagte Lorenzoni wenige Tage nach Amtsantritt seines Chefs. Ziel sei es, „die sozialistischen und kommunistischen Ideen“ aus den Ministerien zu verbannen. Regierungsvertreter erklärten, auch die Vergabe wissenschaftlicher Stipendien werde zukünftig nach einer ideologischen Überprüfung der Kandidat*innen erfolgen. Auch die Landlosenbewegung MST, die Landpastorale CPT und der Indigenenmissionsrat CIMI stehen im Visier der neuen Regierung in Brasília. Für den Präsidenten des neu geschaffenen Ministerialsekretariats für Grund-und-Boden-Eigentumsfragen, Luiz Antônio Nabhan Garcia, sind MST, CPT und CIMI allesamt kriminell, die MST-Schule „eine Fabrik für Diktatoren“, die es schnell zu schließen gelte.

Ziel sei es, „die sozialistischen und kommunistischen Ideen“ aus den Ministerien zu verbannen.

Angesichts der zunehmenden Zahl an gewalttätigen Übergriffen auf Indigene und Landlose, politisch flankiert durch eine reaktionären Umbau der staatlichen Strukturen, um die Agrarindustrie im Land zu stärken, mehren sich die Stimmen der Betroffenen, die auf internationaler Ebene eine harsche Reaktion einfordern. Sônia Guajajara vom landesweiten Zusammenschluss der indigenen Völker Brasiliens, APIB, forderte schon Ende Dezember einen internationalen Boykott der Produkte der brasilianischen Agrarindustrie. Da die EU eine der größten Abnehmerinnen brasilianischer Agrarprodukte sei, so Guajajara, „muss die EU für die sozialen und umweltbelastenden Konsequenzen ihrer Handelspolitik geradestehen und folgerichtig Produkte boykottieren, die aus Konfliktgebieten kommen, wie Soja aus dem mittleren Westen Brasiliens“. Andernfalls würde „die EU sich dem Genozid an Völkern und Kulturen gegenüber blind stellen“, so Guajajara.


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„WIR MACHEN DAS NICHT, WEIL WIR ES WOLLEN”

Natividad Llanquileo (Foto: David Rojas Kienzle)

Die im Luchsinger-Mackay-Fall angeklagten Mapuche wurden wegen Brandstiftung mit Todesfolge in zwei Fällen zu je 18 und im dritten Fall zu fünf Jahren Haft verurteilt. Welche Beweise veranlassten das Gericht zu diesem Urteil?
Der einzige Beweis war die Aussage eines Polizisten, der angab, dass der Verurteilte José Peralino 2016 ein Geständnis abgelegt und darin auch die anderen Verurteilten beschuldigt hatte. In der Folge wurde ein Prozess gegen insgesamt elf Personen eröffnet, von denen jetzt drei verurteilt wurden. Dabei hat José Peralino diese Aussage, die unter Folter erfolgte, widerrufen.

Der einzige Beweis ist also die Erinnerung eines Polizisten an das Verhör eines Angeklagten vor zwei Jahren?
Genau. Das ist nur möglich, weil der Fall zunächst nach dem Antiterrorgesetz behandelt wurde. Demnach ist die Aussage eines einzelnen Polizisten für eine Verurteilung zu langjährigen Haftstrafen ausreichend. Der terroristische Charakter der Straftat wurde vom Obersten Gerichtshof zwar aberkannt, aber alle Ermittlungen wurden entsprechend des Antiterrorgesetzes geführt.

Kann man gegen das Urteil noch vorgehen?
Auf nationaler Ebene haben wir mit dem Urteil des Obersten Gerichtshofs alle juristischen Mittel ausgeschöpft. Es bleibt noch die Anzeige bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission. Die Anwälte von José und Luis Tralcal befassen sich derzeit damit und CIDSUR versucht, sie dabei zu unterstützen. Wir haben außerdem wegen Beschaffung falscher Beweismittel durch Folter Strafantrag gegen die Polizei gestellt, aber der Fall wurde bis heute nie richtig ermittelt.

Hat es während des Prozesses Unregelmäßigkeiten gegeben?
Ja. Eine kritische Richterin hat Beschwerde eingereicht, weil sie von einem anderen Richter durch Mobbing unter Druck gesetzt worden ist. Sie wurde durch einen weniger kritischen Richter ersetzt, der in der Karriereleiter aufsteigen wollte. Der Präsident von Chile entscheidet über die Besetzung hoher öffentlicher Ämter. Während also Piñera im Wahlkampf das Ende des Terrorismus versprach, bewarben sich viele am Prozess beteiligte Richter auf solche Stellen. Piñeras Wahlkampf wurde dabei auch von den Kindern des bei dem Brandanschlag getöteten Ehepaars Luchsinger-Mackay finanziell unterstützt. Doch der Terrorismus ist in Wirklichkeit natürlich nur erfunden. Diverse internationale und nationale Organisationen haben das mehrfach festgestellt. Noch nie wurde ein Mapuche wegen Terrors verurteilt.

Liegt das größte Problem in den bestehenden Gesetzen, mangelnder Rechtsstaatlichkeit oder geht es schlicht um Rassismus?
Ich denke, es ist vor allem Ignoranz bezüglich der internationalen Normen und der Realität der Indigenen in Chile, insbesondere der Mapuche. Dabei ist z.B. die ILO-Konvention 169 (Übereinkommen über indigene Völker der Internationalen Arbeitsorganisation, siehe LN 435/436, Anm. d. Red.) klar – aber sie wird nicht respektiert. Der chilenische Staat wurde auch bereits mehrfach für seine Kriminalisierungspolitik verurteilt, aber der Modus Operandi bleibt gleich. Die Gerichte halten sich an vorangegangene Fälle, um sich nicht mit dem eigentlichen Konflikt um die indigenen Gebiete auseinandersetzen zu müssen und folgen einfach der Politik. Ich möchte glauben, dass das mit Unwissen und Ignoranz zu tun hat, aber natürlich spielen auch die kolonialen Besitzverhältnisse eine Rolle. Viele Juristen oder ihre Familien haben Land, auf das Mapuche Anspruch erheben. Außerdem existiert ein sehr schlechtes Bild der Mapuche. Früher galten sie als faule Trinker, heute als Terroristen.

Lassen sich denn internationale Verurteilungen so leicht ignorieren?
Da geht es immer um sehr spezifische Fälle. Wenn Chile verurteilt wird, weil Mapuche nach dem Antiterrorgesetz verfolgt werden, dann heißt es in dem Urteil, das sei Diskriminierung. Damit einher gehen dann zwar auch konkrete Anweisungen, manchmal gibt es sogar Entschädigungen. Aber die Regierung bezieht das immer nur auf die Opfer dieses einen Falls. Und die Medien berichten nur solange, wie Mapuche unter Anklage stehen. Wenn aber die Anklage fallengelassen oder der Staat sogar international verurteilt wird, berichten sie nicht mehr. Im kollektiven Gedächtnis bleibt das Bild des kriminellen Mapuche. In diesem Zusammenhang spielen die alternativen Medien heute eine wichtige Rolle, denn sie bleiben bis zum Schluss an den Fällen dran.

Denken Sie, dass sich trotz der Kriminalisierung auch radikale Mittel des Protestes lohnen?
Es ist schwer zu sagen, wo der richtige Weg liegt, um diesen Konflikt zu lösen. Die Entscheidung über die Art des Protests liegt letztendlich bei den einzelnen Mapuche-Gemeinden. Wir als Verteidigung entscheiden da nicht mit, auch wenn wir selbst Mapuche sind. Meine Arbeit sehe ich als ein politisches Mittel, das dringend nötig ist. Wir machen das nicht, weil wir das wollen, sondern weil wir es müssen. Gäbe es keine kritische Organisation wie CIDSUR, wären wahrscheinlich schon mehrere Mapuche nach dem Antiterrorgesetz verurteilt worden.

Wie finanziert CIDSUR die juristische Arbeit?
Das ist ein schwieriges Thema. Natürlich hat jeder Angeklagte in Chile das Recht auf eine juristische Verteidigung. Aber die Angeklagten brauchen besonders in unseren Fällen nicht nur irgendeinen Anwalt, sondern jemanden, dem sie vertrauen. Denn die Unterwerfung unter das chilenische Rechtssystem stellt für viele Familien und Gemeinschaften der Mapuche einen ernsthaften Konflikt dar. Aus dieser Not heraus ist CIDSUR überhaupt erst entstanden. Die finanziellen Mittel für die Verteidigung kommen zum größten Teil von den Angeklagten selbst, die so viel zahlen, wie sie können. Das ist meist nur ein Bruchteil von dem, was ein Anwalt für die juristische Arbeit fordern würde, denn die Mapuche gehören zum ärmsten Teil der Bevölkerung in Chile.

Haben Sie als Anwältin von Mapuche-Angeklagten schon selbst Diskriminierung erfahren?
Fast alle Anwälte, die Mapuche vor Gericht verteidigt haben sind schon fälschlich irgendeiner Straftat beschuldigt worden oder waren Schikanen seitens der Polizei ausgesetzt. Im Anwaltsteam von CIDSUR gibt es drei Mapuche, von denen ich am längsten dabei bin, seit 2016. Gegen mich persönlich wird schon seit längerer Zeit immer wieder wegen irgendetwas ermittelt, das ist für mich kein Thema mehr. Allerdings bedeuten solche Ermittlungen für uns, dass wir nicht nur unsere Klienten, sondern auch unsere Kollegen verteidigen müssen.

Unterscheidet sich die jetzige Regierung unter Sebastián Piñera von der vorherigen von Michelle Bachelet hinsichtlich der Verfolgung und Repression der Mapuche?
Leider sehe ich da kaum einen Unterschied. Aber der Diskurs von Piñera ist sehr viel schärfer und das hat auch die Polizei entfesselt. Sie macht, was sie will, da sie um die Rückendeckung der Regierung weiß.

Was denken Sie über den “Plan Impulso Araucanía” der Regierung Piñera, der unter anderem 16 Millionen Dollar privater Investitionen in der Region Araucanía vorsieht?
Ich glaube, er wird die vorhandene Krise noch weiter vertiefen. Es wird viel von wirtschaftlichen Projekten und Investitionen gesprochen, aber diese Projekte werden das Leben in den Gemeinden zerstören. Alles hängt mit wirtschaftlichen Themen zusammen, alles soll gekauft werden. Durch die Einrichtung eines Fonds zur finanziellen Entschädigung von angeblichen Opfern des Terrorismus rechtfertigt der Plan außerdem den verheerenden Terrorismusdiskurs.

Berücksichtigt der Plan die Hauptforderung der Mapuche-Bewegung nach der Rückgabe des ehemaligen Territoriums?
Durch Änderungen des Indigenengesetzes soll zukünftig der Verkauf indigener Gebiete erlaubt sein. Durch die große Armut unter der indigenen Bevölkerung würde das dazu führen, dass viele Mapuche ihr Land verkaufen. In dieser Hinsicht führt der Plan zu einer Verschlechterung.

Lässt sich wenigstens den geplanten Quoten für indigene Parlamentarier*innen etwas Positives abgewinnen? Oder der vorgesehenen konstitutionellen Anerkennung der indigenen Bevölkerung?
Der Plan kündigt eine Anerkennung der indigenen Völker in der Verfassung an, allerdings nicht, wie genau diese aussehen soll. Wahrscheinlich wird dabei nichts Wesentliches herauskommen. Wenn zukünftig nur in der Verfassung steht: “In Chile gibt es verschiedene Kulturen”, ist damit nichts gewonnen, denn das ist eine bekannte Tatsache. Die Nutznießer von Quoten werden nicht die indigenen Völker sein, sondern die Parteien. Es wird am Ende vielleicht mehr indigene Abgeordnete geben, aber sie werden eher die Interessen der Parteien vertreten als die ihres Volkes. So ist es jetzt schon bei mehreren im Parlament vertretenen Mapuche.

