“Romper el cerco”

Szenenwechsel: Eine alte Indígena in tra­ditioneller Kleidung blickt fast eine halbe Minute lang ruhig in die Kamera. Dann beginnt sie, Maismehl zu mahlen. Ihre zu­packenden, geduldigen Hände, die dem Mahlstein ein monotones, schabendes Ge­räusch entlocken, und die behandschuhten Trommler der Militärcombo bilden das symbolträchtige optische und akustische Kontrastmuster, welches das Video “Romper el cerco” durchzieht.
Im Mittelpunkt der Dokumentation von Uli Stelzner und Thomas Walter, die Ende `93 gedreht wurde, steht die Situation der Flüchtlinge des guatemaltekischen Bür­gerkriegs. Nachdem die Autoren sich in ihrem Video “Ojalá” in erster Linie mit den guatemaltekischen Flüchtlingen in Mexiko und deren Rückkehrplänen be­schäftigt haben, dokumentiert “Romper el cerco” die Situation in dem Land selbst. Im beobachtenden Reportagestil, der nur von wenigen Kommentaren durchbrochen wird, werden ruhige, lange Bildsequenzen und ausführliche Interviews aneinander­montiert. Während die Parteinahme für die Flüchtlinge unmißverständlich deut­lich wird, enthalten die Filmemacher sich einer Einschätzung der politischen Chan­cen für einen Friedensprozeß in Gua­temala.
Gespräche mit Landbesetzern in einem Armenviertel am Rande von Guatemala-Stadt, mit BewohnerInnen von Wider­standsdörfern in entlegenen Regionen des Landes und RückkehrerInnen aus Mexiko kontrastieren mit Zeugnissen der offiziö­sen Propaganda des guatemaltekischen Militärs: In einem Interview liest ein Pres­seoffizier haarsträubende Verlautbarungen vom Blatt ab. Die Rede ist von einer “Kampagne zur Verteidigung der Bevöl­kerung und Zerstörung der Subversion”. Anschließend führt er ein Propagandavi­deo vor, in dem die BewohnerInnen der Widerstandsdörfer als “entführte Bauern” und “Opfer eines Betruges” bezeichnet werden, die aus Angst oder Unwissenheit mit der Guerilla kooperieren.
Dem werden die Aussagen von Bewohne­rInnen der sogenannten Widerstandsdörfer entgegengestellt: Die indianischen Cam­pesinos und Campesinas erzählen ihre persönlichen Geschichten: Vom Be­ginn der Repression und Vertreibung An­fang der achtziger Jahre, von der Flucht in ent­legene Gebiete, wie etwa die Berge der Provinz Quiché, wo mittlerweile etwa 20.000 Menschen außerhalb der Kontrolle von Armee und Militär leben.
Insgesamt gibt es in Guatemala 1,5 Mil­lionen Flüchtlinge. Die Widerstandsdörfer in den Bergen und im Dschungel waren und sind permanenten Angriffen und Bombardements von Seiten der Militärs ausgesetzt. Noch immer weigert sich die Regierung, die BewohnerInnen dieser Dörfer als Zivilbevölkerung anzuerken­nen. Im Laufe der Jahre haben diese ge­lernt, Maßnahmen zum Selbstschutz zu ergreifen. Der Film dokumentiert den Alltag in diesen Dörfern und läßt die Be­wohnerInnen zu Wort kommen. Einige der Interviewten glauben trotz Friedens­verhandlungen und der Rückkehr einiger Flüchtlinge aus Mexiko nicht an die Re­formfähigkeit des guatemaltekischen Staates und wollen daher auf jeden Fall in den Bergen bleiben. So sagt ein Campesino: “Wir erklären, daß wir unser Volk nie mehr ausliefern werden, denn wir sehen, daß keine Regierung Gua­temala verändert hat.”
Die 5.000 Flüchtlinge, die zum Zeitpunkt der Dreharbeiten nach jahrelangem Exil im benachbarten Chiapas in die Urwald­region der Provinz Quiché zurückgekehrt sind, scheinen dagegen optimistischer zu sein, setzen auf ihre guten Organisations­fähigkeiten und hoffen, die Kooperativen, die es dort vor der Vertreibung gab, wie­derbeleben zu können. Gleichzeitig sehen auch sie sich vor großen Problemen, wie etwa der Knappheit von Land. So finden die RückkehrerInnen auf ihren alten Par­zellen Bauern vor, die vom Staat angesie­delt wurden. Das schafft Konflikte. Die Flüchtlingsbehörde versucht, die ver­schiedenen Campesinogruppen gegenein­ander auszuspielen. Das Militär ist massiv präsent, schüchtert ein und versucht, die RückkehrerInnen davon abzuhalten, Kontakt zu den versteckten Widerstands­dörfern in der Region aufzunehmen. Gleichzeitig werden die Offensiven gegen die Subversion fortgesetzt. Deshalb kommt ein Campesino zu dem Fazit, daß kein Wille da sei, die Problematik des Landes zu lösen: “Das ist unsere große Sorge: Wenn die Repression weitergeht, könnte es leicht sein, daß wir noch mal fliehen müssen.”
Dagegen meint ein Mann aus einem Wi­derstandsdorf in der Dschungelregion der Provinz Quiché: “Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, ans Licht zu gehen. Wir müs­sen versuchen, den Kreis zu durchbre­chen, oder den Eindruck zunichtezuma­chen, den die Armee und diejenigen von uns haben, die unserem Kampf nicht wohlgesinnt sind. Trotzdem werden wir unsere Organisationsform niemals aufge­ben.”
Bettina Bremme
Romper el cerco – Flüchtlinge eines ver­deckten Krieges. BRD/Guatemala 1994, Video, 60 Min. Leihgebühr: 40,- (plus Porto), Deutsche oder spanische Version
Verleih und Vertrieb:
ISKA, Oberste Gasse 24, 34117 Kassel, Tel: 0561/772894 oder: autofocus, Orani­enstraße 45, 10969 Berlin, Tel. 030/6155458

Einseitiger Blick auf Bolivien

Kurz und informativ will das “Latin Ame­rica Bureau” aus London mit seiner Reihe “In Focus” die Länder Lateinamerikas und der Karibik präsentieren, Länderkunde zum Einstieg für Nicht-ExpertInnen. Nach der Eröffnung der neuen Reihe mit einem Band über Jamaica (vgl. LN 235) ist nun “In Focus. Bolivia” erschienen, verfaßt von den Niederländern Paul van Lindert und Otto Verkoren. Auf 75 Seiten versu­chen die Autoren, in vier Kapiteln einen historischen Überblick, eine Analyse der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Situation und eine Einführung in Gesell­schaft und Kultur unterzubringen, ein Vorhaben, das leider nicht ganz geglückt ist.
Der Schwerpunkt liegt in den drei Haupt­kapiteln auf Wirtschaft und Politik. Ge­schichte und Gegenwart werden mit ihren Regierungen und Revolutionen, Politikern und Parteien kurz und doch detailreich be­schrieben. Die Revolution von 1952, die Entwicklung der Koka- und Kokainwirt­schaft, der Umbruch seit 1985 mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik: Die wichtigsten Fakten sind jeweils auf weni­gen Seiten zusammengefaßt. Allerdings klafft im Bereich Wirtschaft eine große Lücke: Das Stichwort Ökologie scheint den Autoren fremd zu sein. Über das öst­liche Tiefland Boliviens schreiben sie ohne weiteren Kommentar, die moderne Landwirtschaft erreiche “thanks to the use of high-grade seed and seed plants, artifi­cial fertiliser, herbicides and pesticides … very high yields per hectare” und fahren fort, die hohen Erträge seien möglich “due to a combination of capital investment, technology and natural fertility” (S.58/59). Die grüne Revolution läßt grüßen.
Noch mehr geraten van Lindert und Ver­koren ins Schlingern, sobald sie den Be­reich von hoher Politik und Wirtschaft verlassen. Bezeichnenderweise steht das dritte Kapitel, nachdem es schon zuvor vor allem um Wirtschaftspolitik ging, un­ter dem Titel “Economy and Society” und nicht etwa “Culture and Society”. Tatsächlich folgt mehr economy als so­ciety ohne weitere Bezugnahme auf Kul­tur. Was Wirtschaft und Kultur in ei­nem Land mit indigener Bevölkerungs­mehrheit miteinander zu tun haben, wird nicht zum Thema. Die LeserInnen erfah­ren in Sa­chen Gesellschaft gerade noch etwas über das Leben im informellen Sektor in den Städten. Aber Informationen zur ländli­chen Gesellschaft, zu lokalen Macht­strukturen, zu ökonomischen Stra­tegien von Indígenas, zu Indígenabewe­gungen und ihren Diskussionen? Leider Fehl­anzeige.
Das Inhaltsverzeichnis läßt darauf hoffen, daß diese Lücken wenigstens nachträglich gefüllt werden, steht doch das vierte, kurze Kapitel unter dem Titel “Culture. An Indian Country”. Auf knappen sieben Seiten folgt aber eine Enttäuschung: Es geht ausschließlich um fiestas und um Musik, angereichert mit einigen Hin­weisen auf ihre gesellschaftliche Bedeu­tung. Das “Indianische” an Bolivien: Folklore und Feste – und das war’s zum Thema Kultur.
“A Guide to the People, Politics and Cul­ture” soll “In Focus. Bolivia” laut Unter­titel sein. Ein geraffter Überblick über Ge­schichte, Wirtschaft und Politik Boliviens ist – mit Lücken – durchaus darin zu fin­den, aber von Gesellschaft und Kultur wissen EinsteigerInnen nach dem Lesen nicht viel mehr als vorher.

Paul van Lindert, Otto Verkoren: In Focus. Bolivia; 75 S.; Latin American Bureau, London 1994. Be­zug: LN-Vertrieb, Gneisenausstr. 2, 10961 Berlin. 16,80 DM.

Indígenas legen das Land lahm

Der Streik, der am 12. Juni begonnen hatte, nahm rasch an Intensität zu und hatte schließlich die vollkommene Isolie­rung von neun der 21 Provinzen des Lan­des zur Folge, in den Bergregionen der Sierra ebenso wie im Amazonasgebiet. Einige regionale Hauptstädte waren voll­ständig von der Versorgung mit Treibstoff und Grundnahrungsmitteln abgeschnitten. Autostraßen und Brücken wurden ge­sperrt, öffentliche Gebäude besetzt und Nahrungsmittel, deren HaupterzeugerIn­nen die Indígenas sind, zurückgehalten. Damit gelang es ihnen, Schritt für Schritt eine chaotische Situation herbeizuführen und die ecuatorianische Gesellschaft auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen.
Die mangelnde Kenntnis und die wenig fortschrittliche Auffassung der Regierung vom Gewicht und der Bedeutung der In­dígena-Bewegung, die diese spätestens seit dem Aufstand im Jahre 1990 gewon­nen hat, traten offen zu Tage, als der Landwirtschaftsminister, Mariano Gonzá­lez, von “Manipulationen gegen die Re­gierung” sprach, denen die “Indios” er­legen seien. Derartige Aussagen bestäti­gen nach der Auffassung eines Kommen­tators “ein in Vorurteilen und obsoleten Wertvorstellungen wurzelndes Bewußt­sein, das nicht einmal in der Lage ist, den Indígenas selbstverantwortliches Handeln und eigenständigen Protest zuzugestehen”.
In der Tat war die sogenannte “verlorene Dekade” im Lateinamerika der achtziger Jahre für die Indígena-Bewegung Ecua­dors ein “gewonnenes Jahrzehnt”. Wer ih­ren Organisierungsprozeß mitverfolgt hat, muß anerkennen, daß die Indígenas an Selbstbewußtsein gewonnen haben und auch in der Öffentlichkeit stärker präsent sind. Die heutige Bewegung hat politische Bedeutung auf nationaler Ebene erlangt. Sie nimmt Stellung, erarbeitet Vorschläge, sie ist nicht von den politischen Parteien abhängig und befindet sich auf dem besten Wege, ihr Selbstbild auf der Grundlage indigener Kultur, Sprache und eines ei­genständigen Weltbildes neu zu definie­ren.
Selbstbewußt und offensiv
Die Regierung sah sich schließlich aus zweierlei Gründen genötigt, den Dialog mit den leitenden Persönlichkeiten der CONAIE aufzunehmen: einerseits die Wucht der Proteste, zu denen die Indí­genas unter der Bezeichnung “Mobil­machung für das Leben” aufriefen; ande­rerseits die Kritik von weiten Kreisen der politischen Mitte und der Linken am Vor­gehen der Regierung, einen unnötigen Konflikt heraufbeschworen und die Kritik im Vorfeld der Gesetzesverabschiedung nicht ernst genommen zu haben. Dennoch: bislang haben die Gespräche keine er­kennbaren Erfolge erzielt.
Der tiefsitzende Rassismus der mestizi­schen Bevölkerungsmehrheit trat offen zu Tage, als EinwohnerInnen der Stadt Canar Gewalt gegen Indígenas anwandten, das Gebäude einer Landwirtschaftskoopera­tive und Fahrzeuge dieser Organisation in Brand setzten. Die Polizei begnügte sich damit, die Ereignisse zu beobachten, ohne einzugreifen, während die zuständigen Militäreinheiten des nächstgelegenen Stützpunktes sich “zu Fuß” zum Tatort begaben. Zur gleichen Zeit fand in Riobamba, der Hauptstadt der Provinz mit dem höchsten Indígena-Anteil, ein Pro­testmarsch statt, an dem über 40.000 Bau­ern und Bäuerinnen teilnahmen. Ihr An­liegen war ebenfalls die Aufhebung des neuen Agrargesetzes; die Proteste sollten so lange anhalten, bis auf ihre Forderun­gen eingegangen werde.
Bis zum 22. Juni waren alle Verständi­gungsversuche zwischen Indígenas und Regierung gescheitert. An diesem Tag ordnete die Regierung die militärische Mobilmachung als Radikalmaßnahme an, die Zeugnis von ihrer Unnachgiebigkeit ablegen sollte.
Angesichts der klaren Übermacht der Truppen, die in einigen Orten sogar mit Panzern ausrückten, begannen die Bauern und Bäuerinnen, sich friedlich in ihre Gemeinden zurückzuziehen. Wenig später wurde bekannt, daß maskierte Sonderein­heiten Razzien in drei Radiosendern durchgeführt hatten, die dem Netzwerk der “Radio Popular Educativa” ange­schlossen sind. Sie wurden beschuldigt, “das gewalttätige und hetzerische Klima im Land anzuheizen”, Aufzeichnungen und Informationsmaterial wurden konfis­ziert und mehrere Personen festgenom­men, darunter die Leiterin von “Radio Latacunga”, die Ordensschwester Alma Montoya.
Immerhin nahm die Regierung einige Tage später, unter dem anhaltenden Druck von Seiten der CONAIE, den Vorschlag an, eine Vermittlungskommission einzu­richten, die über Reformen am Agrarent­wicklungsgesetz beraten soll. Dieser Kommission werden der Präsident von Ecuador, der Vorsitzende des Kongresses, ein Vertreter der katholischen Kirche, VertreterInnen von Menschenrechtsorga­nisationen und Mitglieder der wichtigsten Indígena-Organisationen angehören.
Knackpunkte des “Agrarentwicklungsgesetzes”
Die Verabschiedung des “Agrarentwick­lungsgesetzes” ist kein iso­liertes Phäno­men, sondern reiht sich in eine Serie von Reformen ein, die die ge­genwärtige Re­gierung vorantreibt. Diese haben unter an­derem zum Ziel, den größ­ten Teil der staatlichen Betriebe zu priva­tisieren, um so in- und ausländische Inve­storen anzu­locken.
Die Landwirtschaftskammer bemängelte schon seit geraumer Zeit die “ineffiziente Bodenausnutzung in Ecuador” und for­derte eine Aufhebung des seit 1974 gel­tenden Agrarreformgesetzes, das den heu­tigen Ansprüchen nicht gerecht werde. Auch die Indígenas wiesen wiederholt auf die Reformbedürftigkeit dieses Gesetzes hin.
Am 17. Mai diesen Jahres lehnte der Kon­greß eine erste Gesetzesvorlage der Regie­rung zur Agrar-Neuordnung ab, vor allem auf den Druck hin, den die Bauern-, bzw. Indígena-Organisationen auf den Gesetz­geber ausübten. Das Parlament einigte sich darauf, einen neuen Gesetzesentwurf zu erarbeiten, der sowohl die Vorschläge der Regierung, als auch die der oppositio­nellen Partido Social Cristiano und der die Indígena-Interessen vertretenden Coordi­nadora Nacional Agraria aufnehmen sollte.
Dennoch verabschiedete der Kongreß zwei Wochen später überraschend ein Ge­setz, das zwar Regierungs- und Oppositi­onsentwürfe, nicht jedoch die Position der Indígenas in sich vereinigt. Mehr noch: es unterscheidet sich nur in Details von dem vorher gekippten Gesetzesentwurf.
Ein wichtiger Punkt des neuen Gesetzes stellt die verstärkte Eigentumsgarantie für LandbesitzerInnen dar. Durch diese Ver­fügung werden die bisher meist still­schweigend geduldeten Landbesetzungen ausdrücklich kriminalisiert. Diese stellten für die Indígenas eine der wenigen Mög­lichkeiten dar, an Grund und Boden zu gelangen. Polizei- und Militäreinsätze sind vorgesehen, um LandbesetzerInnen zu vertreiben.
Gleichzeitig schränkt das Gesetz die Möglichkeit für Enteignungen ein. Konnte nach dem ursprünglichen Agrargesetz eine Bodennutzung von weniger als 80 Prozent der jeweiligen Fläche mit Enteignung und öffentlicher Vergabe des Landes geahndet werden, so sieht das neue Gesetz – von Wiederholungsfällen abgesehen – nur noch eine Geldstrafe vor. Enteignungen durch den Druck der Bevölkerung, der bislang von den Indígenas am meisten zum Erhalt von Land geltend gemacht werden konnte, verschwinden vollständig in der neuen Regelung.
Zerstörung indigener Wirtschaftsformen
Weiterhin wird die Liberalisierung des Marktes für Agrarland vorangetrieben, in­dem es jedem Eigentümer freisteht, sein Grundstück ohne jedwede Genehmigung zu verkaufen. Auch wird die Teilung der gemeinschaftlichen Grundstücke von Ko­operativen und comunas ermöglicht. Die comunas waren aus Zusammenschlüssen von Indígena-Familien entstanden, die gemeinsam Grundstücke für die landwirt­schaftliche Nutzung kauften. Wenn auch jeder comunero über ein eigenes Stück Land verfügt, gibt es auch Gemein­schaftsland, das traditionell an einem Tag in der Woche von allen Mitgliedern der comuna zusammen bestellt wird (“la minga”). Bis jetzt konnte kein comunero seinen Anteil an diesem Land verkaufen. Das neue Agrargesetz könnte für die in comunas lebenden Indígenas eine Auflö­sung ihrer Gemeinschaften bedeuten, die in der Vergangenheit nicht nur Gebiets­körperschaften, sondern auch Zentren ei­ner politischen, sozialen und kulturellen Selbstorganisation waren.
Vom Standpunkt einiger Sozialwissen­schaftlerInnen aus betrachtet, zielt das nun verabschiedete Gesetz auf eine “Zerset­zung der physischen und territo­rialen Grundlagen der indigenen Gemein­schaften und Wirtschaftsformen” ab. Auch sei die Nahrungsmittelversorgung des Landes gefährdet, da die Indígenas die hauptsächlichen Hersteller der im Land konsumierten Produkte seien. Die Lände­reien der Indígena-Gemeinschaften stün­den im Visier internationaler Investoren, versichern diese BeobachterInnen; vor al­lem am Holzexport interessierte Forstun­ternehmen hätten ein Auge darauf gewor­fen.
Darüberhinaus verfügt das Gesetz die Wasserversorgung durch private Anbieter. Für die Indígena-Bevölkerung vor allem in den trockenen Regionen der ecuato­rianischen Sierra stellt das Ende der öf­fentlich garantierten Wasserverteilung ein ernstes Problem dar.
Außerdem geht das neue Regelwerk nicht auf die Realität der indigenen Bevölke­rung des Amazonas-Gebietes ein, die schon seit Jahren auf eine gebietsrechtli­che Anerkennung der von ihnen seit Jahr­hunderten bewohnten und bewirtschafte­ten Territorien drängen. Auch die schwerwiegenden ökologischen Probleme dieser Zone fanden keine Berücksichti­gung. Das alte “Kolonisierungs- und Agrarreformgesetz” hatte hier die spezifi­schen Bedürfnisse einer westlichen Pro­duktionsweise ermöglicht, deren Form der extensiven Rohstoffausbeutung keine Rücksicht auf die Empfindlichkeit dieses Ökosystems nimmt.

