DAS PATRIARCHAT HACKEN

Erstes analoges Treffen Feministische Kollektive im Austausch über digitale Protestformen (Foto: MediaRe)

Digitale Protestformen sind in Uruguay seit 2015 immer sichtbarer geworden. Damals waren es zuerst #NiUnaMenos aus Argentinien und digitale Aktionen zu lokalen und aktuellen Anlässen, die feministischen Protest ins Netz brachten. Zuletzt haben die Pandemie und der monatelange Lockdown gezeigt, wie wichtig digitale Plattformen geworden sind. Aus diesem Grund haben feministische Kollektive wie die Gruppe Entramada Feminista in Uruguay das erste cyberfeministische Treffen des Landes einberufen. Es fand Anfang November im Departament Durazno statt und wurde mit Geldern der feministischen Stiftung Fondo de Mujeres del Sur und dem Fondo Indela für digitale Rechte gefördert.

Außer den Organisator*innen aus den Kollektiven Datysoc, MediaRed, dem Encuentro de Feministas Diversas (EFD) und Durazno nahmen Dutzende Mitglieder feministischer Gruppen teil. Viele der Teilnehmer*innen kannten sich noch nicht oder standen bisher nur über Videokonferenzen oder Chatgruppen in Kontakt. Der Zusammenhalt, der den digitalen Kontakt bisher geprägt hatte, setzte sich auch an den zwei Tagen des Treffens fort. Bereits am Samstagmorgen kamen die Teilnehmer*innen zusammen, mit Enthusiasmus und der Freude, sich in einem gemeinsamen Raum in die Augen blicken zu können.

Der Cyberfeminismus stützt sich im Wesentlichen auf zwei Aspekte: Einerseits betont er die Notwendigkeit, zu verstehen, wie digitale Plattformen funktionieren, wer das Internet aufbaut und wie Algorithmen definiert werden. Das alles sind Aufgaben, von denen Frauen häufig ausgeschlossen sind. Andererseits geht es dem Cyberfeminismus darum, digitale Räume praktisch zu nutzen, um Kommunikationsstrategien und Aktionen gegen digitale Gewalt gegen Frauen und antifeministische Diskurse im Netz zu entwickeln. So erklärte es María Goñi Mazzitelli, Mitglied von Datysoc, gegenüber la diaria. Es gehe darum, Frauen zu empowern, damit sie die Angst, diese Räume für sich zu besetzen, verlieren.

„Heutzutage ist ein Feminismus ohne virtuellen Aktivismus unvorstellbar“

Goñi Mazzitelli meint, dafür „braucht es nicht notwendigerweise ein elaboriertes Wissen über das Netz“, aber „jede, die Plattformen benutzt, kann mit bestimmten Aktionen dazu beitragen“. Dazu zählen beispielsweise „Aktionen zum Selbstschutz und zum kollektiven Schutz und Reflexionen darüber, wie wir mit anderen kommunizieren und welche Narrative wir erschaffen wollen“. In gewissem Sinne seien alle feministischen Aktivist*innen auch Cyberfeminist*innen. Denn „heutzutage ist ein Feminismus ohne virtuellen Aktivismus unvorstellbar“, so Mazzitelli.

Um diese Themen ging es auch im ersten Workshop des Treffens. Die Teilnehmer*innen tauschten sich über individuelle und kollektive Nutzungsmöglichkeiten der sozialen Netzwerke aus, teilten Erfahrungen digitaler Gewalt und problematisierten den ungleichen Zugang zum Internet für unterschiedliche Geschlechter. Auch das Thema digitale Rechte wurde besprochen.

In diesem Zusammenhang stellten die Organisator*innen von Datysoc eine Sammlung von Prinzipien für den Aufbau eines „feministischen Internets“ vor: ein Internet ohne Gewalt und Diskriminierung, in dem Frauen sich ausdrücken können, ohne sich von anderen Personen „ausgespäht zu fühlen“. Zu ihren Forderungen gehören ein gerechterer Zugang zum Internet, die Stärkung der Meinungs- und sexueller Freiheit in digitalen Räumen, die Möglichkeit Bewegungen und Mitbestimmung aufzubauen und das Recht, über die eigene digitale Identität zu bestimmen – sei es die tatsächliche, eine anonyme oder ein Pseudonym.

Viele der teilnehmenden Kollektive sind zwar in sozialen Netzwerken präsent, verfolgen aber bisher keine konkreten Strategien. Diana von Mujeres en Libertad aus San José etwa erzählt, wann ihr Kollektiv in den sozialen Netzwerken wie reagiert. „Wenn etwas zu viel Lärm macht, sprechen wir Klartext“, versichert sie. Eines sei jedoch klar: Die Gruppe antwortet nicht auf gewalttätige Kommentare, denn „die Menge der Leute, die sich auf diese Weise ausdrücken, ist belastend.“

Für Colectiva Durazno hat der Lockdown in Zeiten der Pandemie die Notwendigkeit eines Wandels sichtbar gemacht, meint Silvana Cunha, eine der Aktivist*innen des Kollektivs. Deshalb habe die Gruppe ihre Aktivitäten in sozialen Medien gestärkt und nach Werkzeugen gesucht, „sicher“ in diesen Räumen unterwegs zu sein. Ihre Netzwerke seien als „konstruktiver und informativer Raum“ gedacht, damit „andere Personen die Veröffentlichungen lesen und interagieren wollen“. Wenn es aber Gewalt gegen Frauen und Queers gäbe, würden sie nicht zögern, diese auch im Digitalen anzuprangern.

Die feministische Aktivistin Camila Díaz erzählt, dass sie sehr aktiv in persönlichen Netzwerken ist und Fotos und Informationen über Feminismen teilt, die andere Personen oder Kollektive erstellen. Díaz meint, es sei wichtig, dass feministische Diskurse im Netz präsent seien, um mehr Menschen zu erreichen. Viele junge Feminist*innen würden die Netzwerke nutzen, um ihre Meinung auszudrücken, Gewalt anzuprangern und an Bewegungen teilzunehmen, auch wenn sie nicht in Kollektiven organisiert seien.

