“SOZIALISMUS HAT KEINE GRENZEN”

Im Mai wurde Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT nach einem juristisch durchaus fragwürdigen Amtsenthebungsverfahren abgesetzt und Vizepräsident Michel Temer von der rechten PMDB übernahm die Macht. Wie beurteilen Sie die ersten acht Monate seiner Regierung?
Sie waren eine Katastrophe. Es waren acht desaströse Monate. Er hat versprochen, die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Das ist nicht passiert. Im Gegenteil: Die ökonomischen Probleme haben sich weiter verschärft und die Ungleichheit hat zugenommen. Dies sieht man auch daran, dass die Arbeitslosenquote gestiegen ist. Temer hat es nicht geschafft, das Vertrauen der Märkte zu gewinnen, wie er versprochen hat. Darüber hinaus ist die Spitze seiner Regierung in Korruptionsfälle involviert. Wir Brasilianer wollen einen Präsidenten, den wir gewählt haben – nach einer Debatte über das Programm, das dieser Präsident umsetzen wird. Michel Temer führt eine Agenda aus, die extrem neoliberal ist und die Probleme im Land verschärft hat.

Sie sind Menschenrechts- und LGBT-Aktivist. Wie beeinflusst Temers Regierung die Rechte von Minderheiten in Brasilien?
Brasilien hat schon immer die Rechte von Minderheiten vernachlässigt. Erst mit den Regierungen der PT hat sich die Lage verbessert. Vor allem während der Amtszeiten von Lula wurde angefangen, mit Minderheiten zu kommunizieren. Seine Regierung hat zum Beispiel große Konferenzen veranstaltet, wie die Konferenzen der Frauen, der Menschenrechte oder der LGBT (Lesben, Gays, Bisexuelle und Transsexuelle). Brasilien hat allerdings zum Beispiel bis heute kein Gesetz verabschiedet, das die Rechte von Schwulen, Lesben und Transsexuellen schützt. Es gibt lediglich einige staatliche Maßnahmen von Landesregierungen und Stadtverwaltungen. Die Regierung von Temer beeinträchtigt die Rechte von Minderheiten in drastischer Weise, da sie nicht einmal mehr mit ihnen kommuniziert. Die Spitze der Regierung setzt sich aus reaktionären und konservativen Politikern zusammen, die der Idee der Menschenrechte als Rechte von Allen entgegenstehen. Für diese Politiker sind Menschenrechte bestimmten Personen vorbehalten: den Weißen, der Mittel- und Oberschicht, den Heterosexuellen. Die restliche Bevölkerung ist somit der Ausbeutung unterworfen oder sollte ausgebeutet werden. Für diese Regierung müssen Minoritäten, wie indigene Völker, die Schwarzen in den Favelas, Frauen allgemein und die gesamte LGBT-Community Gewalt und Vorurteile über sich ergehen lassen und den Mund halten. Zudem verbreiten diese Politiker einen Trugschluss, nämlich die Idee, dass Gleichheit besteht, weil die Verfassung es so festlegt. Die Verfassung proklamiert zwar Gleichheit, aber das wahre Leben zeigt, dass wir nicht gleich vor dem Gesetz sind. Wenn dies der Fall wäre, hätte Brasilien nicht fast 700.000 Gefangene, von denen 80 Prozent schwarz, arm und Semianalphabeten sind. Man kann also sagen, dass diese Regierung schädlich für die Menschenrechte ist.

Im April 2016 haben Sie den ultrarechten Politiker Jair Bolsonaro während einer Parlamentsabstimmung über die Amtsenthebung der damaligen Präsidentin Dilma Rousseff bespuckt, nachdem dieser einem berüchtigten Folterer der Militärdiktatur seine Stimme gewidmet hatte. Der Fall erregte große Aufmerksamkeit, auch außerhalb Brasiliens. Sehen Sie den Anstieg einer rechtsextremen Bewegung in Brasilien?
Gruppen der extremen Rechten wurden von rechten Parteien und Wirtschaftsverbänden finanziert. Diese Gruppen sind vor allem in sozialen Netzwerken aktiv. Mit widerlichen Methoden: Sie verbreiten Lügen und Verleumdungen. Auch während der Wahl in den USA ist dies passiert. Die Universität von Oxford bezeichnet das als „post-faktisch“. Die extreme Rechte in Brasilien handelt genau so. Gruppen wie die Bewegung Freies Brasilien, die Empörten Online oder Komm auf die Straße [jene, die Massenproteste gegen Dilma Rousseff im vergangenen
Jahr anführten, Anm. d. Red.] sind dieser extremen Rechten zuzuordnen und protofaschistisch. Ausdruck dieses Protofaschismus ist die Verbreitung von Lügen und Verunglimpfungen, aber auch die direkte Gewalt. So wurden etwa linke Politiker an Flughäfen und in Restaurants beleidigt und angegriffen.

Wurden Sie nach der Auseinandersetzung mit Bolsonaro weiterhin bedroht?
Ja. Nachdem ich dem Faschisten ins Gesicht gespuckt habe, haben rechte Kräfte meine sozialen Netzwerke überflutet. Sie veröffentlichten Beleidigungen gegen mich und meine Familie. Ich erhielt zahlreiche Morddrohungen. Und so ist es bis heute. Es wird versucht, mich durch diese Gewalt zum Schweigen zu bringen.

Die Ergebnisse der Bürgermeisterwahlen im vergangenen Oktober in Ihrer Wahlheimat Rio de Janeiro zeigen, dass der rechte Kandidat Marcelo Crivella in fast allen sozial benachteiligten Stadtteilen gewonnen hat. Glauben Sie, dass die Linke den Kontakt zu den ärmsten Schichten verloren hat?
In Brasilien hatte die Linke nie besonders viel Kontakt zu den ärmsten Schichten. Die Linke hat es versäumt, im Namen der Arbeiter zu sprechen. Diese profitieren aber von den politischen Errungenschaften der Parteien und Gewerkschaften. Allerdings identifizieren sie sich in Brasilien meist nicht mit der Linken. Auch weil die Rechte fast immer an der Macht war. Mit der Wahl von Lula ist die Linke erstmals an die Macht gekommen. Und sie ist nur dort hingekommen, weil Lula eine Art von Klassenkompromiss ausgehandelt hat.

Wie sah der aus?
Unser Präsidialsystem beruht auf Koalitionen. Damit eine Partei gewählt werden kann oder ein Präsident regieren kann, muss eine Mehrheit im Nationalkongress vorhanden sein. Daher ist die PT eine breite Koalition mit rechten Parteien eingegangen, unter anderem mit der Mitterechts-Partei PMDB. Diese hat nun die PT verraten.
Die Linke hat nicht den Kontakt verloren. Die brasilianische Linke hat den Weg eingeschlagen, den sie nehmen musste – die Agenda der Menschenrechte und der Rechte von Minderheiten. Diese kratzen an Vorurteilen, die tief
in den Menschen verwurzelt sind – einschließlich in vielen Linken. Ich kann mir gut vorstellen, dass irgendjemand meine Teilnahme an dieser Konferenz [22. Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin, Anm. d. Red.] infrage stellt, weil
ich ein offen lebender Schwuler bin. Diese Linken, Sozialisten oder Kommunisten, denken an die Arbeiter, aber vergessen, dass auch Arbeiter eine Sexualität, ein Geschlecht und eine Ethnizität haben. Eine neue Linke und ein Sozialismus, der mit den Massen einen Dialog führen will, muss diese Agenda ohne Angst aufnehmen.