Wenn es trotz wechselnder Regierungen keine Veränderungen zum Besseren gibt, sehen Sie dann eine Zukunft für die Mapuche als Teil des chilenischen Staats?
Ich bin Optimistin, für die Mapuche sehe ich trotz der aktuellen schwierigen Situation eine Zukunft. Das Wichtige ist, dass daran gearbeitet wird: Solange es Bewegung gibt, sieht man auch eine Zukunft. Es gibt eine Tendenz unter den Mapuche, sich wieder stärker als solche zu identifizieren. Die neuen Generationen sind jetzt stolz darauf, wer sie sind, das gab es früher nicht. Heute lernen die Jugendlichen die Sprache Mapuzungun und die Geschichte und Medizin der Mapuche. Viele Künstler eignen sich das wieder an, was die Mapuche ausmachte, bevor es den Staat Chile gab. Eine Zukunft gibt es also. Wie genau wir sie erreichen, das wissen wir leider noch nicht.

Beeinflussen solche Entwicklungen auch Ihre Arbeit als Juristin?
Wir Juristen müssen immer erst das Feuer löschen (lacht). Uns bleibt leider wenig Zeit, uns mit solchen Dingen auseinander zu setzen. Dafür braucht es mehr Leute, die sich damit beschäftigen, wie wir Mapuche-Traditionen mit unserer juristischen Arbeit verbinden können. Doch zum Glück fangen einige gerade damit an.


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„WIR MÜSSEN UNSER DENKEN DEKOLONISIEREN”

(Foto: privat)

Frau Caballero, Sie kommen gerade von einer internationalen Frauenkonferenz. Welcher Zusammenhang besteht zwischen den Themen der Konferenz und der Arbeit Ihrer Organisation?
Wir forschen seit 2012 zu Geschlechtergewalt gegen indigene Frauen in Paraguay. Aus dieser Forschung heraus sind neue Möglichkeiten der Unterstützung entstanden. So haben wir einen Arbeitskreis zwischen indigenen und nicht-indigenen Frauen geschaffen, der ein interkulturelles Lernen ermöglichen soll und in dem wir über Themen wie empoderamiento (Empowerment) oder ein gewaltfreies Leben sprechen. Die Konferenz will, so wie es ihr Name andeutet, Schnittstellen zwischen den vielfältigen Erfahrungen der Frauenkämpfe suchen. Also Punkte, bei denen wir uns zusammentun und Kraft entwickeln können. Wir wollen einen Mentalitätswechsel im Hinblick auf die Art des Zusammenlebens in den Gesellschaften. Denn wir wurden uns einig, dass wir mit der Welt, in der wir leben, nicht zufrieden sind. Dort erleben wir Gewalt und Tod: Jeden Tag stirbt eine Frau an einem Ort durch physische oder strukturelle Gewalt. So leiden indigene Frauen an einem Mangel an Gesundheit und Bildung. Wir sprechen von einer Revolution im Sinne einer Veränderung, die uns zu dem führt, was die indigenen Völker el buen vivir („das gute Leben“) nennen.

Können Sie ein generelles Bild der Lage der indigenen Gemeinschaften Paraguays zeichnen?
In Paraguay befindet sich die Agrarindustrie in einem Prozess der extremen Ausweitung. Wir sind der viertgrößte Sojaproduzent der Welt. Unsere Regierungen setzen alles daran, den Sojaanbau und die Viehwirtschaft auszuweiten, doch dafür müssen Indigene und Kleinbauern von ihrem Land verschwinden. Täglich werden sie durch das Gift der Agrarindustrie und durch die Entwaldung getötet. Auch das Trinkwasser ist vergiftet, ihnen fehlt das Buschland, ihre Gesundheit verschlechtert sich und es mangelt an Zugang zu Bildung für sie.

Wie genau wirkt sich die Ausweitung der Sojagrenze und der Viehzucht auf das Leben der indigenen Gemeinschaft aus?
Die Mehrheit der indigenen Gemeinschaften lebt noch in den ländlichen Gebieten, aber viele von ihnen migrieren aufgrund der Entwaldung ihrer Territorien und des damit einhergenden Wegfallens ihrer Existenzgrundlage in die Städte. Sie waren ursprünglich Jäger, Sammler und Kleinbauern, aber jetzt können sie nicht mehr sammeln und jagen. In den Städten bilden sie auch Gemeinschaften, aber die Kinder, die dort geboren werden, wachsen natürlich mit einer anderen Kultur auf. Sie bleiben in der Stadt und verlieren den Bezug zu ihrem Heimatort.

Kehren die jungen Leute irgendwann zurück in die ländlichen Gebiete?
Aufgrund der Attraktivität und Annehmlichkeiten der Städte kehren sie selten zurück. Es passiert dasselbe wie mit den Bauern, die ihre Länder aufgrund der Ausbreitung der Agroindustrie verkaufen. Aber im Gegensatz zu diesen ist der Landbesitz der indigenen Bevölkerung kollektiver Art und kann nicht verkauft werden, so schreibt es die Verfassung vor. Deshalb wird der Druck, dass sie das Land verlassen, auf anderen Wegen verursacht.

Was sind das für Wege?
Meiner Meinung nach geschieht es über die fundamentalistischen Religionen, da diese das ganze kulturelle Gewebe der indigenen Völker kaputtmachen, indem sie ihre Überzeugungen und ihre Art zu leben angreifen. Vor einer Weile berichtete uns eine indigene Frau von einem skandalösen Fall. Es ging dabei um einen Pastor einer fundamentalistischen Kirche. Dieser nahm in Anwesenheit ihres spirituellen Führers einen der heiligen Gegenstände ihres Volkes, welchen man für traditionelle Rituale nutzt, sagte, er sei Teufelswerk und verbrannte ihn. Sie sagte, als der Pastor diesen Gegenstand, den nicht mal wir anfassen dürfen weil er so heilig ist, nahm und verbrannte, sei es so gewesen, als wenn er uns alle zusammen genommen, angezündet und verbrannt hätte. Sie versuchen also, die indigene Kultur auszulöschen, alles zu zerstören, damit die Indigenen geschwächt werden und weggehen. Und dann sagen sie, dass sie das Buschland und die Natur nicht mehr brauchen, sich nicht mehr dafür interessieren, und verlassen das Territorium. Dieses wird dann frei für die Monokulturen oder die Marihuanaplantagen.

Welche Reaktion entwickeln die indigenen Frauen angesichts dieser Bedrohung ihrer kulturellen Lebensweisen?
Da die Kultur dieser Gemeinschaften keine Akkumulation von Gütern, sondern eine andere Form des Zusammenlebens mit der Natur vorsieht, entwickeln die Frauen auch andere Mechanismen der Resistenz als beispielsweise Frauen in anderen Teilen der Welt. Wir sagen zum Beispiel, dass die indigenen Frauen die Hüterinnen der Erinnerung ihrer Gemeinschaften sind. Sie sind es, die die Lieder und das Kunsthandwerk bewahren sowie das Wissen der Medizin. Deshalb begleiten wir sie als Organisation in dem Prozess der Revitalisierung dieser Aspekte, also dessen, was ihnen Identität gibt.

Ein zentraler Ansatzpunkt von Grupo SUNU ist also die Stärkung der kulturellen Identität der indigenen Bevölkerung?
Ja, denn wir glauben, dass wir anfangen müssen, zu dekolonisieren. Das bedeutet, unsere eigenen Werte und unser eigenes Potenzial wiederzuentdecken. Geschichtlich betrachtet wurde uns in Paraguay vermittelt, zu Europa aufzusehen und es als das Erstrebenswerte und Perfekteste anzusehen, was es gibt. Wir sollten unser Denken dekolonisieren, damit indigene Völker ihr Selbstwertgefühl wiederentdecken und ihren enormen Reichtum schätzen können. Auf der Grundlage dieser Entdeckung und dieses Potenzials können sie alternative Vorschläge entwickeln und ihre Vorstellungen vom buen vivir verbreiten. Wir glauben, dass ausgehend von dieser Revitalisierung sowohl Indigene wie auch wir nicht Indigene etwas lernen können. Das ist es, was mich bestärkt, was mir Sinn gibt im Leben – zu wissen, woher ich komme. Es geht darum, mich sicher in der Welt zu fühlen. Wir helfen also auch dabei, die interne Organisation der Indigenen zu stärken, damit sie sich gegen die äußeren Bedrohungen wie das kapitalistische System wehren können. Wenn wir mit den indigenen Völkern arbeiten, müssen wir uns die westlichen Brillen abnehmen, versuchen zu verstehen, wie ihre Gesellschaft funktioniert, wie sie ihr Leben gestalten.

Sie legen auch besonderes Augenmerk auf die Arbeit mit den indigenen Jugendlichen.
Es ist wichtig, dass die Jugendlichen Räume innerhalb ihrer Gemeinschaften finden und innerhalb der Organisationen. Denn in diesen Krisen, seien es die Entwaldung, der Einfluss der Medien oder der ganze kulturelle Verlust, mit denen die Gemeinschaften konfrontiert werden, sind es die Jungen, die am meisten leiden. Ihnen fehlt die Orientierung, und sie verfallen leichter den Verlockungen der Drogen und des Alkohols. Es gibt Fälle von Selbstmord, Fälle von Gewalt und immer sind es die Frauen, die unter der Gewalt der Männer leiden.

Sie hatten schon den Anbau von Marihuana erwähnt, der besonders im Territorium der Paî Tavyterâ zunimmt. In den letzten Jahren hört man immer wieder von Mordfällen an ihnen, die unaufgeklärt bleiben.
Solche Mordfälle passieren gerade häufig, da Männer und auch Frauen in die Marihuanaplantagen gehen, um Geld zu verdienen – letztere meist als Köchinnen oder Prostituierte. Wenn sich jemand dem Willen der Plantagenbesitzer*innen widersetzt, endet das oft tödlich. Aber wer wird in solchen Fällen schon nachforschen? Niemand geht in diese Plantagen hinein. Viele Indigene sind arm und können sich keinen Anwalt leisten. Und wenn es sich um Drogenhändler handelt, weiß man über deren genauen Verbleib nichts. Besonders gravierend ist das im Fall von Frauen. Vor einer Weile ist eine junge indigene Frau verschwunden und wurde dann irgendwo am Straßenrand vergewaltigt und ermordet gefunden. Aber den Staat interessiert so eine arme indigene Frau nicht.
Unterstützt Ihre Organisation indigene Gemeinschaften darin, ihre Rechte einklagen zu können?
Wir versuchen, innerhalb der Gemeinschaften einige Vermittler zu etablieren, die sich im nicht-indigenen Rechtssystem auskennen, damit die Indigenen ihre Rechte bei den zuständigen Instanzen im Land einklagen können.

Worin sehen Sie die größten Herausforderungen in der zukünftigen Arbeit Ihrer Organisation?
Unsere größten Herausforderungen hängen direkt mit denen der indigenen Völker Paraguays zusammen, also mit den Waldrodungen, dem Drogenhandel und den Vertreibungen aus indigenen Territorien. Viele der indigenen Weltanschauungen haben mit den Wäldern zu tun. Wie soll man den Kindern und Jugendlichen erklären, was bestimmte Mythen bedeuten, wenn der Kontext fehlt, wenn es gar kein Buschland mehr gibt? Jedes Tier hat eine bestimmte Funktion in ihrem System. Wie übermittelt man so etwas Jugendlichen, wenn das alles weg ist?
Und schließlich fragen wir uns, wie wir diesen großen Problemen, mit denen die Gemeinschaften konfrontiert sind, begegnen können. Wie können wir ein so großes globales System bremsen? Aus diesem Grund sind internationale Treffen sehr wichtig, denn so sehen wir, dass wir nicht alleine sind, dass auch in anderen Teilen der Welt, wie zum Beispiel in den Philippinen, die indigene Bevölkerung leidet. Wir erkennen, dass es sich um ein weltweites Problem handelt und dass die Politik unseres Staates von den großen multinationalen Firmen definiert wird. Trotz dieser schwierigen Situation sehen wir selbst in den kleinsten Widerständen großes Potenzial.