Digitale Gewalt muss ebenso anerkannt werden wie physische Gewalt

Das Kollektiv EFD ist in sozialen Netzwerken entstanden: Zuerst auf Twitter und später auf Telegram. Von Beginn an sei es darum gegangen, mit digitalem Aktivismus Präsenz zu zeigen, erzählen Gabriela Mathieu und Natalia Vera. In diesem Prozess hätten die Frauen sich auch die entsprechenden technischen Mittel angeeignet. „Heute haben wir eine eigene Cloud über Nextcloud und unterstützen andere sichere Vorgehensweisen für den virtuellen Raum“, meint Mathieu. „Was wir anderen Kollektiven vielleicht mitgeben müssen, ist die Nutzung anderer Messengerdienste und sicherer und freier Technologien.“ Der virtuelle Raum sei zwar wichtig und bringe viele Werkzeuge für den Aktivismus mit sich. „In einem feministischen Raum aktiv zu sein, bedeutet jedoch auch, körperlich in diesem Umfeld präsent zu sein.“ Diese Meinung teilen auch andere Aktivist*innen. Diana von Mujeres en Libertad meint etwa: „Virtuelle Präsenz zu zeigen ist wichtig. Aber auf den Straßen sichtbar zu sein ist wichtiger. Denn der Wandel geschieht nicht in den Netzwerken.“

Durch alle Workshops zieht sich das Thema der digitalen sexualisierten Gewalt. „Die geschlechtsspezifische Gewalt in digitalen Umgebungen gegen Frauen und Queers beruht auf patriarchalen Mechanismen“, definiert Mariana Fossatti von Datysoc das Problem. Diese Gewalt drücke sich zum Beispiel in Kommentaren in Privatnachrichten oder öffentlich in sozialen Netzwerken aus, häufig auch in der Verbreitung von Bildern und Videos ohne vorherige Zustimmung des Opfers. „Dazu zählt jede Handlung mit dem Ziel, eine unterdrückerische, unbehagliche und unaushaltbare Atmosphäre für Frauen und Queers zu erschaffen und uns aus diesen Räumen zu vertreiben“, erklärt Fossatti. Diese Gewalt führe zu psychologischem und emotionalem Schaden und ziehe Verpflichtungen in Mitleidenschaft. So könnte digitale Gewalt Auswirkungen auf die Arbeitssituation der Opfer haben und zu wirtschaftlichen Verlusten führen. Ebenso könnte sie zu Formen physischer, auch sexueller Gewalt führen. „Deswegen sagen wir, dass digitale Gewalt real ist“, denn ihr Effekt „beschränkt sich nicht auf den digitalen Rahmen“, meint Fossatti. Sie erklärt, dass es daher nicht ausreiche, Konten zu schließen und Geräte abzuschalten. Digitale Gewalt müsse genauso anerkannt werden wie physische Gewalt, so die Aktivistin von Datysoc.

Frauen befähigen, digitale Räume für sich zu besetzen

In einem der Workshops wurden unterschiedliche Strategien zur Vorbeugung digitaler Aggressionen vorgestellt. Schon das Nutzen sicherer Passwörter und Browser könne verhindern, dass Daten und Inhalte für alle zugänglich sind. Außerdem könnte man auf intimen Bildern das Gesicht unkenntlich machen und anonyme Profile unter Pseudonymen verwenden. In einem sind sich die Feminist*innen einig: Das wichtigste sei es, nahestehende Vertrauenspersonen oder feministische Kollektive zu kontaktieren und ein Verzeichnis gewalttätiger Kommentare und Fotos mithilfe von Screenshots anzulegen.

Der Workshoptag ging mit einem Seminar zu antifeministischen Diskursen im Internet weiter. Dazu gehören etwa frauenfeindliche, rassistische, transfeindliche, homofeindliche Einstellungen oder auch das sogenannte Bodyshaming. Die Teilnehmer*innen diskutierten über Meinungsfreiheit und darüber, welche Äußerungen unter dieses Recht fallen und welche nicht. Ebenso ging es darum, sichere Strategien zu entwickeln, um eine starke Antwort entgegenzusetzen, ohne sich einerseits selbst in Gefahr zu begeben und andererseits der Nachricht noch mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Antifeministische Diskurse können unterschiedliche Effekte zur Folge haben. Da wäre zum einen die individuelle oder kollektive Selbstzensur, etwa „Kommentare aus Angst vor den Antworten viel stärker zu analysieren“ oder sogar „das Löschen eigener Konten“, erklärte Fossatti. Außerdem habe dieses Verhalten einen „kulturellen Zweck“: Antifeministische Diskurse haben zum Ziel, „zu disziplinieren“ und versuchen „zur Norm zurückzukehren“, indem feministische und queere Kollektive aus den virtuellen Räumen verbannt werden.

Vor dem Ende des Treffens verteilten sich die Teilnehmer*innen auf unterschiedliche Gruppen, um aus Bildern eine Collage über ihre Erfahrungen, Gefühle und das Gelernte zu erstellen. Die Aufgabe verstand sich als „Feministisches Hacking antifeministischer Diskurse“. „Die Entramada soll hier nicht enden“, machte Federica Turbán, Mitglied von MediaRed, in der abschließenden Runde klar. So gibt es die Möglichkeit, die Strategien in weiteren Treffen an unterschiedlichen Orten des Landes weiterzuführen. Für das Jahr 2022 ist schon ein weiteres Treffen geplant.: „Raus aus dem Zoom und aus Montevideo!“, rief eine compañera spontan aus. Bis dahin bleibt die Entramada Feminista über die digitalen Medien verbunden

VOM KAMPF UM FREIE DIGITALE TERRITORIEN

Netzaktivistin Lilian Chamorro aus Kolumbien

„Couperin, Vivaldi, Bach – nichts gegen Barrockmusik, aber ein ganzes Semester lang?“, beschwert sich Layla Xavier über den Stundenplan am Konservatorium von São Paulo. Die schlaksige Afrobrasilianerin nimmt es mit Humor, dass es einigen der Lehrenden schwerfällt, die tradierte Musikgeschichte neu aufzurollen oder zumindest mehr Vielfalt zuzulassen. „Sollen sie ruhig weiter glauben, dass Noten und Tonleitern nur in Europa erfunden wurden. Ich weiß, dass es anders war“, sagt sie selbstbewusst.

Xaviers kritischer Geist ist nicht nur der Musik verpflichtet. Aufgewachsen in dem selbst-verwalteten Kulturzentrum Casa Tainâ im brasilianischen Campinas, lernte sie früh scheinbare Gegensätze wie Steeldrums, urbane Gärten und Computer zusammen zu denken. Für sie sind Trommeln ganz einfach „frühe Formen freier Software“, Tauschen und Teilen – Grundlage von Kultur und Medien. Und anstatt davon zu träumen, es in die viralen Charts vom Musikstreaming-Dienst Spotify zu schaffen, findet es Xavier viel spannender, stundenlang für „freie digitale Territorien“ zu streiten.