Wie bewerten Sie die Niederlage in Rio de Janeiro?
Obwohl wir die Wahl verloren haben, kann man nicht von einer hässlichen Niederlage sprechen. Marcelo Freixo [Kandidat der PSOL, Anm. d. Red.] hatte 40 Prozent der Stimmen – das ist nicht wenig. Die Linke lebt. Und sie führt den Dialog – ganz im Gegensatz zu der Meinung, dass sie an Raum verliert. Die Linke muss pädagogisch sein und sagen: Wir müssen die Rechte von Homosexuellen verteidigen, wir dürfen niemanden zurücklassen und wir müssen uns der Frage des Rassismus stellen. Denn auch wenn Schwarze sozial aufsteigen, bleiben sie Opfer von Rassismus. Auch in Deutschland werden Flüchtlinge oder die türkische Gemeinde immer noch aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert. Daher macht es keinen Sinn, eine Gleichheit auszurufen. Es bringt nichts, nur an die Arbeiter zu denken. Auch andere Themen spielen eine Rolle und die Linke muss sich ihnen stellen.

Soziale Bewegungen greifen auch die PT scharf für ihre neoliberale Politik an. Auch Ihre Partei, die PSOL, übte teils heftige Kritik. Glauben Sie, dass es in diesen schwierigen Zeiten weiterhin notwendig ist, eine Kritik an der PT zu äußern oder ist es jetzt wichtiger, eine vereinte Linke gegen den Rechtsruck aufzubauen?
Ich glaube, dass die Kritik an der PT bereits geäußert wurde. Ich persönlich habe immer eine gerechte, intellektuell ehrliche Kritik an dieser Partei artikuliert. In meiner Partei gibt es viele PT-Gegner, ich bin es nicht. Ich glaube auch, dass die öffentlichen Figuren meiner Partei keine PT-Gegner sind. Es ist Zeit, dass wir eine breite Front der Linken für allgemeine und direkte Wahlen bilden. Eine breite Front, die es uns erlaubt, einen  Präsidenten zu wählen, der sein Regierungsprogramm mit der Gesellschaft diskutiert. Im Gegensatz, zu dem
was der illegitime Michel Temer tut, der uns seine Agenda aufzwingt. Sein neoliberales Regierungsprogramm
hat drastische Auswirkungen für die Rechte der Arbeiter.

Wie sollte die Linke Ihrer Meinung nach für Alternativen kämpfen?
Als Erstes muss die Linke das Thema der Korruption aufgreifen. Sie muss die Korruption bekämpfen, denn die Rechte triumphiert fast immer, wenn sie die Linke der Korruption beschuldigt. Zweitens ist eine nachhaltige Entwicklung fundamental. Dies bedeutet ein Regierungsprogramm, das ein Gegenteil zur neoliberalen Agenda darstellt. Ein Programm, das in strategisch wichtige Bereiche investiert, wie Bildung, Wissenschaft, Technologie und Gesundheit. Zudem ist eine Kontrolle des Marktes wichtig. Ein Markt darf nicht frei sein und die Autonomie haben, die er gerne hätte. Die Banken dürfen nicht Zinsen diktieren, wie es ihnen lieb ist. Dies hat zu Verarmung geführt und eine Wirtschaftselite geschaffen, die nichts produziert, aber haufenweise Geld macht. Die Linke
muss daher ein klares Wirtschaftsprogramm mit sozialem Profil aufweisen. Die Menschen müssen Sicherheit darüber haben, ob sie am Ende des Monats ihren Lohn erhalten, ob die Schule ihrer Kinder geöffnet ist, wie die Zukunft aussehen wird. Die Linke muss dies klarer machen. Oft verliert sie sich jedoch in bestimmten Themen.
Und viele Themen wurden seit der Oktoberrevolution nicht mehr überarbeitet. Sogar nach dem Fall der Berliner Mauer hat es die Linke versäumt, bestimmte Begriffe zu überdenken. Noch heute gibt es Menschen, die denken, dass wir zuerst an die Arbeiter denken müssen und uns erst danach anderen Fragen zuwenden sollten, wie der Genderfrage, die als weniger wichtig und bürgerlich betrachtet wird. Das ist ein Fehler. Hier darf es keine Rangordnung geben. Die Kämpfe gehören zusammen. Für mich ist ein Arbeiter, der auf der Straße für würdevolle Arbeit und einen besseren Lohn kämpft, aber zu Hause seine Frau schlägt oder seinen schwulen Sohn aus dem Haus wirft, kein Linker. Sozialismus hat keine Grenzen. Entweder Sozialismus kommt mit Freiheit oder er macht keinen Sinn.

FREIHEIT UND KONTROLLE


YURI HERRERA wurde 1970 im zentralmexikanischen Hidalgo geboren. Er studierte Politikwissenschaften in Mexiko Stadt, 2009 promovierte er in Lateinamerikanischer Literatur an der Universität von Berkley (Kalifornien). Er hatte Gastprofessuren an verschiedenen Universitäten in Mexiko und den USA. Neben seiner journalistischer Arbeit hat er bislang fünf belletristische Bücher veröffentlicht, gleich sein erster Roman Abgesang auf den König sorgte für Furore in der Literaturwelt. Zuletzt ist von ihm auf Deutsch der Erzählband Der König, die Sonne und der Tod. Eine mexikanische Triologie erschienen. Ende 2016 erhielt er den internationalen Preis der Anna-Seghers-Stiftung. (Foto: Universität Köln)


Herr Herrera, Sie sagten einmal, ihre größte Muse sei die Scham, nicht produktiv zu sein. Wie geht es Ihrer Muse zurzeit?
Aktiv wie immer. Ich arbeite an mehreren Sachen gleichzeitig, aber ich habe immer das Gefühl, dass es nicht genug ist. Es ist wie der Kaffee am Morgen.

Im November 2016 haben Sie den Anna- Seghers-Preis erhalten. Gibt es einen Aspekt aus dem Werk von Anna Seghers, der Ihnen besonders wichtig ist?
Mich interessiert vor allem ihr Blick auf ihre eigene Zeit, wie sie die Geduld hat, zu verstehen, und diese mit einer Art empathischer Hoffnungslosigkeit verbindet. So kann sie das Drama der Menschen aus dieser Zeit kommunizieren.

Ihr wiederkehrendes Thema ist die Verbindung zwischen der Kunst und der Macht. Warum?
Es ist eine Spannung, die in allen Gesellschaften existiert: Zwischen denen, die bewahren und kontriollieren wollen, und denen, die nach neuen Formen suchen, auf die Welt zu sehen. In Mexiko drückt sich das seit einigen Dekaden institutionell aus. Es bleibt also ein Thema, das nicht zu Ende geht, und weiter reflektiert werden
muss.

Sie sagen, dass eine permanente und sehr tiefe Beziehung zwischen der mexikanischen Literatur und der Politik bestehe. Diese gehe so weit, dass der Staat die Schriftsteller finanziere, „eine sehr verdächtige Verbundenheit“ nannten Sie das mal. Können Sie das erklären?
Obwohl ich glaube, dass die Kulturpolitik des mexikanischen Staates sehr gute Momente hatte – zum Beispiel erfolgreiche Alphabetisierungskampagnen, Veröffentlichungen junger Autoren aus verschiedenen Landesteilen – hat sie auch eine Funktion der Kontrolle eingenommen. Oder sie sollte als solche benutzt werden: die Arbeit der Künstler zu subventionieren, im Austausch für ihre Verschwiegenheit. Zum Glück ist das literarische Feld in Mexiko weitaus vitaler und resistenter, als es diese Kulturdezernenten begreifen können.

Sie sprechen auch über die Schwierigkeit, die kulturelle Freiheit nicht zu verlieren und es sich gleichzeitig nicht mit den Eliten der Macht zu verscherzen. Wie funktioniert das?
Das passiert nicht nur in Mexiko. Schriftsteller sehen sich auf der ganzen Welt verschiedenen Typen von Grenzen ausgesetzt. Manchmal handelt es sich um staatliche Zensur, manchmal um Druck aus der Branche wie Literaturagenten, Verlage, Kritiker und manchmal um den Druck des Marktes. In jeder Epoche und an jedem Ort
müssen Schriftsteller die Art und Weise finden, sich diesem Druck nicht zu beugen und ihre eigene
Stimme zu finden.