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BILDGEWALTIGES MEISTERWERK

Ab Anfang April in den deutschen  Kinos Traumafte Schönheit und brutale Realität in Birds of Passage

Es gibt Filme, die erzählen eine Geschichte und es gibt Filme, die machen diese Geschichte erlebbar. Das neue Werk von Ciro Guerra und Cristina Gallego ist einer dieser Filme. Birds of Passage spielt in den 70er Jahren in der Region La Guajira, im Nordosten Kolumbiens, und gilt als der Bonanza Marimbera genannte Ursprung des kolumbianischen Drogenhandels. Rapayet, ein Angehöriger der matriarchalisch geprägten Wayuu, verkauft Marihuana an US-Amerikaner*innen. Der Handel boomt und sorgt für großen Reichtum. Doch die damit verbundene Gewalt zerstört letztendlich seine Familie.

Das Regie- und Produktionsduo aus Ciro Guerra und Cristina Gallego, die schon für Die Reisen des Windes und Der Schamane und die Schlange zusammengearbeitet haben, entführt uns auch diesmal in eine Welt zwischen Legende, Traum und Wirklichkeit. In langen Aufnahmen lassen sie die beeindruckende Wüstenlandschaft der Region auf die Zuschauenden wirken. Die schlichte Rauheit der Natur steht in teils krassem Gegensatz zu der detailreich verzierten, glänzenden Kleidung der Frauen. Ebenso das prunkvolle Haus, das die Familie bewohnt, nachdem der Reichtum Einzug gehalten hat: Es scheint wie ein Geisterpalast in der Weite der Wüste und zugleich protzig und angreifbar – ein Sinnbild des Drogenreichtums. Die Ausdrucksstärke der Bildsprache zeigt sich auch in den stilleren Momenten, deren Symbolgehalt sich auf die Tierwelt bezieht. So verkünden bunt gemusterte, riesig anmutende Heuschrecken kommendes Übel und Plagen, ein nächtlich wiederkehrender schwarzer Vogel versinnbildlicht die unheilvolle Gegenwart eines getöteten Freundes. Auch die reale Gestaltung der Traumbilder, in denen die Matriarchin Úrsula Botschaften für die Zukunft liest, lassen diese als gleichberechtigte Informationsquelle neben den alltäglichen Geschehnissen wahrnehmen. Hier kommt man nicht umhin, den magischen Realismus am Werk zu spüren. Auch in der Erzählweise nähern sich die Regisseur*innen anderen Traditionen an. Ein alter Wayuu besingt in der Eröffnungs- und Schlusssequenz die Geschichte des Films und hebt sie somit in eine orale Tradition, die sich im Handlungsaufbau weiterführt, der thematisch und chronologisch in fünf Gesänge (cantos) unterteilt ist. Dies wird noch unterstrichen, indem fast nur Wayuunaiki, die Sprache der Wayuu, gesprochen wird.

Brüche der Figuren, in denen die traditionelle matriarchale Gesellschaftsstruktur zu bröckeln scheint und sich Rapayet gegen Úrsulas Wort stellt, bringen die Welt einer indigenen Gemeinschaft, die in den Drogenhandel verwickelt ist, näher. Guerra und Gallego ist es gelungen, den Blick auf das bekannte Thema des Drogenhandels in Kolumbien durch eine neue Perspektive und in einer neuen Ästhetik zu betrachten. Auch ist dies der erste Film, in dem Cristina Gallego die Co-Regie übernommen hat, was die starke Frauenrolle im Film betont. Ein überwältigender Film, dessen poetische und surreale Bilder die Zuschauer*innen nicht loslassen und dessen Geschichte Kolumbien noch immer begleitet.


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“DAS GRUNDGESETZ SCHÜTZT UNSER LAND”

BLAS LÓPEZ
ist Soziologe und war von 2011 bis 2013 Generalsekretär des allgemeinen Kongresses der Guna. Derzeit ist er Mitglied der Kommission, die den Umzug seiner Gemeinde Gardi Sugdub von einer Insel auf das Festland organisiert.

(Foto: privat)


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Wie ist die politische Autonomie und Selbstverwaltung der Guna organisiert?

Im Jahr 1925 gab es nach einer Phase von Diskriminierungen und Misshandlungen seitens des Staates Panama einen bewaffneten Aufstand der Guna, in dessen Folge der Staat unser Volk und unser Territorium Guna Yala offiziell anerkannte. Die jetzige Selbstverwaltungsstruktur des Gebietes gibt es seit 1972 und wurde von den Guna in einem Grundgesetz (Ley fundamental) festgehalten. Dieses wird jedoch nicht vom Staat anerkannt, weil es teilweise im Konflikt zu nationalen Gesetzen steht, etwa was die natürlichen Ressourcen betrifft.

Wie sieht die Selbstverwaltungsstruktur konkret aus?

Kern der Selbstverwaltung sind zwei Versammlungen, der allgemeine Kongress (Congreso general guna, CGG) sowie der Kulturkongress (Congreso general de la cultura guna, CGCG), der spiritueller Natur ist. Der CGG tagt zweimal pro Jahr, besteht aus Abgesandten aller 49 Gemeinden und trifft die politischen Entscheidungen, welche die Gemeinden dann umsetzen müssen. Beide Kongresse haben mehrere traditionelle Repräsentanten, die Sagla dummagan. Der CGG hat einen Generalsekretär, er hat außerdem verschiedene Sekretariate geschaffen, etwa für die Verteidigung des Territoriums, für Information, für Tourismus. Jede Gemeinde hat zusätzlich eine eigene Ordnung mit Regeln.

Welche Bedeutung haben Natur und Biodiversität für die Guna?

Eine sehr wichtige, die Guna bewahren sie seit jeher. Sie haben eine Beziehung zur Natur, auch in spiritueller Hinsicht, und leben täglich mit Erde und Meer. Eine entscheidende Bindefunktion haben dabei traditionelle Rituale, der CGCG sowie der Ortsvorsteher Sagla als politische und spirituelle Autorität, der im Dorfversammlungshaus täglich in einer religiösen Form des Gesangs daran erinnert, wie wichtig die Liebe zur Natur ist. Dann wird bei uns seit einigen Jahren ein zweisprachiger Unterricht umgesetzt, wofür auch Lernmaterial zu unserer Kosmovision in unserer eigenen Sprache entwickelt wurde. Das alles festigt uns in unserer Beziehung zur Natur. Und es gibt konkrete Regeln wie beispielsweise jährlich ein dreimonatiges Fangverbot für Langusten, Schildkröten und Meeresfrüchte, damit sich die Bestände erholen können.

Werden solche Regeln gut befolgt?

Zunächst gibt es eine soziale Kontrolle solcher Regeln. Das Fangverbot ist den meisten Fischern und auch den professionellen Händlern bekannt, dagegen gibt es kaum Verstöße. Der CGG ernennt für diese Zeit etwa Inspekteure in jedem Hafen, die dann den Fang konfiszieren und ins Meer zurückwerfen. Die Leute wissen, dass sie nichts verkaufen können, also fangen sie auch kaum, allenfalls mal für sich selbst. Andere Beispiele sind Müllentsorgung in der Umwelt oder dass Korallen aus dem Meer zur Vergrößerung der bewohnten Inseln und zum Schutz gegen den steigenden Meeresspiegel verwendet werden, was langfristig das marine Ökosystem schädigt und daher unerwünscht ist. Das machen die Leute aus Gründen des praktischen Überlebens, es hat nichts mit unserer Kultur zu tun. Je nach Ausmaß eines Verstoßes kann der CGG Geldstrafen verhängen.

Wie gehen die Guna mit Einflüssen von außen um, etwa mit Projekten und dem Tourismus?

Besuche von Touristen oder Wissenschaftlern sind im Prinzip willkommen, solange sie unsere Kultur respektieren. Externe Investitionen in Projekte sind nur möglich, wenn sie zum Vorteil der Guna geschehen, dafür muss man beim CGG einen Antrag stellen. Das Grundgesetz besagt, dass nur Guna Land in Guna Yala erwerben dürfen (Anm. d. Red.: im Jahr 2005 begonnene Verhandlungen mit der Regierung zur Aufweichung dieses Grundsatzes wurden von den Guna abgebrochen, siehe LN 387/388). Es gab viele Anfragen, um in Unterkünfte für Touristen zu investieren, aber nach einer schlechten Erfahrung, infolge derer ein von externen Geldgebern finanziertes Hotel vom CGG geschlossen wurde, dürfen touristische Einrichtungen und Dienstleistungen nur noch von Guna bereitgestellt werden. Vor einigen Jahren wurde dann die erste Straße nach Guna Yala eröffnet. An ihr hatten neben der Regierung auch die Bewohner ein Interesse, da die Reise von Panama-Stadt nach Guna Yala per Schiff oder Flugzeug teuer war. In das durch die Straße erschlossene Dorf Gardi Sugdub, in dem ich wohne, kommen nun viele Touristen.

Welche Folgen hatte das für das Leben dort?

Der Tourismus hat das Leben dort vollkommen verändert, er ist nicht Teil unserer Kultur und wir waren darauf nicht vorbereitet. Jetzt müssen wirauf ihn reagieren. Einerseits werden die neuen Verdienstmöglichkeiten durch den Tourismus von den meisten positiv gesehen. Viele Einwohner arbeiten jetzt als Führer oder bringen Touristen zu den Unterkünften, von denen es in der Umgebung etwa 30 gibt. Andererseits bestellen immer weniger Leute dort ihre Felder, wodurch sie keine Selbstversorger mehr sind, so wie es heute noch in den meisten anderen Dörfern ist. Die Straße führte auch zu einem Müllproblem und zur Abholzung von Wald, welche wiederum Bäche austrocknet und im Sommer zu Wasserknappheit führt. Tourismus und Landwirtschaft sollten eigentlich zwei sich ergänzende Bausteine sein, dafür wird aber eine neue Strategie gebraucht, denn bisher machen die Touristen hier vor allem Strandurlaub und kommen nur wenig in die Dörfer. Es gibt daher Ideen zu Agrotourismus, das heißt wir könnten den Gästen zeigen, wie wir traditionell unser Land bestellen.

Gibt es sonst Konflikte mit externen Akteuren?

Mit der Regierung hat es immer gewisse Spannungen gegeben. Guna Yala ist eine Goldgrube für den Tourismus, und wirtschaftliche Interessen führen zu Konflikten mit Staat und Unternehmen. Aktuell gibt es etwa einen Konflikt um schon immer von den Guna genutzte Gebiete, die bei der Anerkennung des Territoriums aber nicht einbezogen worden. Dort vergibt der Staat nun Landtitel an Unternehmen, und der CGG klagt dagegen vor dem interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof. Weitere Konflikte drehen sich derzeit um ein Stromkabel, welches durch unser Land verlegt werden soll, oder um eine von uns erhobene Maut für Autos und Boote, die laut einiger Verkehrsunternehmen und der Regierung nicht rechtens sei. Der CGG wehrt sich auch hier juristisch und gründet jetzt ein eigenes Verkehrsunternehmen. Von Großprojekten mit enormen Auswirkungen wie Bergbau oder Staudämmen sind wir nicht betroffen. Wenn Unternehmen kommen wollten, um unser Land auszubeuten, hat der CGG diese bisher immer stoppen können.