Solche Töne klingen in Deutschland fremd, einem Land, in dem der allgemeine Horizont vernetzter Kommunikation zu oft die Agenda der Bundesregierung bildet. Und die zielt bekanntlich darauf ab, den privatwirtschaftlichen Internetausbau staatlich zu fördern, um so zumindest in Sachen Digitalisierung noch „Weltmeister“ zu werden. Dass sich diese Art nationalen Wettbewerbs- und Wachstumsdenken eher an Märkten statt an der Lebensrealität der Bevölkerung orientiert, ist eine globale Erfahrung. „Um das zu begreifen, musst du nicht nach Amazonien fahren“, sagt Maria Jones, eine junge Studentin von der Kentucky University. „Auch bei uns in den Bergen der Appalachen gibt es kleine Orte, die kaum mit der Außenwelt kommunizieren können. Und das in einem so reichen Land.“ Umso spannender finde es Jones deshalb, lateinamerikanischen Aktivist*innen wie Xavier zuzuhören und partizipative Technologie-Parti­turen aus dem globalen Süden kennenzulernen.
Gelegenheit für solche Begegnungen gab es seit Mai dieses Jahres in Deutschland reichlich: Ob das Global Innovation Gathering (GIG), die altbekannte Medienkonferenz Re:publica, das Battle-Mesh-Treffen von Community Netzwerk-Aktivist*innen oder das Globale Medienforum der Deutschen Welle (DW) – zwischen allerlei Blockchain Bling-Bling waren jeweils auch spannende Projekte aus Lateinamerika vertreten.

Auf dem Maker Space der Re:publica treffe ich Anfang Mai Lilian Chamorro aus Kolumbien. Um sie versammelt, in einem Kreis aus Sitzkissen, hocken Menschen um die 30, die der jungen Elektroingenieurin gespannt zuhören. „Kolumbien ist ein Land mit vielen dünn besiedelten Gebieten, die lange von der Guerilla oder Paramilitärs kontrolliert wurden“, beschreibt sie die Ausgangslage der Region Cauca, in der sie mit ländlichen Gemeinden arbeitet. „Die kommunikative Basisversorgung ist dementsprechend schwach, einige isolierte Community Radios, mehr nicht. Die Menschen wollen jedoch auch digitale Netze nutzen und mit einem Handy telefonieren können.“

Für kommerzielle Anbieter ist die Gegend aber wenig lukrativ, weshalb Colnodo, die NGO, für die Chamorro arbeitet, dort selbst verwaltete Pilotprojekte initiieren will. „Die Regierung hat so einen Netzaufbau von unten bisher gar nicht auf dem Schirm, für viele Funktionäre ist es nicht vorstellbar, wie Campesinos oder Indigenas ein eigenes Mobilfunk- oder WiFi-Netz betreiben sollen“, sagt Chamorro, als sie nach den größten Hindernissen in ihrer Arbeit gefragt wird. Denn technisch möglich seien solche Projekte ohne weiteres. Es gibt Erfahrungen und einen regen Austausch mit nicht-kommerziellen Betreiber*innen aus Mexiko und Brasilien. „Wir wollen auch in Kolumbien dem Staat zeigen, dass Community-Medien sich nicht nur aufs Radiomachen beschränken müssen“, findet Chamorro. Doch dazu müssten die Verantwortlichen sich einen Ruck geben und endlich die legalen Voraussetzungen schaffen.

Internationale Unterstützung kann dafür ein Schlüssel sein. Die Internationale Fernmeldeunion (ITU) und die interamerikanische Telekommunikations-Kommission (CITEL) empfehlen seit langem mehr Vielfalt in den Drahtlosnetzen. Zu Aufmerksamkeit auf der Re:publica verhalf dem Thema auch das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ). Auf dem „tech for good“-Podium stellten neben Chamorro noch zwei weitere Aktivist*innen Ideen vor, wie sich ländliche Gemeinden in Südafrika und Mexiko selbst vernetzen. „Für uns sind diese technologischen Alternativen spannend“, sagt Simone Konrad, die das BMZ zu Konnektivitäts-Strategien berät. „Der Markt allein ist eben keine Lösung. Wir sollten deshalb schauen, welche Beiträge dabei auch die deutsche Entwicklungszusammenarbeit leisten kann.“

Dieser Zuspruch sei essenziell, findet auch Carlos Rey Moreno, der sich seit Jahren als Medienentwickler im globalen Süden versucht. Er ist schockiert, wie viel auf der Re:publica von virtueller Realität und Robotern und wie wenig vom Digital Divide die Rede ist. „Es geht hier vor allem um Konsum und Lebenserleichterungen für das westliche Leben. Und das wird global zu mehr Ungleichheit führen, wenn es keine Perspektive gibt, auch die andere Hälfte der Welt zu vernetzen.“

„Doch ein Internetanschluss allein, sagt noch gar nichts aus“, gibt die brasilianische Technologie-Forscherin Debora Leal zu bedenken, die Morenos Kritik mit angehört hat. „Welche Mediennutzung lebt die Online-Community denn potenziellen neuen Nutzer*innen in indigenen Gemeinden vor? Die User konsumieren vor allem Inhalte sozialer Netzwerke, tippen mit einer Hand kurze Kommentare ins Handy, das fast zu einer Art Fernbedienung geworden ist. Das Internet wird mehr und mehr ein Ein-Hand-Medium. “Selbst wenn auf der Re:publica die Verregulierung, Kontrolle und eine zunehmende Monokultur des World Wide Web problematisiert wird, bleibt das „Netz der Netze“ in den Debatten als global-digitaler Kommunikationsraum meist alternativlos. Auf internationalen Hacker*innen­treffen wie dem Battle Mesh dagegen werden jährlich intensiv Erfahrungen über lokale und regionale Drahtlos-Netzwerke ausgetauscht. Regelmäßig sind dort auch Organisationen wie die brasilianische Kooperative Coolab oder ihr argentinisches Pendant Altermundi vertreten. Mit ihren Projekten haben sie auch in Lateinamerika gezeigt, dass sich Online-Zugang kollektiv organisieren lässt und das Paradigma „ein Haushalt, ein Router“ keinem technologischer Zwang unterliegt, sondern allein kommerziellen Interessen geschuldet ist. Aber selbst hier hallt Leals Kulturkritik der Vernetzung nach: „Auch alternativ hergestellte Konnektivität kann negative Folgen für die soziale Interaktion haben. Mich interessiert, wie digitale Netzwerke uns auch menschlich besser verbinden.“

Antworten auf diese Frage konnten Mitte Juni Teilnehmende des Global Media Forums der DW auf der Veranstaltung „Alternative Netzwerk-Initiativen“ hören. Diskutiert wurden nicht nur fünf innovative Community-Netzwerke aus ländlichen, indigenen und Quilombo-Gemeinden Lateinamerikas, sondern auch die „qualitative Dimension des Vernetzt-Seins“. „Für uns war es gar nicht das Ziel, Zugang zum Internet zu schaffen“, beschreiben der Informatiker Rafael Diniz und die Soziologin Anya Orlova in einer Arbeitsgruppe den Ansatz eines Kurzwellen-Netzwerks im brasilianischen Amazonas-Bundestaat Acre, das von der staatlichen Universität São Paulo (UNESP) gefördert wird. Die Dörfer der dortigen Region Juruá sind weit verstreut, auf einem Quadratkilometer leben gerade mal 0,6 Menschen. „Die Bewohner wollten sich vor allem regional besser verständigen“, sagt Diniz, der dafür in den Häusern von sechs weit voneinander entfernten Gemeinden Sendeanlagen installierte. Seine Kollegin Orlova ermutigte die Menschen dazu, ihre eigenen Nutzungscodes zu entwickeln. „Inzwischen gibt es morgens und abends fest vereinbarte Zeiten, wann die Dörfer auf Sendung gehen“, schildert die Forscherin die technologische Aneignung. „Ausgetauscht werden Informationen, Neuigkeiten, Grüße“, und fügt lachend hinzu: „Klar, das ist wenig intim, schließlich ist nie klar, wie viele mithören.“ Neben den digitalen Audiosignalen soll in naher Zukunft auch das drahtlose Versenden von Bildern und Texten möglich werden.