Politiker*innen und Anführer*innen der organisierten Kriminalität in Mexiko fühlen sich unantastbar. Sie umgeben sich mit Leuten, die sagen, was sie hören wollen. Wann hat das angefangen?
Das ist kein mexikanisches Problem. Mexiko ist kein Land, in dem die Grausamkeiten großartig anders sind als in Deutschland, der Schweiz, England oder den USA. Mexiko ist das Land, das die Toten zu einem Geschäft macht, das bei anderen aus Nachfrage, Waffen und Regeln besteht. Erinnern wir daran, dass die Gruppe, die die Studenten von Ayotzinapa attackierte, deutsche Waffen hatte. Natürlich haben wir spezifische Verantwortungen, ein veraltetes politisches System bestimmt durch Korruption, einen jahrzehntelangen Rassismus, den sich viele weigern zu sehen, eine systematische Straflosigkeit, aber die Gewalt in Mexiko entspringt auch aus den Ländern, die sich für zivilisiert halten, aus der Ferne betrachtet.

Sie sagten, es sei nicht wahr, dass keiner etwas gegen die Gewalt und die Stille tue. Können Sie einige Medien oder Aktionen nennen, die nach der „Wahrheit“ suchen?
Es gibt viele Leute, die daran arbeiten, die Meinungsfreiheit zu bewahren: Da ist die Organisation Articulo 19, kleine Medien aus Veracruz, aus Sinaloa und aus Mexiko-Stadt, die elektronischen Magazine Sin Embargo und
Lado B, Gemeinderadios im Süden und Südosten des Landes und viele andere.

Sie haben auch mal eine Gewerkschaft von Haushaltshilfen erwähnt…
Das ist noch eine kleine Gewerkschaft, aber sie zeigt, dass es immer noch elende Formen der Ausbeutung aus der Kolonialzeit gibt. Sie ist bemerkenswert, weil es sich um eine Gruppe Frauen handelt, die sich entschieden hat, für ihre fundamentalen Rechte zu kämpfen. Das könnte sich als kultureller Wandel herausstellen.

Um den Prozess zu erklären, wie Sie die adäquate Sprache in Ihren Büchern finden, benutzen Sie das Bild des Malers mit seiner Farbpalette und den verschiedenen Farben. Aber nicht immer gibt es „Farben“ für die Gewalt. Gibt es Dinge, die Sie persönlich schockieren und sprachlos lassen?
Natürlich, ständig gibt es Situationen, für die man nicht sofort Worte findet. Aber genau das ist die Arbeit der Kunst, die Worte zu kreieren, sie nicht einfach aus dem Wörterbuch zu entnehmen. Manchmal geht es darum, alte Wörter zu erneuern, manchmal darum, für sie eine andere Konnotation zu finden, manchmal darum, sie zu transformieren. Es gibt nicht den einen Weg.

Stört Sie der Begriff narco poesia (“Drogenhändlerpoesie” als Titel einer Rezension eines Ihrer Bücher?
Nein, wenn man ein Buch veröffentlicht, kann man keine Kontrolle mehr über die Art und Weise haben, wie es gelesen wird. Das ist okay. Persönlich denke ich, dass diese Etiketten die Literatur nicht bereichern, aber in manchen Bereichen haben sie eine Funktion für analytische Zwecke. Letztendlich können die Lektoren mit dem Text machen, was sie wollen.

Sie sind weit weg von der US-Grenze im zentralmexikanischen Hidalgo geboren. Woher stammt Ihr Interesse für den Norden Mexikos und die Grenze zu den USA?
Ich habe zwischen 2000 und 2003 an der Grenze zwischen El Paso und Ciudad Juárez gelebt, aber das war nicht mein erster Kontakt. In Mexiko hat fast jeder Familienmitglieder, die mal in die Vereinigten Staaten immigriert sind, ob sie nun zurückgekehrt oder auf der anderen Seite geblieben sind.

Vor einigen Wochen hat eine deutsche Wochenzeitung Monterrey und Indianapolis miteinander verglichen. Ein Unternehmen aus Indianapolis hat letzten Februar 1.000 Arbeitsplätze nach Mexiko umgesiedelt, wie auch
andere. Mondelez produziert seine Oreos nicht mehr in Chicago, sondern in Monterrey. Er liebe Oreos, aber er werde sie nie wieder essen, sagte Donald Trump. Glauben Sie, dass der neue US-Präsident das Thema der Arbeitsplätze, die ins Ausland gehen, wirklich verändern wird? Wird er seine Rhetorik beibehalten?
Das werden wir sehen. Ich bezweifle stark, dass er die Beschäftigungen, die die Malereibetriebe in vielen Orten Mexikos geschaffen haben, zurückholen will. Zum Beispiel: Unglaublich schlecht bezahlte Arbeiten, zu viele Stunden, wenig oder gar kein Rechtsschutz, wenig oder gar keine medizinische Versorgung. Sicher wird Trump einige weitere spektakuläre Mittel ergreifen, einige Unternehmen unter Druck setzen, damit sie ihre Investitionen zurücknehmen. Aber um die wirtschaftliche Dynamik zwischen den zwei Ländern zu verändern, bedarf es weit mehr als einen Ausstoß von Testosteron. Ich habe den Eindruck, dass das Geschrei rund um das Freihandelsabkommen Nafta eher den hysterischen Versprechen des Wahlkampfs entspricht als einer Bewertung dessen, wie Nafta funktioniert hat. Es wird ohne Zweifel Veränderungen geben, aber nicht in der Schnelligkeit, die er versprochen hat.

Hat Sie das Tempo überrascht, mit dem Trump die ersten, spektakulären Entscheidungen getroffen hat?
Nein, aber viele dieser Entscheidungen entstammen eher seinem Versuch, entschlossen zu wirken als einem konkreten Plan. Viele davon werden nicht einmal realisiert werden. Trump wird herausfinden, dass es deutlich
mehr braucht, als Papiere zu unterschreiben, damit die Dinge in Bewegung kommen. Aber vielleicht kommt es ihm darauf nicht an, seine Sache ist das Spektakel.

Ist es möglich, die Problematik um die Migration zu verschlimmern, anstatt sie zu lösen?
Wenn man die Migration ausschließlich als ein Problem betrachtet und nicht als ein Phänomen, das die Gesellschaften bereichert, ist es natürlich möglich. In Europa ist das passiert, und wir können bereits sehen, dass der mit dem Aufstieg Trumps entstandene Hass die Situation der Migranten verschlimmert, die in den Obama-Jahren schon ziemlich schlecht war.

Was denken Sie über die Rolle der mexikanischen Gesellschaft in Bezug auf den Umgang mit Migrant*innen aus Zentralamerika?
Das ist eine passive Komplizenschaft. Es hätte eine viel größere Reaktion auf den Missbrauch geben müssen, den die Migranten aus Zentralamerika auf ihrem Weg durch Mexiko und bei ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten erleiden mussten.

Die Reaktion der Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung auf Präsident Peña Nietos Ablehnung von Trumps Ideen und seiner Absage des geplanten Staatsbesuchs in Washington – war das ein kurzer Moment von Einigkeit in Mexiko?
Einigkeit kommt nicht auf magische Weise zustande. Ja, es gibt eine Einheit in der Ablehnung von Trump. Diese darf aber nicht als unbegrenzte Unterstützung des Präsidenten verstanden werden, mehr noch: Wenn diese ganze Episode etwas bewiesen hat, ist es die Unfähigkeit Peña Nietos eine Vision des Staates aufzuzeigen.

“DAS KINO AUS LIMA HAT MICH WÜTEND GEMACHT”

Álvaro Sarmiento (Foto: Carmen Salas Cárdenas)


Zum Einstieg folgende Frage: Warum machen Sie eigentlich Filme?
Diego Sarmiento: Jeder Künstler sucht einen Weg, seine Emotionen auszudrücken. In unserem Fall ist es ein glücklicher Zufall gewesen, dass wir beide das hier tun, und wir ergänzen uns dabei irgendwie gegenseitig. Ich glaube, dass wir glücklich sind mit dem, was wir machen, und diese Art von Festivals lässt die Inspiration
und die Lust aufs Filmemachen wachsen. Es ist wie Nahrung für die Seele und den Geist.