Was gibt es für Projekte in Guna Yala und wie werden sie organisiert?

Der Staat investiert in Schulen, Krankenstationen und Wasserleitungen. Der CGG sowie kommunale NGOs unterhalten einige kleine Projekte, etwa zur Wiedergewinnung bestimmter Pflanzensamen oder zum Wiederanbau des Kakaos, der spirituelle und zeremonielle Bedeutung für die Guna hat. Die Finanzierung solcher Projekte erfolgt zum Beispiel durch die Weltbank. Meine Gemeinde Gardí Sugdub ist dabei, als Reaktion auf die durch den Klimawandel sowie die Korallenschäden bedingten Überschwemmungen auf das Festland umzuziehen. Die Gemeinde hat diese
Initiative selbst ergriffen, auch weil sie an der Straße viel Land besitzt, auf dem das neue Dorf gebaut werden soll.

Sollte die Selbstverwaltung weiterentwickelt werden?

Ja, wir brauchen mehr vorausschauende Planung im Sinne eines Regionalplans, um dies dann auf einzelne Projekte anwenden zu können: Wie stellen wir uns unsere Zukunft in 20, 30 Jahren vor? Welcher Tourismus passt zu uns? Wir müssen aber auch den CGG selbst strukturell erneuern. Ich nehme etwa bei den lokalen Amtsträgern einen Rückgang des Selbstbewusstseins wahr, wir müssen sie stärken. Das gilt auch für die Frauen, die in unserer Kosmovision eine wichtige Rolle spielen und schon heute in vielen Funktionen für den CGG arbeiten. Er muss sich aber noch weiter öffnen, denn Frauen und Männer sollten die Entscheidungen gemeinsam treffen. In den Gemeinden passiert das zum Teil schon, aber die Organisation der Frauen ist nicht überall gleich stark. Schließlich ist die Realität der jungen Guna eine besondere: sie studieren, nutzen das Internet und haben eine andere Perspektive, was manchmal auch Kritik gegenüber dem CGG bedeutet. Der CGG ist nicht perfekt, aber unser Territorium und damit die Autonomie sind die Stärke unseres Volkes, sie sind für unsere Identität und den Schutz der Natur sehr wichtig. Wir sollten weiter an ihrer Verbesserung arbeiten.


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DAS GALLISCHE DORF VON ALTO BENI

Fotos: Nicole Maron

El Bala – der Ort verdankt seinen Namen der ungewöhnlichen Form des Felsens, der sich über ihn erhebt. Die Legende erzählt, dass das halbkreisförmige Loch auf dem Grat das Einschlagloch einer riesigen Kugel (spanisch bala) sei, die jemand vor Urzeiten hier abgefeuert habe. El Bala befindet sich mitten im bolivianischen Amazonasgebiet, 16 Kilometer von Rurrenabaque in der Region Alto Beni, die nach dem gleichnamigen Fluss benannt ist. Hier plant die bolivianische Regierung verschiedene Staudämme. Das größte Projekt besteht aus zwei miteinander verbundenen Staudämmen in El Chepete und El Bala, wobei letzterem nicht viel öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt wird, der im Vergleich zum Damm in El Chepete viel geringere Auswirkungen hätte. In El Chepete würde ein Gebiet von 680 Quadratkilometern überflutet, in El Bala „nur“ ein Gebiet von 93 Quadratkilometern.

“Viele Dörfer sind noch schlechter informiert, einige haben noch nie vom Staudammprojekt gehört.”

Allein im betroffenen Gebiet von El Bala würden jedoch hunderte von indigenen Familien ihrer Heimat beraubt werden, tausende Menschen wären betroffen. „Auch wenn die Zahlen in Bezug auf die Fläche der gesamten Region gering erscheinen mögen, besonders im Fall von El Bala, hätte der Bau dieses Staudamms einen immensen Einfluss, sowohl auf die Umwelt als auch auf die Menschen, die hier leben“, betont Mario Paniagua. Als Mitarbeiter der bolivianischen NGO „Fundación Tierra“ betreut er seit Jahren Projekte in der Amazonasregion und unterstützt die indigene Bevölkerung in ihren Anliegen. „Die Lebensgrundlage der indigenen Bevölkerung der Tsimanes und Mosetenes, die seit Generationen hier leben, besteht in der Landwirtschaft, dem Jagen und Fischen. Ihre Lebensweise ist vollkommen an die örtlichen Gegebenheiten angepasst. Es wäre für sie äußerst schwierig, ihre Kultur aufrechtzuerhalten, wenn sie an einen Ort umgesiedelt würden, an dem ganz andere Bedingungen herrschen.“ Doch von offizieller Seite ist von Umsiedlung bisher nicht die Rede – eigentlich werden die Dorfbewohner*innen überhaupt nicht informiert. „Sie sagen uns gar nichts,“ sagt Hermindo Vies Gutierrez, der Vorsteher des Dorfes Asunción de Quiquibey, „und die meisten anderen Dörfer sind noch viel schlechter informiert als wir, einige haben überhaupt noch nie vom Staudammprojekt gehört.“

Um zu klären, ob das Gebiet tatsächlich für einen Staudamm geeignet wäre, führt das nationale Elektrizitätsunternehmen (Empresa Nacional de Electricidad Bolivia, ENDE) seit einiger Zeit Studien durch, bei denen auch Messungen in den indigenen Territorien vorgenommen werden. Das Unternehmen befragt – oft ohne genau zu erklären, worum es geht – die Dorfbewohner*innen über ihr Leben und ihre landwirtschaftliche Produktion. „Im Rahmen dieses Projektes ist ENDE verpflichtet, auch die Auswirkungen auf die Umwelt und die sozialen Beziehungen zu untersuchen,“ erklärt Mario Paniagua. „Aber wie mir die indigenen Gemeinschaften erzählen, klärt ENDE nur ab, wie viele Menschen im betreffenden Dorf leben und was sie anbauen. Doch dies sind sehr oberflächliche, allgemeine Fragen, auf Grund derer sich die Situation nicht ernsthaft analysieren lässt.“

Die Befragungen sind auch für die Dorfbewohner*innen von Asunción de Quiquibey ein Grund zur Besorgnis. „Wenn sie uns fragen, wie viel Land wir haben und sich unsere Dörfer ansehen, befürchten wir, dass sie zu dem Schluss kommen, dass dies alles hier nicht viel Wert hat und wir einfach umzusiedeln wären,“ sagt Hermindo Vies Gutierrez. „Denn wir besitzen nicht viel und bauen nur Lebensmittel für die Selbstversorgung an. Unsere Häuser sind aus einfachen Materialien gebaut, die uns die Natur schenkt, mit Dächern aus Blättern. Überhaupt leben wir vom Wald: Er gibt uns Essen, Medizin, Fleisch und alles andere. So sind wir es gewohnt, und so haben es auch schon unsere Großeltern gemacht.“ Der Bezug auf die früheren Generationen ist von großer Bedeutung für die Identität der Indigenen: „Dieses Gebiet war schon immer das Zuhause der Mosetenes von Alto Beni bis Rurrenabaque. Wir können nicht einfach umziehen – außerdem gibt es gar keinen Hügel in der Nähe, der hoch genug wäre, um von der Überflutung verschont zu bleiben.“

Doch die Staudämme hätten nicht nur Auswirkungen auf die überfluteten Dörfer, sondern auch auf die Gemeinden weiter flussabwärts. „Viele Menschen in Rurrenabaque und den umliegenden Orten leben von der Fischerei,“ erklärt Mario Paniagua. „Doch mit den Staudämmen würde die Wanderung der Fische unterbrochen, und die Leute müssten neue Möglichkeiten finden, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Leider ist es sehr wahrscheinlich, dass dies wiederum negative Auswirkungen auf indigene Territorien in der ganzen Region hätte: Erfahrungsgemäß werden weitere Waldflächen abgeholzt, um Landwirtschaft betreiben zu können, wenn der Fischfang als Einnahmequelle wegfällt.“

Die Energie, die durch die Staudämme gewonnen würde, käme nicht der Region selbst zu Gute.


Hinzu kommt, dass die Energie, die durch die Staudämme gewonnen werden würde, nicht der Region selbst zu Gute käme, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach für den Export bestimmt wäre. Dies gibt ENDE zwar nicht öffentlich zu, aber laut Mario Paniagua ist es die einzig logische Schlussfolgerung: „Die Energie, die Bolivien zurzeit produziert, ist ausreichend für den inländischen Bedarf. Es macht einfach keinen Sinn, was die Regierung behauptet: dass die Nutznießer dieser Projekte die kleinen Dörfchen der Region wären. Ganz im Gegenteil ist davon auszugehen, dass ein Export nach Brasilien vorgesehen ist – was die indigenen Territorien übrigens noch zusätzlich belasten würde, da der Strom ja genau durch diese Region hindurch transportiert werden müsste.“

Kleine Gemeinschaften wie Asunción haben wenig Chancen gegen ein nationales Unternehmen wie ENDE. Eigentlich müsste sich die regionale Organisation der indigenen Gemeinden, der „Consejo Regional Tsiman Moseten“ (CRTM), zu der 23 Dörfer gehören, gemeinsam gegen die Staudammprojekte stark machen. Doch ENDE hat es geschafft, den CRTM davon zu überzeugen, einen Vertrag zu unterschreiben, der die Durchführung der Studien in seinem Territorium erlaubt. „Damit haben wir aber auf keinen Fall dem Bau der Staudämme zugestimmt“, betont der Vizepräsident des CRTM, Ramon Cubo. „Und dies wird auch nicht geschehen, da bin ich mir sicher. Die Entscheidung liegt bei der Versammlung aller Gemeinden, aber sie werden niemals dafür stimmen, dass ihre Dörfer zerstört werden und sie ihre Lebensgrundlage verlieren.“ Allerdings ist beim CRTM eine gewisse Unsicherheit spürbar, was die Konsequenzen der Studien betrifft. „Es gibt immer mehr Leute, die sagen, dass wir uns mit der Einwilligung in die Studien auch mit dem Bau der Dämme bereits so gut wie einverstanden erklärt haben. Aber dem ist nicht so. Der Vertrag, den wir unterschrieben haben, behandelt ausschließlich die Studien. Gegen den Bau der Staudämme aber werden wir mit allen Kräften kämpfen.“ Doch folgt man Mario Paniagua, dann darf daran gezweifelt werden, dass die indigenen Gemeinden die Staudämme noch verhindern könnten, falls sich ENDE definitiv für den Bau entscheidet.

Unsichere Zukunft Die Kinder aus dem „gallischen Dorf“ Asunción de Quiquibey

Angesichts dessen stellt sich natürlich die Frage, warum der CRTM und die Mehrheit der Flussgemeinden diesen Vertrag überhaupt unterschrieben haben. ENDE hat in diesem Zusammenhang auf eine bewährte Strategie zurückgegriffen und den Dörfern im Gegenzug in Aussicht gestellt, sie zu unterstützen. „Fast alle Dorfgemeinschaften in Bolivien – indigen oder nicht – haben bestimmte Probleme und bräuchten staatliche Unterstützung,“ erklärt Mario Paniagua. „Meist handelt es sich um den Zugang zu Bildung oder medizinischer Versorgung. Es kommt mir allerdings sehr unglaubwürdig vor, dass ein Unternehmen wie ENDE Unterstützung in diesen Bereichen verspricht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie diese Unterstützung aussehen soll, denn dies wäre Aufgabe der Gemeinde- oder Departements-Regierungen. Wie da ein Elektrizitätskonzern helfen soll, ist mir schleierhaft.“

Die einzige Dorfgemeinschaft, die den Vertrag nicht unterschrieben hat, ist Asunción de Quiquibey – das gallische Dorf von Alto Beni. „Bis sie uns nicht ganz genau erklärt haben, was sie vorhaben, und uns umfassend informieren, werden wir nicht unterschreiben“, versichert Hermindo Vies Gutierrez. Damit macht sich Asunción allerdings nicht nur bei ENDE unbeliebt, sondern auch beim CRTM, der darauf wartet, dass ENDE seine Versprechen erfüllt. „Bisher ist dies nicht passiert“, gibt Ramon Cubo zu, doch er ist überzeugt, dass in nächster Zeit damit zu rechnen ist: „Wegen der Richterwahlen im Dezember hat ENDE die Termine verschoben, aber wir stehen mit den Verantwortlichen in Kontakt und sie haben uns zugesagt, dass im Februar alles in die Wege geleitet wird.“ Bleibt zu hoffen, dass er Recht behält und ENDE nicht einfach eine Verzögerungstaktik verfolgt. Denn inwiefern die Richterwahlen ENDE davon abgehalten haben sollen, seinen Teil der Abmachung einzuhalten, leuchtet eigentlich niemandem ein.