Planungsfieber im Chocó-Regenwald

Wie so oft nach einem harten Arbeitstag treffen sich die Goldschürfer von Anda­goya vor der Hütte von “Dona Ortelia” und läuten mit selbstgebranntem Zucker­rohrschnaps das Wochenende ein. Einige haben noch die bateas, die aus Holz ge­schnitzten runden Schürfgefäße unter dem Arm. Nach ein paar Minuten des Schwei­gens kommt das Gespräch auf die guten alten Zeiten, als noch die nordamerikani­sche Goldkompanie an den Regenwald­flußläufen rund um Andagoya aktiv war. “Damals ging es dem Dorf besser”, weiß der alte Valerio zu berichten. “Es gab ge­nügend Arbeit, und wir hatten das beste Krankenhaus im ganzen Chocó, zu dem die Leute sogar aus Quibdó, der Haupt­stadt des Departments, kamen.”
Heute dagegen wirkt Andagoya wie ein aussterbendes Dorf. Für die meisten Leute reichen die Einkünfte höchstens noch zum nackten Überleben. Als sich das nordame­rikanische Goldunternehmen 1978 mit­samt seiner großen Maschinen zurückzog, standen die über 2.500 Beschäftigten plötzlich ohne Arbeit da. Zwar wurde ver­sucht, durch die Nationalisierung des Un­ternehmens die Förderaktivitäten fortzu­setzen. Doch konnte nur ein kleiner Teil der Beschäftigten übernommen werden. Die meisten mußten sich nach anderen Überlebensmöglichkeiten umsehen.
Doch die Landwirtschaft, die vor der An­kunft des Goldunternehmens im Jahre 1914 die Lebensgrundlage der Menschen darstellte, ist heute an vielen der durch den industriellen Goldabbau quecksilber­verseuchten Flußläufe nicht mehr mög­lich. Wer nicht abwandern und anderswo sein Glück versuchen will, dem bleibt nur der Griff zur batea, um per Hand nach den kärglicher werdenden Goldvorkommen zu schürfen, oder sich von dem chocótypi­schen weitverzweigten Verwandschaftssy­stem auffangen zu lassen.
Enormer Reichtum –
aber für wen?
Das Beispiel Andagoya ist typisch für den Chocó. Seit Jahrhunderten haben immer wieder nationale und internationale Un­ternehmen den enormen Ressourcen­reichtum des Regenwaldgebietes genutzt. Es wurde Holz geschlagen und nach Gold, Platin und Silber geschürft. Die Gewinne dieses Raubbaus kamen aber nie der Pazi­fikregion zugute. Nach dem Abzug der diversen Unternehmen war die Bevölke­rung immer wieder gezwungen, zur Subsi­stenzwirtschaft zurückzukehren. Diese be­steht aus einer Kombination von Acker­bau, Fischfang und der begrenzten Nut­zung von Holz und Edelmetallen. Auf diese Weise sichert sich die schwarze Be­völkerung des Chocó seit dem Ende der Sklaverei 1852 das Überleben.
Eine ernsthafte staatliche Unterstützung zur Verbesserung der Lebensbedingungen, zum Beispiel in Form von Förderungen im Gesundheits-, Bildungs- oder wirtschaftli­chen Bereich, hat es nie gegeben. Dadurch hat sich im Chocó eine eigene, vom Rest des Landes deutlich unterschiedliche Le­bens- und Wirtschaftsweise entwickelt. Diese ist von Gemeinschaftsarbeit und nachbarschaftlicher wie verwandschaftli­cher Solidarität geprägt. Die Weitergabe von Besitz erfolgt durch mündliche Ver­erbung, was seit Generationen reibungslos funktioniert.
Die kolumbianische Regierung hat das traditionelle Besitzrecht der schwarzen Bevölkerung nie respektiert. 1959 wurden große Teile der Pazifikküste wie unbe­wohntes Land behandelt und zum natio­nalen Waldreservat erklärt. Staatliche In­stitutionen begannen, Konzessionen zum Holzeinschlag und zur Ausbeutung von Bodenschätzen zu vergeben. Als dies in den achtziger Jahren auch am dichtbesie­delten “Mittleren Atrato” passieren sollte, setzten sich die BewohnerInnen zur Wehr. Um den Verlust ihrer Lebensgrundlage zu verhindern, gründeten sie 1984 die Bau­ernorganisation ACIA (Asociación Campesina Integral del Atrato). Dies war der Beginn des Organisationsprozesses der schwarzen Bevölkerung des Chocó.
In den folgenden Jahren kam es im ländli­chen Raum zur Gründung weiterer regio­naler Bauernorganisationen, wie etwa der Campesinos vom Rio Baudo (ACABA) und vom Rio San Juan (ACADESAM). Mit der OBAPO (Organización de los Barrios Populares del Chocó) formierte sich 1987 auch eine in den Städten arbei­tende Basisbewegung. Neben der Vertei­diung des Bodenbesitzes setzten sich alle Organisationen auch für die Anerkennung der Schwarzen Kolumbiens als ethnische Gruppe mit eigenen kulturellen Rechten ein.
Der Chocó:
Eldorado für Großprojekte?
Der Zeitpunkt des Organisationsprozesses hängt auch damit zusammen, daß der Chocó in den achtziger Jahren in den Mittelpunkt nationaler und internationaler Planungsinteressen gerückt war. Unter der Regierung Barco wurde Ende der achtzi­ger Jahre der “Entwicklungsplan 2000” für die Pazifikküste vorgestellt. Durch gigan­tische Infrastrukturprojekte, wie der Aus­bau der Panamericana, die Errichtung von Großstaudämmen zur Energieerzeugung und der Bau von Tiefseehäfen, sollte der potentielle Reichtum der Region nutzbar gemacht werden.
Dies stieß zum einen auf den Widerstand der Basisorganisationen. Aber auch die Finanzierungsaussichten waren nicht sehr gut, da internationale Geldgeber mittler­weile Großprojekten gegenüber skepti­scher waren.
1992 legte das staatliche Planungsinstitut DNP unter dem Namen “Plan Pacifico – eine neue Strategie für eine nachhaltige Entwicklung der kolumbianischen Pazi­fikküste” ein überarbeitetes Konzept für die Pazifikregion vor. Die dort formulier­ten Vorhaben klingen weniger brachial. Der Text ist, ganz im Trend des aktuellen entwicklungspolitischen Diskurses, mit Begriffen wie “Basispartizipation”, “Berücksichtigung ökologischer Aspekte” und “angepaßte nachhaltige Entwicklung” gespickt. Neben den traditionellen Infra­strukturprojekten wie Bau von Straßen, Häfen oder Stromleitungen werden im “Plan Pacifico” auch Projekte in den Be­reichen “soziale Infrastruktur” und “Umweltinfrastruktur” aufgeführt.
Aber auch diese Pläne, die teilweise schon seit Jahren in den Schubladen verschiede­ner Institutionen liegen, die für den Chocó zuständig sind, werden von den Basisor­ganisationen kritisiert. Ihrer Ansicht nach sind sie weniger für die Bevölkerung des Chocó als für die internationalen Geldge­ber verfaßt. Denn eine Beteiligung der betroffenen Bevölkerungsgruppen und der Basisbewegungen hat es bei keinem der anvisierten Projekte gegeben.
Deshalb sehen viele im Chocó mit einem lachenden und einem weinenden Auge, daß auch für die Vorhaben des “Plan paci­fico” bisher keine Geldmittel bereitsge­stellt wurden.
Der Wind von Rio:
“Plan Biopacifico”
Tatsächlich in Gang gekommen ist nun aber ein UNO-Projekt, dessen Umsetzung auf dem Umweltgipfel in Rio beschlossen wurde und das mit 9 Millionen Dollar aus dem Weltumweltfond GEF finanziert wird: Der “Plan Biopacifico”. Offiziell formuliertes Ziel ist, das neben dem Ama­zonas artenreichste Regenwaldgebiet der Welt vor Kahlschlag zu bewahren und Möglichkeiten für eine schonende Nut­zung der Ressourcen zu erarbeiten.
Der Plan soll in mehreren Phasen umge­setzt werden. Zunächst wird in einer Art Bestandsaufnahme die bisher in wissen­schaftlichen Kreisen zu großen Teilen noch unbekannte Flora und Fauna der kolumbianischen Pazifikregion systema­tisch erfaßt. An dieser Arbeit sollen die in der Pazifikregion lebenden Schwarzen und Indígenas beteiligt werden. Gerade letztere verfügen bezüglich der Tier- und Pflanzenwelt über enormes Wissen.
In einem zweiten Schritt geht es darum, Konzepte zu erarbeiten, wie die erforschte Artenvielfalt ökonomisch genutzt werden kann. Dabei sollen Nutzungsmöglichkei­ten auf lokaler, regionaler, nationaler und internationale Ebener abgeschätzt und ent­sprechende Wirtschaftzskonzepte erar­beitet werden. Der letzte Schritt beinhaltet logischerweise die konkrete Umsetzung dieser Erkenntnisse.
Auch im “Plan Biopacifico” ist immer wieder von der nachhaltigen und scho­nenden Nutzung der Umwelt die Rede und davon, die lokale Bevölkerung in alle Schritte des Projektes miteinzubeziehen.
Imperialisten im Umweltmäntelchen?
Gerade die Glaubwürdigkeit dieses letzten Punktes muß aber stark angezweifelt wer­den. Erst auf massiven Druck der Volks­organisationen des Chocó fand im Herbst 1993 ein “Bio-Pacifico-Workshop” statt. Erst bei dieser Gelegenheit wurden sie vom nationalen “PBP”-Koordinatior über die näheren Planungen und Ziele infor­miert, von Mitbestimmung ganz zu schweigen.
Im Chocó gehen die Einschätzungen, was denn von diesem so wohlklingenden und im Umweltmäntelchen daherkommenden Plan zu halten ist, deutlich auseinander. Die einen sehen im “Plan Biopacifico” eine nahtlose Fortsetzung der altbekannten Ausbeutungspolitik, nur daß es diesmal nicht um Holz oder Edelmetall, sondern um die genetischen Ressourcen der Pflan­zen geht. Die KritikerInnen fürchten, daß das Hauptziel des Projektes darin besteht, die Artenvielfalt der Region zu erforschen und in die Gendatenbanken der Industrie­länder zu verfrachten. Von ihrer Ur­sprungsregion abgekoppelt, könnten mit dem pflanzlichen Erbgut im Pharma- und Gentechnikbereich enorme Gewinne er­zielt werden.
Die SkeptikerInnen halten es für naiv, zu glauben, daß die internationalen Geldge­ber aus reiner Gutmütigkeit und Men­schenliebe an einer Verbesserung der Le­bensbedingungen der lokalen Bevölke­rung interessiert seien. Befürchtet wird, daß die Bevölkerung des Chocó letztlich, trotz vollmundiger Ankündigungen, er­neut leer ausgehen wird. In der verspro­chenen Mitbestimmung wird vor allem eine Taktik gesehen, um das Wissen der Bevölkerung über Flora und Fauna auszu­nutzen. Deshalb fordern sie, den ganzen Plan abzulehnen und eine Beteiligung zu boykottieren.
Es gibt aber auch Stimmen, die mit dem “PBP” die Hoffnung verbinden, tatsächli­che Verbesserungen der Lebensbedingun­gen in der Region erreichen zu können. Im Rahmen eines solchen Projektes könne die Bevölkerung zum Beispiel für die Be­deutung und den Reichtum sensibilisiert werden, den die enorme Artenvielfalt der Region in der mordernen Welt darstellt. Außerdem sei das Geld für das Projekt ja schon bewilligt, seine Durchführung da­durch auch praktisch nicht mehr zu ver­hindern. Daher sollten die Basisorganisa­tionen versuchen, möglichst großen Ein­fluß auf die konkrete Ausgestaltung des Plans zu bekommen.
Die Indígenas des Chocó – vertreten durch ihre Organisation OREWA – stehen dem Plan tendenziell kritischer gegenüber als die Schwarzen. Dies liegt vor allem daran, daß sie aufgrund ihrer Lebensweise di­rekter von dem labilen Ökosystem des Regenwaldes abhängig sind. So haben sie zum Beispiel beim Bau der Straße Medel­lin – Quibdó die schmerzvolle Erfahrung gemacht, daß schon geringe Eingriffe in dieses Ökosystem ihre Lebensgrundlage gefährden.
“Plan Biopacifico” –
das kleinstmögliche Übel?
Bei der Einschätzung, was für Interessen und Ziele denn tatsächlich mit dem “PBP” verbunden sind, ist es mit Sicherheit sinn­voll, noch einige Fakten über sein Zustan­dekommen zu nennen: Der Plan Biopaci­fico wurde 1990 nachweislich auf Initia­tive von Gentechnik und Pharmaunter­nehmen von der Weltbank erarbeitet. Fi­nanziert wird er aus dem im gleichen Jahr gegründeten Weltumweltfond GEF (Global Environmental Facility), der or­ganisatorisch dem IWF angegliedert ist und von 21 Industrienationen getragen wird. Die konkrete Ausführung von GEF-finanzierten Projekten liegt in den Händen der Entwicklungsprogramme der Verein­ten Nationen. Diese Organisationsstruktur führt dazu, daß die “Entwicklungsländer”, auf deren Territorien die Projekte dann stattfinden, während der gesamten Pla­nungs- und Initialphase der Projekte keine Einflußmöglichkeiten haben.
Der “Plan Biopacifico” wurde nicht für die Bevölkerung des Chocó geschrieben. Allerdings stellt sich die Frage, ob nicht das weltweite Interesse an der Artenviel­falt der Region mit den Interessen der lo­kalen Bevölkerung nach dem Erhalt ihres Lebensraumes zumindest vorübergehend einhergehen könnte. Vielleicht stellt der Plan Biopacifico im Vergleich zu der sonst drohenden weiteren Vergabe von Holzkonzessionen das kleinere Übel dar.
Zudem stehen die Basisorganisationen des Chocó vor dem Dilemma, einerseits eine Entwicklung und das Ende der extremen Marginalisierung der Region zu wollen, gleichzeitig aber immer wieder mit Pro­jektvorschlägen konfrontiert zu werden, auf die sie selber keinen Einfluß nehmen können. Im Fall des “Plan Biopacifico” wird ihnen nun auch kaum etwas anderes übrig bleiben, als zu versuchen, ihre Inter­essen möglichst stark in die konkrete Projektgestaltung einfließen zu lassen.

Kasten:

Der Chocó : tropischer Reichtum und so­ziales Elend
Das feuchtheiße tropische Regenwaldge­biet ist mit 10.000 Milli­meter pro Jahr ei­nes der niederschlag­reichsten Gebiete der Erde. Es existiert ein enormer biologischer Artenreich­tum, der aufgrund der margi­nalen Lage noch relativ gut erhalten ist. Auch Bo­denschätze sind reichlich vor­handen, insbesondere Gold, Silber und Erdöl, doch kaum erschlossen. Insgesamt exi­stieren nur knapp 600 Kilometer as­phaltierte Straße. Haupttransport- und Kommunikationsmittel sind die ca. 1675 Kilometer Flußläufe.
Die Bevölkerung besteht zu 90 Prozent aus Schwarzen, 4 Prozent Indígenas, 6 Prozent Weißen und Mulatten. Der Grund: Als im 16./17. Jahrhundert mit der Aus­beutung der Goldvorkommen begonnen wurde, verschleppten die Spanier mas­senweise Sklaven aus Westafrika in den Chocó.
Der Chocó ist das mit Abstand ärmste der 22 Departamente Kolumbiens. Das Brut­toinlandprodukt beträgt die Hälfte des Landesdurchschnitts. Die Kindersterb­lichkeit bis zum 4. Le­bensjahr liegt bei 181 auf 1.000 Ge­burten; auf 10.000 Ein­wohnerInnen kommt nur ein Arzt. Über 80 Prozent der Haushalte sind ohne Was­seranschluß und Kanalisation.

Der Kampf innerhalb des Kampfes

Wie begann die Beteiligung der Frauen an der Bewegung der Zapatistas?
Ramona: Wir Frauen wurden nie berücksichtigt, nicht respektiert, unsere Forderungen nie ernst genommen. Trotzdem haben wir nicht aufgehört, Respekt, Gerechtigkeit und Demokratie zu fordern.
Als wir unsere Situation er­kannten und verändern wollten, betei­ligten wir uns am Kampf, einige mit der Waffe, die Mehr­heit in den Gemeinden. Wir brauchen z.B. spezielle Geburts­kliniken, doch wir wis­sen nicht, an wen wir uns wenden können. Es gibt keine Krankenhäuser, keine Ärzte, keine Bil­dung, keine Nahrungsmittel, kei­ne Straßen – überhaupt keine Hilfs­lei­stungen. Doch wir haben die Hoffnung nicht aufgegeben. Wir wollen in Würde leben. Das ist unsere Forderung und darum kämpfen wir.
Ana : Männer und Frauen kämpfen um ihr Land, das ist die Hauptforderung von uns allen. Die Frauen helfen den Männern, die Felder zu bestellen und den Kaffee zu ernten. Die Witwen müssen ihr Land allein bearbeiten. Gesetzlich haben die Frauen kein Recht, Land zu besitzen. Innerhalb unserer Organisation gibt es dieses Recht, und wir wollen, daß das anerkannt wird. Wir wollen Land besitzen, gutes Ackerland, nicht solche Steinhaufen, die wir jetzt bearbeiten.
Wie Ramona erzählt hat, wurden wir Frauen früher nicht ernst genommen. Es gibt eine jahrhunderte alte Unterdrückung aus Gewohnheit. Die Frauen durften noch nicht mal an den Versammlungen in den Gemeinden teilnehmen. Aber als die Dörfer sich nach und nach organisierten, wurde den Frauen klar, daß auch sie sich zusammenschließen müssen. Sie organi­sierten sich, lernten und nahmen an der Bewegung teil. Sie kämpften weiter und weiter, bis sie ein Revolutionäres Gesetz der Frau verlangten.

Wie leben die indigenen Frauen?
Ana: Die Frau hat keine Ruhe, sie arbeitet von früh bis spät. Auf dem Land steht sie morgens um drei Uhr auf, um das Frühstück für die Männer vorzubereiten. Sie braucht Holz für das Feuer, also geht sie und holt Holz, sie geht und holt Mais – immer mit dem Kind auf dem Rücken oder an der Brust. Sie kommt zurück und bereitet das Essen zu und kümmert sich um die Arbeiten im Haus. So verbringt sie den ganzen Tag, von Montag bis Sonntag. Die Männer können sich wenigstens am Sonntag ausruhen, Karten oder Basketball spielen, aber die Frauen nicht, sie arbeiten den ganzen Tag, die ganze Woche – ohne Pause. Sie haben keine Vergnügungen – nichts.
Ramona: Die Frau hat weniger Zugang zu Bildung und Vergnügungen. Von klein auf schleppen wir die Geschwister herum, helfen, den Mais zu mahlen, Tortillas zu machen, das Haus zu fegen oder zu waschen. Wenn die Mutter ihr Baby zu Hause lassen muß, muß die größere Schwester auf es aufpassen und kann nicht zur Schule gehen. So erging es mir auch.
Mit 13 oder 14 Jahren werden die Frauen gezwungen zu heiraten. Wenn in den indi­genen Gemeinden einem Jungen ein Mäd­chen gefällt, geht dieser nicht zu ihr, son­dern bringt dem Vater eine Flasche Schnaps oder etwas zu essen, und wenn der Vater annimmt, ist das Mädchen ver­kauft, gezwungen zu heiraten – gegen ih­ren Willen. Viele Frauen gehen heulend zum Haus des Bräutigams oder in die Kir­che. Deshalb haben wir im Gesetz der Frauen das Recht auf freie Partnerwahl beschlossen. Im Dorf kannst du mit nie­mandem zusammen sein, wenn du nicht verheiratet bist. Es ist eine Sünde, gegen den Brauch. Wenn es entdeckt wird, wer­den beide bestraft, ins Gefängnis gesteckt oder an die Pfosten des Basketballfeldes gebunden, bis die Gemeinschaft meint, sie wären genug bestraft.

Wie seid ihr zum EZLN gekommen?
Ramona: Ich kam zum bewaffneten Kampf, als ich mein Dorf verlassen muß­te, um in der Stadt Arbeit zu suchen. Ich erlebte die Diskriminierungen der Frauen vom Land. Die Menschen in den Städten respektieren die Indígenas nicht. Sie neh­men uns nicht ernst, wenn wir unsere Pro­dukte verkaufen, sie bezahlen uns nicht gut – wir verschenken unsere Sachen fast. Wir können uns in der Stadt nicht frei be­wegen, werden verachtet und übergangen. Dadurch wurde mir vieles bewußt; mir wurde klar, daß wir uns organisieren müssen.
Ana: Das ist eine lange Geschichte. Meine Eltern waren organisiert und nahmen uns Kinder mit zu ihren Versammlungen und zu Demonstrationen. So begann ich schon mit acht Jahren Erfahrungen zu sammeln und ein politisches Bewußtsein zu entwickeln. Als die Menschen merkten, daß sie jahrelang gekämpft und nichts erreicht hatten, daß die Regierung nicht auf ihre Forderungen reagierte, begannen sie, den bewaffneten Kampf vor­zu­bereiten.
Während der friedlichen Kämpfe besetz­ten sie Ländereien – es kamen die Solda­ten und räumten sie mit Gewalt, mit Schlägen, Folter und Unterdrückung. Nach der gesamten Repression, sagten wir uns: “Wir müssen uns bewaffnen, wir müssen uns verteidigen! Wenn die Re­gierung keine friedliche Lösung will, dann eben eine gewalttätige.”
Ich kam sehr jung, mit 14 Jahren, zum EZLN. Einige Compañeros lehrten uns le­sen und schreiben, bildeten uns in Kampf­techniken aus. Später unterrichteten sie uns in Politik. Zu Beginn, vor zehn Jah­ren, waren wir zwei Frauen im EZLN, ei­ner damals noch kleinen Gruppe von acht bis zehn Leuten. Mit der Zeit füllten sich die Reihen, wir konnten eine Kompanie bilden, dann ein Bataillon, ein Regiment usw. Als wir stark genug waren, beschloß die Bevölkerung, den bewaffneten Kampf zu beginnen. Andere Frauen, die uns im EZLN sahen, lernten ihre Töchter, Schwe­stern, Enkelinnen an und sagten ihnen: “Nehmt eine Waffe und geht kämpfen!” Heute sind wir ungefähr 20 bis 30 Prozent Frauen im EZLN. Wir verrichten die glei­che Arbeit wie die Männer, militärisch und politisch.

Du bist Aufständische und Ramonas politische Vertreterin. Was ist der Unterschied?
Ana: Es gibt keinen Unterschied. Wir kämpfen für die gleiche Sache, sind Teil des EZLN: Nur daß eine Aufständische (“Insurgente”) ihre Familie verläßt, nicht mehr mit ihnen lebt und ihr auch nicht bei der Arbeit helfen kann.

Wie entstand der “Kampf innerhalb des Kampfes”?
Ramona: Als wir merkten, daß wir Frauen in den Versammlungen und Plenas nicht ernstgenommen wurden, nicht wirklich teilnehmen durften, dachte ich:” Was kann ich tun?” Wir organisierten uns, benannten Vertreterinnen und kamen mit der Frauenarbeit gut voran. Ich wurde zur Vertreterin im Geheimen Revolutionären Kommitee der Indígenas ernannt. Meine Arbeit besteht darin, die Nachrichten der Organisation den Frauen meiner Sprache mitzuteilen.
Ana: Es gibt Dinge, die wir brauchen, die den Männern einfach nicht einfallen, weil sie nur ihre Situation sehen und nicht nach der Meinung der Frau fragen. So ent­standen unsere Forderungen. Zum Bei­spiel nach speziellen Schulen, in denen auch ältere Frauen lesen und schreiben lernen können. Wir fordern ein Geburts­haus und Gynäkologen. Zu Hause liegt das Neugeborene auf dem Boden im Staub. Die Nabelschnur wird mit der Ma­chete, die der Mann zur Arbeit benutzt, durchtrennt. Es gibt keine ausreichende Gesundheitsversorgung für Frauen und Kinder. Wir brauchen Werkstätten und Maschinen, um den Frauen die Hand­arbeit, ihre Stickereien, zu erleichtern und einen eigenen Markt, auf dem sie ihre Handarbeiten verkaufen können. Die Besitzer der Kunsthandwerksläden in den Städten zahlen sehr schlecht. Die indi­genen Frauen werden stark mißhandelt. Weitere Forderungen sind Kindergärten, Vorschulen und Nahrungsmittel für die am Hunger sterbenden Kinder.
In den Gemeinden arbeiten wir daran, gleichberechtigte Strukturen für Männer und Frauen zu schaffen. Anfangs kamen nur Männer in die Versammlungen und Studienzirkel. Die Frauen beschwerten sich, die Männer können lernen, warum wir nicht? Warum gehen nur die Männer trainieren? Wir wollen auch kämpfen lernen! Inzwischen beteiligen sich viele “milicianas”, die in ihren Dörfern leben, am bewaffneten Kampf, wenn sie ge­braucht werden.

Wie ist die Liebe unter den “Insurgentes”?
Ana: Wir praktizieren gleichberechtigte Beziehungen. Wenn eine Frau heiraten möchte, weil ihr ein Compañero gefällt, muß sie den/die Vorgesetzte/n um Erlaubnis bitten. Die Männer müssen das genauso. Es gibt die Möglichkeit, sich eine Weile kennenzulernen, zusammen­zusein, und – wenn man dann noch will- anschließend zu heiraten. Alle kommen zusammen und der/die BefehlshaberIn gibt bekannt, wer heiraten möchte. In­nerhalb des EZLN gibt es verschiedene Heiratszeremonien. Wenn das Paar eine Heiratsurkunde möchte, wird diese von der/dem Vorgesetzten ausgestellt. An­sonsten bitten die beiden um die Er­laub­nis, zusammensein zu dürfen, dies nennen wir Vereinigung (unión). Religiöse Paare können auch vor dem Traualtar heiraten.
Wir “Insurgentes” können keine Kinder bekommen, weil wir immer in Bewegung sind und das Leben eines Kindes in den Bergen nicht aufs Spiel setzen können. Wenn eine Compañera ein Kind möchte, geht sie zu ihrer Familie. Und wenn sie wieder weiterkämpfen will, läßt sie das Kind dort.

Was sind die Aufgaben der Frauen innerhalb des EZLN?
Ana: Eine wichtige Rolle spielte immer die Arbeit der Frauen für die Sicherheit. Wir haben ein Kommunikationsnetz und in jedem Dorf Stützpunkte. Die Frauen in den Dörfern bedienen die Radios und geben Bescheid, wenn die Soldaten kom­men oder eine andere Gefahr besteht. Dies war auch ihre Aufgabe, als wir die Städte angegriffen haben.
In jedem Dorf bilden wir Frauengruppen und organisieren Gemeinschaftsarbeiten. Frauen, die lesen und schreiben können, bringen es den anderen bei. Die Arbeit in den Dörfern wird vor allem von ver­hei­rateten Frauen mit Kindern geleistet, die nicht am bewaffneten Kampf teilnehmen können. Sie kümmern sich darum, daß die KämpferInnen in den Bergen Essen ha­ben, bereiten Tortillas, Pinole und Pozol zu, bauen Gemüse an und bringen die Sachen in die Zeltlager. Wir jungen Frau­en kämpfen und die alten passen auf die Kinder auf.
Alles, was wir für die Armee brauchen, stellen wir selbst her. Wir haben Schneidereien und Waffenschmieden, in denen auch Frauen arbeiten und Waffen­teile bauen oder kleine Bomben, um sich zu verteidigen. Jede/r kann diese Arbeit machen. Es gibt keinen Unterschied. Zum Beispiel kochen an einem Tag die Männer und am nächsten die Frauen.

Wie denkt Ihr über den Tod?
Ramona: Wenn es schon notwendig ist zu sterben, ist es besser kämpfend zu sterben, für eine gerechte Sache, für das Wohl meines Volkes. Weil es scheinbar keine andere Möglichkeit gibt, Gerechtigkeit zu finden. Ich bin bereit, den Kampf fort­zuführen.
Ana: Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Ich spüre nichts bei der Vorstellung tot zu sein. Vielleicht, weil wir eh nie existiert haben oder ernstgenommen wur­den. Als wir friedlich kämpften, gab es schon viele Tote in den Dörfern. Viele Indígenas sterben an Hunger und Krank­heit. Es ist, als wäre schon immer Krieg, weil es schon immer viele Tote gab. Jetzt sterben wir, weil sie uns töten….
Wir Frauen sind von unserem Kampf überzeugt, und die Vorstellung zu sterben, schmerzt uns nicht. Viel schmerzlicher ist es, die Kinder an heilbaren Krankheiten (Cholera, Masern, Tetanus…) sterben zu sehen, von denen die Regierung be­haup­tet, sie existierten nicht.
Zwei Mädchen starben in meinen Armen, weil wir nichts tun konnten. Zuerst starb ihre Mutter, und wir hatten nichts zu essen für sie – sie starben. So wie diese Kinder sind tausende Kinder an Hunger oder Krankheit gestorben. Das ist nicht gerecht. Während der Zeit der friedlichen Kämpfe sind viele, sehr viele Kinder gestorben. Bei jeder Krankheitswelle wurden unzählige dahingerafft. Deshalb widmen wir uns nun dem bewaffneten Kampf.

Selbstbewußte Indígenas

Ehrliches Erstaunen, ängstliches Entset­zen, Fassungslosigkeit, Wut – Das urbane, westliche Mexiko der “Modernisierer” um die technokratische Clique von Salinas & Co. war offensichtlich nicht darauf gefaßt, daß marginalisierte Campesinos und Indí­genas aus der “hinterletzten Ecke” des Landes ihnen die Feier des Beitritts zur Ersten Welt verderben könnten. Und es kam noch schlimmer: Die im offiziellen Diskurs verdrängte agrarische Zivilisation Mesoamerikas, von der Bonfil sprach, meldete sich nicht nur zu Wort; sie ent­larvte ihrerseits das Modernisierungs­projekt des neoliberalen Establishment als eine Fiktion, die zwar – vor allem vom PRI-hörigen Fernsehimperium TELE­VISA – me­dienwirksam verkauft wird, de­ren Umset­zung vor Ort jedoch für die Mehrheit der Bevölkerung zum Alptraum gerät.
So kam es, daß sich dieses “fiktive Me­xiko” um Salinas nicht nur internationa­lem Druck, sondern besonders auch der landesweiten Solidarisierung mit dem Za­patistischen Nationalen Befreiungsheer EZLN beugen mußte. Die sogenannten Verhandlungen in der Kathedrale von San Cristóbal haben die Kluft zwischen beiden Mexikos verdeutlicht: Entsprechend ihrer über 60 Jahre bewährten Taktik des Kau­fens und Spaltens von Dissidenz entsenden Regierung und Staatspartei einen populistischen “Emissär” ohne kla­ren Auftrag und explizite Kompetenzen, der den Zapatisten mehr Geld, mehr Infra­struktur und mehr Entwicklung verspre­chen darf. Ihm gegenüber sitzen maskierte Campesinos, die als erstes bekräftigen, daß sie von der Basis der Dorfgemeinden gar nicht ermächtigt sind, mit der Regie­rung zu verhandeln, sondern nur einen “Dialog” führen. Dies entspricht dem – für die Regierung so schwer handhabbaren – Selbstverständnis des EZLN, bloß eine Organisationsform unter vielen anderen darzustellen und sich daher als bewaffne­ter Arm der chiapanekischen Indígenas und Campesinos dem politischen Willen der Dorfgemeinden unterzuordnen:
“Unsere Art zu kämpfen ist nicht die ein­zig mögliche, vielleicht ist sie für viele nicht einmal die angemessene. Andere Arten des Kampfes existieren, und sie exi­stieren zu Recht. Auch unsere Organisa­tion ist nicht die einzige, für viele ist sie vielleicht nicht einmal wünschenswert. Zu Recht existieren andere, aufrichtige, fort­schrittliche und unabhängige Organisa­tionen. Das Zapatistische Nationale Be­freiungsheer hat niemals den Anspruch erhoben, seine Art zu kämpfen sei die ein­zig legitime. Doch tatsächlich ist es für uns die einzige, die uns übrig gelassen wurde… Wir erheben nicht den Anspruch, die historische, einzige, authentische Avantgarde zu sein. Wir erheben nicht den Anspruch, unter unserer zapatistischen Fahne alle aufrichtigen Mexikaner zu ver­einen. Wir bieten unsere Fahne an, doch es gibt eine größere, umfassendere, mächtigere Fahne, die uns alle zusam­menführen kann. Die Fahne einer revolu­tionären, nationalen Bewegung, welche die diversesten Tendenzen, die unter­schiedlichsten Denkrichtungen, die ver­schiedenen Arten zu kämpfen zusammen­führen würde, unter der es jedoch nur ein Anliegen und ein Ziel gäbe: Freiheit, De­mokratie, Gerechtigkeit” (Kommuniqué der Comandancia General des EZLN vom 20. Januar).
Konsequenterweise weigern sich die Za­patistas daher auch, einen ausformulierten Programmkatalog vorzulegen, was nur Aufgabe aller Organisationen und Comu­nidades sei. Ihre Forderungen nach “Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit” bilden kein inhaltliches Programm. Sie richten sich auf Formalia und juristische Aspekte wie die Anerkennung als krieg­führende Partei und die Einhaltung der Verfassung – Formalia allerdings, deren Durchsetzung das bestehende politische System Mexikos zum sofortigen Einsturz bringen würde: “saubere” Wahlen auf al­len Ebenen, Auflösung oligarchischer Machtstrukturen, Abwahl von Kaziken, Chancengleichheit für alle MexikanerIn­nen im Wirtschafts-, Bildungs- und Ge­sundheitssektor sind unvereinbar mit den Herrschaftsprinzipien der “institutionali­sierten Revolution”.