Woher kam die Idee für Ihren aktuellen Film?
DS: Vor fünf Jahren haben wir einen Workshop über Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche im peruanischen Amazonasgebiet gemacht und sind fast ein ganzes Jahr dort geblieben. Durch diesen Workshop lernten wir viele Menschen kennen und eben dadurch entstand unser Kurzfilm Hijos de la Tierra (Kinder der Erde), der 2014 in der Berlinale-Sektion ‚Generation‘ lief. Die Kinder, die in diesem Kurzfilm zu sehen waren, stellten uns ihre Familien vor und so kamen wir zu einigen der Protagonisten des Dokumentarfilms Rio Verde. Außerdem leben wir teils in Cusco und teils im Amazonasgebiet und haben innerhalb der letzten fünf Jahre viele Reisen gemacht. Aus dem ganzen Material ist der Film eigentlich in der Postproduktion entstanden. Álvaro hat zusammen mit unseren Videoeditoren im Schnitt den Film als Ganzes ermöglicht. Diese Phase hat sehr lange gedauert.

Was bedeutet der Titel Die Zeit der Yakurunas?
Álvaro Sarmiento: Es ist ein metaphorischer Titel. Die Yakurunas sind eigentlich Unterwassermenschen
aus einer Legende in Amazonien, aber dieser Film handelt nicht von Menschen, die unter Wasser leben, sondern von denen, die in der Nähe oder am Rande des Flusses leben. Es ist also ein poetischer Titel auf
Quechua, der uns gefallen hat, und gleichzeitig eine weitverbreitete Legende aus Amazonien mit hohem repräsentativen Wert. Daher haben wir uns für diesen Titel entschieden.

Sie haben Lima zugunsten von Cusco und dem Regenwald schon vor vielen Jahren den Rücken gekehrt. Was hat Sie dazu bewogen?
ÁS: Unser erster Dokumentarfilm über die Region von La Oroya war wie eine Rückkehr zu unseren Wurzeln, weil unsere Mutter aus der Stadt Huancayo kommt. Unsere Großeltern kommen aus Cerro de Pasco und unser zweiter Dokumentarfilm war eben über Cerro de Pasco. Es ist also eine Familiensache: eine Rückkehr zu
unseren Wurzeln, zu unserem Zuhause durch das Filmemachen und das Zeigen der Realität dieser Regionen. Außerdem identifiziere ich mich nicht mit dem Kino, das in Lima produziert wird, eben wegen der Qualität der dortigen Filme, der Nicht-Repräsentation der indigenen Bevölkerung oder ihrem Erscheinen als die ewigen
Diener, Hausmädchen und Ähnliches. Das hat mich immer wütend gemacht. Ich habe mein Studium an der Universidad de Lima abgebrochen und bin nach Brasilien gegangen, um dort vier Jahre lang Film zu studieren. Dort habe ich gelernt, was cine indígena (indigener Film) ist. Ich habe meine Abschlussarbeit über die NGO
Video nas Aldeias geschrieben, eine Organisation, die seit 25 Jahren indigenen Völkern das Filmemachen beibringt, sowohl theoretisch wie auch technisch. Ich kam dann aus Brasilien mit dem Wunsch und der Entschlossenheit zurück, diese Art von Kino zu machen.

Diego Sarmiento (Foto: Carmen Salas Cárdenas)

Das Thema der indigenen Gemeinschaften kommt nicht oft in die Medien und ist auch nicht wirklich präsent als künstlerisches Motiv in Peru. Was möchten Sie mit Ihrem Interesse an den Indigenen Perus erreichen?
DS: Das hängt von der jeweiligen Produktion ab. Es ist nicht so, dass wir mit all unseren Projekten das gleiche Ziel erreichen wollen, aber indem wir sie zeigen, möchten wir die indigene Kultur wieder aufwerten und verbreiten.
ÁS: Wenngleich unsere vorherigen Produktionen in Peru wenig gesehen wurden, glaube ich, dass es doch ein Publikum gibt, das sich für diese kulturelle Produktion interessiert. Das Interesse an einem Dokumentarfilm bedeutet, dass der Zuschauer etwas lernen möchte. Diese Art von Filmen hat eine lehrreiche Funktion. Was
Río Verde betrifft: Dieser Film würde in Peru zwischen fünf- und zehntausend Zuschauer im Kino erreichen. Aber was Filmfestivals angeht, könnte dieser Film sicher auf 50 Festivals gezeigt werden, eben wie unsere Kurzfilme, die bislang auf 30-40 Festivals gezeigt wurden. Angenommen, pro Festival würden 1.000 Menschen den Film sehen, dann würden wir durch die ganzen Festivals 50.000 Zuschauer weltweit erreichen. Das ist eine bedeutende Zahl, obwohl sie neben den Zahlen eines Blockbusters klein erscheint. Die Leute interessiert schon diese Art von Themen, die wir präsentieren, und ich glaube, damit sind wir alle glücklich.

In Río Verde versuchen Sie, das Zeitgefühl der Menschen des Amazonas zu vermitteln, um eine Distanz durch diesen ethnographischen Blickwinkel zu klassischen Dokumentarfilmen zu schaffen. Haben Sie nicht die Befürchtung, damit ein größeres Publikum zu verschrecken?
ÁS: Mich interessiert das Autorenkino. Es ist auf jeden Fall für ein eingeschränkteres Publikum gedacht, eines, das Filme über Kulturen mag, das sogenannte ‚World Cinema‘. Zum Beispiel gibt es Menschen, die es genießen, die thailändische oder vietnamesische Gastronomie durch einen Film kennenzulernen. Es gibt durchaus Leute, die sehr kleine Filme genießen. Wir zielen auf dieses Publikum, das andere, wenig
erkundete Teile der Welt durch Filme entdecken möchte. Río Verde ist auf keinen Fall ein kommerzieller
Film, wir appellieren nicht an das große Publikum. Es ist ein Film, der einem Gemälde ähnelt, indem wir dadurch unsere eigene künstlerische Sensibilität zum Ausdruck bringen. Derjenige, der dies genießt, ist stets willkommen!
DS: So, wie es Animations-, Fiktions-, und Genre-Kino gibt, glauben wir, dass es auch indigenes
Arthouse-Kino, indigenes Fiktionskino, indigenes Animationskino und von Indigenen selbst gemachtes Kino geben könnte. Indigenes Kino muss nicht immer Protest-Kino gegen etwas sein, es kann auch etwas Künstlerischeres sein. Das ist es, was wir verbreiten wollen, eine Palette von verschiedenen Arten des indigenen Kinos.

Welche konkrete Vorteile hat Ihnen die Berlinale gebracht?
DS: Auf der einen Seite ist es im Bereich des Vertriebs sehr wichtig, die Weltpremiere bei der Berlinale zu haben. Dadurch wird es einfacher, einen Film auf andere Festivals zu bringen. Bei einem so großen Festival entwickelt sich ab der Premiere eine Art Netzwerk. In wirtschaftlicher Hinsicht bringt es nicht unbedingt Vorteile.

Wenn wir jetzt von der internationalen auf die nationale Ebene zurückgehen, stellt sich die Frage: Kann man in Peru von einem Vollzeitjob als Filmemacher*in leben?
DS: Alles ist möglich. Das hängt vom Lebensstandard ab, den jeder erreichen möchte. Zurzeit sind wir tatsächlich zu 100 Prozent mit unseren Produktionen ausgelastet.
ÁS: Ich glaube, dass man tatsächlich vom Filmemachen leben kann. Wir leben davon, aber auf eine sehr bescheidene Art und Weise. Leider gewinnen wir nicht immer die Preise, die von der peruanischen Regierung ausgeschrieben werden. Es gibt sehr viel Konkurrenz und die Jurys interessieren sich zum Teil einfach nicht
für das, was wir machen, obwohl wir uns international bereits einen Namen gemacht haben. Aber klar ist: Mit oder ohne Geld, wir werden weiter unsere Filme machen.