Dass diese Beschallung bisher niemanden zu einem kreativeren Medienmachen inspiriert hat, verblüfft die junge Frau am Nebentisch – Layla Xavier. Das digitale Netzwerk Baobaxia, für das Xavier als Promotorin agiert, will vor allem die kulturellen Bedürfnisse traditioneller Gemeinden auf dem Land bedienen. „Dafür schaffen und teilen die Menschen ihre eigenen Inhalte, in denen sie sich auch selbst wiedererkennen“, sagt sie und liefert dafür mit einem selbst komponierten Song auch gleich ein einprägsames Beispiel. Um Inhalte zu speichern und zu teilen, setzt Baobaxia auf ein dezentrales Servernetzwerk, das alle beteiligten Gemeinden verbindet. Der Clou: Auch Dörfer, die nur einen Server, aber keinen Internetanschluss haben, können mitmachen. „Denn wie früher, wenn Saatgut getauscht wurde, können Videos, Audios oder andere Posts auch auf USB-Sticks oder externen Festplatten von einem Ort an den anderen transportiert und dort im lokalen WiFi-Netz von vielen genutzt werden“, sagt Xavier. „Aus diesen Bewegungen, online und offline, entstehen dann freie, digitale Territorien.“ Welche alternativen Partituren vernetzter Kommunikation sich letztendlich durchsetzen werden, darüber gehen die Meinungen der Tech-Komponist*innen auseinander. Einig sind sie sich jedoch in einem Punkt: „Entscheiden sollen die Gemeinden“, sagt Chamorro am Ende ihres Vortrags. „Dann bleibt unser Dorf lieber erst einmal offline“, sagt Bior Ajang aus dem Südsudan bestimmt. Aber nach seiner Rückkehr wolle er den Aufbau eines eigenen Radio anregen. „Denn dafür gibt es auf jeden Fall einen großen Bedarf. Und Technologien sollten doch im Dienste menschlichen Zusammenlebens stehen und nicht umgekehrt, oder?“

ATTACKEN IM INTERNET

Mit Luchadoras, Kämpferinnen, sind nicht nur Sie und die anderen Mitwirkenden der Plattform gemeint, sondern auch all diejenigen, deren Geschichte Sie erzählen. Wie kam es dazu?
Luchadoras sind für uns all die Frauen, die Tag für Tag für ihre Rechte kämpfen und Widerstand leisten. Damit sind nicht nur Aktivistinnen oder Menschenrechtsverteidigerinnen gemeint, sondern all die, die den Binarismus der Geschlechter sprengen und Frauen ein würdevolles Leben ermöglichen wollen. Die Idee entstand aus dem Wunsch unserer Mitstreiterin Lulú Barrera, von denjenigen Frauen zu erzählen, die in ihren jeweiligen Gemeinden unglaubliche Änderungen hervorgerufen haben, die aber in den mexikanischen Massenmedien nicht repräsentiert wurden. Die Webseite entstand mit dem Ziel, ein Archiv dieser Geschichten aufzubauen.

Wie gehen Sie dabei konkret vor?
Die Sektionen der Webseite orientieren sich an den Ideen der feministischen Bewegungen in Lateinamerika. Im Bereich „Vivas nos queremos“ („Wir wollen uns lebendig“) finden sich Beiträge zu Feminiziden. Wir möchten dabei jedoch nicht die Opferperspektive oder die des Schmerzes einnehmen, sondern die Geschichten aus dem Leben heraus erzählen und sie in Ehren halten. Mich interessiert zudem besonders das Thema Sport. Wir haben beispielsweise die Geschichte von Daniela Velasco aufgegriffen, einer Athletin und paralympischen Medaillenträgerin, um diese aus einer nicht paternalistischen Perspektive zu erzählen, die ihre Stärken und Fähigkeiten hervorhebt. Die Firma Nike hat uns schließlich zu einem Forum eingeladen, auf dem unser Video gezeigt wurde. Sie kannten die Geschichte Danielas zuvor nicht und haben daraufhin entschieden, sie bei den paralympischen Spielen in Japan 2020 zu unterstützen. Für uns ist es toll, dass unsere Arbeit einen solchen Einfluss haben kann.

In Mexiko haben große Teile der Bevölkerung noch immer keinen Zugang zu Internettechnologien. Inwiefern haben diese die feministischen Bewegungen dennoch beeinflusst?
Globale Bewegungen wie „Me too“ haben uns an den Hashtag „Mi primer acoso“ („meine erste Belästigung“. s. LN 513) in Mexiko und die darauffolgenden landesweiten Demonstrationen erinnert. Die Auswirkungen dieses Hashtags waren unglaublich, Frauen begannen auf Twitter ihre Geschichten zu teilen und ohne diesen wären viele von ihnen vielleicht nicht sicher gewesen, dass das, was der Onkel, der Cousin oder der beste Freund getan hatte Gewalt war – und nicht in Ordnung. Die Geschichten der anderen haben uns die Kraft gegeben, um über die eigenen Missbrauchserfahrungen zu sprechen. Die Analyse des Hashtags sagt Schlimmes über unsere Gesellschaft aus. Die meisten Vergehen wurden im Familien- und Bekanntenkreis begangen, und in den meisten Fällen waren die Betroffenen im Kindesalter oder Jugendliche. Dementsprechend war die Demonstration zwei Tage später die größte an der ich jemals teilgenommen habe. Hunderte von Missbrauchsfällen wurden so öffentlich gemacht. Natürlich längst nicht alle, unter anderem weil nicht alle Menschen in Mexiko Zugang zu Twitter haben. Es gibt jedoch Initiativen. Zum Beispiel hat eine Gemeinde in Oaxaca, die bisher vom Telefonnetz ausgeschlossen war, ihr eigenes Netz aufgebaut.