Wiedereintritt in die Geschichte

Schon Anfang Januar haben die Zapati­sten die chiapanekische und mexikanische Zivilgesellschaft aufgefordert, den mit bewaffneten Mitteln gewonnenen Frei­raum zu nutzen und ihre Forderungen an den Staat zu artikulieren. Auch wenn es ihnen (noch) nicht gelungen ist, die ver­schiedenen nicht-militärischen Organisa­tionen am “Dialog” in San Cristóbal direkt zu beteiligen, hat der Appell des EZLN an die Indígena- und Campesino-Organisa­tionen Mexikos einen von Sonora bis Yu­catán reichenden Sturm der Basismobili­sierung ausgelöst.
Als erstes sind die chiapanekischen Dorf­gemeinden dieser Aufforderung nachge­kommen. In einem auch für die fünfhun­dertjährige Tradition lokaler und regiona­ler Widerstandsformen einmaligen Um­fang haben sich ca. 280 verschiedenste Organisationen aus Comunidades des gan­zen Bundesstaates schon am 24. Ja­nuar zu einem losen Dachverband, dem Consejo Estatal de Organizaciones Indí­genas y Campesinas de Chiapas (CEOIC, “Landesrat der Indígena- und Campesino-Organisationen von Chiapas”) zusammen­geschlossen. Obwohl die Gründung des Rates auf eine Initiative regierungsnaher Kreise zurückgeht – ein letzter verzwei­felter Versuch, die Zapatisten von ihrer Basis zu isolieren -, setzten sich die unab­hängigen Gruppen durch, bis sich schließ­lich auch die Vertreter der PRI-nahen Campesino-Organisation CNC dem For­derungskatalog der Mehrheit anschlossen: Anerkennung des CEOIC als Verhand­lungspartner, Absetzung der korrupten Lokal- und Regionalpolitiker, vollständige Revision der Landreform unter maßgebli­cher Beteiligung der Campesino-Organi­sationen sowie Umsetzung der ILO-Kon­vention 169, die eine Territorialautonomie und die verfassungsmäßige Anerkennung der Selbstbestimmungsrechte der indige­nen Völker beinhaltet.
Eine derart umfassende Plattform von Basisorganisationen, die ihren politischen Willen jenseits der üblichen staatlich-kor­porativen Kanalisation artikuliert, läutet eine vollkommen neue Beziehung ein zwischen dem “fiktiven” und dem “tiefen Mexiko”, zwischen Staat und Gesell­schaft, wie Mario Landeros von der Organisation Xi’ Nich’ aus Palenque er­klärt:
“Wir haben gemerkt, daß wir selbst die Regierung als solche darstellen müssen, daß wir unsere Regierungsform suchen müssen… Wir beginnen langsam zu reifen, um eine politische Führung für unsere so­zialen Organisationen aufzubauen. Es geht nicht mehr um PRI, PAN, PRD oder was auch immer für eine Partei. Wir sind dabei, Vereinbarungen zu treffen, die dann nicht von einer bestimmten Organi­sation, sondern von der gesamten Gesell­schaft umgesetzt werden. Das ist die Strategie zu reifen, und so den politischen Wechsel zu erreichen”.
Daß EZLN und CEOIC das regionale Mächtesystem grundlegend verändert ha­ben, zeigen nicht nur die zahlreichen Ab­setzungen korrupter, PRI-höriger Kaziken und Kommunalpolitiker im Hochland von Chiapas sowie die Besetzungen von bis­lang 1.500 Hektar Land auf Latifundien, deren Auflösung und Verteilung jahr­zehntelang von Campesino-Organisatio­nen auf dem Behördenweg eingefordert worden war. Auch die herrschenden Oligarchien reagieren, indem sie ihre Privatarmeen aufrüsten. Besitzer illegaler Latifundien ließen im Februar die Campesino-Anfüh­rer Mariano Pérez aus Simojovel und Pe­dro Méndez aus Yajalón ermorden. Gleichzeitig werden mit tatkräftiger Un­terstützung der politischen Polizei die sog. Defensas Rurales wiederbelebt, ein noch aus den nach­revolutionären Wirren stam­mendes para­militärisch organisiertes Spionage­netz. Und eine von der lokalen Händler-Elite getragene “Bürgerfront von San Cristóbal gegen die Destabilisierer” (Frente Cívico Coleto Contra los Dese­stabilizadores) agitiert unterdessen nicht nur für eine Be­endigung jeglicher Ver­handlungen mit den Zapatisten, sondern ganz besonders auch für eine Vertreibung des Bischofs Samuel Ruiz aus der Stadt.

Ein brodelnder Vulkan, der jederzeit ausbrechen kann

Chiapas ist Mexiko; der zapatistische Kampf ist keineswegs lokal begrenzt, wie Salinas gegenüber dem irritierten Aus­landskapital glauben machen wollte. Auch im Bundesstaat Morelos, der Heimat von Emiliano Zapata, hat sich ähnlich wie in Chiapas eine gemeinsame Plattform, die Unión de Comunidades Indígenas de Mo­relos (Vereinigung der Indígena-Gemein­den von Morelos), gebildet. Sie begrüßte schon am 5. Januar die Rückkehr des mythischen Revolutionärs in Gestalt der chiapanekischen Aufständischen, wie Prä­sidiumsmitglied Arturo Dimas aus Hua­zulco betont:
“Wir in Morelos sagen: Das Volk ist die Regierung. Daher hat das Zapatistische Befreiungsheer den Namen Zapatas ganz und gar nicht beschmutzt, wie von offi­zieller Seite behauptet wurde. Nein, es weist ihm den Platz in der Geschichte zu, der ihm gebührt”.
Die Solidarisierungskundgebungen rei­chen von den Maya der Halbinsel Yucatán über die Nahua aus Veracruz, die Otomí aus Querétaro und die Chontales aus Ta­basco bis zu den Yaqui und Mayo in dem an die USA angrenzenden Bundesstaat Sonora. Dort gelingt es dem Regional­Kommittee der Confederación Nacional Indígena (CNI), einer PRI-Unterorganisa­tion, zum ersten Mal, die Bevormundung durch die örtliche PRI-Spitze abzuwehren: Nach einer wochenlangen Besetzung von Regierungsgebäuden und einem “Zapati­stischen Marsch” muß die Landes­regie­rung den unabhängigen Wunschkan­dida­ten als neuen CNI-Vorsitzenden ak­zep­tieren.
Während in Sonora das korporative Machtsystem der Staatspartei und ihres Paternalismus gegenüber den Indígenas erst zu bröckeln beginnt, existieren in konfliktreicheren Bundesstaaten wie Guerrero, Oaxaca und Michoacán, die auf eine lange Tradition indianischen Wider­stands zurückblicken, bereits unabhän­gige, eigenständige Organisationen. In Guerrero sind dies der Consejo de Pueblos Nahuas del Alto Balsas und der Consejo Guerrerense 500 Años de Resistencia In­dígena: Der Balsas-Rat ist ein Zusammen­schluß von extrem marginalisierten Dorf­gemeinden, deren physische Existenz durch den Bau eines hydroelektrischen Großprojektes bedroht ist: “Wir haben über Jahre hinweg mit der Regierung ver­handelt, und nichts hat es gebracht. Was wird geschehen, wenn es wie in Chiapas keine Lösungen gibt? Unsere Geduld geht zu Ende…” (Alfredo Ramírez & Eustaquio Celestino, Verhandlungsbeauftragte des Rates).
Der Consejo Guerrerense ist 1991 im Zu­sammenhang mit Protest-Veranstaltungen gegen die offiziellen Kolumbus-Jubelfei­ern entstanden; er verhandelt im Auftrag von mehr als 400 Dorfgemeinden aus Guerrero mit offiziellen Stellen über die Freilassung von gefangenen Campesinos, die Anerkennung kommunaler Land­rechte, die Finanzierung von lokal initi­ierten Entwicklungsprojekten, die Abtre­tung von Selbstverwaltungskompetenzen an die Dorfversammlungen und über die Anpassung der Infrastrukturmaßnahmen an die regionalen Bedürfnisse. Ende Fe­bruar hat der Rat einen Marsch auf Mexiko-Stadt durchgeführt, um den Kampf des EZLN zu unterstützen und die verschiedensten Forderungen zusammen­zutragen:
“Zapatistische Brüder: Ihr seid nicht al­lein! Wir sind Abertausende, in deren ehrlichen Herzen Ihr die Wut der Würde entzündet habt, in unseren Herzen, in un­seren Völkern. Deshalb haben wir be­schlossen, diesen Marsch für den Frieden und die Würde der Indígena-Völker unter dem Motto “Ihr seid nicht allein” durch­zuführen. Wir marschieren nach Mexiko-Stadt, um ein für alle Mal unsere Forde­rungen durchzusetzen, die wir am 13. Oktober 1992 dem Herrn Präsidenten Carlos Salinas de Gortari höchstpersön­lich in seinem Regierungspalast Los Pinos vorgelegt haben. Damals sind wir von Chilpancingo bis zur Hauptstadt hunderte von Kilometern gewandert, um uns Gehör zu verschaffen. Und was bekamen wir dafür? Nichts als Blasen an unseren nackten Füßen und Überdruß in unseren Herzen und Hoffnungen, die von so weit her kommen… Deswegen sagen wir, wie unsere zapatistischen Brüder in Chiapas: Das Schweigen der Indígenas ist zu Ende – Basta Ya!”
Auch in dem an Chiapas angrenzenden Bundesstaat Oaxaca hat eine neugegrün­dete Koalition von zapotecos und chinantecos ihr Recht auf lokale und re­gionale Selbstbestimmung und ihre Unter­stützung des Kampfes des EZLN bekräf­tigt. Während einer eigentlich als Wahl­kampfveranstaltung der PRI gedachten Versammlung und in Anwesenheit des in­zwischen ermordeten Präsidentschafts­kandidaten Luis Donaldo Colosio erklärte der Dorfvorsteher von Guelatao, Víctor García:
“Unsere Forderungen nach territorialer, politischer, wirtschaftlicher, rechtlicher und kultureller Selbstbestimmung müssen verstanden werden als Antwort auf eine politische Praxis, die gekennzeichnet ist von Zentralisierung, Marginalisierung, Korruption, Wahlbetrug und Aufzwingung illegitimer Repräsentanten und Pro­gramme, die nichts zu tun haben mit unse­rer Kultur. All dies hat unsere Dörfer dazu veranlaßt, praktische und manchmal gewaltsame Lösungen zu wählen, um un­ser Überleben zu ermöglichen. Von die­sem Ort aus erneuern wir unsere Aner­kennung für verzweifelte Aktionsformen, wie diejenigen in unserem Bruderstaat Chiapas. Wir betonen, daß für uns Frie­den ausschließlich die Respektierung des Rechtes des Anderen bedeutet. Wir wün­schen Ihnen, Herr Kandidat, daß Ihr Auf­enthalt in Guelatao Ihnen Anlaß gibt zu tiefer Nachdenklichkeit und ehrlicher So­lidarität mit der mexikanischen Nation und besonders seinen Indígena-Völkern”.
Und schließlich haben die Purhépecha des Bundesstaates Michoacán Ende Februar ihre über 50 Dorfgemeinden zu einem re­gionalen Treffen ins Hochland nach Pichátaro eingeladen. Die mehr als 200 von ihren Dorfversammlungen entsandten Vertreter haben jenseits von korporativen Banden, parteipolitischen Grenzen und alten Landkonflikten zwischen einzelnen Dörfern ein politisches Programm formu­liert, das die Beziehungen zwischen Indí­genas und Staat auf eine neue Grundlage stellen und den Zusammenhalt innerhalb der Region stärken soll. Gastgeber Abelardo Torres faßt zusammen:
“Statt Regierungshilfen anzuwerben, be­stand die Zielsetzung unserer Versamm­lung darin, die Einheit der Purhépecha um eine gemeinsame Plattform von Be­dürfnissen und Ansprüchen herum zu er­streben, die wir selbst formulieren und dann auch zusammen in lokalen Projekten verwirklichen. So isoliert wie bisher kön­nen wir nichts ausrichten. Es geht darum, die gleichen Wege auch gemeinsam zu ge­hen”.
Um die Erfahrungen, Forderungen, Stra­tegien und Aktionsformen dieser ver­schiedensten regionalen Treffen, Plattfor­men und Koordinationen zusammenzutra­gen, haben ca. 30 regionale und lokale Organisationen aus ganz Mexiko an­schließend zu einer Convención Nacional Electoral de los Pueblos Indígenas An­fang März in Mexiko-Stadt geladen. Ver­treterInnen von 40 Indígena-Völkern und 110 sozialen Organisationen und Initiati­ven erarbeiteten während dieser zweitägi­gen Wahlkonvention eine Charta für die am 21. August stattfindenden Präsident­schaftswahlen. Damit sollen zum einen die politischen Parteien dazu veranlaßt werden, das “tiefe Mexiko” in ihren Wahlprogrammen zu berücksichtigen; zum anderen geht es aber vor allem darum, der Indígena- und Campesino-Be­völkerung eine nationale Artikulations­ebene zu verschaffen, von der aus das Projekt Mexiko revidiert werden soll.

Kein größeres Stück Torte – sondern ein neues Rezept

Ebenso wie die Haltung des EZLN bei den “Verhandlungen” in San Cristóbal sprengen auch die Hauptforderungen der Purhépecha, Nahua, Zapotecos, Chinante­cos etc. das assistentialistische Modell, mit dem bisher das “fiktive Mexiko” die marginalisierten Verlierer der Modernisie­rung durch punktuelle und an korporative Gefolgschaften gebundene staatliche Fürsorge- und Entwicklungsprogramme wie PRONASOL ruhigzustellen und so Protest zu kanalisieren versucht. In allen programmatischen Erklärungen sowohl der regionalen als auch der nationalen Treffen stehen nicht eine Erhöhung des PRONASOL-Etats oder eine “Verbesse­rung” der Entwicklungspro­gramme im Mittelpunkt, sondern die Ab­tretung von Souveränität. Gefragt wird nicht mehr, wer wieviel bekommt, son­dern wer nach welchen Kriterien verteilen darf. Diese Neukonzeption des Verhält­nisses des Na­tionalstaates zu den Indí­gena-Völkern be­trifft die gesamte Zivilge­sellschaft, wie das “Kommunalstatut” der Triqui von Chi­cahuaxtla aus Oaxaca ver­deutlicht:
“Die Gemeinde von San Andrés Chicahu­axtla definiert ihre Souveränität als das Recht, frei zu leben auf dem Land, das sie seit Menschengedenken bewohnt und de­ren Grenzen vom mexikanischen Staat und von unseren Nachbargemeinden aner­kannt worden sind. Statt im Widerspruch zur Souveränität des mexikanischen Staa­tes zu stehen, trägt die Souveränität des Triqui-Volkes von San Andrés Chicahu­axtla, wie auch die der anderen Völker und Kulturen, die die mexikanische Ge­sellschaft bilden, dazu bei, sie zu bereichern und zu stärken und ihr histori­schen und sozialen Gehalt zu verleihen. Statt die mexikanische Verfassung und ihre Ausführungsgesetze gegen den Willen derjenigen Völker zu formulieren und durchzusetzen, die dieses Land ge­schaffen haben und es heute bilden, müs­sen Ver­fas­sung und Gesetze ausgehend von der voll­ständigen Anerkennung dieser Völker, ih­rer ureigenen Rechte, ihrer Tra­ditionen, Bräuche und Hoffnungen erlas­sen und an­gewandt werden”.
Ausgangspunkt der Autonomiebestrebun­gen ist immer die Dorfgemeinde als die historisch zentrale Instanz der Identitäts­stiftung: Nur die Comunidad konnte im Zuge eines fünfhundertjährigen Wider­standskampfes als Freiraum bewahrt wer­den. Auf dieser lokalen Ebene ist Selbst­bestimmung daher nicht eine Forderung nach Veränderung, sondern bloß nach ju­ristischer Anerkennung des Status Quo: Auch ohne offiziellen Verfassungsrang bildet die Comunidad als Versammlung aller Gemeindemitglieder die wichtigste Säule der direktdemokratischen Traditio­nen. Ihr Überleben als eigenständige poli­tische Instanz ist jedoch in den letzten Jahrzehnten durch das Vordringen des Staates und den damit einhergenden Prak­tiken des Polarisierens und Spaltens gefährdet.

Kampf um kommunales Land

Die Verteidigung und Stärkung der Indí­gena-Gemeinde richtet sich vor allem auf die Rückgewinnung des Kommunallandes und der darauf befindlichen Naturressour­cen. Wie schon einmal Mitte des 19. Jahr­hunderts stellt die 1992 von Salinas im Zuge der NAFTA-Verhandlungen durch­gesetzte neoliberale Privatisierung des Ejido- und Kommunallands (Art. 27 der Verfassung) die materielle Basis der Co­munidad zur Disposition. In der Verteidi­gung des Landbesitzes zeigt sich die neue Qualität der Beziehungen zum Staat: Keine einzige Indígena-Organisation fordert eine Rückkehr zur alten Fassung des Artikel 27, in der das Ejido als korpo­rativ und hierarchisch kontrollierter Staatsbesitz den Vorrang hatte vor dem lokal und dezentral verwalteten Kommu­nalland. Mit ihrer Forderung nach territo­rialer Autonomie wollen die Indígenas daher nicht irgendeine Konzession oder weitere Reformen des Art.27 erhalten, sondern sich – wie es der legendäre Plan de Ayala von Emiliano Zapata 1911 vor­sah – einen Freiraum für eigene, lokale und regionale Entscheidungen sichern. Dieser Prozeß der Rückeroberung der Kontrolle über die eigenen Ressourcen hat schon während der Diskussionen um die Abschaffung der kollektiven Besitzrechte begonnen. So setzt zum Beispiel das De­creto de la Nación Purhépecha von 1991 alle Verfassungsänderungen für ihr Terri­torium außer Kraft, die das Kommunal­land betreffen:
“Auf der Grundlage unseres historischen Rechtes, des Rechtes auf Souveränität und freie Selbstbestimmung über unsere Ge­genwart und unsere Zukunft, und ange­sichts der Tatsache, daß wir die legitimen Erben und Inhaber dieses Landes sind, haben wir, Mitglieder und Gemeinden der Purhépecha-Nation das folgende Dekret erlassen: 1) Wir setzen alle Reformen des Verfassungsartikels 27 und alle eventuel­len späteren Novellierungen derjenigen Artikel der mexikanischen Verfassung au­ßer Kraft, die die Indígena-Gemeinden, die Campesinos, die Arbeiter und das Volk im allgemeinen betreffen, wie die Artikel 3, 123 und 130. 2) Wir beanspru­chen die Unverjährbarkeit, die Unveräu­ßerlichkeit und die Nicht-Beschlagnahm­barkeit des Kommunal- und Ejido-Landes sowie ihre Definition als gesellschaftli­ches Eigentum. 3) Alle Kommunal- und Ejido-Bauern, die Parzellen oder Land ei­genmächtig verkaufen, werden aus den Gemeinden ausgestoßen. 4) Alle Anführer und Dorfautoritäten, die der Reform des Artikels 27 zugestimmt haben, ohne ihre Basis zu befragen, sind abgesetzt. Erlassen im Territorium der Purhépecha-Nation, am 5. Dezember 1991. Juchari Uinapikua! / Unsere Kraft! – Die Purhé­pecha-Gemeinden Michoacáns”.

Regionalautonomie und direkte Demokratie

Diese territorialen Souveränitätsansprüche münden gleichzeitig in eine politische Re­organisation des gesamten Staates. Gefor­dert wird nicht nur eine Dezentralisierung der Kompetenzen der Zentralregierung, sondern als erster Schritt eine Reform und Neuabgrenzung der Gebietskörperschaf­ten: In vielen Bundesstaaten führt die be­wußt künstliche Grenzziehung der Muni­cipio-Distrikte und der Wahlkreise dazu, daß eine Vielzahl von Indígena-Gemein­den einem mestizischen Distriktsvorort untergeordnet sind. Dadurch soll den In­dígenas der Zugang zu regionalen oder nationalen Ämtern und Mandaten syste­matisch erschwert werden, wie Margarito Ruiz, Tojolabal-Indígena aus Chiapas und ehemaliger Parlamentsabgeordneter der oppositionellen PRD, zeigt:
“Es ist historisch erwiesen, daß die Ein­teilung in Municipios und die verschie­denen anderen Gebietskörperschaften des Landes aufgrund von Interessenkonflik­ten zwischen Caudillos und anderen lo­kalen Kräften vollzogen worden ist. Die terri­toriale Gliederung Mexikos entspricht nicht Kriterien einer wirtschaftlichen, so­zialen oder kulturellen Regionalisierung. So kommt es, daß die Tojolabal, obwohl sie über ein geschlossenes Siedlungsgebiet verfügen, auf die Municipios Comitán, Las Margaritas, Altamirano und La Inde­pendencia aufgeteilt sind. Und die Tzotzil, die auch geschlossen siedeln, wurden in fünf verschiedene Municipios eingeteilt. Dies ist das vorherrschende Modell in fast allen Indígena-Regionen des Landes”.
Daher fordert die Wahlcharta der Natio­nalkonvention die Einführung pluriethni­scher Territorien mit jeweils eigener Re­präsentanz auf bundes- und zentralstaat­licher Ebene. An diese Regio­nen, die auch die innerhalb eines Indígena-Siedlungs­gebietes lebenden Mesti­zen umfassen und unabhängig von beste­henden Municipio-Grenzen eingerichtet werden sollen, müs­sen Municipios und Bundesstaaten Kom­petenzen im Sinne der territorialen Selbst­bestimmung abtreten.
Was die Wahlen auf den verschiedenen politischen Ebenen betrifft, lehnt die ge­meinsame Charta der Nationalkonvention das herkömmliche Modell der repräsenta­tiven Parteiendemokratie als unzulänglich für die Vertretung der Indígena-Interessen ab. Da in den Comunidades Entscheidun­gen nicht nach Parteienmehrheit getroffen werden, soll für jede pluriethnische Re­gion ein spezieller Wahldistrikt geschaf­fen werden:
“Unter Berücksichtigung unserer Formen des Regierens und unserer Sozialorgani­sation sowie zur Gewährleistung der vollen Repräsentation der Indígena-Völ­ker innerhalb der staatlichen Strukturen werden die autonomen Regionen ihre in­ternen Mechanismen der Bestimmung ih­rer Vertreter jeweils eigenständig festle­gen”.

Völkerrechtliche Verträge statt mehr Almosen

Die staatliche Anerkennung der kommu­nalen und regionalen Souveränität in den Bereichen territoriale Autonomie und Ressourcenkontrolle, politische Reprä­sentationsformen, Anerkennung der Indí­gena-Sprachen und das Recht auf selbst­bestimmte Erziehungs- und Kulturinstitu­tionen soll durch eine Reform des Artikels 4 der Verfassung erfolgen. Dieser Artikel erkennt in seiner aktuellen Fassung höchst schwammig die “plurikulturelle Zusam­mensetzung der mexikanischen Nation” und die staatliche Verpflichtung zum “Schutz der Sprachen, Kulturen, Bräuche, Ressourcen und Organisationsformen der Indígena-Völker” an.
Wie weit der Weg noch ist, bis Staat und Regierungspartei tatsächlich bereit sein sollten, Kompetenzen an die Regionen und Völker Mexikos abzutreten, zeigt das letzte offizielle Zugeständnis von Salinas an die Autonomieforderungen der Indí­genas: Kaschiert als Teil des “Verhandlungsergebnisses” mit dem EZLN wurde im März eine Comisión Nacional de Desarrollo Integral y Justicia Social para los Pueblos Indígenas er­nannt, in der jedoch bezeichnenderweise kein einziger Indígena vertreten ist. Das altbewährte Konzept “Assistentialismus für Indígenas, aber ohne Indígenas” wird erneut angewandt. Und auch der Aufga­benbereich der Nationalen Kommission ist identisch mit dem bestehenden, bereits 1948 gegründeten und mittlerweile vom Notprogramm PRONASOL vollständig aufgesogenen Instituto Nacional Indigeni­sta, dessen endgültige Abschaffung aller­orts gefordert wird.
Das korporative politische System Mexi­kos scheint sich – trotz “Modernisierung”, “Rückzug des Staates”, “Deregulierung” und ähnlicher technokratischer Ideolo­geme – aus Gründen des Machterhaltes der Elite des “fiktiven Mexiko” von über­kommenen Mustern der Kanalisierung von Protest, der Integration mittels Kor­ruption sowie der Disziplinierung durch Parteikanäle nicht lösen zu können. Was tun? Der abtrünnige Entwicklungsplaner und heutige Graswurzelaktivist Gustavo Esteva empfiehlt Sterbehilfe:
“Der Kampf um die einzelnen Forderun­gen und um das Land als solches bewir­ken eine schnelle und intensive Politisie­rung des öffentlichen Lebens, wodurch das Absterben des herrschenden politi­schen Systems beschleunigt wird, eines Systems, das meiner Ansicht nach bereits im Sterben liegt. Die gegenwärtige Her­ausforderung besteht darin, Bedingungen zu schaffen, um dem System einen würdi­gen Tod und ein ehrenhaftes Begräbnis zu bieten. Wenn wir diese Agonie oder sogar den Todesfall abstreiten oder zu verber­gen versuchen, wird der unbestattete Ka­daver schon sehr bald die übelsten Ge­rüche absondern”.
Das Tragische und Gefährliche liegt in der Ungleichzeitigkeit der Ereignisse und Akteure: Während sich der Apparat mitten in seiner Agonie gegenüber der Gesell­schaft weiterhin verhält wie vor vierzig Jahren, hat die Zivilgesellschaft selbst längst begonnen, der Aufforderung des Subcomandante Marcos von Mitte Januar zu folgen: Vorsichtig streift sie die ihr aufgezwungene Maske ab und erkennt langsam im noch ganz unbekannten, eige­nen Spiegelbild die Konturen des “tiefen Mexiko”.