Jetzt, wo der peruanische Schauspieler und Filmregisseur Salvador del Solar zum Kulturminister
ernannt wurde: Meinen Sie, dass Peru dadurch einem neuen Filmgesetz einen Schritt näher gekommen ist?
DS: Ich denke, dass wir noch näher sein könnten. Es ist ein politisches und schwieriges Thema. Denn manchmal hängt das Kulturministerium vom Wirtschaftsministerium und anderen Organen ab. Es mag sein, dass da seinerseits Bereitschaft besteht, aber auf jeden Fall wird für so etwas die Stärke des filmischen Gremiums, die Stärke der kleinen Filmindustrie in Peru, benötigt. Es hängt nicht nur von Salvador ab. Nichtsdestotrotz ist jetzt ein neues Filmgesetz durchaus möglicher als früher. Was dabei aber nicht vergessen werden darf ist, dass alle Künste gefördert und besser gefördert werden sollten. Es ist die Gesamtheit und nicht nur die Filmindustrie, die das Land repräsentiert. Jetzt gerade vertreten wir in gewisser Weise unser Land und es ist natürlich wie ein großes Geschenk, Teil der Berlinale sein zu können, aber das ist nicht unser endgültiges Ziel. Es sollte mehr Förderungen geben. Zum Beispiel haben wir den DAFO-Preis (eine Auszeichnung der peruanischen Regierung, Anm. d. Red.) gewonnen und die staatliche Agentur Promperu hat die Flugtickets für die Regisseure bezahlt – leider nur die der Regisseure, denn wir hätten auch gerne zumindest unseren Videoeditoren mitgebracht – aber es ist traurig, diese Leistungen mit denen anderer lateinamerikanischer Staaten zu vergleichen. Die Botschaften kümmern sich um das ganze Team, sie helfen ihnen in wirtschaftlicher
Hinsicht, es ist schon ganz schön teuer, aus Südamerika hierher zu kommen. Ich glaube, dass zumindest unsere Botschaft sich in dieser Hinsicht etwas mehr Mühe geben sollte.

Welche Projekte verfolgen Sie in der nächsten Zeit?
DS: Wir würden nur ungern viele Details verraten, aber jetzt gerade sind wir in der Endphase des Dokumentarfilms Sembradoras de Vida (Säerinnen des Lebens), der durch einen Fonds des Kulturministeriums im Jahr 2014 möglich gemacht wurde und parallel dazu haben wir stets mehrere Ideen und Kurzfilmprojekte, denen wir nachgehen.
ÁS: Unsere Produktionen werden immer auf eine sehr handwerkliche, familiäre Art gemacht. Das ist unser Stil. Ähnlich, wie wenn man ein handgemachtes Produkt kauft. Zum Beispiel stehe ich auf, frühstücke und schneide dann im eigenen Heim. Ich brauche also keine Superproduktion im Rücken, um voranzukommen.

“DIE REICHEN MUSSTEN ZUR ZISTERNE”

Im Nordwesten Boliviens plant die Regierung die großen Wasserkraftwerke El Bala und Chepete. Indigene Gemeinden kündigten eine Klage gegen den geplanten Stausee El Bala an. Sie arbeiten im städtischen Raum – welche Rolle nimmt das Thema Energie in der Stadt ein?

Mario Rodríguez: Es spielt eine Rolle, aber in Bolivien ist Energie noch kein Thema, das stark diskutiert wird. Die Regierung hat einen Nationalen Plan zur Entwicklung für das Vivir Bien (Gutes Leben) – der Name ist ein Widerspruch, aber so heißt der Plan. Ein zentrales Element ist das Ziel, Bolivien in ein Zentrum der Energieproduktion in Südamerika zu verwandeln, das Energie exportieren kann. Der Energieexport hängt stark mit der steigenden Nachfrage der Agrarindustrie, insbesondere in Brasilien, zusammen. Die größten Staatseinnahmen stammten in den vergangenen Jahren aus dem Gasexport, wobei Brasilien der größte Käufer ist. Brasilien kündigte an, die Importe aus Bolivien zu reduzieren, während Argentinien Anfang Februar Interesse an höheren Gasimporten verkündete. Zuletzt sind die Preise für Erdöl und Mineralien gesunken, was die Staatseinnahmen senkt. Dennoch kreist der Regierungsdiskurs weiter um die Idee, dass der Energieexport sich in eine noch bedeutendere Haupteinnahmequelle des Staates verwandelt. Dafür gibt es die Strategie, Energie im großen Maßstab zu produzieren. Diese Strategie beinhaltet unter anderem erneuerbare Energien aus Sonne und Wind, führt aber auch zwei zentrale Themen ein: den Bau von großen Wasserkraftwerken im Amazonas und zwei Zentren für Kernenergie.

In der Stadt El Alto soll nun ein Forschungszentrum für Kernenergie gebaut werden. Welche Reaktionen gab es auf das Vorhaben?

Die öffentliche Meinung reagierte sofort: Wie kann Bolivien in die Atomenergie eintreten, in einer Welt, die aus der Produktion aussteigt? Die Regierung startete in den vergangenen drei Jahren eine erste Phase und brachte ein Forschungszentrum für Kernenergie auf den Weg. Das Forschungszentrum sollte zunächst in Achocalla, das heißt neben La Paz und El Alto, gebaut werden. Dies ist eine Region, in der Nahrungsmittel produziert werden, insbesondere Gemüse. Die dortige Bevölkerung ist gemischt: Traditionell ist es eine bäuerliche Region, in der es gutes Wasser für die Landwirtschaft gibt. Hinzugekommen ist die Mittelklasse aus La Paz, die aus dem städtischen Raum zieht, um in einem schöneren, wärmeren Tal zu leben. Außerdem ziehen dort viele Ausländer*innen hin, Europäer*innen, die in Nichtregierungsorganisationen, der internationalen Zusammenarbeit usw. arbeiten. Diese bringen einen ökologischen Diskurs mit und Achocalla definiert sich inzwischen in einem Statut als ökologisches, produktives und touristisches Munizip. Gegen das Forschungszentrum für Kernenergie gab es in Achocalla Widerstand und das Munizip lehnte das Forschungszentrum ab. Die Regierung verlegte es also nach El Alto.

Können Sie erklären, wozu in dem Zentrum geforscht werden soll?

Das Forschungszentrum für Kernenergie arbeitet zu drei Themen: Erstens, im Bereich Gesundheit. Es gibt die Kritik, dass es günstiger wäre die Forschung zur Krebsfrüherkennung an ein Krankenhaus anzugliedern. Zweitens, Forschung um Exportobst und -gemüse keimfrei zu machen. Kritiker*innen zweifeln an, ob eine solche Nutzung notwendig ist. Falls sie für exportbestimmte Lebensmittel akzeptiert würde, sollte das ohnehin in der Grenzregion angesiedelt sein und nicht in El Alto. Das dritte Thema ist das Wichtigste: Es gibt einen kleinen Forschungsreaktor, der keine Energie produzieren wird, sondern nur der Forschung dient. Die Mehrheit der Menschen stellt sich jedoch die Frage: Wozu wollen wir zu Kernenergie forschen, wenn wir keine Kernenergie produzieren werden? Das macht keinen Sinn, deshalb wird davon ausgegangen, dass der Forschungsreaktor der erste Schritt in Richtung Atomkraftwerke ist. Mit dem Bau des Forschungszentrums soll dieses Jahr begonnen werden. Gibt es Widerstand? In der Stadt El Alto gab es keinen großen Widerstand. Im Kulturzentrum Wayna Tambo organisierten wir eine Reihe von Veranstaltungen, da wir gegen die Idee sind, in Bolivien Atomenergie zu produzieren.