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LIEDER DES AMAZONAS

Wie kann man einen Film über den Amazonas machen, der fast vollkommen schwarzweiß ist? Bei all den blühenden Farben, die dieser faszinierende Dschungel zu bieten hat? Bei El abrazo de la serpiente (deutscher Titel: Der Schamane und die Schlange – Eine Reise auf dem Amazonas), kann man fast glauben, der Dschungel sei zu Anfang des 20. Jahrhunderts schwarzweiß gewesen, so sehr passt seine monochrome Ästhetik in seine Geschichte, so eindrucksvoll sind die Totalen der Natur, so lebendig seine Bildsprache trotz fehlender Farben: Schlüpfende, schleimige Schlangenbabys, tanzende Schmetterlingsschwärme, das glänzende Fell eines Jaguars strahlen schwarz-weiße Farbenpracht aus.

Der Film ist eine Wucht. Er handelt von dem Weltenbeweger Karamakate, einem Schamanen der Cohiuano, der allein, ohne sein Volk, das fast völlig durch die Kolonisator*innen ausgerottet wurde, in einer Hütte im Amazonasgebiet lebt. Mit Karamakate begeben wir uns auf eine Reise; durch den Dschungel, über die Flüsse, in die Träume, in den Rausch. Der Film springt hin und her zwischen dem jungen und dem alten Karamakate. Beide sind faszinierende und auf beeindruckende Art und Weise integere Charaktere.

Erzählt wird die auf echten Tagebuchaufzeichnungen basierende Geschichte zweier Reisen, in einer Zeit ohne Zeit, auf der Suche nach der heiligen Pflanze Yakruna. Der deutsche Forscher und Anthropologe Theodor von Martius und sein treuer Reisebegleiter Manduca bitten Karamakate, dem kranken Forscher zu helfen und ihn mit der Yakruna zu heilen. Widerwillig lässt sich Karamakate darauf ein, denn „weiße Wissenschaft führt nur zu Gewalt und Tod.“ 30 Jahre später bittet ihn erneut ein Forscher, der auf den Spuren von Von Martius‘ Tagebüchern wandert, ihm zu helfen, die Yakruna zu finden („Ich bin ein Mensch, der sein Leben den Pflanzen widmet“ – „Das ist das Vernünftigste, was ich je von einem Weißen gehört habe“). Und so springen die beiden Geschichten vom alten zum jungen Karamakate, von Theo zu Evan, und vermischen sich, denn Zeit stellt sich in dieser Art, die Welt zu verstehen nicht als fortlaufende Linie dar, sondern als Serie multipler Universen, die sich gleichzeitig abspielen. So ist der junge Forscher Evan für den alten Karamakate der gleiche wie Theodeor von Martius, das gleiche Leben und Erleben, was sich im Körper zweier Menschen abspielt. Karakamate scheint hingegen zwei Figuren in einem Körper zu sein. Als junger Mann strahlt er eine eindrucksvolle Standfestigkeit und Willensstärke aus, gleichzeitig Stolz und Verletzlichkeit. Im Alter hat er seine Kräfte und seinen Zugang zum Wissen verloren und befindet sich in einer „Sinnkrise“, um es in städtischem Vokabular auszudrücken. „Ich erinnere mich nicht mehr“, sagt der alte Karamakate voller Trauer. „Die Sterne sprachen früher zu mir. Sterne, Bäume, Tiere, alles schweigt. Ich bin nur ein Chullachaqui, eine leere Hülle.“ Und so wird auf einmal der junge Forscher zu dem, der dem alten Schamanen den Weg leiten soll.

Die beiden weißen Forscher, deren Leben über viele Dinge verbunden sind, sind zwar vergleichsweise respektvoll gegenüber dem Wissen der Indigenen, aber vor allem, um es für sich selbst zu nutzen. Das „Konservieren“ von Kultur und Wissen wird einerseits zur geschätzten Tugend, zeigt aber auch dessen potentielle paternalistischen Züge, wenn Entwicklungsmöglichkeiten nur manchen vorbehalten bleiben sollen. Dies wird zum Thema, als Theo um keinen Preis seinen Kompass als (erzwungenes) Gastgeschenk zurücklassen will – die Indigenen würden sonst ihr Wissen, Wind und Sterne zu lesen, verlieren. „Du wirst nicht verhindern, dass sie lernen“ lehrt Karamakate Theo, „das Wissen gehört allen“.

Und so sprechen die passionierten, wissbegierigen Forscher die indigenen Sprachen, lernen Rituale, aber bleiben dennoch Weiße und ihre geschäftigen Bewegungen im Dschungel wirken lächerlich, die Versuche Karamakates Wissen mit „viel Geld“ (zwei Dollar) zu kaufen, erbärmlich, ihre Fixierung auf materielle Dingen absurd. „Warum hängen die Weißen so an ihren Objekten?“ fragt Karamakate Manduca, Theos Begleiter, der zu einer Art Mittler zwischen den beiden Männern geworden ist und als Indigener in europäischer (Ver-)Kleidung zunächst bei Karamakate nur Verachtung auslöst. Sogar die Liebe in der Welt der Weißen wird als Form von Besitz entlarvt, als die Liebesbekundungen, die Von Martius voller Sehnsucht und Wehmut in Manducas Feder an seine Frau diktiert, durch das schallende Gelächter über die „Gefühle“ des Weißen von Karamakate zu einer etwas unverständlichen Sinnlosigkeit verkommen. Wenn der Weltenbeweger vor Lachen fast aus dem Kanu fällt, muss man unweigerlich mitlachen.

Auf ihrer Reise passieren die Gefährten neben überwältigenden Schauplätzen der Natur immer wieder auch die brutalen Vermächtnisse des Kolonialismus, die sich wie ein unheilvoller Fluch und düstere Orte des Wahnsinns präsentieren. Die zerstörerische Macht ist greifbar, bedrückend, bedrohlich – und effektiv gewesen. Von vielen der Kulturen, die im Amazonas lebten, sind die Aufzeichnungen in Von Martius‘ Tagebüchern das einzige Zeugnis, das noch existiert. „Wo sind die Lieder, mit denen Mütter ihre Kinder trösten? Wo sind die Erzählungen der Ahnen, ihr Liebesgeflüster, ihre Kriegsgeschichten? Wohin sind sie gegangen?“ klagt der alte Karamakate, nachdem Kolonialisierung und Kautschukbarone längst ganze Völker seines Amazonas ausgelöscht haben. „Lasst nicht zu, dass unser Lied verstummt“, mahnt der junge Karamakate dann auch die Kinder, denen in der Mission der Teufel ausgetrieben werden soll.

Es sind die Lieder des Amazonas, denen seine Besucher*innen zuhören lernen müssen. „Lass dich von deinen Träumen führen“, rät Karamakate seinem Begleiter. „Ich bin ein Mann der Wissenschaft, der realen Fakten“ erklärt Evan, während er mit Karamakate einer Platte auf seinem tragbaren Plattenspieler lauscht und überzeugend klarmachen will, warum er weiß, dass der Fluss zwei Ufer hat. „Der Fluss hat tausend Ufer. Das weiß jedes Kind.“ entgegnet ihm Karamakate. „Träume sind viel echter als Deine Wirklichkeit. Die Welt spricht. Ich muss nur zuhören. Hör ganz zu. Nicht nur mit Deinen Ohren.“

Zuhören sollte man auch diesem Film, sich auf ihn einlassen. Dann wird er einen mitnehmen auf eine berührende Reise in den Amazonas, für die es, wenn man es mit Von Martius‘ Tagebucheinträgen hält, „keine Sprache gibt, in der sich die Schönheit und Pracht […] ausdrücken ließe“, die sich einem in diesen „verzauberten Stunden“ bieten wird.


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MEXIKOS VERDRÄNGTER VÖLKERMORD

Sein Ruhm als Krimiautor mag seinen Ruhm als Historiker überstrahlen. Es besteht jedoch kein Zweifel: Paco Ignacio Taibo II ist in beiden Bereichen ein Meister seines Fachs. In Sachen Geschichte hat er das mit seinen beiden Biografien über den argentinischen Revolutionär Che Guevara und den mexikanischen Revolutionär Pancho Villa unter Beweis gestellt. In seinem neuesten Werk Die Yaqui – Indigener Widerstand und ein vergessener Völkermord gelingt es ihm erneut. Mit diesem Sachbuch rekonstruiert Paco Ignacio Taibo II anhand von Archivmaterial, aber auch anhand von Gesprächen mit Nachfahren der Yaqui die Geschichte dieses widerständigen Volkes. Die Indigenen aus dem nordwestlichen mexikanischen Bundesstaat Sonora hatten dafür einen hohen Preis zu zahlen. Sie wurden in einer über 40-jährigen Verfolgung von 1868 bis 1909 fast ausgelöscht. Alles nach offizieller mexikanischer Lesart im Namen des Fortschritts oder, nach Lesart von Taibo II, um große agro-industrielle Projekte voranzubringen. Der Kapitalismus „reitet das Pferd des Teufels, auch wenn er im Gewand der Moderne daherkommt, unter juristischem Mantel und ideologischer Maske“, schreibt er. Das traditionelle Siedlungsgebiet der Yaqui, ihre acht Dörfer, liegt ausgerechnet um den Río Yaqui, der wegen seiner fruchtbaren Auswirkungen auf den umliegenden Boden auch mit dem Nil verglichen wird. Die Denkweise der Yaqui, die Kollektiv-, aber kein Privateigentum kennt, stand der kapitalistischen Landnahme von Anfang an im Weg. Rassistische Begründungen über die Minderwertigkeit der unzivilisierten Yaqui wie vom spanischen Kolonialisten Vicente Salvo bereiteten den Weg: „… ihre Faulheit ist so groß, dass wenn sie eine Tür öffnen, sie diese nie schließen.“ Dass diese Einschätzung nicht nur rassistisch ist, sondern auch von Unkenntnis strotzt, macht Taibo II klar: „Calvo wusste nicht oder wollte nicht wissen, dass die Türen in der Yaqui-Gemeinschaft nicht geschlossen wurden, weil sie weder Schlösser noch Schlüssel hatten, und zwar deshalb, weil sie sie nicht brauchten.“ In dieser treffenden Art kontert Taibo II an vielen Stellen die offiziellen Verlautbarungen, die er den Archiven entnommen hat.