Der Hashtag „Mi primer acoso“ hat jedoch nicht nur gezeigt, dass das Internet sich für die Vernetzung von Frauen eignet, sondern wieder einmal auch, dass es keineswegs ein gewaltfreier Ort ist. Wie unterscheidet sich Gewalt im Netz von anderer Gewalt?
Richtig, bei „Mi primer acoso“ gab es unter jedem Tweet Beleidigungen und Drohungen. Das war für uns jedoch nichts Neues, denn Gewalt im Netz folgt den selben Mechanismen wie jede andere Gewalt. Online und offline sind als Kontinua und keineswegs als getrennte Sphären zu betrachten. Strukturelle Gewalt gegen Frauen und Körper, die nicht in die Norm passen, findet sich im Internet genau so wie in der „realen“ Welt. Im Netz wie im Alltagsleben werden wir sexualisiert, unsere Körper attackiert. Das Netz ist also nur ein Spiegel der Gesellschaft. Der größte Unterschied ist, dass sich die Aggressoren unter dem Schirm der Anonymität schützen. Für uns hat das oft zur Folge, dass wir diese Technologien meiden, die Plattformen verlassen und User blockieren. Das löst allerdings das Problem nicht. Blockierst du einen Aggressor, sprießen hundert neue aus dem Boden. Dies führt manchmal dazu, dass wir die Kontrolle über die Technologien verlieren, da es so viele Kanäle gibt, auf denen du angegriffen werden kannst. Die „Machitrolls“, wie wir sie nennen, sind gut organisiert. Und die Auswirkungen solcher Online-Attacken sind sowohl psychisch als auch physisch spürbar.

Wie können wir uns gegen solche virtuellen Angriffe schützen?
Füttere den Troll nicht. Davon lebt er. Er ernährt sich von deiner Wut, die ihn wachsen lässt. Anstatt zu antworten, sollten wir damit beginnen, die Aggression per Screenshot zu dokumentieren und uns für die Dokumentation ein System zu überlegen. Den Vorfall immer bei der Plattform melden und eine Reaktion ihrerseits fordern. Wir füttern die sozialen Netzwerke mit Informationen und sie machen Millionen mit uns, dafür müssen sie Verantwortung übernehmen. Schließlich ist es wichtig, dass wir miteinander über die Vorfälle sprechen. Sehr offensichtlich aber ebenso grundlegend ist es, sich lange und alphanumerische Passwörter zu überlegen und diese ständig zu wechseln. Kurzum: Prävention, nicht reagieren, dokumentieren, melden und teilen. So wie wir lernen, uns im Alltag zu verteidigen, lernen wir das auch im Netz. Wir werden uns immer klarer darüber, was Gewalt ist und wie wir damit umgehen können. Die selben Strategien wenden viele Organisationen, Aktivist*innen und Journalist*innen übrigens gegen Spionageangriffe seitens des Staates an!

Wie reagieren die staatlichen Autoritäten in Mexiko auf Gewalt im Netz?
Unsere staatlichen Organismen sind absolut ineffizient. Der Staat hat beispielsweise begonnen, Sexting (das Senden von Nachrichten mit erotischen Inhalten, Anm. d. Red.) unter Strafe zu stellen. Er erkennt dabei aber nicht, dass das Sexting an sich nicht das Problem ist, sondern die Gewalt, die beispielsweise durch die ohne Einwilligung erfolgte Verbreitung des Materials ausgeübt wird. Deswegen liegt es an den zivilen Organisationen dafür zu sorgen, dass jedes Mädchen und jede junge Frau – die größte Zielgruppe für Gewalt im Netz – über das nötige Wissen verfügt, sich im virtuellen Raum verteidigen zu können. Das Problem wird nicht verschwinden, aber wenn wir weiterhin über die Gewalt sprechen, uns austauschen und organisieren, Strategien teilen, werden wir immer besser wissen, wie wir auf Angriffe im Netz reagieren können.

Wie funktioniert die Kooperation zwischen feministischen Organisationen und solchen, die für digitale Rechte eintreten?
Die feministische Szene und die digitale Szene sind in Mexiko sehr gut vernetzt. Diesen Januar haben wir gemeinsam mit anderen Organisationen, die seit vielen Jahren Gewalt dokumentieren, einen Bericht über Gewalt gegen Frauen im Netz präsentiert. Vor allem in Mexiko-Stadt gibt es ein großes und dichtes Netz aus Organisationen die für digitale Rechte eintreten. Und sie kooperieren an vielen Orten eng mit der feministischen Szene, zum Beispiel in der Koalition „Internet es nuestra“ („Internet gehört uns“).

Und alle diese Organisationen lassen sich trotz der verschiedenen Schwerpunkte und Perspektiven aufeinander ein?
Den Luchadoras wird oft gesagt: „Ihr streitet euch ja nie mit irgendwem.“ Uns ist klar, dass es nicht einen einzigen Feminismus gibt. Es gibt nicht nur den, der normalerweise in den Medien repräsentiert wird. Es gibt viele Formen von Feminismus und alle sind wertvoll. Uns geht es eben darum, möglichst alle Kämpfe sichtbar zu machen. Unser aller Ziel ist es doch, diese Welt für Mädchen, Frauen und alle anderen Geschlechter lebenswerter zu machen. Zusammen sind wir stärker und unser Wirken hat größeren Einfluss. Auch bei den Luchadoras gibt es verschiedene Sichtweisen, aber unser gemeinsames Ziel ist es, sexistische Beiträge in den digitalen Medien zu reduzieren und zu sehen, wie Frauen sich letztere zu eigen machen, um ihre Geschichten zu erzählen. Wir müssen Dialoge fördern, denn Fakt ist, dass wir tagtäglich umgebracht werden. Jede von uns kann eine Feministin sein.

Und die Männer?
Können natürlich auch Feministen sein. Jedes Lebewesen, das an die Gleichheit der Rechte glaubt, kann Feminist sein. Es ist wichtig, dass die Männer uns in unserem Kampf begleiten. Eine Form, dies zu tun, ist zu schweigen, uns zuzuhören und Solidarität zu zeigen, ohne sich in den Vordergrund zu drängeln. Dies passiert in Mexiko auch in linken Kreisen ziemlich häufig. Die gesamte Geschichte wurde von Männern erzählt, nun sind sie mit Zuhören dran. Sie sollten unsere Geschichten nicht in Frage stellen, kein Mansplaining betreiben, nicht die Protagonisten unseres Kampfes sein wollen und sich auch verletzlich zeigen können. Das impliziert auch, dass sie die von ihnen selbst ausgeübte Gewalt hinterfragen. Sie müssen herausfinden, wie es in einer Gesellschaft, die sie tagtäglich zum Macho-Dasein auffordert, möglich sein kann, diese Realität zu dekonstruieren. Unsere Aufgabe ist es wiederum, sie auf diesem Weg zu begleiten. Und das kann durchaus ein liebevoller, gewaltfreier Prozess sein. Denn uns ist klar, dass dieser Weg auch für sie schwierig sein kann.