In der einen Region gibt es also Menschen, die sich als ökologisch bezeichnen und über die Macht verfügen, das Projekt zurückzuweisen. Daraufhin wird das Projekt nach El Alto verlegt, eine Stadt die lange als Randgebiet der Hauptstadt La Paz angesehen wurde. Was glauben Sie, warum es in El Alto keinen Widerstand gab?

Zunächst ist Kernenergie für die Mehrheit der Bolivianer*innen immer noch kein Thema. Es ist weit weg vom Alltag, insbesondere für die ärmeren Sektoren. Die Zone, in der das Zentrum gebaut wird, ist ökonomisch betrachtet eine ziemlich arme Zone von El Alto. Viele Bewohner* innen betrachten das Zentrum mit der Hoffnung, dass es neue Möglichkeiten eröffnet, Einkommen zu generieren. Außerdem besteht bei vielen Menschen zu dem Thema ein großes Informationsdefizit, etwa über mögliche Risiken. Deshalb produzierten wir mit Wayna Tambo Radio- und Fernsehprogramme, um mehr Wissen darüber zu verbreiten, was es bedeutet in eine nukleare Phase einzutreten.

Gibt es gemeinsame Kämpfe zwischen Gruppen, die sich wie bei El Bala gegen Stauseen im Amazonas wehren, und Gruppen, die in der Stadt zum Thema Energie arbeiten?

Als die Regierung von Evo Morales die Pläne für die Wasserkraftwerke El Bala und Chapete wieder aufnahm (der Plan wurde bereits von mehreren Regierungen geprüft und fallen gelassen, d. Red.), reagierte der urbane Raum, zumindesten in den Medien, zuerst. Es handelt sich um kleine Organisationen in der Stadt, die vor allem von einer Mittelklasse mit ökologischem Diskurs getragen werden. Die indigenen Völker aus den betroffenen Territorien reagierten mit einer Diskussion über die Notwendigkeit der Befragung (consulta). Dies wird in den medialen Kampagnen in der Stadt aufgegriffen. Im Fall von El Bala und Chapete wird vermutet, dass die beauftragte Machbarkeitsstudie negativ ausfällt. Die Ergebnisse liegen jedoch noch nicht vor. Aufgrund der Transportwege ist offensichtlich, dass die dort produzierte Energie nicht für die Versorgung bolivianischer Städte gedacht ist. Bei den Wasserkraftwerken wird an die Nachfrage von (agro-)industriellen Zonen in Brasilien gedacht.

Zu Beginn erwähnten Sie die erneuerbaren Energien. Welche Bedeutung haben diese?

Seit den 1970ern gibt es Studien, die zeigen, dass eine Strategie mit kleinen Wasserkraftwerken, keine großen wie El Bala, reichen würde, um die Nachfrage nach Energie in Bolivien zu decken. Außerdem verfügt Bolivien über zwei sehr wichtige Elemente: Das Altiplano und der Salar de Uyuni sind zwei Regionen mit einer hohen Sonnenkonzentration. Das würde eine große Produktion von Solarenergie ermöglichen. Außerdem gibt es im Altiplano Zonen mit viel Wind, wo wir Windenergie erzeugen könnten. Die zurzeit verfolgte Strategie ist für die interne Versorgung also nicht notwendig.

Mit der Stromversorgung gibt es in den Städten offenbar kein Problem. Momentan gibt es in den Städten jedoch Wasserknappheit. Liegt das Problem beim Wassermanagement oder bei der ungewöhnlichen Dürre?

Das Ganze ist viel komplexer. Beim Thema Wasser gibt es drei Probleme: Zum einen die Auswirkungen des Klimawandels. Wir haben immer kürzere, aber stärkere Perioden der Regenzeit. Das heißt, es regnet sehr viel, aber in kurzer Zeit. Für die Wasserversorgung in den Städten hat dies negative Folgen. Es gibt Städte wie Cochabamba und Tarija, die historisch an Wasserknappheit leiden. La Paz leidet wegen der geografischen Lage hingegen eigentlich nicht darunter. Außerdem wirkt sich der globale Klimawandel sehr negativ auf die bolivianischen Gletscher aus. Zweitens verlieren Flüsse durch Übernutzung an Wassermenge. Das Problem ist, dass es keine Politik gibt, die die integrale Nutzung von Flüssen garantiert. Drittens gibt es ein Problem mit dem Wassermanagement. Die Frage des Umgangs mit der Wasserknappheit wird in den nächsten Jahren an Schärfe zunehmen. Es wird zu einem Thema der öffentlichen Agenda werden. Die Menschen diskutieren über Wasser, weil es sie in ihrem Alltag direkt betrifft.

Wie betrifft es die Menschen im Alltag?

In La Paz gibt es Viertel, die nur in bestimmten Stunden mit Wasser versorgt werden und nicht den ganzen Tag. Jetzt haben wir Februar und im März endet die Regenzeit.Trotzdem haben wir es nicht geschafft, eine normale Wasserversorgung zu erreichen. Die Menschen fragen sich, was erst in der Trockenzeit im Juni passieren wird. Dieses Problem hat zu ernsthaften Debatten über die Beziehung zwischen der urbanen und ruralen Welt geführt. Um die Wasserknappheit in La Paz zu mildern, wird Wasser aus einem Stauwerk in La Paz genutzt, aus dem historisch ein nahegelegenes Tal für die Gemüseproduktion versorgt wird. Die Bauern und Bäuerinnen beschweren sich, dass sie ihre Produktion verlieren werden wegen des Verbrauchs in der Stadt. Zum ersten Mal wird die Rolle der Stadt beim Wasserverbrauch diskutiert. Dadurch entwickelt sich auch eine Kritik an der imperialen Lebensweise.

Was meinen Sie damit?

Die mit dem Lebensstil verknüpfte, verschwenderische Wassernutzung in der Stadt wird in Frage gestellt. Es wird debattiert, ob im öffentlichen Raum wirklich wasserintensive Zierblumen gepflanzt werden sollen statt der lokalen, ans Klima angepassten Pflanzen. Oder die Wassernutzung zur Autowäsche, was mit unserem Lebensstil zusammenhängt. So wurde auch die Debatte angestoßen, ob das Wasser in besagtem Stauwerk tatsächlich für die Stadt genutzt werden soll oder lieber für die Produktion von gesundem lokalem Gemüse.

Ist Ihre Organisation Red de la Diversidad auch in dem Bereich aktiv?

Ja, für uns sind das zentrale Themen. Wir arbeiten für die Reziprozität zwischen dem ländlichen und städtischen Raum mit dem Horizont des Vivir Bien. Gerade in Bezug auf Wasser haben wir es geschafft, mit verschiedenen Organisationen Diskussionen anzustoßen. Wir haben Wissen über Wassersysteme verbreitet und zu der Frage gearbeitet, wie die Städte in Wassersysteme integriert sind. Die Stadt El Alto verschmutzt den Titicacasee beispielsweise enorm. Wir stoßen eine Diskussion darüber an, wie Wasser in die Stadt gelangt, und wie die Stadt dieses verschmutzt wieder ans Land zurückgibt. Deshalb diskutieren wir unseren Wasserverbrauch in der Stadt. Wir arbeiten seit etwa zehn Jahren dazu und seit etwa vier Jahren verzeichnen wir in kleinen Sektoren Erfolge. Durch die Wasserknappheit wurde eine Diskussion angeregt und das Interesse an dem Thema ist gewachsen.

Das Bewusstsein um das Wasserproblem wächst. Kann das mit einer Kritik an Staudämmen verknüpft werden?