1868 massakrierte die mexikanische Armee in einer Kirche eingesperrte Yaqui, einschließlich Frauen und Kinder. Seitdem kursiert unter den Indigenen ein Gedicht bis heute: „Der Yori ist derjenige, der uns immer geschadet hat mit Krieg, uns das Land genommen hat, die Ernte, das Vieh, die Weiden und das Holz; uns jeder Art von Folter und Qual unterzog.“ Der Yori, unschwer zu erraten, ist der Eindringling: als „die Fremden, Weißen, Kreolen, Mestizen, Angelsachsen, Europäer“, beschreibt sie Taibo II. Wörtlich heißt Yori, „der nicht respektierte.“
Taibo II lässt an seiner Sympathie und seiner Bewunderung für die Yaqui keinen Zweifel. Ein Volk, das sich über Jahrzehnte an Waffenkraft deutlich unterlegen, mit Guerilla-Taktik gegen einen übermächtigen Feind gewehrt haben. Neben zahlreichen detaillierten Schilderungen von größeren Schlachten, widmet Taibo auch herausragenden Persönlichkeiten auf beiden Seiten einzelne biographische Kapitel und Abschnitte, vor allem Cayeme. Er war ein Offizier der Yaqui-Kavallerie, der von Gouverneur Pesqueira 1874 die Zuständigkeit für die Yaqui- und Mayo-Territorien, eines weiteren indigenen Volks in Sonora, übertragen wurde. Ein Yaqui, der in der mexikanischen Armee ausgebildet wurde. Der Plan, so den Widerstandsgeist der Yaqui zu brechen, ging gründlich schief. Cayeme griff auf die traditionelle demokratische Struktur der Yaqui zurück, statt hierarchisch Macht auszuüben. Diesem Ansatz blieb er bis zu seiner Ermordung 1887 treu. Auch wenn sich nach seinem Tod die Landnahme beschleunigte, der Widerstand blieb, bis sich die Regierung entschloss, „die Yaqui-Indios vollkommen auszulöschen.“ Das gelang nicht ganz, aber fast. 1868 lebten rund 30.000 Yaqui, nach der Endphase mit Massendeportationen und Massenexekutionen waren es 1909 noch rund 6000. Heute leben nur noch wenige Yaqui in den Bergen von Sonora rund um den Río Yaqui. Taibo schließt mit: „Ich beende das Buch in der Hoffnung, dass seine Lektüre diese bittere Mischung aus Abscheu und Bewunderung erzeugt, die ich empfunden habe.“ Diese Hoffnung dürfte sich in den allermeisten Fällen erfüllen.

 


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EIN ALTER LANDKONFLIKT ESKALIERT

Man geht vom Schlimmsten aus. Die Menschen leben in der ständigen Angst, von bewaffneten Gruppen angegriffen zu werden. Das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas (Frayba) ist in der Region aktiv und warnt vor einer weiteren Eskalation. „Laut unseren Informationen werden Waffen gekauft, sie [Paramilitärs] belagern die Gemeinden und terrorisieren sie“, sagte der Direktor der Organisation Pedro Faro Ende November 2017. Über 5.000 Menschen sind aus den Gemeinden der Munizipien Chenalhó und Chalchihuitán in die Berge geflohen. Viele haben mit dem Konflikt gar nichts zu tun, müssen sich aber in den Bergen verstecken, bei Kälte, mit wenig Essen, von den Angreifer*innen eingekesselt und von der Außenwelt durch blockierte Straßen abgeschnitten.

Immer wieder flammt der Konflikt auf, „vor vier Jahren flohen wir und auch vor drei Jahren. Jetzt sind wir wieder Vertriebene. Wir leiden sehr, es gibt alte Menschen und es ist sehr kalt. Die Kinder sind krank“, beschreibt eine betroffene Frau die Situation.

Seit im Oktober 2017 Samuel Pérez Lunain in der Region von Chalchihuitán bei der Arbeit auf seinem Feld erschossen wurde, häufen sich die Angriffe – auch in der Region Chenalhó. „Als sie auf uns schossen, schliefen wir. Die Kugel ging über uns durch die Luft“, schildert eine Mutter den nächtlichen Angriff auf ihr Haus. Zwischen den bewaffneten Gruppen kommt es immer wieder zu Schießereien. Enige Häuser wurden verbrannt. Die Menschen fürchten um ihre Tiere und Ernten, ihre Lebensgrundlagen.

Der Konflikt begann im Jahr 1973 mit einer Agrarreform. Damals wurde die Grenze zwischen Chenalhó und Chalchihuitán anhand eines Flussverlaufes gezogen. 1981 verschoben Bewohner*innen Chalchihuitáns diese Grenze durch Mauern und Zäune auf die Seite Chenalhós und vereinnahmten den Zugang zum Fluss. In der Folge rissen Bewohner*innen Chenalhós die Grenzbefestigung ein. In kurzer Zeit entwickelte sich daraus ein bewaffneter Konflikt. Chalchihuitán reklamierte 800 Hektar von Chenalhó, in beiden Munizipien bildeten sich bewaffnete Gruppen und Familien wurden vertrieben. Laut dem Menschenrechtszentrum Frayba präsentierte eine Kommission im vergangenen Jahr einen Lösungsvorschlag, doch die Regierung habe die Voraussetzungen für ein Übereinkommen mit den Betroffenen nicht geschaffen. Auch seien die Betroffenen nicht in den Prozess eingebunden worden.

„Man weiß nicht, welche Interessen es dort sind, diese Region wieder in einen Krieg zu stürzen. Unsere Erklärung ist, so weit wir es einschätzen können, dass seit dem Massaker in Acteal (1997 wurden dort 45 Menschen ermordet, Anm. d. Red.) ein Klima der Straffreiheit geschaffen wurde. Die Akteure mit Verbindung zur Regierung können machen was sie wollen“, schildert Direktor Faro. Mit einer öffentlichen Erklärung und einer Eilaktion versucht Frayba nu,n auf das Risiko für Leben und Sicherheit der Gemeinden aufmerksam zu machen.

Die Regierung von Chiapas reagierte inzwischen mit medizinischer Hilfe und Polizei- und Militärpräsenz, einen Monat nach dem Beginn der Auseinandersetzung und nach einem Aufruf der UNO an die mexikanische Regierung, die humanitäre Krise zu beachten.

Darüber hinaus äußerte die UN-Sonderbeauftragte für die Rechte indigener Völker, Victoria Tauli-Corpuz, nach einem Besuch der Region Mitte November ihre generelle Sorge über systematische Menschenrechtsverletzungen in Mexiko. Sie habe „schwerwiegende Muster von Ausgrenzung und Diskriminierung“ beobachtet, „die das Fehlen von Zugang zur Justiz und andere Menschenrechtsverletzungen reflektieren.“

 


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FRAUEN AN DIE MACHT?

Unterschriften sammeln gegen das System: Um als Präsidentschaftskandidatin antreten zu können, braucht die Indigene Marichuy einige hunderttausend Unterstützer*innen. Außerdem muss sie viele bürokratische Hürden über­winden. Doch es geht um viel mehr.

Fotos: Thomas Zapf

Es ist kurz vor halb sechs nachmittags. Die Dämmerung setzt ein an diesem Freitag den 13. Oktober, als sich die Karawane langsam in Bewegung setzt. Sie besteht aus Delegiert*innen des Nationalen Indigenen Kongresses (CNI), seinem frisch gewählten Regierungsrat (CIG) und seiner Sprecherin María de Jesús Patricio Martínez, meist Marichuy genannt. Langsam, denn es gilt, neun PKW und zwölf Busse durch die Stadt San Cristóbal de Las Casas zu führen, vom indigenen Ausbildungszentrum CIDECI, das den Zapatisten nahe steht, am nordöstlichen Stadtrand zum anderen Ende der Stadt, wo die Fernstraßen beginnen. Wie noch öfter in den folgenden Tagen bleiben einige Busse zeitweise zurück. Für diesen ersten Streckenabschnitt, der den Großteil der Karawane in zwei weitere Städte des Bundesstaats Chiapas im südlichen Mexiko führt, braucht sie statt der gewöhnlichen zwei Stunden drei Mal so lange, bis Mitternacht.

Fast auf den Tag genau ein Jahr zuvor, als die fünfte Versammlung des CNI tagte, hatte die Generalkommandantur der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) dem indigenen Kongress den Vorschlag unterbreitet, einen Indigenen Regierungsrat zu gründen und durch eine von diesem ernannte Sprecherin an den Präsidentschaftswahlen 2018 teilzunehmen. Der Vorschlag zur Beteiligung am politischen System der „schlechten Regierung“ durch eine Kandidatur verursachte viel Aufregung unter den anwesenden Delegierten des CNI und den Beobachter*innen. Schließlich wurde er im Dezember 2016 aber mehrheitlich angenommen (siehe LN 510). Was einfach klingt, stellt sich bei genauer Betrachtung als komplizierter heraus. Es gehe nämlich, wie subcomandante Galeano im November 2016 in einem Kommuniqué erläuterte, nicht vornehmlich darum, die Wahlen zu gewinnen, sondern die mögliche Teilnahme daran im Vorfeld zu nutzen, sich zu organisieren und den CNI mit seinem Regierungsrat zu einer ernst zu nehmenden Kraft zu machen, damit die Stimme der indigenen Bevölkerung wieder Gehör finde.

Am nächsten Morgen wird schon um 4.30 Uhr aufgestanden in den Räumen der kleinen katholischen Kirche in Las Margaritas, wo der Tross um Marichuy übernachtet hat. Schließlich muss genug Zeit für mehrere hundert Leute und den Einstieg in die Busse sein, bis es kurz vor Sonnenaufgang losgeht in den Lakandonischen Urwald. An diesem Samstag geht es bis nach Guadalupe Tepeyac zur ersten Kundgebung auf zapatistischem Gebiet. Die Wahl des Ortes hat symbolischen Wert. Hier begann vor etwas mehr als 23 Jahren, im August 1994, mit dem „Nationalen Demokratischen Konvent“ der Austausch der EZLN mit der Zivilgesellschaft.

Ein erster, ungeplanter Halt der Karawane ereignet sich schon kurz nach der Abfahrt. Im Dorf El Encanto haben sich Einwohner*innen versammelt, um Marichuy und den Regierungsrat zu empfangen. Als es weitergeht, wird die Karawane vom „Zapatistischen Motorisierten Geschwader“ flankiert, dessen Motorradfahrer*innen mit ihren komplett schwarzen Helmen einen recht futuristischen Eindruck machen. Das Geschwader wächst auf dem Weg bis nach Guadalupe Tepeyac. Einen Kilometer vor Ortseingang wird es von einer Reiterstaffel abgelöst, die Marichuy bis zum Versammlungsplatz begleitet. Dort warten schon über tausend Zapatistas und Sympathisant*innen aus den Dörfern der Region auf die Karawane.

Die Kundgebung findet auf einem Basketballplatz unter dem Schutz eines riesigen Wellblechdaches statt, wie es die chiapanekische Regierung in tausenden Dörfern bauen ließ. „Die Situation heute ist schlimmer als vor 23 Jahren“, erklärt Comandanta Everilda im Namen der Generalkommandantur der EZLN. „Die Ausbeutung, die Demütigung, die Verachtung, das Vergessen, die Marginalisierung und der Tod dauern an.“ Ausführlich erklärt sie den Zusammenhang zwischen dem kapitalistischen System und der Rolle der Regierung als Hand­langerin, berichtet von der Umweltverschmutzung und aktuellen Formen der Ausbeutung und Bedrohung, die dies für die Indigenen sowie Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, aber auch für die ärmeren Schichten in den Städten darstellt. „Auf dem Land und in der Stadt ist die Situation für uns Frauen noch viel schlimmer“, fährt sie fort. „Als Frauen, Indigene und Arme leiden wir dreifach. Es ist das kapitalistische System, das diese Situation gegen uns geschaffen hat. Wir leiden doppelt an seiner Gewalt, denn durch seine Adern fließt das Blut der machistischen Gewalt, der Ausbeutung und Verfolgung von uns Frauen“.