Durchzug im Mief der Korruption

Die Indígenas, die im sonst von Touri­stInnen bevölkerten San Cristóbal de las Casas kleine Stoffpuppen verkaufen, ha­ben rasch umgestellt. Ihre Figuren, die sie auf den kleinen Tischen am Straßenrand vor der Kathedrale anbieten, tragen heute schwarze Ski-Masken – Hommage an “Subcomandante Marcos” und die anderen Zapatistas, die maskiert in der Kathedrale mit dem Friedensemissär der Regie­rung verhandelten. Was einige hier ganz marktwirtschaftlich zu Geld machen, scheint im ganzen Land Geltung zu haben: Die Unterstützung der indianischen Be­völkerung für die chiapanekischen Zapati­stas.
Aus dem Bundesstaat Guerrero waren hunderte von Indígenas zu Fuß nach Me­xiko-Stadt gelaufen, hatten den “zócalo” besetzt, den Hauptplatz, und in klarer So­lidarität mit den Zapatistas ihre eigenen Forderungen vorgetragen. Nach wenigen Tagen wurden sie vom Präsidenten emp­fangen, und wenig später konnten sie mit einem Bündel voller Zusagen den Heim­weg antreten. In San Cristóbal trafen sich Mitte März VertreterInnen von Indígena-Organisationen aus ganz Mexiko, zusam­mengeschlossen im “Rat der Indianer- und Bauernorganisationen” (CEOIC). CEOIC war nach Beginn des Chiapas-Aufstandes als Dachorganisation von mehr als 280 Gruppen gegründet worden. Das Treffen endete mit einem Forderungskatalog zur Veränderung der Verfassung: Indianische Formen der Selbstverwaltung sollen aner­kannt, die verschiedenen Indianer­sprachen generell als zweite Amtssprache zugelas­sen werden. Die staatliche India­nerbehörde soll von den Indígenas selbst geleitet werden. Letztendlich sollen an den Gerichten des Landes spezielle “Ämter für indigene Rechtsprechung” und wissen­schaftliche Beiräte zur Ausarbei­tung indi­gener Schulerziehungspro­gramme einge­richtet werden. Die indiani­schen Organi­sationen sind lauter gewor­den, seit der Aufstand der EZLN in Chia­pas die Regie­rung zum Einlenken ge­zwungen hat.
Und eingelenkt hat die Regierung tatsäch­lich. Das Angebot, das sie nach zehn Verhand­lungstagen der EZLN zur Been­digung des Konfliktes in Chiapas unter­breitet hat, ist noch kein Abkommen. Wenn Präsident Carlos Salinas immer vom “Friedensschluß” spricht, so könnte ihm das Ärger einbringen. Denn zu Recht be­steht Subcomandante Marcos darauf, daß es bislang nichts anderes gibt als eine Waffenruhe, eine Pause im Krieg also, und einen Vorschlag der Regierung, der zur Unterzeichnung eines Friedensab­kommens führen könnte.

Die Landfrage bleibt der Knackpunkt – seit 500 Jahren

Dennoch ist das Angebot der Regierung weit mehr als eine Lappalie. Die Antwor­ten auf die 34 Forderungen der Guerilla sind zwar recht allgemein formuliert, so daß da noch einiges an politischer Über­setzungsarbeit notwendig ist – zumal in die verschiedenen Indianersprachen. Weitreichend aber ist das Angebot den­noch: In vielen Punkten wäre eine tatsächliche Umsetzung regelrecht revo­lutionär (vgl. Dokumentation in diesem Heft).
Hauptstreitpunkt bleibt erwartungs­gemäß die Landfrage. Die Guerilla hatte gefor­dert, ein völlig neues Agrarreformge­setz auszuarbeiten, das wieder im Sinne der mexikanischen Revolution von 1917 die Umverteilung sichern sollte. Minde­stens aber sollte der 1991 reformierte Pa­ragraph 27 der mexikanischen Verfassung wieder in seiner ursprünglichen Fassung gelten. 1991 war der Schutz des indiani­schen Ejido-Besitzes praktisch aufgeho­ben worden. Seither blühten in Chiapas der Verkauf von Ländereien und die Boden­spekulation.
Die Regierung hat sich auf eine generelle Reform weder in der einen noch in der anderen Richtung eingelassen. Lediglich für den Bundesstaat Chiapas selbst hat sie unmittelbare Vorschläge unterbreitet, wie die Landbesitzfrage dort zu regeln sei. Das geht nicht ohne politische Kosten, und prompt rebellieren die “coletos”, die Mestizen von San Cristóbal, gegen die Verhandlungen, gegen Bischof Ruiz, ge­gen Manuel Camacho, aber vor allem ge­gen “diese Indios”.
Auch eine Reform des Wahlrechts ist in Aussicht – aber zunächst nur in Chiapas. Alles weitere bleibt dem Parlament vor­behalten. Das aber wird sich in diesen Ta­gen zu mehreren Sondersitzungen treffen, um über die im Grunde genommen hin­länglich bekannte Forderung nach Mecha­nismen, die saubere Wahlen garantieren, zu beraten.

Wahlrechtsreform, und neue Gedanken zur Kandidatenkür…

Und im Hinblick auf die Präsident­schaftswahlen im Sommer empfiehlt sich immer nachdrücklicher eben jener Frie­densunterhändler Manuel Camacho Solis. War er bei der ersten Kandidatenfindung der PRI noch gegenüber Luis Colosio un­terlegen, so entziehen immer größere Teile der Partei dem Wunschkandidaten des derzeitigen Präsidenten die Unterstüt­zung. Eine innerparteiliche Oppositions­gruppe “Demokratie 2000” erklärte, sie hätten schon 5.000 Unterschriften für Ca­macho als Kandidaten gesammelt, und eine andere Gruppe innerhalb der PRI gab gar bekannt, sie werde fortan überhaupt den Kandidaten der oppositionellen PRD Cuathemoc Cárdenas unterstützen.
Zwar ist über Camachos eigene Absichten noch nichts bekannt. Daß er aber trotz des großen Drucks, sich ob seiner Rolle als Unterhändler aus der aktiven Politik zu­rückzuziehen, in einer Rede ankündigte, er sei nicht bereit, seine politischen Rechte aufzugeben, läßt die Spekulationen fröhlich weiterblühen. Und immerhin: Carlos Fuentes schrieb über die Wahlen, sie müßten so sauber sein, daß man selbst einen Wahlsieg von Colosio glauben würde. Mit diesem Kandidaten sehen die Chancen der PRI nicht besonders gut aus. Camacho hingegen hat nicht nur einiges Verhandlungsgeschick bewiesen, er ging auch belobigt von Medien-Superstar “Subcomandante Marcos” aus den Ge­sprächen heraus, und das Bild, wie beide die mexikanische Fahne halten, ging um die Welt.

…aber wird sich für das indianische Mexiko viel ändern?

All das haben die Zapatistas losgetreten, aber derzeit lenkt es genau von ihnen und den vielen anderen Problemen ab, die ne­ben der Frage der Demokratisierung und der Präsidentschaft auch entscheidende Gründe für ihren Aufstand waren. Wäh­rend sich ein Großteil der mexikani­schen Gesellschaft in einer gewissen Scham über den Gegensatz zwi­schen Bundes­hauptstadt und ländlicher Region, zwi­schen arm und reich im eige­nen Land re­lativ einig ist, sind die politi­schen Konse­quenzen aus dieser Scham doch zu bezwei­feln. Was jahrhundertelang an den Rand gedrängt worden ist, kann nicht so plötz­lich zum bestimmenden Element der Poli­tik werden. So scheint es, als ob ge­rade diejenigen Forderungen der EZLN, über die die Regierung nicht verhandeln wollte – die aber auch den gering­sten Be­zug zur indianischen Realität ha­ben – die mittel­ständische Gesellschaft am meisten inte­ressieren: Wahlrechtsreform und die Zukunft der PRI-Regierung. Wenn selbst PRI-Kandidat Colosio mitt­lerweile eine internationale Überwachung der anste­henden Präsidentschaftswahlen ins Auge faßt, wenn das Parlament dem­nächst in Sondersitzungen über eine Wahlrechtsre­form debattieren wird, dann ist das zwar eine Dynamik in der politi­schen Kultur Mexikos, die in dieser Art von nieman­dem zu erwarten war. Ande­rerseits ist fraglich, ob sich über Reformen der de­mokratischen Spielregeln hinaus auch das Verhältnis zwischen dem indiani­schen und dem mestizischen Mexiko tatsäch­lich verändern wird. Und da sind Zweifel an­gebracht. Denn die Instru­mente, die im Regierungsangebot zur Verbesserung der Situation der Indígenas genannt werden, sind durchaus nicht re­volutionär. Wie sagte Camacho Solis bei der Vorstellung der Ergebnisse: “Die Ver­handlungen hat­ten ihre Grenzen: Es ist nichts akzeptiert worden, was die verfas­sungsmäßige Ord­nung schwächen könnte.” Außerdem lobt er: “Ohne das Vertrauen und die Rücken­deckung des Präsidenten wären diese Er­gebnisse nicht möglich ge­wesen. Die Hilfe der staatlichen Institio­nen in Chia­pas war entscheidend. Die Spielräume, die die Zivilgesellschaft dem Frieden ver­schafft hat, die Parteien, die Kirchen, die sozialen Organisationen und die Medien, haben dieses politische Er­gebnis ermög­licht. Die mexikanische Ar­mee hat ver­antwortungsbewußt zu der po­litischen Lö­sung beigetragen.” So ist nie­mand ausge­schlossen, niemand wird in Frage gestellt.
Dennoch zeigt sich gerade an den nervö­sen Reaktionen derjenigen, die in Chiapas etwas zu verlieren haben, daß die Karten doch neu gemischt werden. Schon ist die Rede von einer chiapaneki­schen Contra, schon wird von Überfällen und Mordan­schlägen auf indianische Füh­rer berichtet. Wo IndianerInnen die Ge­bäude der Stadt­verwaltungen besetzt hielten und die Ab­setzung der PRI-Bür­germeister forder­ten, gab es zum Teil handfeste Auseinan­dersetzungen mit AnhängerInnen der Re­gierungspartei. Auf lokaler Ebene vertei­digt die alte Herrschaft ihre Macht ohne Rücksicht auf diplomatische Etikette.

Unterstützung für die Indígenas oder nur für “Marcos”?

Auch die Indígenas entwickeln eine Dy­namik und erhalten Auftrieb. Nur: Sie werden bei den sozialen Kämpfen, die sie jetzt führen und die da noch kommen, weit weniger von der Öffentlichkeit unter­stützt werden, als das in der Frage der Wahlrechtsreform der Fall ist. Denn keine der bestehenden Parteien, auch nicht die moderat-linke PRD, kann ihrerseits auf die uneingeschränkte Unterstützung der Indígenas rechnen, noch könnte sie ihrer bisherigen Klientel die Forderungen der Indígenas nach territorialer Autono­mie vermitteln. Octavio Paz, erklärter re­gierungsnaher Gegner des Zapatista-Auf­stands, hat hier in einem Kommentar zu den Verhandlungsergebnissen sicher auf den Punkt gebracht, was mestizischer Konsens sein dürfte: “Was die Forderung nach einer Reform des Verfassungsarti­kels 4 betrifft, wäre es schwerwiegend, den indianischen Gemeinden autonome Verwaltungen zuzugestehen. Das nämlich würde bedeuten, daß gleichzeitig zwei Gesetze in Kraft wären: das nationale und das traditionelle. In politischer und kul­tureller Hinsicht ist der Pluralismus eine heilsame Angelegenheit, das aber ist auch die Integrität und Einheit der Nation.” Nein, so weit wie die nicaraguanischen SandinistInnen – nach langen blutigen Kämpfen – mit der Autonomie für die in­dianisch bewohnte Atlantikküste gegan­gen sind, möchte sich in Mexiko niemand vorwagen – zumal jede Regelung für Chiapas nahezu zwangsläufig zum Präze­denzfall für die anderen Bundesstaaten mit einem hohen Anteil indigener Bevöl­kerung werden könnte. Und letztendlich könnten viele in Mexiko-Stadt denken: Vielen Dank, liebe Zapatistas, daß ihr in dem Mief von Wahlbetrug und Korruption ein wenig Durchzug veranstaltet habt – aber nun langt’s auch allmählich mit eu­rem Auf­stand da unten.

Kasten:

Revolutionäres Gesetz der Frauen

Im gerechten Kampf für die Befreiung unseres Volkes hat die EZLN die Frauen in den revolutionären Kampf miteingeschlossen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrem Glauben oder ihrer politischen Herkunft. Die einzigen Bedingungen bestehen darin, sich die Forderungen des ausgebeuteten Volkes zu eigen zu machen und in der Verpflichtung, die Gesetze und Vorschriften der Revolution zu erfüllen. Um die Situation der Arbeiterinnen in Mexiko zu berücksichtigen, wurden ihre gerechten Forderungen nach Gleichheit und Gerechtigkeit im folgenden Gesetz aufgenommen:

 1. Die Frauen haben das Recht, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrem Glauben und
     ihrer politischen Herkunft in dem Maße am revolutionären Kampf teilzunehmen
     wie es ihr Wille und ihre Fähigkeiten zulassen.
 2. Die Frauen haben das Recht auf Arbeit und einen gerechten Lohn.
 3. Die Frauen haben das Recht, selbst zu bestimmen, wieviele Kinder sie bekommen.
 4. Die Frauen haben das Recht, sich an den Gemeindeversammlungen zu beteiligen
     und Ämter zu übernehmen, wenn sie frei und demokratisch gewählt worden sind.
 5. Die Frauen und ihre Kinder haben das Recht auf besondere Aufmerksamkeit in
     Hinblick auf ihre Gesundheit und Ernährung.
 6. Die Frauen haben ein Recht auf Bildung.
 7. Die Frauen haben das Recht, ihren Partner frei zu wählen und dürfen nicht zur
     Eheschließung gezwungen werden.
 8. Keine Frau darf geschlagen oder körperlich mißhandelt werden, weder von
     Angehörigen noch von Fremden. Versuchte Vergewaltigung oder Vergewaltigung
     werden streng bestraft.
 9. Frauen können Führungspositionen in der Organisation und militärische Ränge im
     bewaffneten revolutionären Heer bekleiden.
10. Die Frauen unterliegen allen Rechten und Verpflichtungen, die in den Gesetzen
     und Regeln der Revolution festgelegt sind.
Aus: La Jornada 8. Februar 1994
Übersetzt von: Susan Drews

Eine Antwort, kein Friedensver­trag

Manuel Camacho Solis:
1. und 2. Von den 34 Punkten des Forderungskata­loges sind die beiden, die sich auf die Demokratie auf nationaler Ebene bezie­hen, nicht Teil der Verhand­lungen, sind aber klar beantwortet wor­den. Statt die Konfrontation an einen Punkt voranzu­treiben, von wo aus es kei­nen Ausweg mehr gibt, sollten wir alle Teil eines Pro­zesses der institutionellen politischen Ver­änderungen sein, die in­nerhalb der Instan­zen der zivilen Gesell­schaft ausgehandelt werden müssen: in den politischen Par­teien, in den Organen des Zentralstaates und in der öf­fentlichen Meinung. Die Ankündigung, daß es mit Zustim­mung aller Parteien eine außeror­dentliche Kongreßperiode geben soll, um Reformen zu entwickeln, die die Unpar­teilichkeit der Wahlbehörden ga­rantieren und die Betei­ligung der Bürger, ist ein wichtiger Schritt auf einen demo­kratischen Wandel hin, der zum Frieden in Chiapas beiträgt.
3. Der Geist der politischen Verpflichtung für einen würdigen Frieden und die kon­krete Friedensübereinkunft in Chiapas ge­ben der EZLN volle Garantien und ge­währleisten denjenigen eine würdige und respektvolle Behandlung, die sich in die­sen Prozeß integrieren. Es wird bei der EZLN liegen, über die Art und Weise ih­rer zukünftigen sozialen und politischen Beteiligung zu entscheiden. Wenn man davon ausgeht, daß diese im Respekt ge­genüber der Verfassung der Republik er­folgt, wird die Regierung jede Form der legalen Registrierung erleichtern, die von der EZLN oder ihren Mitgliedern bean­tragt wird.
4. Den Forderungen der Gemeinden, die die politisch, wirtschaftlich und kulturell au­tonomen indianischen Kommunen bil­den werden, soll mit der Einsetzung eines “Allgemeinen Gesetzes über die Rechte der indianischen Gemeinden” entsprochen werden. Die Gesetzesinitiative wird die traditionellen Institutionen, Autoritäten und Organisationen der indianischen Ge­meinden und ihre Kontrollfunktion als gültig im Sinne der Rechtssprechung an­erkennen. Das gleiche gilt für die Schritte auf dem Weg zur Annahme dieses Geset­zes, wenn es um indigene Gewohnheits­rechte, Bräuche und Traditionen, familiäre und gesellschaftliche Beziehungen, den inneren Handel, die Sanktion von Fehl­verhalten, Fragen des Grundbesitzes und der landwirtschaftlichen Nutzung ihrer Güter geht. Dies gilt auch für die Gestal­tung der traditionellen Organe selbst, so­fern sie nicht gegen die fundamentalen Rechte ihrer Mitglieder oder die öffentli­che Ordnung verstoßen. Auch müssen sie mit den Festlegungen der Verfassung, der Erklärung der Universellen Menschen­rechte und der Internationalen Konvention über indigene Völker und Stämme über­einstimmen. Letzere wurde in Genf be­schlossen und von Mexiko im August 1990 unterzeichnet.
Das neue Gesetz wird das Recht auf den Gebrauch der eigenen Sprache anerken­nen, sowohl im Bereich von Amtshandlun­gen, in Bildung, Kommuni­kation und in den Beziehungen zu Dritten. Beim Kon­takt mit kommunalen bundes­staatlichen oder regionalen Autoritäten muß Indí­genas ein Übersetzer zur Verfü­gung ge­stellt werden.
5. Im Bundesstaat Chiapas werden allge­meine Wahlen abgehalten, an denen alle politischen Kräfte der Region legal teil­nehmen können. Um die Transparenz die­ses Prozesses zu gewährleisten, wird ein neues Wahlgesetz geschaffen, das die er­forderlichen Maßnahmen enthält, um die Unparteilichkeit des Wahlprozesses zu ga­rantieren. Um die gleichmäßige Reprä­sentanz der Ethnien im Kongreß von Chiapas zu gewährleisten, werden die Wahlbezirke neu eingeteilt.
Sowohl die Verfassung des Bundesstaates Chiapas als auch das Gesetz über die kommunalen Organe werden reformiert, um auf dem gegenwärtigen Territorium von Ocosingo und Las Margaritas neue Kommunen zu bilden. Hiermit soll eine bessere Vertretung der Bevölkerung und eine größere Nähe zwischen den Autori­täten und dem Volk ermöglicht werden.
6. Die Programme zur Elektrifizierung der ländlichen Gemeinden sollen dop­pelt so schnell vorangehen wie bisher.
7. Binnen 90 Tagen wird eine sorgfältige Erhebung über die verschie­denen produk­tiven Aktivitäten in Chiapas vorliegen, insbesondere in Bezug auf die indiani­schen Kommunen. Von dieser Un­tersuchung ausgehend, werden unter Mit­wirkung der Kommunen Konzepte zur be­ruflichen Weiterbildung entwickelt, die produktive Aktivitäten und Beschäftigun­gen, Anpassungsprozesse und neue For­men der Vermarktung betreffen.
8. In Chiapas wurde der Prozeß der Agrarre­form der Mexikanischen Revolu­tion nicht voll realisiert. Es ist notwendig, eine Lö­sung für die zahlreichen Agrarkon­flikte zu finden, indem den Kleineigentü­mern Ga­rantien gegeben werden. Der Pro­zeß, um dies zu erreichen, ist mit der Dis­kussion, Verabschiedung und Bekannt­gabe des “Allgemeinen Gesetzes über die Rechte der indianischen Gemeinschaften” ver­bunden – einem Gesetz, das ausgehend von den Forderungen, Meinungen, Sorgen und der Zustimmung der indianischen Kommunen in Chiapas und anderen Tei­len des Landes, vorbereitet wird.
Dieses Gesetz wird beinhalten:
– Die Etablierung geeigneter Maßnah­men, Bräuche, Bestände und Bestim­mungen in Bezug auf Ländereien, Was­ser und Wälder.
– Die notwendigen Vorgänge für eine Aufteilung der Latifundien.
– Die Festlegung von Fällen, in denen die Enteignung und Besetzung von Privat­eigentum von öffentlichem Nutzen ist.
– Der Schutz des Eigentums und des Zu­sammenhaltes der gemeinschaftlichen Ländereien der indigenen Kommunen.
– Die Rückerstattung von Land mit Hilfe einer objektiven Schätzung, die sich der Ausplünderung von Ländereien und Gewässern entgegensetzt, welche den indianischen Völkern oder Kommunen zugesprochen werden sollen.
Dieser Prozeß soll in einem ständigen und direkten Dialog mit der EZLN und ande­ren sozialen Organisationen in Chiapas er­folgen.
Es wird eine Initiative für ein “Landwirtschaftliches Gesetz im Staat Chiapas” vorbereitet, das drei Haupt­aspekte enthalten soll:
Bei den Anstrengungen für eine Diversifi­zierung der Produktion werden die Maß­nahmen im Bereich der Infrastruktur und die langfristigen Finanzplanungen von be­sonderer Wichtigkeit sein, um die Kapita­lisierung der Kommunen und ejidos zu fördern.
9. Um die Probleme im Gesundheitsbe­reich zu bekämpfen, sollen da, wo Krankenhäu­ser vorhanden sind, diese so schnell wie möglich instandgesetzt und mit komplet­ten chirurgischen Abteilungen ausgestattet werden. In den Orten, wo keine Hospitäler oder Kliniken existieren, sollen Investitio­nen getätigt werden, die das Basisversor­gungsnetz stärken.
Im Zuge einer vollständigen Reorganisa­tion des Gesundheitssystems in Chiapas soll ein Notprogramm vorangetrieben werden. Die Gesundheitskampagnen sol­len neu organisiert werden, um die Be­treuung aller Kinder zu gewährleisten, in­klusive derjenigen, die in den entlegensten Teilen des Landes leben. Im März werden Kampagnen zur Bekämpfung von Mala­ria, Cholera und Infektionskrankheiten ge­startet.
10. Es wird die Erlaubnis erteilt, einen von der Regierung unabhängigen indigenen Sender einzurichten.
11. Es wird ein Spezial­programm gestar­tet, um den Bau und die Verbesserung von Wohnungen in den in­digenen Kommunen zu fördern, ebenso wie die Einrichtung ei­ner Basis­versorgung mit Elektrizität, Trinkwasser, Straßen und Kontrollstatio­nen im Umwelt­bereich. In diesem Pro­gramm werden ebenfalls Un­terstützungsmaßnahmen für Sport und Kultur enthalten sein.
12. Es soll eine unmittelbare Übereinkunft zwischen den Lehrern der verschiedenen öffentlichen Einrichtungen und ihren ge­werkschaftlichen Sektionen erreicht wer­den, um ein Programm zur Verbesserung der Qualität der öffentlichen Bildung in der Region zu schaffen. Die Entwicklung zweispra­chiger Bildungsmöglichkeiten im mittle­ren und höheren Bereich soll unter­stützt werden. Das gleiche gilt für den Bau von Grundschulen, Mittelschulen und techni­schen Schulen oder Vorbereitungs­kursen in den indigenen Kommunen.
Um den Zugang der Indí­genas zur mittle­ren und höheren Bildung zu erleichtern, wird ein System staatlicher Stipendien ge­schaffen, die aus öffentlichen und privaten Quellen finan­ziert werden. Dies beinhaltet auch die Unterstützung künstlerischen Schaffens und der wissenschaftlichen Entwicklung junger Talente in den indige­nen Kommunen.
13. Die zweisprachige Erziehung in den indi­genen Gemeinschaften wird in dem “Allgemeinen Gesetz über die Rechte der indigenen Gemeinschaften” verankert, in den staatlichen Gesetzen und im Erzie­hungs- und Bildungsprogramm des Bun­desstaates Chiapas.
14. Die Forderung nach einer Respektie­rung der Kultur und Tradition, der Rechte und der Würde der indigenen Völker ist das Rückgrat des “Allgemeinen Gesetzes über die Rechte der indigenen Gemeinschaf­ten”, und wird seinen kon­kreten Nieder­schlag in den verschiedenen Bereichen von Regierung, Verwaltung, Justiz und Kultur finden.
15. Um die Diskriminierung und Verach­tung der indigenen Völker zu vermeiden, ist der beste Weg eine Veränderung der Wertvorstellungen von Kindern und Ju­gendlichen. Daher mußder Erziehung in diesem Bereich eine besondere Aufmerk­samkeit geschenkt werden.
Es wird eine Gesetzesinitiative vorbe­reitet, um in unserem Rechtssystem erst­mals die Diskriminierung von Privatper­sonen gegenüber Indígenas unter Strafe zu stellen, und um die staatlichen Institutio­nen zu verpflichten, die gesetzliche Gleichheit effek­tiv umzusetzen. Dies be­inhaltet auch die Schaffung einer Staats­anwaltschaft zur Verteidigung der Rechte der Indígenas.
16. Dieser Punkt wird mit dem Allgemei­nen Gesetz über die Rechte der indiani­schen Kommunen, mit der Verfassungsre­form des Bundesstaates Chiapas, mit der neuen Wahlkreisaufteilung, mit den diver­sen Refor­men der Justizverwaltung, mit der Steuer­übereinkunft zwischen der Regie­rung und den Kommunen in Chiapas und mit der Schaffung neuer Gemeinden in­nerhalb der jetzigen Landkreise Oco­singo und Marga­ritas beantwortet.
17. Es werden Reformen der Verfassung von Chiapas vorangetrieben werden, Refor­men des Gesetzes, das die Organe der Rechtsprechung in Chiapas regelt, Refor­men der Landespolizei in Chiapas und an­dere Verordnungen mit dem Ziel:
– Gerichtsstandorte festzulegen, die mit der Gebietsaufteilung der indigenen Kommunen zusammenfallen. Ziel ist, daß die örtlichen Richter auf Vorschlag der Gemeinden selbst ausgewählt wer­den. Dadurch soll garantiert wer­den, daß die Richter Indígenas sein können, oder von ihnen respektierte Ju­risten, die die Gesetze und gleichzeitig die Ge­wohnheiten und Ge­bräuche kennen und diese bei ihrer Entscheidung mit einbe­ziehen.
– [Paralleles auch für öffentliche Dienste und Arbeitsgesetzebung]
– Es wird eine Verwaltung zur Verteidi­gung der Indígenas geben. [Indígena-Beauftragter] Deren Leitungsgremien müssen zweisprachig sein und die indi­genen Rechte genau kennen. Der Be­auftragte wird durch das Landesparla­ment von Chiapas auf Vorschlag der indigenen Kommunen gewählt.
– Es wird eine vollständige Überprü­fung der rechtlichen Situation jener Personen geben, die als Ergebnis sozi­aler Kon­flikte im Gefängnis einsitzen, ebenso in allen Fällen von Indígenas, deren rechtliche Situation eine baldige Frei­lassung ermöglicht.
18. Die Existenz würdiger Arbeitsplätze und gerechter Löhne hängt von der Verbesse­rung der Ausbildung ab, von den Investi­tionen zur Steigerung der Produkti­vität, der verbesserten Gesetzgebung zum Schutz der Arbeitnehmer.
Ein ebenso wichtiger Faktor ist eine ver­besserte Organisation und Verteidigung der legitimen Rechte der Landarbeiter.
19. Es werden Entscheidungen getroffen, wie in den indigenen Kommunen teil­weise die Auswirkungen plötzlicher Ver­änderungen des Weltmarktpreises für landwirtschaftliche Produkte ausgeglichen werden können.
Dazu werden, ausgehend von den beste­henden Erfahrungen, Projekte nationaler und internationaler Vermarktung geför­dert, die den Zwischenhandel aus­schalten und in Form von Genossen­schaften die Vermarktung der chiapaneki­schen Agrar­produkte organisieren.
20. Für Chiapas, für Mexiko und für die inter­nationale Gemeinschaft ist die Verpflich­tung zum Schutz der natürlichen Ressour­cen der Region sehr bedeutsam.
Auf diese Pflicht werden die Bundesregie­rung und die internationalen Institutionen, Stiftungen und Ökologie-Gruppen mit ei­ner koordinierten Hilfsaktion zum Tech­nologie-Transfer, Projekten der nachhalti­gen Entwicklung und der Finanzierung des Umweltschutzes reagieren. Ausgangs­punkt ist die Pflege der Umwelt durch die indigenen Kommunen.
21. [Der Punkt ist nicht genau zu verstehen, ohne den Wortlaut der zapati­stischen For­derung Nr. 21 zu kennen. Es geht noch einmal um die Sicherung der Ar­beitsplätze, d.Ü.]
22. Zusammen mit den sozialen Organisatio­nen, den Gemeinden und der Regierung wird ein Programm durchge­führt werden, daß die Ernährungslage von Kindern bis sechs Jahren mit deutlichen Mangeler­scheinungen verbessert. Grund­lage ist die lokale Landwirtschaft. Mit der Verbesse­rung der Infrastruktur und des Transports von Waren durch die indige­nen Gemein­den selbst soll die Versorgung verbessert werden. Gemeinschaftliche Einkaufslä­den, die die Zwischenhan­delsmargen minimieren und daher ge­rechtere Preise anbieten können, werden gefördert.
23. Am Tage nach der Unterzeichnung ei­nes Friedensabkommens wird das Amnestie­gesetz in Kraft treten. Darunter fallen alle Personen, gegen die aufgrund des Kon­fliktes in Chiapas ein Strafverfah­ren er­öffnet wurde. Es werden alle not­wendigen Maßnahmen getroffen, um die betroffenen Personen innerhalb einer Wo­che nach In­krafttreten des Gesetzes auf freien Fuß zu setzen.
Des weiteren wird eine Kommission eine vollständige Überprüfung der Fälle aller Indígenas und Bauernführer vornehmen, die sich in Haft befinden und nicht unter das Amnestiegesetz fallen. Sie wird die rechtlichen Schritte empfehlen, um die Fälle zu lösen, deren rechtliche Situation eine baldige Freilassung erlaubt.
24. [Bezugnahme auf vorangegangene Punkte zur Durchsetzung allgemeiner Rechte der Indígenas]
25. Als Teil der Friedensvereinbarungen wer­den die Opfer, die Witwen und Wai­sen, die der Konflikt hinterlassen hat, finan­zielle Unterstützung erhalten.
26. [Hierzu sagt Camacho nur, die Forde­rung Nr. 26 sei durch alle anderen angespro­chenen Punkte erledigt, d.Ü.]
27. Der derzeitige Strafkatalog des Bundes­staates Chiapas wird aufgehoben. Es wird ein neuer ausgearbeitet, dessen Zielset­zung der Respekt vor den individu­ellen und politischen Rechten ist, und der zu ih­rer Ausübung volle Rechtssicherheit bie­tet.
28. In das neue Strafrecht wird die Vertrei­bung von Indígenas aus ihren Ge­meinden aufgenommen werden. Durch schnellen und effektiven Dialog oder durch die An­wendung des Rechtes werden neue Ver­treibungen verhindert werden.
29. Eine der wichtigsten Impulse, die heute aus Chiapas kommen, ist, die Situa­tion der Bäuerinnen und Indígena-Frauen zu verbessern. Von der Situation in der Familie und bei der Arbeit bis zur Be­teiligung an der Gemeinschaft und der kulturellen Entwicklung.
A Kliniken im Rahmen des schon vorge­stellten Gesundheitsprogrammes
B Mit den Kommunen zusammen werden Kindergrippen aufgebaut werden.
C [Lebensmittelprogramm]
D [Einrichtung von Volksküchen]
E [Aufbau von Mühlen und Backöfen]
F [Förderung der Kleintierzucht]
G [Kleine Bäckereien]
H [Förderung des Kunsthandwerks]
I [Technische Ausbildung der Indígena-Frauen]
J [Bau von Vorschulen]
K [Förderung des Transportwesens und damit der Selbstorganisation der Frauen]
30. Mit diesen Übereinkünften sollen die ent­standenen Spannungen überwunden wer­den. Der Geist des Friedens und der Ver­ständigung soll alle Chiapaneken bei der Lösung politischer Fragen einbezie­hen.
31. Mit dem Friedensabkommen, den in die­sem Angebot enthaltenen Entscheidun­gen und dem Amnestiegesetz wird nicht nur das Leben der Mitglieder der EZLN re­spektiert, sondern es wird auch garan­tiert, daß es keine Strafprozesse oder repressi­ven Aktionen gegen EZLN-Mit­glieder, Kämpfer, Sympathisanten oder Kollabo­rateure geben wird.
32. [Betrifft die Menschenrechte:] Es ist meine Meinung, daß die Bildung der Na­tionalen Menschenrechtskommission (CNDH) in der Art, wie die Verfassung und die Gesetze sie vorsehen, ein wichti­ges Instrument für die Verteidigung der Rechte gewesen ist.
Weitergehende Fortschritte bei der Einbe­ziehung der Zivilgesellschaft in der CNDH oder in anderen Modalitäten zum Schutz der Menschenrechte werden Teil eines gesellschaftlichen und politischen Prozesses ab Dezember 1994 sein.
33. Unter noch festzulegenden Bedingun­gen wird die Regierung die Bildung einer “Nationalen Kommission für einen ge­rechten und würdigen Frieden” unterstüt­zen. Diese Kommission wird eine Schlüs­selrolle spielen und die Einhaltung dieser Verpflichtungen überwachen.
34. Humanitäre Hilfe für die Opfer des Kon­fliktes wird über die Vertreter der indige­nen Kommunen verteilt werden.