Im März kommen Sie zur Ausstellung „Wir sind vernetzt“ nach Berlin. Was erwarten Sie sich vom Austausch mit deutschen Aktivistinnen?
Wir haben viel von den feministischen Bewegungen in anderen Teilen der Welt gelernt und mich interessiert besonders, inwiefern sich die Gewalt im Netz in Deutschland von der in Mexiko unterscheidet und welche Strategien und Organisationsformen existieren. Welche Selbstverteidigungsmethoden kennen sie? Wie können wir uns die Technologien noch besser zu eigen machen? Zudem werde ich einen Workshop mit Jugendlichen durchführen. Ich möchte ihre Kontexte und ihre Perspektiven auf Widerstand kennenlernen. Denn auch wenn uns das nicht immer so bewusst ist, besonders nicht im Jugendalter: auf irgendeine Art und Weise leisten wir immer Widerstand.

 

“WIR BAUEN UNSERE EIGENE HARDWARE”


Was zeichnet den LibreRouter aus?
Ein LibreRouter kommt mit einer recht potenten Antenne, die für die Kommunikation mit anderen Routern in der Nachbarschaft gedacht ist. Der Router kommt aufs Dach und verbindet sich dann automatisch mit anderen Routern, die in der Nähe sind. Deswegen kommt er auch in einer wasserdichten Box. Der Router kommt jetzt schon fertig installiert mit der Software und bringt auch GPS mit, damit die Leute die Position ihres Geräts selber bestimmen und auf einer Karte eintragen können. Wir geben auch Dokumentation für nicht technisch sonderlich versierte Menschen dazu. Das ist das Spezielle bei diesem Projekt: Dieser Router ist gemacht für die Leute, die ihn verwenden sollen. Das sind in Argentinien oder auch in Südafrika, wo ein Teil vom Team herkommt, keine technikaffinen Personen. Zusätzlich gibt es auch ein Solarmodul für Gebiete, wo es wenig Strom oder oft Stromausfälle gibt. Dies trifft jetzt auf Argentinien eher nicht zu, aber in Südafrika ist es in den Dörfern oft ein Problem. Es kann auch in anderen Gemeinschaften spannend sein. Wir werden in letzter Zeit oft eingeladen, mit indigenen Völkern zusammen zu arbeiten, und im Amazonas-Gebiet zum Beispiel ist Solar auch Thema, weil es da einfach keinen Strom gibt. Das ganze LibreRouter-Projekt ist mittlerweile zu einem ziemlich umfangreichen Projekt geworden.

Was gab den Anstoß zu dem Projekt?
Der konkrete Anlass war eine Regulierung aus den USA, die bei Gemeinschaftsnetzwerkprojekten als Firmware Lockdown (Abriegelung des Router-Betriebssystems) bekannt wurde (siehe Kasten, Anm. d. Red.).

Was soll es Leute in Argentinien kümmern, was die Federal Communications Commission in den USA oder das EU-Parlament bestimmen?
Weil der globale Markt so funktioniert. Abhängig von den USA und Europa wird bestimmt, was für die Welt produziert wird. Wenn die gesetzlichen Bestimmungen in den beiden Regionen bestimmte Eigenschaften verlangen, heißt das, dass höchstwahrscheinlich die Mehrheit der Produkte für alle Regionen nach dem Maßstab produziert wird. Unsere Motivationen liegen aber weiter zurück. In Argentinien haben wir schon jahrelang die Router immer adaptiert, das freie Betriebssystem LibreMesh darauf installiert, selber eine wasserdichte Box und Antennen gebaut. Das funktioniert ganz gut, wenn man in einer Gegend ist, wo man schon weiß, wo es die Materialien und das Werkzeug gibt. In den letzten Jahren haben uns Leute immer wieder in andere Dörfer eingeladen, um da Workshops zu geben. Da haben wir oft selber versucht, diese Sachen einzukaufen, mit den Leuten lokal, oder ihnen vorher gesagt, was sie einkaufen sollen. Und sind darauf gekommen, dass es zum Teil super schwierig ist und dass es viel Zeit braucht, die Materialien zusammen zu bekommen. Andererseits ist es auch spannend, weil man sich dadurch mehr mit der Technologie auseinandersetzt. Wir waren der Meinung, dass diese Workshops eine schöne Erfahrung sind und die Leute dadurch die Angst verlieren und sich mehr aneignen. Und grade in Lateinamerika ist es oft gar nicht so einfach, die benötigte Technik zu bekommen. Es kommen extra Steuern drauf oder es gibt sie gar nicht und es dauert einige Jahre, bis sie irgendwann importiert wird. Außerdem wollten wir unabhängiger sein. Wir reden die ganze Zeit von unabhängigem Internet und dem Sich-Selbst-Versorgen. Und im Endeffekt ist man komplett abhängig von der Hardware, die wer anderes produziert. All diese Erfahrungen der letzten Jahre haben dazu geführt, dass wir gesagt haben, dann machen wir eben unseren eigenen Router.

Schlussendlich kommen aber die Hardwareteile selbst aus Taiwan?
Das ist definitiv so. Wir haben überlegt, es anders zu machen. Ganz anders kann man das ja nicht machen, denn die Chips selber gibt es nur aus Taiwan. Aber wir haben überlegt, den Router in Argentinien zusammenbauen zu lassen, zumindest einen Teil der Produktion in einem anderen Land zu machen. Da haben wir gemerkt, an welche Grenzen man stößt. Einfach aufgrund von allen möglichen Bestimmungen, aufgrund von Fragen, wie eben diese globalisierte Welt funktioniert. Schiffstransport aus Asien kostet einfach einen Bruchteil von dem, was es kosten würde, aus Argentinien woandershin zu schiffen. Ich bin auch Umweltschutzaktivistin und das versuche ich auch in dieses Projekt miteinzubringen. Mich interessieren geplante Verfallsdaten und was mit dem Elektroschrott passiert. Deshalb finde ich es sehr spannend, in diese Welt einzutauchen, und finde auch, dass sich da was verändern muss. Nur auf der Skala, auf der wir produzieren, habe ich bemerkt, dass nur ganz kleine Dinge möglich sind. Um ehrlich zu sein, auch wenn wir mit einem kleinen Projektpartner in der Produktion arbeiten, denke ich, dass die Bedingungen trotzdem nicht viel anders sind als anderswo. Ich hoffe es zwar, aber vermute, dass es eher nicht so ist. Was mir auch total am Herzen liegen würde: mehr in Richtung Recycling, Wiederverwendung der Router zu arbeiten. Aber dazu kenne ich momentan noch zu wenig Leute.

Was kostet ein Router?
Im Einkauf soll er etwa 100 Dollar kosten.

Wie ist das im Verhältnis zur Standardtechnik zu sehen, mal abgesehen davon, dass die in Argentinien auf dem Land nicht unbedingt so out-of-the-box einsetzbar ist?
Es ist ähnlich, beziehungsweise der LibreRouter ist günstiger.