Ja! Mehr noch als zur Energie ist das Bewusstsein für unsere natürlichen Ressourcen gewachsen. Wasser brauchen wir im Alltag immer und durch die Wasserknappheit der vergangenen Monate ist den Menschen ihre Verletzlichkeit bewusst geworden. Wer leidet unter der Wasserknappheit? Nicht alle Viertel in La Paz und El Alto litten unter Wasserknappheit, nur einige Stadtteile. Es gab deshalb so eine große Medienaufmerksamkeit, weil die Viertel, in denen die Reichen wohnen, von der Wasserknappheit betroffen waren. Viele ärmere Viertel hatten hingegen kein Problem. Dadurch, dass es privilegierte Personen betraf, ist die mediale Aufmerksamkeit gestiegen. Es waren die Reichen, die zu einer Zisterne mussten – etwas, was sie in ihrem Leben noch nie erfahren haben. Das hatte einen starken Effekt auf die Gesellschaft. Es wurde eine Debatte über unsere natürlichen Reichtümer und Gemeingüter angestoßen. Die Themen Wasser, Energie und Staudämme werden diskutiert. Die Menschen in der Stadt sind in ihrem Alltag von Projekten wie Mega-Wasserkraftwerken nicht betroffen. Sie wissen nichts über die betroffenen Regionen und die Menschen. Die Erfahrung mit dem Wasser schafft ein Bewusstsein, dass diese Themen das Leben der Menschen stark beeinflussen. In diesem Moment entsteht die Möglichkeit, wieder über diese Wasserkraftwerke zu sprechen. Das Thema ist nicht mehr weit weg.

MIT DER ARMEE GEGEN DIE SHUAR

Frau Martínez, was wirft die ecuadorianische Regierung Ihrer Organisation vor?
Wir sollen im Fall des Bergbaukonflikts in der Cordillera del Cóndor mit unseren öffentlichen Erklärungen und unseren Tweets zur Gewalt aufgerufen haben, gegen unsere offiziell anerkannten Ziele verstoßen und uns verbotenerweise in die Politik eingemischt haben. Alles auf der Grundlage des Dekrets 16 aus dem Jahr 2013, das die Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen staatlichen Interessen unterwirft. Wir haben diese Anschuldigungen zurückgewiesen.

Das Umweltministerium ist Ihnen schließlich gefolgt und hat den Antrag des Innenministeriums auf Auflösung am 12. Januar zurückgewiesen. Um was geht es im Konflikt in der Cordillera del Cóndor im südlichen Amazonasbecken Ecuadors?
Das ganze Gebiet war ein Naturschutzgebiet, es weist eine sehr hohe Biodiversität auf, viele Flüsse und Wasserfälle, und ist außerdem angestammtes Territorium der Shuar-Indigenen. Diese leben nicht nur vom Wald, sondern sie leben eine tiefe spirituelle Verbindung mit der Natur. Bereits am Anfang der Regierung Correa im Jahr 2007 wurde aufgrund von Bergbauinteressen das Naturschutzgebiet aufgehoben, während andere politische Strömungen im Rahmen der verfassunggebenden Versammlung mit dem ‘Bergbaumandat’ alle Bergbaukonzessionen außer Kraft setzten, um den Extraktivismus zu bremsen. Seitdem wurde immer wieder versucht, in diesem Gebiet mit dem industriellen Bergbau zu beginnen. Zuerst war ein kanadisches Unternehmen involviert und jetzt ein chinesisches, Explorcobres. Es kam zu Konflikten, wem das Land gehört, die vorgeschriebene Umweltverträglichkeitsstudie wurde niemals durchgeführt und auch nicht die vorherige Konsultation, ein international verbrieftes Recht im Rahmen der Selbstbestimmung indigener Völker. In diesem Zusammenhang sind bereits drei Shuar ums Leben gekommen, ohne dass ihr Tod aufgeklärt worden wäre, und im Dezember 2016 starb bei der Besetzung eines Bergbaucamps ein Polizist.

Wie haben Sie diesen Konflikt begleitet?
Wir haben darüber informiert, was in diesem abgelegenen Gebiet geschieht, haben die Umweltverträglichkeitsstudie angemahnt, die Lokalbevölkerung über ihre Rechte aufgeklärt. Aber eigentlich geht es darum, dass Acción Ecológica aufgrund ihrer Ablehnung der extraktiven Politik unbequem ist, das internationale Ansehen der Regierung schädigt und deshalb mundtot gemacht werden soll. Es wird immer wieder versucht zu verbieten, mit den Indigenen solidarisch zu sein, Kundgebungen zu organisieren und sogar die digitalen Netzwerke zu nutzen.

Fast gleichzeitig mit der Nachricht, dass Acción Ecológica nun doch nicht aufgelöst wird, hat die Regierung den Ausnahmezustand in der Cordillera del Condor verlängert, der schon seit Mitte Dezember gilt, und damit auch die Präsenz der Armee in den indigenen Gebieten. Die Versammlungs-, Bewegungs- und Meinungsfreiheit sind damit in dem betreffenden Gebiet außer Kraft gesetzt. Der Shuar-Sprecher Agustín Wachapá sitzt seit dem 17. Dezember im Gefängnis, weil er Unruhe gestiftet haben soll…
Ja, die Situation ist sehr kritisch. Die anderen Shuar, die außer Wachapá noch verhaftet worden waren, sind zwar in den letzten Tagen wieder freigekommen, aber der Konflikt geht weiter. Die Bergbau-Aktivitäten sind momentan gestoppt.

Sie haben an der Verfassung von 2008 mitgewirkt, die international berühmt geworden ist, weil sie der Natur Rechte zuschreibt und im Rahmen der sogenannten Plurinationalität und des Guten Lebens auch indigene Rechte erweitert. Was ist aus diesen Rechten geworden?
Keines dieser Rechte ist im Fall der Cordillera del Condor respektiert worden. Die Verfassung zielt auf ein grundsätzlich anderes Wirtschaftsmodell ab. Die Indigenen wurden an so wichtigen Richtungsentscheidungen, wie ob Ecuador in den industriellen Bergbau einsteigen soll oder nicht, in keiner Weise beteiligt. Bergbau ist eine der Wirtschaftsaktivitäten, die die Natur am gründlichsten zerstört. Aufgrund von Wirtschaftsinteressen haben wir uns vom Modell des Guten Lebens vollkommen verabschiedet.

In Ecuador ist Wahlkampf, im Februar werden Präsident und Parlament gewählt. Intellektuelle wie der Brasilianer Emir Sader werfen Ihnen und anderen, die sich mit Ihnen solidarisieren, vor, durch Ihre Kritik an der Correa-Regierung die Fortführung des Projekts der Bürgerrevolution zu gefährden. Was würden Sie Emir Sader erwidern?
Leute wie er sind durch ihr Wegschauen mitverantwortlich dafür, dass sich die Rechte innerhalb der progressiven Regierungen Lateinamerikas immer mehr ausgebreitet hat. Die Leute, die in der ecuadorianischen Regierung den Bergbau vorantreiben, sind Rechte, die die Interessen bestimmer Wirtschaftseliten vertreten. Wir alle waren dafür verantwortlich, rechtzeitig darauf hinzuweisen, dass diese Regierung eine falsche Richtung einschlägt und sich vom in der Verfassung vorgezeichneten Weg entfernt. Durch ihr Schweigen machen diese Leute sich mitschuldig an all der illegalen Bereicherung, all den Menschenrechtsverletzungen, der Landnahme, der Verwüstung ganzer Landstriche durch den Extraktivismus – und daran, dass hier ein ganz anderes politisches Projekt, das gangbar erschien, aufgegeben wurde.

Was wird der nächste Schritt von Acción Ecológica sein?
Wir sind der Überzeugung, dass wir die Wahrheit ans Licht holen müssen, wir arbeiten an der Einrichtung einer Wahrheitskommission darüber, was mit den Rechten der Natur und der Indigenen geschieht. Wir müssen publik machen, wie Naturschutzgebiete von der Regierung einfach umdefiniert werden, wie die vorgeschriebene Vorab-Befragung der Indigenen übersprungen wird, was für Umweltprobleme der Bergbau bereits jetzt in dem Gebiet verursacht hat.

“DAS URTEIL IST VÖLLIG HALTLOS!”