Nachtrag:
A: Zur Bearbeitung ähnlicher Forderun­gen aus anderen indigenen Regionen des Landes wird die “Nationale Kommission für die integrale Entwicklung und die so­ziale Gerechtigkeit der Indigenen Völker” in Zusammenarbeit mit den Regierungen der Bundesstaaten und den betroffenen Kommunen ähnliche Programme ausar­beiten.
B: Die bundesstaatlichen und kommuna­len Regierungen werden die notwendigen Maßnahmen ergreifen, damit die indige­nen Kommunen in grundlegender Weise an der Definition der sie betreffenden Entwicklungsprogramme teilnehmen kön­nen. Bei der Überwachung der ihnen zu­gedachten Ressourcen sollen soziale Kontrollorgane geschaffen werden, die von den Betroffenen kontrolliert werden.
C: Für die Erfüllung der Übereinkünfte, die sich auf die regionalen Entwicklungs­projekte beziehen, wird durch eine Verfü­gung des Prä­sidenten eine dezentrale und autonome öf­fentliche Institution geschaf­fen.
Diese Institution wird über ein Regie­rungsorgan verfügen, das sich aus den Vertretern der indianischen Kommunen zusammensetzt, Vertretern der Bundesre­gierung und aus Bürgern von anerkanntem moralischem Prestige und erwiesenem Engagement in der Arbeit mit indiani­schen und ländlichen Kommunen.

Ein dunkles Lächeln über Chiapas

Ihr zweiter Roman “Das dunkle Lächeln der Catalina Diaz” erschien schon 1962 unter dem Orginaltitel “Oficio de tinieblas”, welcher wesentlich treffender ist, da er vielfältig zu deuten ist und außerdem auf eine der ältesten Liturgien der katholi­schen Kirche anspielt. Es handelt sich da­bei um eine Karfreitags-messe in den ersten Jahren des Christen-tums, die in Katakomben, also in völliger Dunkelheit gefeiert wurde. Die Hoffnung auf Erlö­sung ist auch das Leitmotiv des Romans, der erst vor kurzem bei uns erschienen ist. Rosario Castellanos schildert die Aus­beutung durch die reichen Haciendabesit­zerInnen und die Lebensbedingungen der Indígenas, aus denen sie sich letzlich durch eine Revolte zu befreien versuchen. Die Autorin bezieht sich dabei auf die histori­sche Tatsache eines Aufstands in Chiapas um 1868, den sie aber in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts verlegt hat. In dieser Zeit, unter der Präsidentschaft Cárdenas’, wurde den MexikanerInnen eine Ära des ökonomischen Liberalismus, der politi-schen Reformen und die Realisierung des höchsten Zieles der Revolution verspro-chen: Tierra y Libertad. Versprechen, die bis heute nicht eingelöst wurden und die von Rosario Castellanos in ihrem Buch als politische Rethorik bloßgestellt werden.
Der Roman spielt in zwei verschiedenen geographischen Szenerien – in dem Dorf San Juan Chamula und Ciudad Real, dem heutigen San Cristóbal de las Casas. Er stellt zwei verschiedene Personengruppen, die versklavten Indígenas – vorwiegend Tzotziles – und die herrschenden Weißen gegenüber. Im Blickpunkt steht eine Indígena, die seherische Fähigkeiten hat und deshalb von ihrem Volk verehrt wird. Sie ist aber auch eine ganz normale Frau, die unter ihrer Unfruchtbarkeit leidet. Der Zufall kommt ihr zu Hilfe: Eine andere Indígena, die von einem weißen Gutsbe­sitzer vergewaltigt worden ist, überläßt ihr die Erziehung und Sorge für den kleinen Domingo, ihrem unge­wollten Kind. Als Seherin erneuert sie den alten Kult ihres Volkes, mobilisiert die alten Götter und erweckt dadurch bei den lethargischen, dem Alkohol verfallenen Tzotziles das Bewußtsein ihrer verloren­den kulturellen Identität zu neuem Leben. Der katholische Priester sieht den Einfluß seines Gottes schwinden und zerstört des­halb die Götzen der Indígenas. Diese Arroganz kostet ihn sein Leben. Der my­stische Kult und die Wiedererlangung des indigenen Stolzes finden ihren Höhepunkt in der Kreuzigung des kleinen Domingo. Er, “der zur Sonnenfinsternis Geborene” soll die Macht der Indígenas stärken – nun haben sie einen Gott der dem Gott der Weißen ebenbürtig ist und auch starb wie er. “Der Schrei mit dem Domingo seinen letzten Atemzug am Kreuz tat, drang bis in die entlegensten Winkel der von Tzotziles bewohnten Gegend”. Dies ist der Beginn der Revolte. Plündernd und mordend ziehen sie los, von Hacienda zu Hacienda in Richtung auf Ciudad Real. Sie lassen sich sogar erschießen, da ihr Glaub ihnen die Überzeugung gibt, un­sterblich zu sein. Auf ihrer Suche nach Gerechtigkeit überfallen sie zu guter Letzt eine Karfreitagsmesse von weißen Frauen, Kindern und Greisen und richten ein Mas­saker an.
Rosario Castellanos stellt die Indigenas als grausam und brutal dar. Die Weißen dagegen kommen bei ihr sehr viel besser weg. Dadurch entsteht der Eindruck, daß sie selbst die indigene Bevölkerung für dumm und abergläubisch hält. Das Ende ist vorhersehbar und wurde deshalb wohl auch in einem rückblickenden, fast repor­tagemäßigem Schreibstil verfaßt. Damit blendet sie geschickt die brutale Vernich­tung und Vertreibung der Indígenas durch die GutsbesitzerInnen aus. Verbrannte Erde, verwüstete Dörfer, tote Frauen und Kinder sind alles was übrigbleibt. Die we­nigen Überlebenden haben sich in die Dunkelheit der eisigen Gebirgshöhlen ge­flüchtet. Lethargie und Resignation haben sie wieder vollständig in Besitz genom­men. Nur ein religiöser Ritus hält sie noch zusammen. Ein Buch, dem magi­sche Kräfte nachgesagt wird und das sie auf ihrer Flucht mitgenommen haben, ist ihr einziger Hoffnungsschimmer. Kei­ner von ihnen ist in der Lage es zu lesen, aber sie verehren es wie eine Reliquie. Es ist Ausdruck ihrer Hoffnung und ein Ver­sprechen für die Nachwelt. Nur wir als LeserInnen wissen, daß es sich dabei um das Militärreglement zur entgültigen Aus­rottung der indigenen Bevölkerung von Chiapas handelt. Der Anfang des Buches trifft besonders, wenn er noch einmal zum Schluß gelesen wird. Es handelt sich dabei um ein Zitat aus dem Popol Vuh, dem heiligen Buch über die Geschichte und die Mythen der Maya.

” Da längst schon verloren euer Ruhm;
da auch eure Macht euch genommen,
soll eine Weile noch herrschen euer Geschlecht …
-wenn auch ohne viel Recht auf erbarmen-.
Alle Söhne des Morgens und alle Enkel des Morgens,
werden euer nicht sein;
die großen Erzähler nur werden sie euch lassen.
Die des Leids, des Kampfes und des Elends,
ihr, die ihr unrecht tatet,
beklagt es.”

Rosario Castellanos: Das dunkle Lächeln der Catalina Díaz. Europa-Verlag, Wien 1993. 408 Seiten 39,80 DM

Aztekischer Touri-Nepp in Berlin

Schon der Eintritt schreckte ab: Zehn Mark, und das sogar für Kinder, von Er­mäßigungen für StudentInnen, Er­werbslose, RentnerInnen ganz zu schwei­gen. Nun gut, dachte ich mir, jetzt bin ich schon mal hier, jetzt will ich ihn auch sehen, den Sprecher der Azteken. Am Eingang Souvenir- und Bücherstände, wo mensch echte Federn, Federkronen, Azte­kenschmuck und natürlich Bücher Xokonoschtletls kaufen konnte. Die Preise waren ge­pfeffert, dünne Taschenbücher gab es nicht unter dreißig Mark.
Unterschriften für die Kopilliketzalli
Eine letzte Hürde war noch zu neh­men. Dabei handelte es sich um zwei Unter­schriftenlisten. Eine Unterschriften­sammlung war für eine Petition an das österreichische Parla­ment gedacht, die die Rückgabe der Federkrone “Kopilli-ketzalli” des letzten Aztekenkönigs Mote-kuhzoma Yokoyotzins (Montezuma) er­möglichen soll. Die Krone wurde nach der Ermordung des Königs von den Spaniern geraubt und Karl dem Ersten in Wien geschenkt. Die “säuerliche und feurige Kaktusfeige” (Xokonotschtletl) hat nun von seinem Volk den Auftrag erhalten, die Krone aus dem Wiener Völkerkunde­museum zurück nach Mexiko zu bringen. Um seine Forde­rung vor das österrei­chische Parlament bringen zu können, benötigt er 200.000 Unterschriften. 130.000 hat er schon. Die zweite Liste war eine Art Beschwerdeliste. Bei seinem letzten Besuch in Wien hat Xoko­noschtletl wohl etwas Ärger mit der Polizei bekommen und saß ungerecht­fertigterweise einige Tage im Gefängnis.
Mehr Zeit, Liebe und Harmonie
Na gut, ich also rein, hatte dann erst mal Zeit; das merkwürdige Publikum zu be­trachten. So gar nicht uniadäquat, lauter ältere Menschen und “Ottilie-Normal-BürgerInnen”. Mit einer Stunde Verspä­tung erscheint er end­lich. Die Zeitungen, die im Vorfeld über ihn berichteten, haben nicht gelogen. Er sieht wirklich aus wie Winnetou aus den Karl-May-Filmen. Er spricht sehr gut Deutsch und hat mal eben für seine Mission schnell mehrere Spra­chen gelernt. So spricht er neben Deutsch auch noch Französich und Portugiesisch. Und Spanisch spricht er ja so­wieso oder Nahuatl oder gar beides? Dann fängt er an zu erzählen. Er spricht frei, und das macht er wirklich gut. Ihm fehlt oft das richtige Wort an der richtigen Stelle, aber gerade das macht seine Botschaft besonders prä­gnant- und ist wahr­schein­lich auch beabsichtigt. So entschuldigt er seine Ver­spätung mit den Problemen “am Rand von einem Land in ein anderes”. Ja, und dann erzählt er und erzählt er, und es ist so schön, daß einigen Omis schon die Tränen in den Augen hän­gen, und einige Opis aus dem zustim­menden Kopfnicken gar nicht mehr herauskommen. Wir sind doch alle Brüder und Schwestern, und zwischen Mann und Frau gibt es keinen Unter­schied, und wir sollten uns doch alle lie­ben und respektieren und in Har­monie zu­sammenleben und mehr Zeit füreinander haben und sowieso mehr Zeit haben und die Natur ach­ten und ….
Aztekischer Tanz auf der Bühne
Das ist seine Botschaft. Als Erholung nach so vielen schönen Worten tritt nach etwa einer dreiviertel Stunde die Tanz­gruppe “Tloke Nauake” auf. Xoko­no­schtletl erklärt vorher die Be­deutung des Tanzes für die Azteken. Tanz ist die Bewegung der Klapper­schlange, und sie ist das Symbol für Weisheit. Tan­zen bedeutet, sich bei der Sonne zu be­danken. Laut Xokonoschtletl tanzen die Azteken manchmal vier Tage ohne zu es­sen und ohne sich auszuruhen. Ein Anlaß für so­lche Marathontänze sei zum Beispiel eine Son­nenfinsternis. Da haben die Azte­ken aber Glück, daß es die nicht so oft gibt.
Penecillin aus Tortillas
Nach der Tanzeinlage, die im holzgetä­felten Auditorium der Universität mit dem Hintergrundflair einer ganz normalen Schul­tafel, merkwürdig wirkt, geht der Vortrag weiter. Die “säuerliche und feu­rige Kaktusfeige” klärt uns noch darüber auf, daß es bei den Azteken keine Men­schenopfer gegeben habe. Das seien näm­lich höchst komplizierte chirurgi­sche Ope­rationen gewesen, die die Azte­ken aus­führten. Komisch, auch am Herzen haben die damals schon ope­riert? Wenn ich mich recht erinnere, gibt es eindeutige azteki­sche Bild­schriften, wo ein Herz in der Hand gehalten wird. Na gut, vielleicht irre ich mich ja. Als Beweis führt er an, daß sein Volk ja schließlich auch schon vor 3000 Jahren das Penicillin gekannt habe. Es wurde aus den Pilzen der Maisfla­den gewonnen. Penicillin aus Tor­tillas?! Warum machen sie das heute nicht mehr, schießt mir als Frage durch den Kopf. Auch war sein Volk friedfertig und lebte im Einklang mit den anderen am, im und um den See herum. Dazu malt er uns an die Schultafel ein Bild der Stadt Tenoch­titlan und klärt uns darüber auf, wieviel mal größer und bombasti­scher die Stadt im Vergleich zu euro­päischen Städten der damaligen Zeit war. Die Spanier waren platt vor Stau­nen. 50 Millionen Menschen zähle sein Volk heute noch, und 5 Millio­nen sprechen Nahuatl. Da purzelt nun lang­sam alles bunt durcheinander. Wahr­scheinlich meint er 50 Millionen Indí­genas und nicht Azteken. Ich werde immer saurer – fast wie eine Kaktusfeige.
Die Kaktusfeige ein Winnetou?
Als er den Vortrag beendet, will ich mich mit meinen Fragen auf ihn stür­zen. Doch ältere Herr- und Frauschaften haben ihn schon in Beschlag genommen. “Meine Frau schreibt auch, aber mehr Liebesro­mane, würden sie für uns diese Bücher sig­nieren” – und ein Stapel Bücher wandert in seine Hände, und er signiert und signiert. Das ist einfach zu viel für mich. In Chiapas verändern die Indígenas das politische Selbstver­ständnis Mexikos und vielleicht ganz Lateinamerikas, und der Sprecher der Azteken gibt nur Allgemein­plätze von sich. Ich bin den ganzen Abend noch wütend. Da hat mir Pierre Brice im Fernsehen besser gefallen – der war wenigstens kein echter Indianer. Aber echte, die sich benehmen wie Winne­tou, die ertrage ich nicht in der Reali­tät, die sind mir einfach zuviel.

Was lange gärt…

Mit der zeitgleich zum Inkrafttreten der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA erprobten Strategie “Bomben gegen BäuerInnen” verabschiedet sich die regierende Elite Mexikos ganz offiziell von einem politischen System, das der peruanische Schriftsteller und neoliberale Gesinnungsgenosse Mario Vargas Llosa noch vor kurzem als die “perfekteste Diktatur Lateinamerikas” bezeichnet hatte. Während andere autoritäre Regimes des Kontinents auf Repression durch Militär setzten und dennoch niemals die Kontinuität und Stabilität Mexikos erreichten, beruht das mexikanische Modell des “korporativen Staates” auf der Integration aller gesellschaftlichen Gruppen und politischen Richtungen unter dem Dach einer einzigen, Staat und Nation umfassenden Partei: der Partei der institutionalisierten Revolution (PRI). Diesem nach den Revolutionswirren in den dreißiger Jahren vom heute mythischen Präsidenten Lázaro Cárdenas konzipierten Modell gelingt es, mittels hierarchisch der Parteispitze untergeordneter Zwangszusammenschlüsse von IndustriearbeiterInnen-, Angestellten- und Campesino/a-“Gewerkschaften” über Jahrzehnte hinweg die politische und wirtschaftliche Kontrolle ganz Mexikos zu gewährleisten. Notwendige Kurskorrekturen werden durch sorgfältig inszenierte “Brüche” im Übergang von einer als Präsidialdiktatur auf Zeit angelegten Sechsjahresregierung zur nächsten vollzogen, so daß Kontinuität und Wandel sich die Waage halten. Gegenüber Dissidenten wendet das Regime eine Doppelstrategie an: Einerseits die Vereinnahmung und Absorption abweichender Meinung und andererseits die gezielte Repression gegenüber einzelnen.
Schon seit dem Massaker in Tlatelolco an der StudentInnenbewegung von 1968 ist das “korporative Staatsmodell” Mexikos gescheitert, da die Politik der Vereinnahmung und Integration gegenüber einer ganzen Generation mißlungen ist. Die vermeintliche Identität von Staatspartei und Nation zerbrach. Im Rahmen der neuen sozialen Bewegungen gründen BäuerInnen, IndustriearbeiterInnen, LehrerInnen und andere Berufsgruppen seit Beginn der siebziger Jahre unabhängige Organisationen, die oft neben ihren eigenen “ständischen” Interessen gesamtgesellschaftliche Veränderungen erzwingen wollen. Vor allem als mit Ende der siebziger und Beginn der achtziger Jahre breit angelegte Allianzen und Koordinationen der verschiedenen unabhängigen Gruppen entstehen, verschärft das Regime seine Strategie: Neben staatliche Vereinnahmung und/oder Repression tritt die gezielte Unterwanderung und Spaltung unabhängiger Organisationen; dies geschieht zum einen durch paramilitärisch agierende Gruppen wie Antorcha Campesina (“Bauernfackel”), eine im Auftrag und in enger Abstimmung mit der Führungsclique der PRI-Campesino/a-Organisation wirkende Kadertruppe, die oppositionelle Campesino-Organisationen entweder unterwandert und anschließend entpolitisiert oder aber, falls dies nicht möglich ist, die AnführerInnen dieser Organisationen ermordet.
Die zweite Variante der Spaltungsstrategie erfolgt durch die selektive und an (partei)politische Kompromisse gebundene Vergabe staatlicher Mittel der Landwirtschafts- oder Regionalförderung. Und schließlich werden die Methoden der Wahlfälschung “modernisiert”: Zu klassischen Formen des Betruges bei der Stimmabgabe und -auszählung kommt das computergestützte “Rasieren” von EinwohnerInnen- und WählerInnenlisten sowie das Fälschen von Wahlausweisen (in einigen Orten Mexikos wählen mehr Tote als Lebende!).

Das Ende der PRI-Macht

1988 markiert das offizielle Ende des PRI-Monopols: Als sich Mexiko Anfang der achtziger Jahre nach fallenden Rohölpreisen außenwirtschaftlich verschuldet und somit seine wirtschaftspolitische Souveränität zum großen Teil an Weltbank und IWF abtreten muß, etabliert sich eine Gruppe neoliberaler, USA-höriger Technokraten und Banker an der Macht, die die Umsetzung der von den Gläubigern erzwungenen Strukturanpassungsprogramme garantiert. Die VerliererInnen dieser auf Rückzug des Staates aus der Wirtschaft, Liberalisierung und Privatisierung um jeden Preis begründeten Politik bilden bei den 1988 stattfindenen Präsidentschaftswahlen ein breites Oppositionsbündnis, das sich um den Sohn des “Gründervaters” Lázaro Cárdenas, Cuauhtémoc Cárdenas, formiert. Diese Partei, die sich heute “Partei der Demokratischen Revolution” (PRD) nennt, gewinnt die Wahlen – das gibt (fast) jeder Regierungspolitiker hinter vorgehaltener Hand zu. Dennoch erzwingt die PRI auch diesmal eine offenkundige Wahlfälschung, und zwar mit Hilfe eines plötzlichen Stromausfalls bei der Stimmenauszählung per Computer, durch die US-amerikanische Anerkennung des PRI-Kandidaten und Harvard-Zöglings Salinas de Gortari und durch massive, demonstrative Präsenz des Militärs in den Hochburgen der Opposition.
In der Regierungszeit des für viele MexikanerInnen weiterhin illegitimen Präsidenten Salinas offenbart sich der Grundwiderspruch, an dem das System scheitert: Eine neoliberale Politik der Privatisierung des kommunalen Landbesitzes, der Öffnung der Märkte für nordamerikanische Billigimporte und des Abbaus von Preisgarantien und anderen Fördermaßnahmen richtet sich gegen die existentiellen Interessen der Campesinos/as; um sich dennoch an der Macht zu halten, muß die herrschende Elite – entgegen ihren ideologischen Prinzipien – die alten, korporativen Zwangsstrukturen der Vereinnahmung, Repression und/oder Wahlfälschung zumindest auf dem Lande erhalten und stärken. Dies ist allerdings unmöglich, wenn sich der in Mexiko traditionell starke Staats- und Parteiapparat, wie im neoliberalen Dogma vorgesehen, zurückziehen soll.

Umerziehung der Armee

Als Garant für die Kontrolle der Bevölkerung bleibt einzig und allein das Militär. Diese Institution ist jedoch, anders als im restlichen Lateinamerika, nicht für Aufstandsbekämpfungsmaßnahmen gegen die eigene Bevölkerung ausgebildet. Schon 1988, als das Militär zur “Rückeroberung” von Rathäusern verwendet wurde, die die oppositionelle PRD nach der offenkundigen Wahlfälschung besetzt hatte, gab es in den Reihen der mit ihrem “Ahnherrn” Lázaro Cárdenas sympathisierenden Generäle Protest gegen den “innenpolitischen” Einsatz der mexikanischen Armee. Um langfristig die Loyalität des Militärs gegenüber der PRI-Spitze zu sichern, wurde der Widerstand dieser kritischen Generäle von Salinas gebrochen, indem die Armee schrittweise gezwungen wurde, an Maßnahmen zur Bekämpfung von Marihuanapflanzern und “Drogenkartellen”, zur Verfolgung guatemaltekischer Flüchtlinge und “illegaler Einwanderer” und schließlich zur Repression unabhängiger Campesino/a-Organisationen teilzunehmen. Diese Strategie wird seit Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre erprobt, und zwar primär im südlichsten und konfliktreichsten Bundesstaat Mexikos.

“Todo Chiapas es México” – warum Chiapas?