Du hast mal die Selbstversorgung mit Essen und die Selbstversorgung mit Internet miteinander verglichen. Was sind für dich die Zusammenhänge?
Ich bin sehr aktiv in der Souveränitätsbewegung und bin darüber in diese Technologieszene reingerutscht. Da brauchen wir zum Beispiel auch immer eine Software, um alles zu organisieren. Es geht auch darum, aus einem System auszubrechen, sich Alternativen zu suchen und sich selbst zu versorgen, in Bezug auf Fragen wie, ich weiß, wo es herkommt, ich kann bestimmen, wie es produziert wird. Das ist bei Ernährung noch mehr möglich als bei der Technologie. Andererseits finde ich es immer wieder schwierig, dass es nur wenige Leute sind, die die komplette Verwaltung auf technischer Ebene für die ganze Souveränitätsbewegung machen. In Wirklichkeit ist das keine Souveränität, wenn es nur eine Person versteht und macht.

AM ANFANG WAR DER HACKATHON

Gui Iribarren ist einer der Hauptorganisatoren des Argentinischen Freien Netzwerkprojekts AlterMundi, in dem ungefähr zehn Aktive konstant mitarbeiten. Vor einem Jahr wurde dem Netzwerk die Rechtsform Verein gegeben, um Ressourcen wie Spenden zu verwalten, aber sie erlaubt auch Zusammenarbeit mit anderen Akteur*innen, zum Beispiel durch Verträge mit Universitäten oder anderen Organisationen. Damit werden Formalitäten erfüllt, die es erlauben, Verbindungen zu knüpfen, die Privatpersonen nicht offenstehen. (Fotos: AlterMundi)

GUI IRIBARREN (links) ist einer der Hauptorganisatoren des Argentinischen Freien Netzwerkprojekts AlterMundi, in dem ungefähr zehn Aktive konstant mitarbeiten. Vor einem Jahr wurde dem Netzwerk die Rechtsform Verein gegeben, um Ressourcen wie Spenden zu verwalten, aber sie erlaubt auch Zusammenarbeit mit anderen Akteur*innen, zum Beispiel durch Verträge mit Universitäten oder anderen Organisationen. Damit werden Formalitäten erfüllt, die es erlauben, Verbindungen zu knüpfen, die Privatpersonen nicht offenstehen. (Fotos: AlterMundi)

Das Projekt AlterMundi baut Gemeinschaftsnetzwerke in Argentinien auf. Wie geht ihr vor?
Vor ein paar Jahren haben wir angefangen, die Netzwerke aufzubauen. Erst in einem Dorf in der Nähe von Córdoba, dann in der Nähe von Buenos Aires. Später sind auch in anderen Nachbardörfern rund um Córdoba Communities entstanden. Danach haben wir soziale Netzwerke aufgebaut, einen Workshop in Santiago del Estero, einer anderen argentinischen Provinz, veranstaltet und dann auch in anderen Ländern – in Brasilien, in Nicaragua. Einige Menschen waren schon seit 2004/2005 dabei, wir hatten schon einmal davor ein Projekt in Buenos Aires, das viel theoretischer war. Es waren andere Zeiten, andere Menschen. Aber seitdem hatten wir ein bisschen Erfahrung und vor allem Interesse an drahtlosen Netzwerken. Am Aufbau von Netzwerken arbeiten wir seit 2012.

Was gab den Anstoß?
Eigentlich fing alles mit einer Person vom Staat an, die anregen wollte, dass im ganzen Land Workshops zu den Themen Freie Software und Kommunikation gegeben werden. Und Nico von AlterMundi, der sich mit ihr getroffen hat, hat vorgeschlagen, auch Gemeinschaftsnetzwerke, das heißt freie Netzwerke, zu machen. Aber schon nach ein paar Monaten war die Person nicht mehr an derselben Position und das gesamte Projekt wurde von Seiten des Staates eingestellt. Wir hatten allerdings bereits angefangen zu planen, wie die Workshops aussehen würden. In Delta, in der Nähe von Buenos Aires, wo ich zu der Zeit gewohnt habe, haben sich bereits viele Leute Router gekauft, und wir waren dabei, damit herumzuspielen. Am Ende haben wir uns entschieden, einfach weiter zu machen, auch ohne die finanzielle Unterstützung vom Staat.
Wir haben im Jahr 2012 mit einem Hackathon (aus „Hack“ und „Marathon“ – eine kollaborative Software- oder Hardwareentwicklungsveranstaltung, Anm. d. Red.) angefangen. Wir waren alle Menschen mit einem sehr technischen Hintergrund, die sich gesagt haben: „Ok, wir werden uns eben selber beibringen, wie man heutzutage Netzwerke macht, damit wir das dann anderen Leuten, die keine großen Technikvorkenntnisse haben, beibringen können.“ Das Ziel war, die Softwareschicht möglichst einfach zu gestalten, so dass es nicht-technischen Menschen möglich sein würde, diese Netze aufzubauen. Später haben wir angefangen, Workshops zu machen, vielleicht mehr oder weniger so, wie wir das beim Originalprojekt gemacht hätten, aber eben autonom.

Welche Rolle spielte die Überlegung, dass in isolierten Gemeinden konventionelle Internet-anbieter kein Interesse daran haben, eine Leitung aufzubauen?
Das spielte schon auch eine Rolle. Ausschlaggebend war aber, dass durch das von der Regierung geplante Projekt mehrere Leute von AlterMundi die Zuversicht hatten, dass wir uns auf eine Unterstützung seitens des Staates verlassen konnten. Am Ende gab es die nicht und wir haben das Projekt trotzdem durchgezogen. Aber die ursprüngliche Notwendigkeit war da. Nico und Jesi von AlterMundi wohnten beispielsweise zu der Zeit in ihrem Dorf ohne Internet, beziehungsweise mit sehr schlechtem Internet und dieser ursprüngliche Hackathon war: „Okay, wir werden hier fünf Router in fünf Häusern installieren, um hier besseres Internet zu haben.“ Das war es.

Was war für dich die Hauptmotivation mitzumachen?
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich das erste Mal mit Gruppen gearbeitet und das hat mich sehr begeistert. Diese Idee, Workshops zu machen, kam mir ziemlich genial vor. Und später hatte ich auch die Gelegenheit, das sehr zu genießen. Das war in meinem persönlichen Fall eindeutig die Motivation. Eigentlich hatte ich mich in dem Moment, als wir den Hackathon veranstaltet haben, schon sehr von der Informatik entfernt. Ich hatte meine Nerdzeiten in meiner Jugend und ein bisschen darüber hinaus und habe dann für viele Jahre die Rechner links liegen gelassen. Nicht wegen der Computer, sondern wegen der sozialen Seite bin ich in die Welt der Informatik zurückgekehrt.