Der Kampf findet nun auch innerhalb des Systems statt, zumindest was die Teilnahme Marichuys an den Präsidentschaftswahlen angeht. Eine Wahlrechtsreform unter Präsident Calderón (2006-2012) ermöglicht seit 2014, dass sich jede*r Mexikaner*in ab einem bestimmten Alter als unabhängige*r Kandidat*in für ein öffentliches Amt registrieren lassen kann, wenn eine bestimmte Anzahl an Unterschriften zur Unterstützung der Kandidatur gesammelt werden. Außerdem muss ein Verein gegründet werden, über den die Buchhaltung und Abrechnungen laufen und der beim Finanzamt wie eine Partei behandelt wird. Am 6. August gab der Indigene Kongress bekannt, dass mit der Gründung eines Vereins auch diese Hürde genommen worden war. Ihm gehören bekannte Intellektuelle wie Pablo González Casanova und Magda Gómez, oder auch Musiker*innen wie die Band Panteón Rococó und El Mastuerzo an. Zudem hat sich schon im Vorfeld der Karawane ein Unterstützungsnetzwerk für den indigenen Regierungsrat und Marichuy gebildet, das es sich zur Aufgabe macht, im Verlauf der Karawane Unterschriften für ihre Kandidatur zu sammeln.

Nach der Kundgebung leert sich der Platz schlagartig, was bei den tropischen Temperaturen des Urwalds nach mehreren Stunden des Wartens und Zuhörens kein Wunder ist. Anschließend bringt ein kurzer Schauer ein wenig Abkühlung, bevor bei Einbruch der Dunkelheit sich der Platz wieder mit Dorfbewohner*innen füllt, die noch bis tief in die Nacht zu Musik tanzen.
Bereits der erste Tag dieser Rundreise durch zapatistisches Gebiet macht auf verschiedene Weisen deutlich: Es ist die Stunde der Frauen. So wird die Karawane von einer Frau koordiniert. Nicht allen Männern fällt es leicht, sich ihr unterzuordnen. Begleitet wird Marichuy auf der ganzen Rundreise von einer Delegation von elf Comandantas der EZLN. Bei allen politischen und kulturellen Auftritten ist auf der Bühne nur Platz für die Frauen des Regierungsrates, nicht aber für den männlichen Teil des Rates. Und wie in Guadalupe Tepeyac werden auch auf den folgenden Stationen in den Caracoles, den zapatistischen Verwaltungszonen von Morelia, La Garrucha und Roberto Barrios, in Palenque sowie im Caracol von Oventik ausschließlich Frauen das Wort ergreifen. Und das hat es in sich.

“Unsere Großmütter waren noch nicht frei.”

In Morelia, wo der Tross mit sieben Stunden Verspätung ankommt und trotzdem einen begeisterten Empfang erfährt, ist es Comandantatin Miriam, die im Namen der EZLN spricht. Sie erinnert daran, dass die Großeltern der heutigen Generationen von Zapatistas noch die Zeiten des Landguts „Finca“ mit ihren Großgrundbesitzern erlebt haben, als ganze Familien unter sklavenähnlichen Bedingungen für den Besitzer arbeiten mussten. Als sie sich der Unterdrückung bewusst wurden, flohen die meisten. „Aber unsere Großmütter waren noch nicht frei. Denn unsere Großväter hatten das Denken des Großgrundbesitzers übernommen und gelernt, wie diese die Frauen behandelten. Die Männer respektieren die Frauen nicht, sondern misshandeln sie, schlagen sie, verachten sie“. Erst als die Frauen begannen sich zu organisieren, veränderte sich diese Situation. Comandanta Rosalinda weist im Caracol von La Garrucha auf die erreichten Fortschritte der zapatistischen Frauen hin: „Wir haben unsere Ausbilderinnen für Gesundheit, Hebammen, Lehrerinnen und auch Ausbilderinnen für Lehrer. Wir üben Ämter aus, als Gemeinderätinnen, lösen Probleme bei Landkonflikten und sind Teil der Räte in den Autonomen Landkreisen. Wir zapatistischen Frauen diskutieren, analysieren, äußern unsere Meinung, machen Vorschläge und treffen Entscheidungen, so wie auch die Männer“.

Ab Montag, den 16. Oktober ist es möglich, Unterschriften für die Teilnahme unabhängiger Kandidat*innen zu registrieren. An jenem Tag durchquert die Karawane die Kreisstädte Altamirano und Ocosingo auf dem Weg vom Caracol Morelia ins Caracol von La Garrucha. Bereits in Altamirano war festzustellen, dass die Funknetze, die für die Registrierung der Stimmen über eine App notwendig sind, nicht zur Verfügung standen. Als die Unterstützer*innen von Marichuy in Ocosingo auf den gleichen Umstand treffen, ist für sie klar, dass es sich nicht um Zufälle handelt, sondern die Sammlung und Registrierung der Unterschriften sabotiert werden. Hinzu kommt, wie Marichuy in ihrer Rede in Palenque am 18. Oktober anprangert, dass vom INE als geeignet eingestufte Smart­phones nicht zur Sammlung von Unterschriften taugen. Zudem beklagen die Helfer*innen, dass die Registrierung nicht die genannten viereinhalb Minuten dauere, sondern oft um ein vielfaches mehr an Zeit beansprucht. Deutlich wird daran, dass diese Form der Beteiligung nicht für Kandidat*innen wie Marichuy gedacht ist, die den Zuspruch bei den Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sowie Indigenen suchen und nicht in einer der großen Metropolen leben. Dennoch lassen sie sich nicht davon abbringen, weiter Unterschriften zu sammeln, so auch am 19. Oktober in Oventik.

Dichter Nebel liegt über dem Ort und so ist es unmöglich, aus 30 Metern einen Blick auf die Bühne zu erhaschen. Trotz der schlechten Sicht ist es mit über fünftausend Teilnehmer*innen die meistbesuchte Kundgebung dieser ein­wöchigen Reise.
Comandanta Hortencia macht bei ihrer Rede den Unterschied zu anderen „Unabhängigen“ deutlich: „Es gibt Frauen, die eine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen anstreben. Aber diese Frauen haben das gleiche Interesse an Macht und Geld wie die korrupten Männer, Mörder, Diebe, die jahrelang das Land schlecht regiert haben. Diese Frauen da oben reden wie machistische Männer, denken, schauen und hören wie machistische Männer“.

Es ist eine Anspielung auf Margarita Zavala Gómez del Campo, die Ehefrau von Ex-Präsident Calderón. Ihretwegen hatte das INE die Anmeldefrist für Kandidat*innen im Oktober um eine Woche verlängert. Sie kann nun auf Strukturen zurück greifen, die es ihr leichter als anderen Kandidat*innen machen, die notwendigen Unterschriften zu sammeln.

Marichuys Stolz liegt hingegen in dem Anspruch auf politische Bewegung von unten. Seit Anfang November bereist sie in kleinem Kreis die verschiedensten Winkel des Landes. Angefangen in Pijijiapan an der Pazifikküste von Chiapas, geht es in verschiedene kleine Ortschaften sowie die Metropolen. Nach anfänglich großem medialen Interesse hat seit Mitte November die Auf­merksamkeit der kommerziellen Medien ab­genommen, wenngleich vereinzelt Radio- und Fernsehsender und große Printmedien Interviews mit Marichuy führen. So bleibt es den alternativen, unabhängigen Medienkollektiven vorbehalten, die Rundreise im Rahmen ihrer Möglichkeiten so gut und ausführlich wie möglich zu begleiten und in die Öffentlichkeit zu tragen.

Am 28. November tritt Marichuy auf dem Campus der Nationalen Autonomen Universität Mexikos (UNAM) auf. Dort ruft sie zur „Dekolonisierung des kapitalistischen, individualistischen und patriarchalen Denkens“ auf, damit die Wissenschaft wieder zu Diensten der Bevölkerung, und nicht zugunsten kapitalistischer Interessen betrieben werde. In Guadalajara spricht sie sich am 5. Dezember gegen das im Parlament diskutierte „Gesetz der Inneren Sicherheit“ aus, mit dem „die schlechte Regierung die Diktatur und die Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Militär“ legalisieren würde. Das Gesetz sieht unter anderem den Einsatz von Militär im Landesinnern vor.

Sollte Marichuy das Ziel der knapp 870.000 Unterschriften bis zum 19. Februar 2018 nicht erreichen, könnte ihre Rundreise durchs Land doch der notwendige Anstoß zur Organisation gewesen sein. Wie sie selbst bei einer Kundgebung in San Cristóbal am 8. November hervorhebt, werden „die Probleme immer größer und von oben ist keine Lösung zu erwarten. Wir müssen uns organisieren, uns anschauen und gemeinsam überlegen, was wir tun können, um das wieder aufzubauen, was dieses System des Todes zerstört“.


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LAUT GEGEN DAS SCHWEIGEN

Im Weltraum schwebende Babykatzenköpfe, ein regenbogenfarbenes Bällebad und die Virgen de Guadalupe auf einem Baseballcap – schon die äußere Gestaltung von Rebeca Lanes drittem Soloalbum Alma Mestiza spiegelt die Heterogenität der CD wider. Mit einer Mischung aus Old-School-Hip-Hop, Reggae-Rhythmen, jazzigen Klaviersamples und Cumbia nähert sich die Rapperin mit viel Lust und Mut politischen Themen einer großen Spannweite an. Auch wenn die Texte selten so bonbonbunt und grell wie das Cover sind, steht doch auch immer wieder der Spaß im Fokus, auch an der Rebellion. Selbst schon lange Aktivistin, weiß sie dabei auch sehr genau, wovon sie spricht.

Bis vor fünf Jahren organisierte Rebeca Lane noch selbst Musikveranstaltungen und begann dann eher zufällig ihre Karriere als aktive Rapperin, nachdem sie gebeten wurde, etwas Bühnenzeit zu füllen. Mittlerweile ist sie längst über die Grenzen Guatemalas bekannt und tourt dieses Jahr auch durch Spanien und Deutschland (siehe unten). Als Mitbegründerin der Initiative „Somos Guerreras“ („Wir sind Kriegerinnen“) reiste sie 2016 durch Mittelamerika und versuchte, Frauen* mit Hip-Hop und Breakdance zu empowern.

Praktischer Feminismus ist auch auf Alma Mestiza ein großes Thema. Ob im Song „Este cuerpo es mío“ oder in „Ni encerradas, ni con miedos“ pendeln die Texte dabei zwischen einer Einfühlung in von Geschlechtergewalt Betroffenen und einer Anklage und Kampfansage an die machistischen und patriarchalen Gesellschafts­strukturen. Rebeca Lane benennt die strukturelle Geschlechtergewalt in Guatemala, einem der Länder mit der höchsten Anzahl von Feminiziden und Gewalt an Frauen*, und ermutigt gleichzeitig Frauen* aus der Isolation und gewaltvollen Beziehungen auszubrechen. Aber auch die Lust am Leben und sich selbst feiern kommen nicht zu kurz, wie „Libre, atrevida y loca“, einer der tanzbarsten Songs des Albums, zeigt.

Ein weiteres großes Thema von Alma Mestiza ist die fehlende Geschichtsaufarbeitung Guatemalas. Zwanzig Jahre nach dem Ende des 36 Jahre währenden Bürgerkriegs läuft die Aufklärung der vor allem an Teilen der indigenen Bevölkerung verübten Massaker nur langsam an. Statt einer Erinnerungskultur gibt es eine des Totschweigens. Dieser setzt Rebeca Lane eine laute Stimme entgegen, ruft die Namen von Verschwundenen in Erinnerung und prangert den gesellschaftlichen Rassismus an.