Chiapas ist kein Ausnahmefall, wie die mexikanische Regierung glauben machen möchte, sondern spiegelt die sozioökonomischen, ethnischen und politischen Probleme der restlichen zentral- und südmexikanischen Bundesstaaten bloß in verschärfter Form wider und nimmt deren zukünftige Konflikte vorweg. Der Unterschied besteht nur darin, daß in Chiapas früher als im übrigen Land die korporative Politik der Vereinnahmung und Kontrolle der Landbevölkerung durch die lokalen PRI-Institutionen gescheitert ist. Dies liegt hauptsächlich daran, daß hier eine Landreform nach der Revolution nie stattgefunden hat. Zum einen beschränkte sich die Revolution von 1910-17 in Chiapas auf einen lokalen Bürgerkrieg zwischen den Eliten der beiden größten Städte, Tuxtla Gutiérrez und San Cristóbal de Las Casas, in deren Verlauf vor allem die Tzotzil der umliegenden Dorfgemeinden gegeneinander ausgespielt wurden (in Chiapas leben 13 verschiedene indianische Völker und im letzten Zensus von 1990 bezeichneten sich ca. 28% der Bevölkerung Chiapas’ als “indianisch-sprachig”. Und zum anderen gelang es nach 1917 einem Zusammenschluß der regionalen Oligarchie aus Viehzüchtern, Kaffeeplantagenbesitzern (meist deutscher Abstammung) und städtischer Oberschicht, die Betreiber der Landreform zurückzuschlagen.
Nur im damals wirtschaftlich noch uninteressanten zentralen Hochland der Altos de Chiapas wurde Ejido-Land – den Bauern zur Nutzung übertragenes Staatsland – verteilt. In den wirtschaftlich attraktiveren Kaffee- und Zuckerrohrplantagen des Südens und Südostens sowie in den vieh- und holzwirtschaftlich interessanten Waldgebieten des nördlichen und nordöstlichen Tieflands dagegen bleiben die Besitzverhältnisse unangetastet oder juristisch jahrzehntelang umstritten – mehr als 25% aller zur Zeit anhängigen Landkonflikte Mexikos betreffen Chiapas. Der Bundesstaat ist bis heute geprägt von landlosen Bauernfamilien, die in die Städte oder in den Tropenwald der Selva Lacandona abwandern, sowie durch Tagelöhner, die durch Schuldknechtschaft an die Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen gebunden sind.

Alte Konflikte

Diese Situation extremer Marginalisierung der größtenteils indianischen Landbevölkerung, die einhergeht mit einem auch für mexikanische Verhältnisse extremen Rassismus der städtischen Mittel- und Oberschicht von Tuxtla und San Cristóbal, hat ihren Ursprung in der Agrarstruktur des 19. Jahrhunderts, als die indianischen Dorfgemeinden im Zuge wirtschaftsliberaler Gesetze ihren kommunalen Landbesitz verloren. Das politische Programm des Zapatismo, die Rückerstattung von Kommunalland und die Selbstverwaltung der Dorfgemeinde, ist also weiterhin – und nicht nur in Chiapas – unerfüllt geblieben. Ausschlaggebend für das Entstehen einer “neozapatistischen” Bewegung in Chiapas ist jedoch zusätzlich, daß gerade hier die vorrevolutionären Verhältnisse mit der neoliberalen Politik der gegenwärtigen mexikanischen Regierung zusammentreffen: Mit der Privatisierung des Bodenbesitzes im Zuge der Reform des Verfassungsartikels 27, also des Rückgrats der Landreform, mit der Öffnung der Agrarmärkte sowie dem Abbau staatlicher Kredit- und Vermarktungshilfen führt Salinas im wesentlichen die Agrarpolitik des USA-hörigen und 1910 in der Revolution gestürzten Diktators Porfirio Díaz fort. Somit kann der bewaffnete Kampf der EZLN in Chiapas gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Campesinos/as und Indígenas der Beginn einer auch andere Regionen Mexikos umfassenden Bewegung sein.
Die Wahl der direkten militärischen Konfrontation mag in der in Chiapas besonders ausgeprägten politischen Polarisierung begründet sein: Im übrigen Mexiko ermöglichte nach der Landreform von Lázaro Cárdenas das Ejido und besonders deren Leitung als unterste Stufe innerhalb der PRI-eigenen Bauernorganisation eine sowohl politische als auch ökonomische Integration der Bevölkerung in den gesamtmexikanischen Staats- und Parteiapparat. Dagegen mußte die PRI in Chiapas auf die vorrevolutionären Koalitionen zwischen der im Bundesstaat herrschenden Oligarchie und lokalen Kaziken, den Dorfeliten, Zwischenhändlern und Monopolisten, zurückgreifen.
Da es in vielen Gemeinden keine PRI-beherrschten integrativen Organisationsstrukturen gibt, sind interne Konflikte nur lösbar, indem der Kazike seine wirtschaftliche und politische Macht gegen die oppositionelle Gruppe einsetzt. Dies ist in Gemeinden wie San Juan Chamula oder Zinacantan geschehen, wo die lokale PRI-Elite nach offenkundigen Wahlfälschungen bei Kommunalwahlen unter religiösen Vorwänden – dem Eindringen radikalprotestantischer Sekten – seit Mitte der siebziger Jahre alle Dissidenten aus ihrem Ort zu vertreiben sucht. In den Fällen, wo diese Strategie nicht gelingt, werden paramilitärische Einheiten, die guardias blancas (“weiße Wächter”), von den Großgrundbesitzern angefordert. Die im Laufe der siebziger Jahre entstandenen unabhängigen Campesino-Organisationen und ihre AnführerInnen stellen die vorrangigen Zielscheiben dieser Privatarmeen dar, die oft mit der bundesstaatlichen policía judicial, der “politischen Polizei”, eng zusammenarbeiten.
Chiapas ist Hauptempfänger von Geldleistungen im Rahmen des “Nationalen Solidaritätsprogrammes” PRONASOL, das direkt nach den Wahlen von Salinas eingeführt wurde, um die Verlierer der neoliberalen Wirtschaftspolitik – also die Oppositionswähler von 1988 – mit Hilfe punktueller Maßnahmen zur “Notlinderung” zurückzugewinnen. Indem PRONASOL-Mittel nur an eigens dafür einzurichtende und größtenteils PRI-dominierte “Solidaritätskomitees” vor Ort vergeben werden, versucht das Regime, unabhängige Organisationen und lokale Initiativen erneut an sich zu binden. Doch da PRONASOL nur oberflächlich momentane Hilfen vergibt, ohne die existierenden Besitz- und Wirtschaftsstrukturen anzutasten, mißlingt im Falle Chiapas dieses Anliegen trotz der beträchtlichen Mittel, die aufgewendet wurden. Die PRI kann nicht gegen die eigenen Regionaloligarchien vorgehen, ohne ihre letzten Stützpunkte auf dem Lande aufzugeben.

Die neue Grenze

Diese oligarchischen Strukturen werden allerdings zunehmend problematisch, da Chiapas im Zuge der wirtschaftlichen Integration Mexikos in den nordamerikanischen Markt geostrategische Bedeutung erlangt hat: Zum einen sind die USA daran interessiert, die bisher relativ “durchlässige” Südgrenze der NAFTA-Zone zu schließen, kurzfristig, um die “illegale Einwanderung” von Zentralamerika Richtung USA zu bremsen, und langfristig, um somit die Mauer der “Ersten Welt” vom Río Grande nach Süden zu verschieben. Und zum anderen birgt Chiapas ein noch nahezu unerschlossenes wirtschaftliches Potential, nicht nur, was Tropenholz, Artenpatentierung und Staudämme in der Selva Lacandona betrifft, sondern vor allem hinsichtlich umfangreicher in diesem Gebiet gefundener Erdölreserven; deren Förderung ist zur Zeit noch blockiert, da die transnationalen Ölkonzerne darauf warten, daß Salinas die letzte Errungenschaft der mexikanischen Revolution preisgibt und das staatliche Erdölmonopol PEMEX zum Verkauf anbietet. Die regionale Viehzüchtervereinigung beabsichtigt außerdem, zur Belieferung des NAFTA-Marktes inmitten der Selva Lacandona eine großflächige Rinderfarm inklusive Fleischverarbeitungsbetrieb zu errichten, nur daß dafür noch 300.000 ha. Land benötigt werden, die sich (noch) im Besitz indianischer Campesinos/as befinden.
Vor diesem globalpolitischen und -ökonomischen Hintergrund muß die Militarisierung der Landkonflikte in Chiapas gesehen werden. Mit dem innenpolitischen Einsatz der Armee versucht die PRI, den direkten Zugang zu den strategisch wichtigen Ressourcen und Regionen des Landes wiederherzustellen, der gerade an der guatemaltekischen Grenze verloren zu gehen drohte. Gleichzeitig gelingt es Salinas, durch den Kampf gegen “Guerrilla, Drogenhandel und illegale ImmigrantInnen” das Militär (partei-)politisch zu kompromittieren und so auf einen eventuell im Sommer 1994 nach den Präsidentschaftswahlen und -wahlfälschungen nötigen großflächigen Einsatz gegen die parlamentarische Opposition vorzubereiten.
Daß der Einsatz des Militärs wohl kalkuliert und lange vorbereitet wurde, zeigt die Vorgeschichte des Januar-Aufstands des EZLN. Seit 1991 und verstärkt seit März 1993 fordern die Viehzüchter- und Großgrundbesitzervereinigungen von der Zentralregierung Armeeverbände zum Kampf gegen “Subversive” an, die eine Guerrilla im Regenwald aufbauen würden, gegen die ihre eigenen Repressionsapparate machtlos sind. Als im Mai 1993 eine Armee-Einheit auf ein Kommando des EZLN stößt, werden zum ersten Mal willkürlich nahe gelegene Dörfer bombardiert und einzelne BewohnerInnen verhaftet und gefoltert. Die Regierung versucht, die gesamte Operation geheimzuhalten und schnell abzubrechen, da gleichzeitig in den USA heftig über NAFTA debattiert wird; das knappe Abstimmungsergebnis im US-Kongreß zeigt, daß eine großangelegte Militäraktion schon im Sommer NAFTA wegen der voraussehbaren Reaktion der nordamerikanischen Öffentlichkeit hätte scheitern lassen. Erst mit dem Inkrafttreten von NAFTA 1994, das von vielen als “Kriegserklärung” an das indianische und bäuerliche Mexiko gewertet wird, bricht tatsächlich Krieg aus: ein Krieg zwischen dem Mexiko der USA-orientierten Modernisierer aus Mexiko-Stadt und dem agrarischen, dem “tiefen Mexiko” (Bonfil Batalla), dessen Zivilisation seit 500 Jahren negiert wird.

Campesino/a- und Indígena-Bewegungen in Chiapas

Ungefähr 10.000 Tzotzil, Tzeltal, Tojolabal und Chol – viele von ihnen symbolisch bewaffnet mit Pfeil und Bogen – zogen am 12. Oktober 1992 nach San Cristóbal und stürzten die Statue von Diego de Mazariegos zu Boden, mit dessen Invasion des Hochlands 1527 die Kolonisation Chiapas’ begonnen hatte. Diese und ähnliche Protestmärsche auch in anderen ethnischen Regionen Mexikos weisen auf eine fast 500jährige Kontinuität nicht nur der Invasion, des Landraubs und der Erniedrigung, sondern auch des indianischen Widerstandes – eines Widerstandes, der im Alltagsleben, in der Familie verwurzelt ist, der immer von der Dorfgemeinde ausgeht und deren sichtbarster Ausdruck die sogenannten Aufstände sind. Die Geschichte Chiapas’ ist die Geschichte von Revolten, deren Niederschlagung sowie deren Reorganisation: 1693 setzen die Zoque von Tuxtla ihren spanierhörigen Kazike ab, woraufhin spanische Truppen ein Massaker anrichten; im Jahre 1712 rebellieren, angespornt von einer indianischen Jungfrau Maria, 32 Tzotzil- und Tzeltal-Dörfer – zum großen Teil dieselben wie jetzt 1994! – gegen immer höhere Tributforderungen der Kirche und der Nachkommen der Conquistadores, bis im Gegenzug ganze Dörfer vernichtet werden; zwischen 1869 und 1870 belagern die Tzotzil unter Führung von Pedro Díaz Cuscat San Cristóbal, um ihr Kommunalland gegen die Privatisierungsreformen zu verteidigen – niedergeschlagen wird diese Rebellion vom damaligen Gouverneur, einem Uronkel des vom EZLN entführten Ex-Gouverneurs Absalón Castellanos Domínguez!
Die Kontinuität des indianischen Widerstandes nicht nur in Chiapas, sondern ganz Mexikos nährt sich aus der Verteidigung der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Autonomie der Dorfgemeinde als der einzigen eigenen Organisationsform, die nicht durch die europäische Invasion und Kolonisation zerstört wurde. Ausgehend von dieser gemeinsamen Aktionsbasis verändern sich die Motive der indianischen Bewegungen entsprechend den Phasen der “Modernisierungspolitik” der Kolonisatoren:
1. Da die Spanier ihr Regime zunächst nicht auf Landbesitz gründen, sondern – neben der Missionierung – auf Kontrolle der indianischen Arbeitskraft und ihrer Früchte, richtet sich der lokale Widerstand gegen Tributzahlungen. Wie heute kämpfen die Dorfgemeinden innerhalb des kolonialen Rechtssystems (Petitionen an den König, gerichtliche Klagen etc.); doch wenn der Druck zu stark wird, entziehen sie sich dem System, in Chiapas meist durch Flucht in die noch nicht kolonisierte Selva – genauso wie 1994!
2. Als Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts die criollos, die Nachkommen der spanischen Eroberer, von der Abschöpfung von Tributen übergehen zur direkten Aneignung nicht nur entvölkerter Gebiete, sondern auch des Kommunallandes der Dorfgemeinden und so die haciendas, fincas und andere Formen des Großgrundbesitzes entstehen, konzentriert sich der indianische Widerstand auf die Rückgewinnung der Souveränität über Land. Die Enteignungswelle spitzt sich bis zum Ausbruch der Revolution 1910 zu, an der die indianischen Dorfgemeinden Südmexikos unter Zapatas Banner Tierra y Libertad teilnehmen. In den Regionen, wo eine Landreform tatsächlich erfolgt und den Gemeinden ihre Besitztümer rückerstattet werden, ruhen dementsprechend die indianischen Bewegungen zwischen den vierziger und siebziger Jahren dieses Jahrhunderts; doch in Chiapas geht der juristische und politische Kampf um die Anerkennung und Wiedererlangung ihres Landes – als Kommunalland oder als Ejido – bis heute weiter.
3. Auch in den Gebieten, wo eine Landreform tatsächlich durchgeführt wurde, verlieren die indianischen Gemeinden im Zuge der “Grünen Revolution”, der Mechanisierung, Kapitalisierung und Marktintegration der vormals regional subsistenten Landwirtschaft ihre wirtschaftliche Autonomie; sie werden abhängig von externen, staatlichen oder privaten Technologieanbietern, Zwischenhändlern und Kreditgebern. Daher bildet sich seit Ende der siebziger Jahre eine neue Campesino/a- und Indígena-Bewegung, die sich zusätzlich zur weiterhin akuten Rückeroberung von Land der Wiederherstellung der eigenen Kontrolle über den Produktionsprozeß im Rahmen kapitalistischer Marktstrukturen widmet; es entstehen neue, auch regionale und ansatzweise sogar nationale Organisationsformen wie Zusammenschlüsse verschiedener Ejidos zur gemeinsamen Produktvermarktung, Kreditvereine und Produktionskooperativen.
4. Und schließlich zeichnet sich seit Mitte bis Ende der achtziger Jahre eine neue Widerstandsfront ab, die bestrebt ist, die agroindustrielle Ausbeutung der Naturressourcen indianischer Regionen und der dadurch bewirkten Zerstörung der Lebensgrundlagen sowie die Patentierung des “genetischen Reservoirs” durch Pharma- und Chemiekonzerne zu bekämpfen. Es entstehen neue Organisationen zur Wiederaneignung und Verbreitung traditioneller, ökologisch angepaßterer Anbauformen. Um das weitere Vordringen agroindustrieller Konzerne zu verhindern und um sich nach Salinas’ Verfassungsreform gegen die Umsetzung der Privatisierung des Landbesitzes zu wehren, reicht die lokale Ebene des Widerstands nicht mehr aus. Daher bilden sich in vielen ethnischen Regionen Organisationen, die die Wiedergewinnung der politischen und wirtschaftlichen Kontrolle nicht nur über Kommunalland, sondern über ein ganzes Territorium samt seiner energetischen Ressourcen zum Ziel haben.
Auch wenn die Subjekte dieser Bewegungen historisch immer Indígena-Organisationen (einzelne Dörfer, ganze indianische Völker oder multiethnische Zusammenschlüsse) waren, entstehen seit den siebziger Jahren ähnliche Bewegungen unter mestizischen Campesinos. Da die Problematik meist identisch ist und so gut wie alle auf dem Land lebenden Indígenas kleinbäuerlich wirtschaften, sind die Hauptforderungen auch identisch; der Unterschied besteht nur darin, daß ethnisch geprägte Organisationen ihre Autonomieansprüche z.B. auf Land integral verstehen und somit in ihre Gesamtkultur eingebunden wissen wollen, während die meisten mestizisch geprägten Campesino-Gruppen die juristischen und ökonomischen Aspekte des kollektiven Landbesitzes betonen.
Die skizzierten Phasen der Campesino/a- und Indígena-Bewegungen sind in Chiapas wegen des Zusammentreffens vor-revolutionärer und neoliberaler Modernisierungsbestrebungen zeitgleich vorhanden: Auf den Kaffee- und Zuckerrohrplantagen kämpfen ganze Dorfgemeinden weiterhin um die Kontrolle der eigenen Arbeitskraft, da hier Schuldknechtschaft, Bezahlung in Naturalien im Finca-eigenen Monopol-Laden sowie teilweise sogar das jus primae noctis (das Vorrecht des Plantagenbesitzers auf den ersten Sexualverkehr der Töchter seiner Arbeiter) fortbestehen. Einer Protestbewegung in Simojovel, Chiapa de Corzo und El Naranjal gelang es 1977, die Besitzer einer Kaffee-Finca zu verteiben und diese als Ejido-Kooperative eigenständig weiterzuführen; bis heute kämpfen sie um die juristische Anerkennung ihres kollektiven Landbesitzes.

Der Indígena-Kongreß 1974

Ebenso wie in diesem Falle die Rückgewinnung der Kontrolle der eigenen Arbeitskraft in eine Bewegung zur Landverteilung mündet, entstehen in Chiapas Anfang der siebziger Jahre Organisationen, die die Versprechungen der Landreform einklagen und gleichzeitig eigenständige Vermarktungskanäle und Kreditvereine zu bilden beginnen. Von zentraler Bedeutung für den Übergang von lokal isolierten Initiativen hin zu regionalen und multiethnischen Organisationsformen war der Erste Indígena-Kongreß, der 1974 in San Cristóbal stattfand. Der Gouverneur des Bundesstaates dachte ihn als propagandistische Schauvorstellung zum 500jährigen Gedenken an die Geburt des ersten Bischofs von Chiapas, Bartolomé de Las Casas. Mangels offizieller Kontakte zur Basis wurde die Vorbereitung des Kongresses der Diözese von San Cristóbal anvertraut.
Der schon seit 1960 in der Region wirkende Bischof Samuel Ruíz bot zusammen mit seinen in den Dörfern aktiven KatechetInnen von 1972 bis 1974 sowohl den PRI-nahen als auch unabhängigen Gruppen Kurse über Landrecht, Produktionstechniken, Kreditquellen und mexikanische Geschichte an. Dank dieser intensiven Vorbereitung und der im Verlauf des Kongresses gewonnenen Erkenntnis, daß die Probleme der teilnehmenden Tzeltal, Tzotzil, Tojolabal und Chol im wesentlichen identisch sind, entstanden schon 1975 die ersten Uniones de Ejidos, unabhängig von der PRI-Bauernorganisation agierende regionale Zusammenschlüsse verschiedener lokaler Ejidos. Ihr primäres Ziel bestand in der juristischen Anerkennung bestehender sowie in der Schaffung neuer Ejidos; dies führte schon bald zu Konflikten mit Viehzüchtern, Plantagenbesitzern und Holzhändlern sowie mit lokalen Kaziken, die mit ihnen kollaborieren.

Netzwerke

Es kommt zum Einsatz offizieller oder paramilitärischer Repressionsmittel – wie schon in den Jahrhunderten zuvor werden ganze Dörfer, 1979 Vololchan und 1983 Simojovel und Bochil, massakriert.
Zur politischen Vertretung der eigenen Interessen werden mit Hilfe von KatechetInnen, die in verschiedenen Dörfern kirchliche Basisgemeinden aufbauen, erste Dachverbände für ganz Chiapas gegründet. Während sich die 1982 von Tzotzil aus Venustiano Carranza gebildete OCEZ (Organización Campesina Emiliano Zapata) vorrangig der juristischen Beratung und politischen Mobilisierung bei Landkonflikten widmet, forciert die 1980 geschaffene und 180 Dorfgemeinden umfassende Unión de Uniones de Ejidos y Grupos Campesinos Solidarios de Chiapas besonders den Kampf um die Kontrolle des Produktions- und Vermarktungsprozesses:
– Zum einen existiert seit 1982 mit der Unión de Crédito Pajal Ya’ Kactic eine parteiunabhängige Organisation, die aus verschiedenen Quellen (heute u.a. auch PRONASOL-Mitteln) zinsgünstige Kredite beschafft und sie an ihre Mitgliedsgruppen weiterleitet.
– Und andererseits versucht die Unión de Uniones, alternative Vermarktungskanäle für ihre KaffeeproduzentInnen zu öffnen.
Im Verlauf der achtziger Jahre integrieren sich die größten regionalen Zusammenschlüsse in lockere Koordinationen, die ganz Mexiko umfassen, wie die auf politische Interessenvertretung der Campesinos spezialisierte CIOAC (Central Independiente de Obreros Agrícolas y Campesinos) und das Netzwerk zur Kaffeevermarktung CNOC (Coordinadora Nacional de Organizaciones Cafetaleras).
Wie schon in der spanischen Kolonialzeit konzentrieren sich die Widerstandsformen auf die Ausschöpfung aller möglichen legalen Mittel: Petitionen, Gerichtsverfahren durch alle Instanzen, Demonstrationen und Protestmärsche – wie der im März 1992 in Palenque begonnene und von Chol, Tzotzil, Tzeltal, Tojolabal und Zoque aus ganz Chiapas mitgetragene Marsch der Xi’ Nich’ Wen Mich’, der “sehr erbosten Ameisen”, auf Mexiko-Stadt, um jahrelang anhängige Landtitel-Vergaben, die Freilassung indianischer Strafgefangener und die Absetzung korrupter Regionalpolitiker zu erreichen.

Bewaffneter Widerstand

Doch in den Gemeinden vor allem in der Selva, wo nach Erschöpfung aller Regierungsinstanzen die Konflikte ungelöst bleiben und nur durch Repression zu unterdrücken versucht werden, bildet sich – wie schon in den fünf Jahrhunderten zuvor – bewaffneter Widerstand. Seit 1974 kommt es vor allem in Ocosingo immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Guerrilla-Einheiten der “Bewaffneten Armee zur Nationalen Befreiung” FALN (Fuerzas Armadas de Liberación Nacional) und paramilitärischen Gruppen der Vieh- und Holzhändler sowie den nachrückenden militärischen Verbänden.
Das EZLN geht vermutlich Anfang der achtziger Jahre aus der FALN hervor; damals zieht sich deren ideologische Führungsgruppe, vor allem Überlebende der 68er Studentenbewegung und der 1974 im Bundesstaat Guerrero zerschlagenen Guerrilla, aus der Selva zurück und bekleidet heute Leitungsfunktionen in der PRI-Campesino/a-Organisation sowie in diversen Ministerien. Das neue EZLN verschafft sich durch Überfälle und die Entführung reicher Viehzüchter, Plantagenbesitzer und Zwischenhändler (seit 1988 allein 2.000!) eine breite finanzielle Basis zur Bewaffnung großer Bevölkerungsteile. Dies entspricht der neuen Strategie der jetzt einheimischen Anführer: Statt einen langatmigen und eher defensiven Guerrillakrieg verstreuter Kommandos zu führen, wie es das Konzept der Guerra Popular Prolongada der abgezogenen Kader vorsah, werden militärische Einheiten gebildet, die dank ihrer Unterstützung durch die umliegenden Dorfgemeinden eine frontale Auseinandersetzung mit den Regierungstruppen wagen können, wie das Vorgehen des EZLN seit dem 1. Januar 1994 zeigt. Eine derartige Taktik wäre – dies geben die heute etablierten Ex-Guerrilleros/as verblüfft zu – in der ländlichen Guerrilla der siebziger Jahre undenkbar gewesen.

Was lange gärt…

Mit der zeitgleich zum Inkrafttreten der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA erprobten Strategie “Bomben gegen BäuerInnen” verabschiedet sich die regierende Elite Mexikos ganz offiziell von einem politischen System, das der peruanische Schriftsteller und neoliberale Gesinnungsgenosse Mario Vargas Llosa noch vor kurzem als die “perfekteste Diktatur Lateinamerikas” bezeichnet hatte. Während andere autoritäre Regimes des Kontinents auf Repression durch Militär setzten und dennoch niemals die Kontinuität und Stabilität Mexikos erreichten, beruht das mexikanische Modell des “korporativen Staates” auf der Integration aller gesellschaftlichen Gruppen und politischen Richtungen unter dem Dach einer einzigen, Staat und Nation umfassenden Partei: der Partei der institutionalisierten Revolution (PRI). Diesem nach den Revolutionswirren in den dreißiger Jahren vom heute mythischen Präsidenten Lázaro Cárdenas konzipierten Modell gelingt es, mittels hierarchisch der Parteispitze untergeordneter Zwangszusammenschlüsse von IndustriearbeiterInnen-, Angestellten- und Campesino/a-“Gewerkschaften” über Jahrzehnte hinweg die politische und wirtschaftliche Kontrolle ganz Mexikos zu gewährleisten. Notwendige Kurskorrekturen werden durch sorgfältig inszenierte “Brüche” im Übergang von einer als Präsidialdiktatur auf Zeit angelegten Sechsjahresregierung zur nächsten vollzogen, so daß Kontinuität und Wandel sich die Waage halten. Gegenüber Dissidenten wendet das Regime eine Doppelstrategie an: Einerseits die Vereinnahmung und Absorption abweichender Meinung und andererseits die gezielte Repression gegenüber einzelnen.
Schon seit dem Massaker in Tlatelolco an der StudentInnenbewegung von 1968 ist das “korporative Staatsmodell” Mexikos gescheitert, da die Politik der Vereinnahmung und Integration gegenüber einer ganzen Generation mißlungen ist. Die vermeintliche Identität von Staatspartei und Nation zerbrach. Im Rahmen der neuen sozialen Bewegungen gründen BäuerInnen, IndustriearbeiterInnen, LehrerInnen und andere Berufsgruppen seit Beginn der siebziger Jahre unabhängige Organisationen, die oft neben ihren eigenen “ständischen” Interessen gesamtgesellschaftliche Veränderungen erzwingen wollen. Vor allem als mit Ende der siebziger und Beginn der achtziger Jahre breit angelegte Allianzen und Koordinationen der verschiedenen unabhängigen Gruppen entstehen, verschärft das Regime seine Strategie: Neben staatliche Vereinnahmung und/oder Repression tritt die gezielte Unterwanderung und Spaltung unabhängiger Organisationen; dies geschieht zum einen durch paramilitärisch agierende Gruppen wie Antorcha Campesina (“Bauernfackel”), eine im Auftrag und in enger Abstimmung mit der Führungsclique der PRI-Campesino/a-Organisation wirkende Kadertruppe, die oppositionelle Campesino-Organisationen entweder unterwandert und anschließend entpolitisiert oder aber, falls dies nicht möglich ist, die AnführerInnen dieser Organisationen ermordet.
Die zweite Variante der Spaltungsstrategie erfolgt durch die selektive und an (partei)politische Kompromisse gebundene Vergabe staatlicher Mittel der Landwirtschafts- oder Regionalförderung. Und schließlich werden die Methoden der Wahlfälschung “modernisiert”: Zu klassischen Formen des Betruges bei der Stimmabgabe und -auszählung kommt das computergestützte “Rasieren” von EinwohnerInnen- und WählerInnenlisten sowie das Fälschen von Wahlausweisen (in einigen Orten Mexikos wählen mehr Tote als Lebende!).