Dieser Empowerment-Aspekt, anderen Menschen zu helfen, ihre Kommunikation selbst verwalten zu können, ist dir beim Projekt am Wichtigsten?
Ja. Aber vor allem habe ich während dieses Prozesses auch dazu gelernt, wie man besser helfen kann oder wie man mit Gruppenprozessen und -situationen umgeht, womit ich als Informatiker, als Nerd, null Erfahrung hatte. Ich kann wohl nicht abstreiten, dass es mir Spaß macht, technische Probleme zu lösen. Aber das, was mich in jenem Moment dazu gebracht hat, mich wieder mit diesen Sachen zu beschäftigen, in jenem Moment, als ich mich von den Computern total entfernt hatte, war, dass ich mir dachte: „Ok wenn es darum geht, Workshops zu veranstalten, ist es überhaupt kein Problem, mich für ein paar Stunden hinzusetzen.“

deltalibre4Gibt es Aspekte, die dir beim Projekt weniger gefallen?
Dazu muss ich vorab die Strukturen genauer erklären. Die Idee ist, dass wir diese Organisation sind, die den Aufbau von Netzwerken fördert und dabei hilft, diese aufzubauen, aber die Netzwerke, die dabei entstehen, sind selbstständig. Zum Beispiel heißt das Netz, das wir in Delta mit aufgebaut haben, DeltaLibre und hat seine Autonomie. Wir unterstützen sie, machen Software-Schulungen, etc. Wir bieten ihnen technische Unterstützung an, aber am Ende handelt es sich um zwei verschiedene Strukturen. Und in den Netzwerken gibt es immer soziale Reibungen. In AlterMundi passiert das hingegen nicht so viel, wir sind seit vielen Jahren befreundet.
Unsere Probleme sind meist organisatorischer Natur: wie wir uns intern am besten koordinieren, wie wir miteinander kommunizieren und so weiter. Das größte Problem in den Netzwerken sehe ich darin, dass dort ganz oft Menschen dabei sind, die keine Erfahrung in Gruppenzusammenarbeit haben, die nie auf einem Plenum waren oder an einem kollaborativen Projekt mitgewirkt haben. Am Ende ist dann die technische Seite ziemlich trivial und die soziale nicht. Und für mich war eben das der Knackpunkt: Wie kann man die Community gestalten? Wie werden Konflikte gelöst? Werden Plena veranstaltet oder welche Organisationsform wählen die Leute? Welche Form von sozialem (Zusammen-)Leben erlaubt es, so ein Netz nachhaltig zu verwalten? Ich musste viel Zeit investieren, um so kleine soziale Probleme zu lösen. Vor allem deswegen, weil ich diese Position des Netzinitiators eingenommen habe. Deshalb kannten mich halt die meisten Menschen und hatten in irgendeiner Form Respekt vor mir und sind mir irgendwie gefolgt.

Wie viele Leute sind Teil der Netzwerke?
In Delta kommen, wenn wir ein großes Treffen machen, etwa 20 Menschen. Es gab Zeiten, da haben sich täglich etwa 100 Personen mit dem Netz verbunden, aber als Benutzer*innen. Sie sind zu keinem Plenum gekommen oder so. Vermutlich haben sie es nicht einmal gemerkt, dass es sich um ein freies Netzwerk handelt, denn es war im Endeffekt einfach ein offenes Netz.

Bekommen die Aktivist*innen eine Aufwandsentschädigung oder können sie gar von der Arbeit leben?
Nein. Wir hatten mal die Idee, das gesamte Unterfangen so zu gestalten, dass es sich selber trägt. Wir wollten ein Schema entwickeln, bei dem jedes Netzwerk der Assoziation jeden Monat etwas zahlt. Sagen wir mal einen Euro im Monat pro Router im Austausch gegen den Support, den wir sowieso schon leisteten. Wir wollten eine Art Kompromiss erarbeiten, zu sagen „Okay, wir machen diese ganze Arbeit aus freien Stücken, aber es wäre nicht schlecht, wenn wir nicht auch noch woanders arbeiten müssten. Es wäre schön, wenn wir all unsere Zeit für diesen Support zur Verfügung stellen könnten.“
Aber wir haben es nicht geschafft. Wir haben es in dem Netzwerk von Nono vorgeschlagen. Sie haben schon mitgemacht, aber das Ganze hat nie die Dimension erreicht, dass wir uns davon finanziell tragen konnten, die drei Menschen, die wir waren. Dann haben wir vergangenes Jahr von ein paar Seiten Fördermittel bekommen und einen Preis gewonnen. Das hat uns ermöglicht, Ausrüstung zu kaufen und uns etwas Lohn zu zahlen für ein paar Monate für die Softwareentwicklung, die wir immer gemacht haben, aber damit konnten wir uns eben nur ein paar Monate bezahlen. Die Förderung kam aber nicht vom Staat, sondern von Stiftungen, dem Open Technology Institute (OTI), dem Latin America and Caribbean Network Information Centre (LACNIC) und der Shuttleworth.

Ist es nicht eine Aufgabe des Staates, den Menschen Internetzugang zur Verfügung zu stellen? Besteht sonst nicht die Gefahr, dass sich der Staat aus der Verantwortung stiehlt, wenn Freie Netzwerke sich um Freien Internetzugang für alle kümmern?
Es kommt auf den Staat und auf die Situation an. Die Erfahrung, die wir mit Regierungsorganisationen gemacht haben, war immer „Es ist sehr schön, was ihr tut, wenn wir euch irgendwie helfen können, wollen wir helfen“. Es gab auch den Entwurf für ein Gesetz, das „den Ausbau von Gemeinschaftsnetzwerken stärken und fördern“ sollte. Dieser wurde aber mit dem Regierungswechsel von Cristina Fernández de Kirchner zu Mauricio Macri verworfen. Und alle Menschen, die wir in den entsprechenden Behörden kannten, die über Ressourcen, über Geld, Werkzeug, Zeit, soziale Beziehungen verfügt haben, verfügen nicht mehr darüber. Ich meine, wenn der Staat ein Problem lösen wollen würde, würde er das einfach machen. Sie haben normalerweise viel mehr Ressourcen als jede Privatinitiative. Wenn sie also das Problem nicht lösen, ist es, entweder weil sie nicht wollen, oder weil sie nicht können. Zumindest können sie es nicht in einer Form tun, die für den Staat geeignet ist. Ich hatte mal ein Gespräch mit einer Person aus dem Bezirk von Tigre, und sie meinte zu mir „Ihr könnt das als Einzelpersonen oder als eine Gruppe von Nachbarn machen, aber wir als Bezirk können nicht in einem einzigen Viertel Internet aufbauen und das war es. Denn ich weiß bereits, es werden gleich die Leute aus dem Nachbarviertel aufspringen mit ,Ey, warum hast du da Internet installiert und hier nicht.‘ Ich kann entweder nur überall das Problem lösen, oder nichts tun. Und du als Einzelperson hast die Freiheit, das für dein Viertel zu lösen, ohne dass dir irgendjemand was sagt.“ Kann sein, dass es nicht ganz der Wahrheit entsprach, was sie mir erzählte, aber mir kam es einleuchtend vor. Für uns ist klar: Wir machen weiter – ob mit oder ohne Unterstützung vom Staat.

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