In diesem Zusammenhang stellt sie auch ihre eigene Identität und das Konzept von Identität im Allgemeinen zur Disposition. Als mestiza, wie sie sich selbst nennt, reflektiert sie zum Beispiel im titelgebenden Track *Alma Mestiza* einerseits das Erbe der Kolonisatoren, das sie notgedrungen in sich trägt und feiert andererseits die Mythologie und Kultur der Maya als etwas sehr Gegenwärtiges. Damit setzt Rebeca Lane auch einen klaren Kontrapunkt zum rassistischen Diskurs, in dem die „mestizische Mehrheitsgesellschaft“ indigene Kultur vielleicht folkloristisch feiert und historisiert, die Indigenen selbst aber an den Rand gedrängt werden.

Zwar könnte es manchmal ein bisschen weniger Reggaerythmen und Loungegedudel sein, doch machen die starken Texte und die klare Botschaft auch diesen Wermutstropfen wieder wett. Und mit ihrer musikalischen Offenheit ist Rebeca Lane, die im Übrigen fabelhaft rappen kann, vielleicht auch leichter für Menschen zugänglich, die Hip-Hop nicht zu ihrer Lieblings­musik zählen.

 


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DIE MASCHINE, DIE VERSCHWINDEN LÄSST

78 Tage nachdem Santiago Maldonado zuletzt lebend gesehen worden war, ist seine Leiche am 17. Oktober im Fluss Chubut in der gleichnamigen Provinz im Süden Argentiniens aufgefunden worden. Der 28-jährige Aktivist und Kunsthandwerker war laut Zeug*innenaussagen am 1. August während einer Protestaktion der Mapuche-Gemeinde Cushamen von der Gendarmerie verfolgt und verschleppt worden. Seither fehlte von ihm jede Spur (siehe LN 519/520). Maldonados gewaltsames Verschwinden hatte eine enorme Protestwelle im ganzen Land ausgelöst, die sich zum vorläufigen Höhepunkt des Protests gegen die rechtskonservative Regierung von Präsident Mauricio Macri entwickelte. Das Bild des verschwundenen Aktivisten ging um die Welt und in Argentinien Hunderttausende auf die Straßen.

Nach dem Auffinden und Identifizieren der Leiche wird nun der Ruf nach Gerechtigkeit laut. Menschenrechtsorganisationen werfen der Regierung vor, die Gendarmen, die als Hauptverdächtige für Maldonados Verschwinden gelten, zu protegieren und mit Hilfe von kollabierenden Medienunternehmen wissentlich falsche Theorien über den Fall in Umlauf gebracht zu haben, um so die Ermittlungen zu verschleppen und die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Alles systematische Momente in der Logik eines Verbrechens, das Argentinien während der letzten Militärdiktatur (1976 – 1983) zu trauriger Berühmtheit gebracht hat. Seit 2002 wird das gewaltsame Verschwindenlassen im Völkerrecht als Verbrechen gegen die Menschheit sanktioniert.

Der Wahlkampf wurde eingestellt nachdem Maldonados Körper gefunden wurde

Die Nachricht vom Fund von Santiago Maldonados Körper kam genau fünf Tage vor den argentinischen Parlamentswahlen, woraufhin alle Parteien ihren Wahlkampf einstellten. Entgegen plausibler Erwartungen dieses Ereignis könnte negative Auswirkungen auf das Wahlergebnis für die regierenden Parteien haben, ging das aktuelle Regierungsbündnis Cambiemos gestärkt aus den Parlamentswahlen hervor (zum Wahlergebnis siehe Kurznachrichten S. 56). Die vorschnelle Mitteilung des zuständigen Richters Gustavo Lleral am Vorabend der Wahl, der Körper Maldonados weise keine Verletzungen auf, mag zwar wahlbeeinflussend intendiert gewesen oder rezipiert worden sein, wahrscheinlich wäre das Wahlergebnis aber auch ohne dieses Statement positiv für Cambiemos ausgefallen. Fraglich bleibt, wie die Regierung es schafft, trotz wirtschaftlicher Flaute, extrem gestiegener Energie- und Lebenshaltungskosten, weiterer angekündigter Reformen, Panama Papers, ständigen Repressionen gegen die organisierte Bevölkerung und eines handfesten Menschenrechtsskandals ihr Saubermann-Image aufrechtzuerhalten. Aktuelle negative Entwicklungen werden in der dominierenden öffentlichen Meinung immer noch der Vorgängerregierung angelastet.

Foto: Lina Etchesuri / lavaca.org

Auch drei Wochen nach dem Leichenfund gibt es immer noch keine offiziellen Ergebnisse der Obduktion oder Gewissheit über den Zeitpunkt des Todes von Santiago Maldonado. Dass sich Maldonados Körper die ganze Zeit über an der Stelle befunden hat, wo er gefunden wurde, wird von Expert*innen angezweifelt. Einerseits sei die Stelle bereits mehrfach zuvor erfolglos abgesucht worden, andererseits hätte der Zustand der Leiche durch die Strömung weit stärker angegriffen sein müssen: „In diesem Fall ist der Körper intakt. Er hat sogar Fingerabdrücke. Deswegen muss das Todesdatum später als am 1. August sein“, erklärte der Gerichtsmediziner und Kriminologe Enrique Prueger gegenüber dem lokalen Radiosender La Red. „Es ist unmöglich, dass er an diesem Tag gestorben ist“, so seine Schlussfolgerung. Die Fragen, wie Maldonados Körper in den Fluss gelangt ist und wo er zuvor gewesen ist, sind völlig offen.

Familienangehörige und Vertreter*innen der Mapuche-Gemeinde versuchen nun auf anderen Wegen die Aufklärung des Falles voranzubringen. Am 26. Oktober fand vor der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (CIDH) in Montevideo eine Anhörung statt, in der sie Sanktionen gegen die argentinische Regierung und die Intervention des Komitees für Gewaltsam Verschwundene der UNO in die Ermittlungen forderten. Der zuständige Richter Lleral lehnte jedoch am 9. November die Aufnahme unabhängiger Expert*innen-gruppen in die Ermittlungen ab. Mapuche-Anwalt Chuzo Gonzales Quintana ließ bei der Anhörung vor dem CIDH kein gutes Haar am argentinischen Staat, dem er vorwarf, nicht nur nicht nach dem Verschwundenen gesucht zu haben, sondern auch die Hauptverdächtigen gedeckt zu haben. Desweiteren habe die Regierung mit Hilfe der Medien falsche Fährten gelegt und Zeug*innen aus der Mapuche-Gemeinde als Terrorist*innen verleumdet.

So treten in diesem Fall mehrere systemische Probleme des argentinischen Staates zutage, die mit vergangenem und aktuellem Staatsterrorismus, institutioneller Gewalt, einem korrupten Justizsystem, Straflosigkeit sowie der Verstrickung zwischen Unternehmen, Großgrundbesitz und Staat(sgewalt) in Verbindung stehen.

Auch der jahrelange Kampf der indigenen Gemeinden im Süden Argentiniens rückt ins Blickfeld. Das Gebiet der Gemeinde Cushamen liegt innerhalb eines 900 000 Hektar großen Territoriums, das das italienische Textilunternehmen Benetton im Jahr 1991 vom argentinischen Staat gekauft und dadurch zum größten privaten Landbesitzer in Argentinien gemacht hat. Die Mapuche betrachten dies als unrechtmäßige Aneignung ihrer angestammten Ländereien und widersetzen sich seit 2015 auch durch Besiedelung des Gebiets, das auf dem Papier Benetton gehört. Die Gendarmerie unterhält indes eine inoffizielle Kommandozentrale innerhalb von Benettons Territorium und die Mapuche in der Region sind immer wieder Repressionen ausgesetzt, werden kriminalisiert, verschwunden, verhaftet und zu Opfern extrem rassistischer Staatsgewalt. Jones Huala, lonko (Oberhaupt) in Cushamen, sitzt als politischer Gefangener seit Juni 2017 in Haft. Huala spekuliert, dass Maldonado von der Gendarmerie irrtümlicher Weise für einen Mapuche gehalten wurde und sie daher davon ausgegangen seien, dass sein Verschwindenlassen kein großes Aufsehen erregen würde. Die Zahlen sprechen für diese These: Mehr als 200 gewaltsam Verschwundene seit Ende der Diktatur zählt die Koordinationsstelle gegen staatliche und institutionelle Gewalt CORREPI, die meisten von ihnen blieben unbeachtet. Santiago Maldonado – selbst kein Mapuche, sondern solidarischer Aktivist – ist also lange nicht der erste gewaltsam Verschwundene in demokratischen Zeiten, aber der erste Fall, der so stark in der Öffentlichkeit steht seit dem Amtsantritt von Präsident Macri im Dezember 2015. Dessen Regierung bestreitet weiterhin jede Art von Verantwortung, obwohl im Fall Maldonado mittlerweile offiziell unter dem Tatbestand Gewaltsames Verschwindenlassen ermittelt wird. Ausführer dieses Verbrechens ist per Definition der Staat bzw. quasi-staatliche Organe. Menschenrechtsorganisationen fordern den Rücktritt der Sicherheitsministerin Patricia Bullrich, die für den Einsatz der Gendarmerie verantwortlich war, bei dem Maldonado zuletzt gesehen wurde.

Foto: Carla Perrone / lavaca.org

Obwohl noch viele Fragen ungeklärt sind: Kein Verschwinden geschieht ohne aktive oder passive Mitwirkung des Staates, auf dessen Machtgebiet das Verbrechen geschieht – durch die ausführenden Sicherheitskräfte, die verschachtelten Wege der Justiz, die Behörden und Funktionär*innen, die in einer Mischung aus Fahrlässigkeit und Verantwortungslosigkeit in den entscheidenden Momenten wegschauen, durch die Medien, die systematisch de-informieren oder manipulieren. Alle operieren in dem gleichen System, als „Zahnräder im Getriebe der Maschine, die verschwinden lässt“, so Vanesa Orieta anlässlich des Auffindens von Maldonados Leiche. Orieta hat selbst fünf Jahre lang nach ihrem 16-jährigen Bruder Luciano gesucht, der eines Tages im Jahr 2009 von einer Polizeiwache eines verarmten Vorortes von Buenos Aires nicht wieder zurückkehrte. Luciano war von der Provinzpolizei ermordet worden, seine Überreste konnten erst nach einem langen Kampf mit den Institutionen in einem anonymen Massengrab gefunden werden. So wie Vanesa Orieta sind es vor allem die Familien der Verschwunden, die gegen das System

Vor allem die Familien der Verschwundenen kämpfen gegen das System dahinter

des Verschwindenlassens ankämpfen und dabei immer wieder mit den gleichen systematischen Logiken der Vertuschung, Verschleppung der Aufklärung und der eigenen Kriminalisierung konfrontiert werden. In Argentinien haben sich die Angehörigen der Verschwundenen in ihrer unermüdlichen Suche zu wichtigen politischen Bezugsgrößen des Landes etwickelt: die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo, die Organisation der Kinder der in der Militärdiktatur gewaltsam Verschwundenen (H.I.J.O.S.) oder die vielen Einzelpersonen wie Vanesa Orieta, die selbst um die Aufklärung der Fälle ihrer Angehörigen kämpfen müssen. Und nun Sergio Maldonado, der Bruder von Santiago Maldonado, der zum wichtigsten Wortführer der jetzigen Proteste geworden ist. Nicht selten, so geschehen auch im Fall von Sergio Maldonado, werden die Familienangehörigen zu Zielscheiben von Aggressionen. Die Mediatisierung von Maldonados Fall hat bereits extreme Ausmaße angenommen. Während die großen Medienkonglomerate Clarín, Indalo und La Nación eine aktiv einmischende Rolle hinsichtlich der Entlastung der Regierung und Diffamierung der Familie eingenommen haben, wurde die zur Aufklärung so notwendige Gegenöffentlichkeit wiederum fast ausschließlich über Soziale Medien aktiviert. Am 1. November demonstrierten wieder 150 000 Menschen in Buenos Aires und forderten Gerechtigkeit für Santiago.


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