Das Ende der PRI-Macht

1988 markiert das offizielle Ende des PRI-Monopols: Als sich Mexiko Anfang der achtziger Jahre nach fallenden Rohölpreisen außenwirtschaftlich verschuldet und somit seine wirtschaftspolitische Souveränität zum großen Teil an Weltbank und IWF abtreten muß, etabliert sich eine Gruppe neoliberaler, USA-höriger Technokraten und Banker an der Macht, die die Umsetzung der von den Gläubigern erzwungenen Strukturanpassungsprogramme garantiert. Die VerliererInnen dieser auf Rückzug des Staates aus der Wirtschaft, Liberalisierung und Privatisierung um jeden Preis begründeten Politik bilden bei den 1988 stattfindenen Präsidentschaftswahlen ein breites Oppositionsbündnis, das sich um den Sohn des “Gründervaters” Lázaro Cárdenas, Cuauhtémoc Cárdenas, formiert. Diese Partei, die sich heute “Partei der Demokratischen Revolution” (PRD) nennt, gewinnt die Wahlen – das gibt (fast) jeder Regierungspolitiker hinter vorgehaltener Hand zu. Dennoch erzwingt die PRI auch diesmal eine offenkundige Wahlfälschung, und zwar mit Hilfe eines plötzlichen Stromausfalls bei der Stimmenauszählung per Computer, durch die US-amerikanische Anerkennung des PRI-Kandidaten und Harvard-Zöglings Salinas de Gortari und durch massive, demonstrative Präsenz des Militärs in den Hochburgen der Opposition.
In der Regierungszeit des für viele MexikanerInnen weiterhin illegitimen Präsidenten Salinas offenbart sich der Grundwiderspruch, an dem das System scheitert: Eine neoliberale Politik der Privatisierung des kommunalen Landbesitzes, der Öffnung der Märkte für nordamerikanische Billigimporte und des Abbaus von Preisgarantien und anderen Fördermaßnahmen richtet sich gegen die existentiellen Interessen der Campesinos/as; um sich dennoch an der Macht zu halten, muß die herrschende Elite – entgegen ihren ideologischen Prinzipien – die alten, korporativen Zwangsstrukturen der Vereinnahmung, Repression und/oder Wahlfälschung zumindest auf dem Lande erhalten und stärken. Dies ist allerdings unmöglich, wenn sich der in Mexiko traditionell starke Staats- und Parteiapparat, wie im neoliberalen Dogma vorgesehen, zurückziehen soll.

Umerziehung der Armee

Als Garant für die Kontrolle der Bevölkerung bleibt einzig und allein das Militär. Diese Institution ist jedoch, anders als im restlichen Lateinamerika, nicht für Aufstandsbekämpfungsmaßnahmen gegen die eigene Bevölkerung ausgebildet. Schon 1988, als das Militär zur “Rückeroberung” von Rathäusern verwendet wurde, die die oppositionelle PRD nach der offenkundigen Wahlfälschung besetzt hatte, gab es in den Reihen der mit ihrem “Ahnherrn” Lázaro Cárdenas sympathisierenden Generäle Protest gegen den “innenpolitischen” Einsatz der mexikanischen Armee. Um langfristig die Loyalität des Militärs gegenüber der PRI-Spitze zu sichern, wurde der Widerstand dieser kritischen Generäle von Salinas gebrochen, indem die Armee schrittweise gezwungen wurde, an Maßnahmen zur Bekämpfung von Marihuanapflanzern und “Drogenkartellen”, zur Verfolgung guatemaltekischer Flüchtlinge und “illegaler Einwanderer” und schließlich zur Repression unabhängiger Campesino/a-Organisationen teilzunehmen. Diese Strategie wird seit Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre erprobt, und zwar primär im südlichsten und konfliktreichsten Bundesstaat Mexikos.

“Todo Chiapas es México” – warum Chiapas?

Chiapas ist kein Ausnahmefall, wie die mexikanische Regierung glauben machen möchte, sondern spiegelt die sozioökonomischen, ethnischen und politischen Probleme der restlichen zentral- und südmexikanischen Bundesstaaten bloß in verschärfter Form wider und nimmt deren zukünftige Konflikte vorweg. Der Unterschied besteht nur darin, daß in Chiapas früher als im übrigen Land die korporative Politik der Vereinnahmung und Kontrolle der Landbevölkerung durch die lokalen PRI-Institutionen gescheitert ist. Dies liegt hauptsächlich daran, daß hier eine Landreform nach der Revolution nie stattgefunden hat. Zum einen beschränkte sich die Revolution von 1910-17 in Chiapas auf einen lokalen Bürgerkrieg zwischen den Eliten der beiden größten Städte, Tuxtla Gutiérrez und San Cristóbal de Las Casas, in deren Verlauf vor allem die Tzotzil der umliegenden Dorfgemeinden gegeneinander ausgespielt wurden (in Chiapas leben 13 verschiedene indianische Völker und im letzten Zensus von 1990 bezeichneten sich ca. 28% der Bevölkerung Chiapas’ als “indianisch-sprachig”. Und zum anderen gelang es nach 1917 einem Zusammenschluß der regionalen Oligarchie aus Viehzüchtern, Kaffeeplantagenbesitzern (meist deutscher Abstammung) und städtischer Oberschicht, die Betreiber der Landreform zurückzuschlagen.
Nur im damals wirtschaftlich noch uninteressanten zentralen Hochland der Altos de Chiapas wurde Ejido-Land – den Bauern zur Nutzung übertragenes Staatsland – verteilt. In den wirtschaftlich attraktiveren Kaffee- und Zuckerrohrplantagen des Südens und Südostens sowie in den vieh- und holzwirtschaftlich interessanten Waldgebieten des nördlichen und nordöstlichen Tieflands dagegen bleiben die Besitzverhältnisse unangetastet oder juristisch jahrzehntelang umstritten – mehr als 25% aller zur Zeit anhängigen Landkonflikte Mexikos betreffen Chiapas. Der Bundesstaat ist bis heute geprägt von landlosen Bauernfamilien, die in die Städte oder in den Tropenwald der Selva Lacandona abwandern, sowie durch Tagelöhner, die durch Schuldknechtschaft an die Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen gebunden sind.

Alte Konflikte

Diese Situation extremer Marginalisierung der größtenteils indianischen Landbevölkerung, die einhergeht mit einem auch für mexikanische Verhältnisse extremen Rassismus der städtischen Mittel- und Oberschicht von Tuxtla und San Cristóbal, hat ihren Ursprung in der Agrarstruktur des 19. Jahrhunderts, als die indianischen Dorfgemeinden im Zuge wirtschaftsliberaler Gesetze ihren kommunalen Landbesitz verloren. Das politische Programm des Zapatismo, die Rückerstattung von Kommunalland und die Selbstverwaltung der Dorfgemeinde, ist also weiterhin – und nicht nur in Chiapas – unerfüllt geblieben. Ausschlaggebend für das Entstehen einer “neozapatistischen” Bewegung in Chiapas ist jedoch zusätzlich, daß gerade hier die vorrevolutionären Verhältnisse mit der neoliberalen Politik der gegenwärtigen mexikanischen Regierung zusammentreffen: Mit der Privatisierung des Bodenbesitzes im Zuge der Reform des Verfassungsartikels 27, also des Rückgrats der Landreform, mit der Öffnung der Agrarmärkte sowie dem Abbau staatlicher Kredit- und Vermarktungshilfen führt Salinas im wesentlichen die Agrarpolitik des USA-hörigen und 1910 in der Revolution gestürzten Diktators Porfirio Díaz fort. Somit kann der bewaffnete Kampf der EZLN in Chiapas gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Campesinos/as und Indígenas der Beginn einer auch andere Regionen Mexikos umfassenden Bewegung sein.
Die Wahl der direkten militärischen Konfrontation mag in der in Chiapas besonders ausgeprägten politischen Polarisierung begründet sein: Im übrigen Mexiko ermöglichte nach der Landreform von Lázaro Cárdenas das Ejido und besonders deren Leitung als unterste Stufe innerhalb der PRI-eigenen Bauernorganisation eine sowohl politische als auch ökonomische Integration der Bevölkerung in den gesamtmexikanischen Staats- und Parteiapparat. Dagegen mußte die PRI in Chiapas auf die vorrevolutionären Koalitionen zwischen der im Bundesstaat herrschenden Oligarchie und lokalen Kaziken, den Dorfeliten, Zwischenhändlern und Monopolisten, zurückgreifen.
Da es in vielen Gemeinden keine PRI-beherrschten integrativen Organisationsstrukturen gibt, sind interne Konflikte nur lösbar, indem der Kazike seine wirtschaftliche und politische Macht gegen die oppositionelle Gruppe einsetzt. Dies ist in Gemeinden wie San Juan Chamula oder Zinacantan geschehen, wo die lokale PRI-Elite nach offenkundigen Wahlfälschungen bei Kommunalwahlen unter religiösen Vorwänden – dem Eindringen radikalprotestantischer Sekten – seit Mitte der siebziger Jahre alle Dissidenten aus ihrem Ort zu vertreiben sucht. In den Fällen, wo diese Strategie nicht gelingt, werden paramilitärische Einheiten, die guardias blancas (“weiße Wächter”), von den Großgrundbesitzern angefordert. Die im Laufe der siebziger Jahre entstandenen unabhängigen Campesino-Organisationen und ihre AnführerInnen stellen die vorrangigen Zielscheiben dieser Privatarmeen dar, die oft mit der bundesstaatlichen policía judicial, der “politischen Polizei”, eng zusammenarbeiten.
Chiapas ist Hauptempfänger von Geldleistungen im Rahmen des “Nationalen Solidaritätsprogrammes” PRONASOL, das direkt nach den Wahlen von Salinas eingeführt wurde, um die Verlierer der neoliberalen Wirtschaftspolitik – also die Oppositionswähler von 1988 – mit Hilfe punktueller Maßnahmen zur “Notlinderung” zurückzugewinnen. Indem PRONASOL-Mittel nur an eigens dafür einzurichtende und größtenteils PRI-dominierte “Solidaritätskomitees” vor Ort vergeben werden, versucht das Regime, unabhängige Organisationen und lokale Initiativen erneut an sich zu binden. Doch da PRONASOL nur oberflächlich momentane Hilfen vergibt, ohne die existierenden Besitz- und Wirtschaftsstrukturen anzutasten, mißlingt im Falle Chiapas dieses Anliegen trotz der beträchtlichen Mittel, die aufgewendet wurden. Die PRI kann nicht gegen die eigenen Regionaloligarchien vorgehen, ohne ihre letzten Stützpunkte auf dem Lande aufzugeben.

Die neue Grenze

Diese oligarchischen Strukturen werden allerdings zunehmend problematisch, da Chiapas im Zuge der wirtschaftlichen Integration Mexikos in den nordamerikanischen Markt geostrategische Bedeutung erlangt hat: Zum einen sind die USA daran interessiert, die bisher relativ “durchlässige” Südgrenze der NAFTA-Zone zu schließen, kurzfristig, um die “illegale Einwanderung” von Zentralamerika Richtung USA zu bremsen, und langfristig, um somit die Mauer der “Ersten Welt” vom Río Grande nach Süden zu verschieben. Und zum anderen birgt Chiapas ein noch nahezu unerschlossenes wirtschaftliches Potential, nicht nur, was Tropenholz, Artenpatentierung und Staudämme in der Selva Lacandona betrifft, sondern vor allem hinsichtlich umfangreicher in diesem Gebiet gefundener Erdölreserven; deren Förderung ist zur Zeit noch blockiert, da die transnationalen Ölkonzerne darauf warten, daß Salinas die letzte Errungenschaft der mexikanischen Revolution preisgibt und das staatliche Erdölmonopol PEMEX zum Verkauf anbietet. Die regionale Viehzüchtervereinigung beabsichtigt außerdem, zur Belieferung des NAFTA-Marktes inmitten der Selva Lacandona eine großflächige Rinderfarm inklusive Fleischverarbeitungsbetrieb zu errichten, nur daß dafür noch 300.000 ha. Land benötigt werden, die sich (noch) im Besitz indianischer Campesinos/as befinden.
Vor diesem globalpolitischen und -ökonomischen Hintergrund muß die Militarisierung der Landkonflikte in Chiapas gesehen werden. Mit dem innenpolitischen Einsatz der Armee versucht die PRI, den direkten Zugang zu den strategisch wichtigen Ressourcen und Regionen des Landes wiederherzustellen, der gerade an der guatemaltekischen Grenze verloren zu gehen drohte. Gleichzeitig gelingt es Salinas, durch den Kampf gegen “Guerrilla, Drogenhandel und illegale ImmigrantInnen” das Militär (partei-)politisch zu kompromittieren und so auf einen eventuell im Sommer 1994 nach den Präsidentschaftswahlen und -wahlfälschungen nötigen großflächigen Einsatz gegen die parlamentarische Opposition vorzubereiten.
Daß der Einsatz des Militärs wohl kalkuliert und lange vorbereitet wurde, zeigt die Vorgeschichte des Januar-Aufstands des EZLN. Seit 1991 und verstärkt seit März 1993 fordern die Viehzüchter- und Großgrundbesitzervereinigungen von der Zentralregierung Armeeverbände zum Kampf gegen “Subversive” an, die eine Guerrilla im Regenwald aufbauen würden, gegen die ihre eigenen Repressionsapparate machtlos sind. Als im Mai 1993 eine Armee-Einheit auf ein Kommando des EZLN stößt, werden zum ersten Mal willkürlich nahe gelegene Dörfer bombardiert und einzelne BewohnerInnen verhaftet und gefoltert. Die Regierung versucht, die gesamte Operation geheimzuhalten und schnell abzubrechen, da gleichzeitig in den USA heftig über NAFTA debattiert wird; das knappe Abstimmungsergebnis im US-Kongreß zeigt, daß eine großangelegte Militäraktion schon im Sommer NAFTA wegen der voraussehbaren Reaktion der nordamerikanischen Öffentlichkeit hätte scheitern lassen. Erst mit dem Inkrafttreten von NAFTA 1994, das von vielen als “Kriegserklärung” an das indianische und bäuerliche Mexiko gewertet wird, bricht tatsächlich Krieg aus: ein Krieg zwischen dem Mexiko der USA-orientierten Modernisierer aus Mexiko-Stadt und dem agrarischen, dem “tiefen Mexiko” (Bonfil Batalla), dessen Zivilisation seit 500 Jahren negiert wird.

Campesino/a- und Indígena-Bewegungen in Chiapas

Ungefähr 10.000 Tzotzil, Tzeltal, Tojolabal und Chol – viele von ihnen symbolisch bewaffnet mit Pfeil und Bogen – zogen am 12. Oktober 1992 nach San Cristóbal und stürzten die Statue von Diego de Mazariegos zu Boden, mit dessen Invasion des Hochlands 1527 die Kolonisation Chiapas’ begonnen hatte. Diese und ähnliche Protestmärsche auch in anderen ethnischen Regionen Mexikos weisen auf eine fast 500jährige Kontinuität nicht nur der Invasion, des Landraubs und der Erniedrigung, sondern auch des indianischen Widerstandes – eines Widerstandes, der im Alltagsleben, in der Familie verwurzelt ist, der immer von der Dorfgemeinde ausgeht und deren sichtbarster Ausdruck die sogenannten Aufstände sind. Die Geschichte Chiapas’ ist die Geschichte von Revolten, deren Niederschlagung sowie deren Reorganisation: 1693 setzen die Zoque von Tuxtla ihren spanierhörigen Kazike ab, woraufhin spanische Truppen ein Massaker anrichten; im Jahre 1712 rebellieren, angespornt von einer indianischen Jungfrau Maria, 32 Tzotzil- und Tzeltal-Dörfer – zum großen Teil dieselben wie jetzt 1994! – gegen immer höhere Tributforderungen der Kirche und der Nachkommen der Conquistadores, bis im Gegenzug ganze Dörfer vernichtet werden; zwischen 1869 und 1870 belagern die Tzotzil unter Führung von Pedro Díaz Cuscat San Cristóbal, um ihr Kommunalland gegen die Privatisierungsreformen zu verteidigen – niedergeschlagen wird diese Rebellion vom damaligen Gouverneur, einem Uronkel des vom EZLN entführten Ex-Gouverneurs Absalón Castellanos Domínguez!
Die Kontinuität des indianischen Widerstandes nicht nur in Chiapas, sondern ganz Mexikos nährt sich aus der Verteidigung der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Autonomie der Dorfgemeinde als der einzigen eigenen Organisationsform, die nicht durch die europäische Invasion und Kolonisation zerstört wurde. Ausgehend von dieser gemeinsamen Aktionsbasis verändern sich die Motive der indianischen Bewegungen entsprechend den Phasen der “Modernisierungspolitik” der Kolonisatoren:
1. Da die Spanier ihr Regime zunächst nicht auf Landbesitz gründen, sondern – neben der Missionierung – auf Kontrolle der indianischen Arbeitskraft und ihrer Früchte, richtet sich der lokale Widerstand gegen Tributzahlungen. Wie heute kämpfen die Dorfgemeinden innerhalb des kolonialen Rechtssystems (Petitionen an den König, gerichtliche Klagen etc.); doch wenn der Druck zu stark wird, entziehen sie sich dem System, in Chiapas meist durch Flucht in die noch nicht kolonisierte Selva – genauso wie 1994!
2. Als Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts die criollos, die Nachkommen der spanischen Eroberer, von der Abschöpfung von Tributen übergehen zur direkten Aneignung nicht nur entvölkerter Gebiete, sondern auch des Kommunallandes der Dorfgemeinden und so die haciendas, fincas und andere Formen des Großgrundbesitzes entstehen, konzentriert sich der indianische Widerstand auf die Rückgewinnung der Souveränität über Land. Die Enteignungswelle spitzt sich bis zum Ausbruch der Revolution 1910 zu, an der die indianischen Dorfgemeinden Südmexikos unter Zapatas Banner Tierra y Libertad teilnehmen. In den Regionen, wo eine Landreform tatsächlich erfolgt und den Gemeinden ihre Besitztümer rückerstattet werden, ruhen dementsprechend die indianischen Bewegungen zwischen den vierziger und siebziger Jahren dieses Jahrhunderts; doch in Chiapas geht der juristische und politische Kampf um die Anerkennung und Wiedererlangung ihres Landes – als Kommunalland oder als Ejido – bis heute weiter.
3. Auch in den Gebieten, wo eine Landreform tatsächlich durchgeführt wurde, verlieren die indianischen Gemeinden im Zuge der “Grünen Revolution”, der Mechanisierung, Kapitalisierung und Marktintegration der vormals regional subsistenten Landwirtschaft ihre wirtschaftliche Autonomie; sie werden abhängig von externen, staatlichen oder privaten Technologieanbietern, Zwischenhändlern und Kreditgebern. Daher bildet sich seit Ende der siebziger Jahre eine neue Campesino/a- und Indígena-Bewegung, die sich zusätzlich zur weiterhin akuten Rückeroberung von Land der Wiederherstellung der eigenen Kontrolle über den Produktionsprozeß im Rahmen kapitalistischer Marktstrukturen widmet; es entstehen neue, auch regionale und ansatzweise sogar nationale Organisationsformen wie Zusammenschlüsse verschiedener Ejidos zur gemeinsamen Produktvermarktung, Kreditvereine und Produktionskooperativen.
4. Und schließlich zeichnet sich seit Mitte bis Ende der achtziger Jahre eine neue Widerstandsfront ab, die bestrebt ist, die agroindustrielle Ausbeutung der Naturressourcen indianischer Regionen und der dadurch bewirkten Zerstörung der Lebensgrundlagen sowie die Patentierung des “genetischen Reservoirs” durch Pharma- und Chemiekonzerne zu bekämpfen. Es entstehen neue Organisationen zur Wiederaneignung und Verbreitung traditioneller, ökologisch angepaßterer Anbauformen. Um das weitere Vordringen agroindustrieller Konzerne zu verhindern und um sich nach Salinas’ Verfassungsreform gegen die Umsetzung der Privatisierung des Landbesitzes zu wehren, reicht die lokale Ebene des Widerstands nicht mehr aus. Daher bilden sich in vielen ethnischen Regionen Organisationen, die die Wiedergewinnung der politischen und wirtschaftlichen Kontrolle nicht nur über Kommunalland, sondern über ein ganzes Territorium samt seiner energetischen Ressourcen zum Ziel haben.
Auch wenn die Subjekte dieser Bewegungen historisch immer Indígena-Organisationen (einzelne Dörfer, ganze indianische Völker oder multiethnische Zusammenschlüsse) waren, entstehen seit den siebziger Jahren ähnliche Bewegungen unter mestizischen Campesinos. Da die Problematik meist identisch ist und so gut wie alle auf dem Land lebenden Indígenas kleinbäuerlich wirtschaften, sind die Hauptforderungen auch identisch; der Unterschied besteht nur darin, daß ethnisch geprägte Organisationen ihre Autonomieansprüche z.B. auf Land integral verstehen und somit in ihre Gesamtkultur eingebunden wissen wollen, während die meisten mestizisch geprägten Campesino-Gruppen die juristischen und ökonomischen Aspekte des kollektiven Landbesitzes betonen.
Die skizzierten Phasen der Campesino/a- und Indígena-Bewegungen sind in Chiapas wegen des Zusammentreffens vor-revolutionärer und neoliberaler Modernisierungsbestrebungen zeitgleich vorhanden: Auf den Kaffee- und Zuckerrohrplantagen kämpfen ganze Dorfgemeinden weiterhin um die Kontrolle der eigenen Arbeitskraft, da hier Schuldknechtschaft, Bezahlung in Naturalien im Finca-eigenen Monopol-Laden sowie teilweise sogar das jus primae noctis (das Vorrecht des Plantagenbesitzers auf den ersten Sexualverkehr der Töchter seiner Arbeiter) fortbestehen. Einer Protestbewegung in Simojovel, Chiapa de Corzo und El Naranjal gelang es 1977, die Besitzer einer Kaffee-Finca zu verteiben und diese als Ejido-Kooperative eigenständig weiterzuführen; bis heute kämpfen sie um die juristische Anerkennung ihres kollektiven Landbesitzes.

Der Indígena-Kongreß 1974

Ebenso wie in diesem Falle die Rückgewinnung der Kontrolle der eigenen Arbeitskraft in eine Bewegung zur Landverteilung mündet, entstehen in Chiapas Anfang der siebziger Jahre Organisationen, die die Versprechungen der Landreform einklagen und gleichzeitig eigenständige Vermarktungskanäle und Kreditvereine zu bilden beginnen. Von zentraler Bedeutung für den Übergang von lokal isolierten Initiativen hin zu regionalen und multiethnischen Organisationsformen war der Erste Indígena-Kongreß, der 1974 in San Cristóbal stattfand. Der Gouverneur des Bundesstaates dachte ihn als propagandistische Schauvorstellung zum 500jährigen Gedenken an die Geburt des ersten Bischofs von Chiapas, Bartolomé de Las Casas. Mangels offizieller Kontakte zur Basis wurde die Vorbereitung des Kongresses der Diözese von San Cristóbal anvertraut.
Der schon seit 1960 in der Region wirkende Bischof Samuel Ruíz bot zusammen mit seinen in den Dörfern aktiven KatechetInnen von 1972 bis 1974 sowohl den PRI-nahen als auch unabhängigen Gruppen Kurse über Landrecht, Produktionstechniken, Kreditquellen und mexikanische Geschichte an. Dank dieser intensiven Vorbereitung und der im Verlauf des Kongresses gewonnenen Erkenntnis, daß die Probleme der teilnehmenden Tzeltal, Tzotzil, Tojolabal und Chol im wesentlichen identisch sind, entstanden schon 1975 die ersten Uniones de Ejidos, unabhängig von der PRI-Bauernorganisation agierende regionale Zusammenschlüsse verschiedener lokaler Ejidos. Ihr primäres Ziel bestand in der juristischen Anerkennung bestehender sowie in der Schaffung neuer Ejidos; dies führte schon bald zu Konflikten mit Viehzüchtern, Plantagenbesitzern und Holzhändlern sowie mit lokalen Kaziken, die mit ihnen kollaborieren.

Netzwerke

Es kommt zum Einsatz offizieller oder paramilitärischer Repressionsmittel – wie schon in den Jahrhunderten zuvor werden ganze Dörfer, 1979 Vololchan und 1983 Simojovel und Bochil, massakriert.
Zur politischen Vertretung der eigenen Interessen werden mit Hilfe von KatechetInnen, die in verschiedenen Dörfern kirchliche Basisgemeinden aufbauen, erste Dachverbände für ganz Chiapas gegründet. Während sich die 1982 von Tzotzil aus Venustiano Carranza gebildete OCEZ (Organización Campesina Emiliano Zapata) vorrangig der juristischen Beratung und politischen Mobilisierung bei Landkonflikten widmet, forciert die 1980 geschaffene und 180 Dorfgemeinden umfassende Unión de Uniones de Ejidos y Grupos Campesinos Solidarios de Chiapas besonders den Kampf um die Kontrolle des Produktions- und Vermarktungsprozesses:
– Zum einen existiert seit 1982 mit der Unión de Crédito Pajal Ya’ Kactic eine parteiunabhängige Organisation, die aus verschiedenen Quellen (heute u.a. auch PRONASOL-Mitteln) zinsgünstige Kredite beschafft und sie an ihre Mitgliedsgruppen weiterleitet.
– Und andererseits versucht die Unión de Uniones, alternative Vermarktungskanäle für ihre KaffeeproduzentInnen zu öffnen.
Im Verlauf der achtziger Jahre integrieren sich die größten regionalen Zusammenschlüsse in lockere Koordinationen, die ganz Mexiko umfassen, wie die auf politische Interessenvertretung der Campesinos spezialisierte CIOAC (Central Independiente de Obreros Agrícolas y Campesinos) und das Netzwerk zur Kaffeevermarktung CNOC (Coordinadora Nacional de Organizaciones Cafetaleras).
Wie schon in der spanischen Kolonialzeit konzentrieren sich die Widerstandsformen auf die Ausschöpfung aller möglichen legalen Mittel: Petitionen, Gerichtsverfahren durch alle Instanzen, Demonstrationen und Protestmärsche – wie der im März 1992 in Palenque begonnene und von Chol, Tzotzil, Tzeltal, Tojolabal und Zoque aus ganz Chiapas mitgetragene Marsch der Xi’ Nich’ Wen Mich’, der “sehr erbosten Ameisen”, auf Mexiko-Stadt, um jahrelang anhängige Landtitel-Vergaben, die Freilassung indianischer Strafgefangener und die Absetzung korrupter Regionalpolitiker zu erreichen.

Bewaffneter Widerstand

Doch in den Gemeinden vor allem in der Selva, wo nach Erschöpfung aller Regierungsinstanzen die Konflikte ungelöst bleiben und nur durch Repression zu unterdrücken versucht werden, bildet sich – wie schon in den fünf Jahrhunderten zuvor – bewaffneter Widerstand. Seit 1974 kommt es vor allem in Ocosingo immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Guerrilla-Einheiten der “Bewaffneten Armee zur Nationalen Befreiung” FALN (Fuerzas Armadas de Liberación Nacional) und paramilitärischen Gruppen der Vieh- und Holzhändler sowie den nachrückenden militärischen Verbänden.
Das EZLN geht vermutlich Anfang der achtziger Jahre aus der FALN hervor; damals zieht sich deren ideologische Führungsgruppe, vor allem Überlebende der 68er Studentenbewegung und der 1974 im Bundesstaat Guerrero zerschlagenen Guerrilla, aus der Selva zurück und bekleidet heute Leitungsfunktionen in der PRI-Campesino/a-Organisation sowie in diversen Ministerien. Das neue EZLN verschafft sich durch Überfälle und die Entführung reicher Viehzüchter, Plantagenbesitzer und Zwischenhändler (seit 1988 allein 2.000!) eine breite finanzielle Basis zur Bewaffnung großer Bevölkerungsteile. Dies entspricht der neuen Strategie der jetzt einheimischen Anführer: Statt einen langatmigen und eher defensiven Guerrillakrieg verstreuter Kommandos zu führen, wie es das Konzept der Guerra Popular Prolongada der abgezogenen Kader vorsah, werden militärische Einheiten gebildet, die dank ihrer Unterstützung durch die umliegenden Dorfgemeinden eine frontale Auseinandersetzung mit den Regierungstruppen wagen können, wie das Vorgehen des EZLN seit dem 1. Januar 1994 zeigt. Eine derartige Taktik wäre – dies geben die heute etablierten Ex-Guerrilleros/as verblüfft zu – in der ländlichen Guerrilla der siebziger Jahre undenkbar gewesen.

Gewalt ist manchmal die Medizin

Die Rebellion in Chiapas hat Gewissen aufgewühlt. Im Guten wie im Schlechten. Für viele Intellektuelle, die sich an der kontinuierlichen Diskussion nationaler Probleme in den Medien beteiligen, hat der von der EZLN erklärte Krieg die Hoffnung auf revolutionäre Veränderungen wiederbelebt. Auf Veränderungen, die erlauben, daß die Güter für alle erreichbar sind und nicht nur für einige Privilegierte. Und diese Hoffnung ist wiedergeboren, nicht weil die Zapatisten sich Marxisten oder Maoisten nennen, sondern eben weil sie sich Zapatisten nennen.
Die Armen und Ausgegrenzten, die nicht mit der Ersten Welt konkurrieren können, zu der Salinas uns angeblich hinführen will, haben plötzlich VerfechterInnen gefunden, die grundsätzliche Veränderungen der nationalen Politik und der internationalen Einschätzung unserer ökonomischen Situation erreicht haben. Sie warfen einen Innenminister, der eine Garantie für Wahlbetrug war, und einen kazikischen Gouverneur hinaus. Sie eröffneten die Möglichkeit sauberer Wahlen in Mexiko, was wir, die politischen Parteien, nicht hatten erreichen können. Diejenigen, die ausgeschlossen sind von Reichtum, Gerechtigkeit und Freiheit finden sich in der EZLN wieder. Nicht nur die Indígenas auf dem Land, sondern auch die, die in den großen Städten leben, haben ihnen ihre Symphatie bekundet, außerdem die MestizInnen. Deshalb erweisen auch viele Intellektuelle ihnen ihre Zustimmung, schreiben ermutigende Botschaften an die KämpferInnen, veranstalten Sammlungen, um Kleidung, Lebensmittel oder Medikamente in die chiapanekischen Dörfer zu schicken, die durch Armee und EZLN von der Außenwelt abgeschnitten sind.
Diese Intellektuellen beteiligen sich an den Diskussionsrunden und an den Märschen durch die Straßen und einige schreien, schreien sich heiser vor lauter Enthusiasmus. Sie haben selbstverständlich weder die Verbrechen Hitlers noch die Stalins vergessen, und auch nicht die Korruption, wie man sie in der Ex-UdSSR gesehen hat. Noch weniger vergessen sie, daß in den Ländern, wo das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft wurde, eine politisch dominante Klasse zu einer neuen Bourgeoisie wurde, noch privilegierter als in den kapitalistischen Ländern. Aber der Kampf in Chiapas enthält einen Bestandteil, der dem Ganzen erst die Würze gibt: Der Kampf geht um die Rechte von Millionen Indígenas, ausgegrenzt aus ihrem eigenen natürlichen Reichtum, zu unerwünschten AusländerInnen in ihrem eigenen Vaterland geworden. Es geht um nichts geringeres als um die Forderung nach sauberen Wahlen und damit um den Übergang zur Demokratie. Herausragende Intellektuelle wie Octavio Paz, die der Regierung nahe stehen, kritisieren das Verhalten der anderen Intellektuellen, die von dem Aufstand in Chiapas begeistert sind und verurteilen die Gewalt im Abstrakten. Sie übersehen dabei geflissentlich, daß die größten sozialen Errungenschaften der Geschichte nur durch schonungslose Gewalt, wie bei der Französischen Revolution zustande kamen. Paz hat vergessen oder täuscht das jedenfalls gut vor, daß einer der wichtigsten Faktoren des Aufstandes in Chiapas die korrupten Machenschaften der Regierung Carlos Salinas waren, für den er nur flammendes Lob und sanfte Kritik hat.

Der Mangel an Sensibilität der herrschenden Klasse

Octavio rühmt die jüngsten Handlungen von Salinas und ignoriert, daß der das Jahr damit begann, gegen die “Delinquenten und professionellen Gewalttäter” zu wettern, und wie er die KämpferInnen der EZLN sonst noch nannte. Man kann ja zum Frieden und zur Eintracht aufrufen. Man darf dann aber nicht vergessen, daß es die Freunde von Octavio Paz sind, die den Betrug organisiert haben, der Carlos Salinas de Gortari zum Präsidenten der Republik aufsteigen ließ. Paz hat wohl mitbekommen, daß Mexiko eines der am wenigsten vertrauenswürdigen Länder in Bezug auf die Legitimität von Wahlen ist. Darüber hat er allerdings nichts gesagt. Wir stehen auf Seiten der Aufständischen von Chiapas, weil wir mit ihnen in der Kritik der aktuellen Situation übereinstimmen. Aber vor allem unterstützen wir ihre Vorschläge zur Beendigung der fünfhundertjährigen Ausgrenzung der Indígenas. Der Mangel an Sensibilität der regierenden politischen Klasse hat unerträgliche Ausmaße erreicht. Der Luxus einiger Weniger ist eine Beleidigung der Armen. Nicht nur in Chiapas, sondern auch in Morelos, Veracruz, Hidalgo, Guerrero und Oaxaca. Und nicht nur Unternehmer und Geschäftsleute schwelgen im Luxus, nein auch die Regierungsbeamten. Die Korruption in Mexiko stinkt, aber einige riechen sie wohl nicht mehr. Je mehr die angesehenen Intellektuellen sich durch durch ehrenvolle Erwähnungen, Auszeichnungen und andere Preise ködern lassen, desto schwächer wird ihre Kritik an der Regierung bis sie vollständig verschwindet. Das ausgegrenzte, verletzte, gedemütigte, seiner Würde beraubte Volk schaut zu. Der Mangel an Sensibilität einiger Intellektueller wächst in dem Maße, wie das System sie mit Ehren und Gunstbezeugungen überhäuft.
Wir dürfen die Unzulänglichkeiten und Gebrechen unseres Systems nicht nur im Abstrakten erkennen. Es ist gut, daß die Parteien kritisiert werden (alle, denn bei allen gibt es Fehler, Mängel und Sektiererei) genauso wie die Militärs und ihre Führer. Aber wir müssen auch die Lektion verstehen, die uns die KämpferInnen der EZLN in Chiapas erteilt haben. Ihre Führung habe sich in das indianische Volk eingeschleust, behauptet Paz. Aber um das zu schaffen, mußten sie mit ihnen und wie sie leben und nicht nur einige Tage, Wochen oder Monate, sondern Jahre. Der richtige Ausdruck wäre hier also nicht, “sich eingeschleust haben”, sondern integriert sein. So und nur so ist es möglich, das Vertrauen dieser ausgestoßenen und seit jeher gedemütigten Bevölkerung zu gewinnen.
Der Friede in Mexiko ist gefährdet. Es liegt in den Händen der Regierung, das Land an die Indígenas von Chiapas zu übergeben und dafür die Landbesitzenden im öffentlichen Interesse zu enteignen. Es liegt außerdem in ihren Händen, schnell Gerechtigkeit zu schaffen und die Menschenrechte dieser MexikanerInnen zu respektieren. Ihre wichtigste Aufgabe aber ist, klare und saubere Wahlen zu garantieren, die von unabhängigen BürgerInnen beaufsichtigt werden. Das Vertrauen der Indígenas kann sicherlich nicht gewonnen werden, indem Salinas überraschenderweise Tuxtla Gutierrez besucht und dabei wie ein Präsident, mit dunklem Anzug und Krawatte, gekleidet ist, wenn er an seinen Sitzungen sonst im Hemd teilnimmt. Zur Krönung des Aufzuges fehlte nur noch die Präsidentenschärpe. Es wird keinen Fortschritt geben, wenn er in die Schweiz fliegt, um sich mit den großen Bankiers zu treffen, während die Gemeinden in Chiapas vom Militär umzingelt sind. Es ist Zeit, daß Salinas Bereitschaft zum Handeln erkennen läßt, nicht repressiv, sondern politisch. Es sind keine Devisen mehr notwendig in Mexiko. Was die Regierung vielmehr braucht, ist Vernunft, Besonnenheit, Sensibilität, Liebe zu den Marginalisierten und Respekt für die Würde der freien Männer und Frauen. Die regierungsnahen Intellektuellen werden noch mehr unter dem Taten der Marginalisierten und der Begeisterung der unabhängigen Intellektuellen leiden müssen. Ihre gescheiten Analysen stoßen zusammen mit der elementaren Rationalität derjenigen, die seit Jahrhunderten unter der Unterdrückung leiden und nun Basta gesagt haben. Gewalt ist manchmal die beste Medizin, um soziale Ungerechtigkeiten zu kurieren. Dies zeigten uns Hidalgo, Morelos und Zapata und andere unvergeßliche MexikanerInnen. Und außerdem zeigten sie, wie irgendein Intellektueller von kleinerem Format gesagt hat, daß die Gewalt gewöhnlich gegen die zurückschlägt, die sie anwenden, um das Volk zu befreien. Die Zeitgenossen beklagten den Tod dieser Helden. Millionen von MexikanerInnen segnen heute die Entscheidung, daß sie ihr Leben opferten, damit wir heute würdevoller leben können.

Mexiko: 1992 – 1993 – 1994

Das Jahr 1992 wurde zum vorläufigen Höhepunkt der Bemühungen des mexikanischen Staates, in den erlauchten Kreis des Nordens aufgenommen zu werden. Carlos Salinas de Gortari repräsentierte einen Staat, der über umfangreiche Privatisierungen ein neoliberales Wirtschaftsmodell praktizierte, den man für ordnungsgemäße Schuldenrückzahlung mit einem Teilerlaß belohnte und dem der Wahlbetrug zu seiner Amtsübernahme vergeben wurde.
Die Internationalismusbewegung beschäftigte sich mit dem Quinto Centenario, da bot es sich für die internationale Buchmesse in Frankfurt an, mit der Wahl Mexikos als Schwerpunktland einerseits auf den fahrenden Zug des öffentlichen Interesses aufzuspringen, andererseits mit dieser Wahl den Versuch zu unternehmen, ein Land vorzustellen, das – scheinbar – gerade nicht mehr in Abhängigkeit gehalten und ausgebeutet wurde. Mexiko selbst wiederum benutzte die Schau, um sich selbst als an der “Schwelle” zum Norden stehend darzustellen und begegnete den letzten verbliebenen KritikerInnen mexikanischer “Demokratie” mit einem Gesetz zur Errichtung einer nationalen Menschenrechtskommission.

1993: NAFTA über alles

1993 setzte sich dieser Trend einerseits fort und fand mit dem vorherrschenden Thema NAFTA einen neuen Focus. Die Strategie der mexikanischen Regierung konzentrierte sich ganz auf die Ratifizierung dieses Abkommens, die US-Administration ebenfalls, wohl wissend, daß unter Inkaufnahme von Arbeitsplatzverlusten unter dem Strich durch diese Freihandelszone die Vorherrschaft des US-Kapitals langfristig gesichert würde.
Um so größer war der Schock Anfang 1994. Der Aufstand der Indígenas in Chiapas sorgte für Aufregung. Und zwar um so mehr, je stärker der Einzelne an die “erfolgreiche” (Wirtschafts-)Politik von Salinas geglaubt hatte. Nur wenige waren nicht überrascht, daß der Aufstand ausbrach, sondern daß er nicht schon früher ausbrochen war (Carlos Fuentes). Rücken dementsprechend in diesem Jahr die ungerechten und undemokratischen Verhältnisse, die Armut und Abhängigkeit ein wenig mehr ins Blickfeld des Interesses?
Zwei umfangreiche Länderkunden aus den Jahren 1992 bzw. 1993 sollen vor dem oben beschriebenen Hintergrund beleuchtet werden. Passend zur Buchmesse haben Biesemeister und Zimmermann einen umfangreichen Sammelband mit dem Titel “Mexiko heute” herausgegeben. In über 40 Einzelbeiträgen werden Politik, Wirtschaft und Kultur des Landes analysiert. Daneben widmet sich ein gesondertes Kapitel dem deutsch-mexikanischen Verhältnis, und in einer Bibliographie ist die mexikanische Literatur in deutscher Übersetzung zusammengestellt. Es kann insgesamt aufgrund der Themenfülle und der Zusammenführung vieler Mexiko-SpezialistInnen als anspruchsvolles Informationsbuch und Nachschlagewerk gelten.
Aus einem Mexiko-Seminar des Instituts für wissenschaftliche Zusammenarbeit in Tübingen gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung erwuchs ein weiterer Sammelband “Mexiko – die institutionalisierte Revolution?”, 1993 herausgegeben von Sevilla und Azuela. Hier werden in 15 Einzelbeiträgen ebenfalls die Bereiche Politik, Kultur und Wirtschaft abgehandelt. Auffällig ist, daß beide Aufsatzsammlungen, im Unterschied zu klassischen geographischen oder sozialwissenschaftlichen Länderkunden letzten Jahrzehnte, ihr Schwergewicht auf die Kultur legen. Letztere besticht zudem durch eine Konzentration auf politisch aktuelle Problembereiche und Fragestellungen.
In “Mexiko heute” beschreibt Lauth die Situation von Parteien, Wahlen und Demokratie. Er konzentriert sich bei der Kritik an der mexikanischen Demokratie hauptsächlich auf den Wahlbetrug, kommt allerdings zu dem Schluß, daß die 1988er Wahlen auch bei korrekter Stimmenauszählung wohl nicht von der Opposition gewonnen worden wären. Gleichsam sieht er eine nach wie vor große “tatsächliche Akzeptanz der PRI” im Kontext “einer sich immer stärker pluralistisch konstituierenden Gesellschaft”, die ihren Ausdruck findet “in der wachsenden Anerkennung der Opposition bis hin zum Eingeständnis von Niederlagen”. Mit keinem Wort erwähnt er dagegen die subtile und effiziente Absicherung der Vormachtstellung der PRI im mexikanischen Staat. Ganz anders bei Nohlen im anderen Sammelband, der sich speziell mit der mexikanischen Wahlreform auseinandersetzt. Er kritisiert den “sanften Autoritarismus” der “Sechs-Jahre-Monarchie”, die fehlende Gewaltenteilung und kommt zu dem Schluß: “Der ‘Mehr-Partizipations’-Rhetorik steht eine entschiedene Machterhaltung in der Wahlgesetzgebung gegenüber. Madlener erörtert in letzterem Band zusätzlich die “Stellung und Aufgaben der Nationalen Menschenrechtskommission Mexikos”. Diese seit 1992 gesetzlich verankerte Einrichtung sollte primär bereits begangene Menschenrechtsverletzungen untersuchen. Von Anfang an gab es Zweifel, ob sie die Unabhängigkeit besitzen würde, um einen effektiven Menschenrechtsschutz auch präventiv gewährleisten zu können. So konnte sie – wie erwartet – die umfangreichen Menschenrechtsverletzungen Anfang dieses Jahres nicht verhindern, allerdings zusammen mit den Medien und einer durch NAFTA und die diesjährig anstehenden Wahlen sensibilisierten Öffentlichkeit immerhin zur Aufklärung bzw. Anprangerung des Regimes beitragen.

PRONASOL als soziales Feigenblatt?

Bei der Analyse der ökonomischen Situation fällt im Sammelband “Mexiko heute” auf, daß zwar eine detaillierte Behandlung von Landwirtschaft, Erdölwirtschaft, Verschuldung, Umweltproblematik und Tourismus erfolgt, durch diese Aufteilung in Einzelaufsätze jedoch kein Gesamteindruck bzw. keine konsequente Bewertung der Wirtschaftspolitik Salinas entsteht. So wird das “Solidaritätsprogramm” (PRONASOL) als Kontrapunkt neoliberaler Wirtschaftspolitik hingestellt und von Kürzinger das Fazit gezogen: “Ungeachtet der Unwägbarkeiten und Probleme kann der Zukunft mit gedämpftem Optimismus entgegengesehen werden”. Gleichwohl kommt ein anderer Autor (Sangmeister) zu dem Schluß: Es steht zu befürchten, “daß die sozialen (Folge-)Kosten der Auslandsverschuldung, die noch über längere Zeit zu tragen sind, wie schon bisher überwiegend den ärmeren Bevölkerungsschichten aufgebürdet werden, sofern keine verteilungspolitische Kurskorrektur der mexikanischen Wirtschaftspolitik erfolgt”. An dieser Stelle böte sich die kritische Analyse des “Solidaritätsprogramms” an – sie erfolgt jedoch nicht. Dabei wäre in diesem Zusammenhang gerade gut die Einbindung dieses Programms in die Strategie neoliberaler Flexibilisierung und den staatlichen Rückzug aus der Verantwortung für die gesellschaftspolitische Umverteilung herauszustellen gewesen.
In dem Buch “Mexiko – die institutionalisierte Revolution?” konzentriert sich Kielmann auf die Analyse des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens. Er beschreibt darin das Konzept, die Chronologie der Verhandlungen und gibt im Anhang eine kurze Beschreibung der Hauptbestandteile. Kein Wort hingegen taucht auf über die Akteure, weder scheint es handelnde Subjekte mit einem bestimmten Interesse für dieses Abkommen zu geben, noch irgendwelche Personen, die sich gegen die Ratifizierung wandten.
Zur Situation der “Indianer in Mexiko” schreibt Masferrer Kan in “Mexiko heute” einiges über die Fragen, wer denn eigentlich als “Indianer” zu bezeichnen ist, wo sie leben und über ihre Religionen. Er endet in dem Kapitel “Der mexikanische Staat und die Indios” mit der Erwähnung der Verfassungsänderung, wodurch der Staat jetzt als multiethnisch ausgerichtet definiert wird. Jetzt wo es eigentlich spannend wäre weiterzufragen, ob sich dadurch eventuell etwas positiv für die indianische Bevölkerung ändern wird, endet der Artikel. Ausführlicher beschäftigt sich Köhler mit dem komplizierten Verhältnis von Assimilation und Marginalisierung der Indianer Mexikos in dem anderen Sammelband. Er kommt zu dem Fazit, daß es nach wie vor kaum Aufstiegschancen für Indígenas gibt und ihnen nach wie vor nur die Erledigung der Drecksarbeit bleibt. In einem weiteren Beitrag beschreibt Guidi die “Auswirkungen des mexikanischen ‘Nationalprojektes’ auf eine mixtekische Gemeinschaft in Oaxaca”. Dabei bilanziert sie anhand einer ausgezeichneten Fallstudie treffend, daß “das Streben nach Fortschritt in Wirklichkeit nur Rückschritt bedeutet hat”.
Die Auseinandersetzung mit den aufgeführten Aufsätzen führt zu dem Ergebnis, daß, bei aller Heterogenität der AutorInnen der Sammelbände, letztlich beide zu einem gewissen Teil typisch für das eingangs beschriebene Zeitgefühl der Jahre 1992 bzw. 1993 sind. Dabei ist das erstere (Mexiko heute) ein wenig mehr der Ideologie des “Schwellenlandes” aufgesessen und das zweite in einigen Beiträgen sowohl aktueller als auch treffender.

Biesemeister/Zimmermann (Hrsg.) Mexiko heute: Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt/M. Vervuert, 1992. ISBN 3-89354-543-3. 88,-DM
Sevilla/Azuela (Hrsg.) Mexiko – die institutionalisierte Revolution? Unkel/Rhein Horlemann, 1993 ISBN 3-927905-82-8 38,-DM

Eine Blume auf dem Platz des schönen Todes

“Er warf noch einen Blick in den Spiegel, in sein hageres, fast blutleeres Gesicht. Dann brach er auf, ohne Eile. War nicht der Nebel tiefer und dichter? […] Schließlich bog er ab und kam auf den Platz des schönen Todes. Geduldig wartete er, bis die Fußgänger sich zerstreut hatten und das Mysterium wieder auftrat. Er wußte genau, daß es eine überwältigende Stärke erlangen würde. Und so kam es auch.” An diesem Abend noch gleitet José María de Alesio hinüber in das Reich des Todes. In der Hand “eine üppige, schöne Blume, in der später jemand eine Amazonasblume” erkennt.
Edgardo Rivera Martínez erzählt in “Eine Blume auf dem Platz des schönen Todes” eine Geschichte vom Sterben. Melancholisch, poetisch, jedoch nicht traurig.
“Eine Blume auf dem Platz des schönen Todes”, so heißt auch die jetzt im Verlag edition día erschienene Anthologie peruanischer ErzählerInnen. Sie wurde von Luis Fayad und Kurt Scharf für das Berliner Haus der Kulturen der Welt herausgegeben. Siebzehn AutorInnen haben ihre in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren entstandenen Geschichten hier veröffentlicht.
Die LeserInnen werden in Lima umhergeführt: von den Oberschichtsvierteln zu den Mittelstandsdiscos, von einem Café im Zentrum in eine Penthousewohnung, in die Vorstädte. Von der Grenze zu Ecuador nach Ayacucho, Arequipa und schließlich nach Europa. So unterschiedlich wie diese Orte, so vielseitig sind auch die Erzählungen selbst.
In “Ein harter Knochen” von Cronwell Jara Jiménez geht es um die Ehre, um Rivalität zwischen Männern und um eine Frau. “Celodonio, du weinst wie ein Weib. Und du stirbst aus Todesangst. Du verdienst, in Weiberröcken zu sterben.” Schlimmer kann eine Beleidigung nicht sein. Schon blitzt der Dolch. Der Junge, der diese Vorgänge erzählt, tut dies als scheinbar Unbeteiligter – selbst wenn er von seinen Tränen spricht. Jara Jiménez beschreibt die Welt der Indígenas ohne Schwarzweißmalerei und ohne Pathos.
Ehre und Rache stehen im Mittelpunkt der beiden Erzählungen “Die Kleider einer Dame” von Alonso Cueto und “Hinter der Calle Toledo” von Teresa Ruiz Rosas. Hier sind es jedoch die Frauen, die die Männer strafen – berechnend und ruhig. Das Aufbegehren gegen die Willkür und Überheblichkeit des anderen Geschlechts findet dabei seinen Ausdruck in Lima ebenso wie im kleinstädtischen Arequipa. Beide Male wählt die Frau die radikale Lösung, die in ihren Augen die einzige ist.
Auch in “Arachne” von José Alberto Bravo de Rueda ist es eine Frau, die sich von ihrem Geliebten verraten fühlt und sich an ihm rächt. Wie in “Hinter der Calle Toledo” spielt bei der Disharmonie der Partner auch der Konflikt zwischen städtischem und ländlichem Lebens eine Rolle.
Durch ihre expressive Sprache zeichnen sich die beiden sehr kurzen Erzählungen von Carmen Ollé und Miguel Barreda Delgado aus. Hier wird deutlich, wie sich Zusammenhänge in der Großstadt auflösen. In “Lince und der letzte Sommer” reiht die Autorin Gedankenfetzen aneinander, setzt mit fast lyrischen Ausführungen an, um sich dann selbst ironisch zu unterbrechen: “Leider haben mich meine Freunde samt meiner Schwermut satt”.
“Ein Telefon ist für mich gefährlicher als ein Maschinengewehr; es tötet leise” – Barreda Delgados Erzählung “Alle Welt liebt dich, wenn du tot bist” drückt die Einsamkeit in der anonymen Großstadt aus, die hier schließlich in den Tod führt. Die Überlagerung von Erinnerung und Gegenwart prägt Julio Ramón Ribeyros Geschichte “Die Jakarandabäume”. Es gelingt ihm, der Stadt Ayacucho einen mystischen, ehrwürdigen, aber auch kleinbürgerlichen Charakter zu verleihen, obwohl die Stadt nur als Bühne für die Erinnerungswelt erscheint.
Träume und Phantasien lassen in “Der schwarze Pianist” von Carlos Calderón Fajardo reale und irreale Welten ineinanderfließen. “Es war an einem Oktobertag im Jahre 1976, ich war ein einsamer Südamerikaner, der in einer Welt lebte, zu der er zwar gehörte, der er aber dennoch völlig fremd war.” Schauplatz ist Europa, Belgien. Ein Student erzählt von den merkwürdigen Jobs, mit denen er sich über Wasser hält. Die zufällige Begegnung mit einem schwarzen Mitreisenden und ein Plakat beflügeln seine Vorstellung von einer geheimen Seelenverwandtschaft der Fremden. Den Herausgebern ist es gelungen, viele Facetten der aktuellen peruanischen Literatur zusammenzustellen und dabei auch AutorInnen zu berücksichtigen, die in Deutschland unbekannt sind. Ein besonderes Lob verdient auch das Vorwort, das, ohne schulmeisterlich zu sein, einen kurzen Überblick über die peruanische Literatur gibt. Natürlich bleibt dieser Überblick sehr oberflächlich, unterliegt dabei aber nicht der Gefahr, einfach nur flach zu wirken. Die Erzählungen sind jede für sich ein kleines Lesevergnügen (obwohl es natürlich “Lieblingsgeschichten” gibt), alle zusammen sind besonders für diejenigen, die nicht mit der peruanischen Literatur vertraut sind, ein guter Einstieg.

“Eine Blume auf dem Platz des schönen Todes. Erzählungen aus dem peruanischen Alltag”; hrsg. v. Luis Fayad und Kurt Scharf im Auftrag des Hauses der Kulturen der Welt, edition diá 1994, 191 Seiten; 34 Mark

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