Am 11. Juli 2016 hat ein paraguayisches Gericht elf Kleinbauern zu Strafen von bis zu 30 Jahren Haft – 40 Jahre mit Sicherheitsverwahrung – für das Massaker von Curuguaty verurteilt. Das Gericht befand die Aktivist*innen schuldig, mehrere Verbrechen begangen zu haben, unter anderem Mord, Besetzung fremden Eigentums und Bildung einer terroristischen Vereinigung. Was halten Sie von diesem Verfahren?

para_airton_martinez


Aitor Martínez Jiménez hat als Anwalt die Klage gegen Paraguay vor dem Interamerikanischen Gerichtshof vorgebracht. Martínez ist derzeit Professor für Jura an der Universität Nebrija, Madrid, zuvor hatte er einen Lehrauftrag für Menschenrechte an der Autonomen Universität von Asunción, Paraguay. Er hat an der Universität Carlos III in Madrid über internationales Recht promoviert. Aitor Martínez beschäftigt sich mit Paraguay, seit er 2007 für die spanische Botschaft in Paraguay arbeitete. Dabei hat er dauerhafte Kontakte zur paraguayischen Zivilgesellschaft aufgebaut und in mehreren Fällen die Opfer von Menschenrechtsverbrechen verteidigt. Er arbeitet auch für das International Legal Office for Cooperation and Development, das von dem bekannten Juristen Baltasar Garzón geführt wird.


Das Gerichtsverfahren wurde von Anfang an mit einem Ziel geführt, die Kleinbauern zu verurteilen, die Verbrechen gegen die Kleinbauern wurden nicht einmal untersucht. Zivilgesellschaftliche Organisationen haben mehrere schweren Menschenrechtsverbrechen, die während des Massakers von den Sicherheitskräften begangen worden sind, dokumentiert und angezeigt: Es wurden Leichen von Kleinbauern gefunden, denen in den Mund geschossen worden war. Fernsehsender filmten am nächsten Tag Leichen von Kleinbauern, die offensichtlich nach ihrem Tod in Maisfeldern versteckt wurden. Und das sind nur einige Beispiele für die Beweismittel, die wir bei der Staatsanwaltschaft eingereicht haben. Doch die ging nicht darauf ein, von Anfang an ging es nur darum, die Kleinbauern zu verurteilen.

Sie haben 2014 eine Beschwerde gegen Paraguay vor dem Interamerikanischen Gerichtshof gegen das Gerichtsverfahren zum Massaker von Curuguaty vorgebracht. Auf was bezieht sich die Beschwerde konkret?

Dabei geht es vor allem um Verstöße gegen die Amerikanische Konvention für Menschenrechte (CADH). Zum einen wurden die Angeklagten ohne hinreichende Beweise angeklagt und wichtige Beweismittel, die auf dem Tatort gefunden wurden, fanden keine Verwendung. Bei dem Verfahren kam es zu massiven Verstößen gegen die Prozessordnung. Außerdem gab es Verstöße gegen das Menschenrecht, Zugang zur Justiz und gerichtlichen Schutz zu bekommen. Aber die Staatsanwaltschaft hat keine Klagen gegen die involvierten Sicherheitsbeamten angenommen. Polizisten wurden wegen außergerichtlicher Hinrichtungen, Versuch des Verschwindenlassens, Folter und anderer Delikte angezeigt. Mehrere Anzeigen mit umfangreichen Beweismitteln wurden eingereicht, dennoch hat die Staatsanwaltschaft nie in diese Richtung ermittelt. Den Opfern wurde also der Zugang zur Justiz verweigert.

Der Interamerikanische Gerichtshof hat dem paraguayischen Staat im vergangenen Jahr eine Frist von drei Monaten gewährt, um auf diese Beschwerden einzugehen. Was ist daraus geworden?

Die paraguayische Justiz antwortete, dass den Verurteilten noch immer innerhalb Paraguays Rechtsmittel zur Verfügung stünden, deshalb sei der Interamerikanische Gerichtshof noch nicht für den Fall zuständig. Tatsächlich steht im Fall Curuguaty immer noch ein Berufungsverfahren aus, das im August 2016 eingereicht worden ist. Doch die Justiz hat noch nicht darauf reagiert, obwohl die Fristen, die sich die paraguayische Justiz selbst setzt, abgelaufen sind. Es ist also doch so, dass für die Angeklagten keine weiteren Rechtsmittel zur Verfügung stehen, denn es ist ja der paraguayische Staat selbst, der das Berufungsverfahren blockiert.
Gehen wir auf die Einzelheiten des Falls ein. Dem Urteil des Gerichts zufolge hat der Anführer der Landbesetzer, Rubén Villalba, der Polizei eine Falle gestellt und dann den Polizeioffizier Erven Lovera auf kurze Distanz mit einer Schrotflinte erschossen. Daraufhin sei dann ein Schusswechsel ausgebrochen, bei dem weitere 16 Personen starben. Viele zweifeln an dieser Version. Was glauben Sie, was in Curuguaty wirklich passiert ist?
Dem Gericht zufolge hat Rubén Villalba mit einer Schrotflinte auf Erven Lovera geschossen, aber aus dem polizeilichen Gutachten geht hervor, dass aus dieser Flinte gar nicht geschossen worden ist. Man hat die Patronenkammer und den Lauf untersucht und fand keine Schmauchspuren.
Während der Beweiserhebung wurde der Antrag gestellt, die Fingerabdrücke der Angeklagten mit denen zu vergleichen, die man auf dieser und anderen beschlagnahmten Waffen gefunden hat. Aber das wurde einfach nicht gemacht, ein eklatanter Mangel an Sorgfalt. Und das sind nur einige krasse Beispiele für die Unstimmigkeiten in diesem völlig haltlosen Urteil. Was wirklich in Curuguaty passiert ist, kann man deshalb nicht wissen. Die Staatsanwaltschaft, also die Institution, die den Auftrag hatte, die Geschehnisse zu untersuchen, hat ihre Aufgabe nicht erfüllt.

Sie berichteten von unterdrückten Beweismitteln, das ging auch durch die Presse. Können sie noch mehr Beispiele für Beweismittel geben, die einfach „verschwunden“ sind?

Wenn man den Bericht über die Beweismittelsammlung am Tatort mit dem Bericht über die Beweismittel vergleicht, für die forensische Gutachten erstellt wurden, sieht man sofort, dass die nicht zusammenpassen. Es gibt Beweismittel, die am Tatort gesammelt worden sind, die aber nicht begutachtet wurden. Andere Gegenstände wurden nicht am Tatort gesammelt, aber dennoch gibt es Gutachten über sie.
Auf der anderen Seite tauchen fundamental wichtige Beweismittel nirgendwo auf, wie etwa die Videoaufnahmen, die vom Helikopter aus gemacht wurden, der die Polizeioperation begleitete. Ebenso die vielleicht wichtigsten Beweismittel, die hunderten Patronenhülsen vom NATO-Kaliber 5,56mm, die am Tatort gefunden worden sind. Diese Patronen werden in automatischen Waffen verwendet. Über Monate hinweg hat der Staatsanwalt Jalil Rachid behauptet, dass nur Munitionshülsen von Schrotflinten gefunden wurden. Videoaufnahmen eines Fernsehsenders zeigen aber, wie er selbst Taschen voller 5,56mm Patronenhülsen am Tatort entgegennimmt.

Nichtregierungsorganisationen, wie etwa die Koordination Menschenrechte Paraguay CODEHUPY kritisieren die Rolle, die der Staatsanwalt Jalil Rachid in dem Fall gespielt hat. Wie bewerten Sie dir Rolle von Jalil Rachid? War es eine politische Entscheidung, ihm den Fall zu übertragen?

Wenige Tage nach dem Vorfall, als bekannt wurde, dass das Parlament ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Fernando Lugo wegen des Massakers anstrengen wird, wurde der zuständige Staatsanwalt ausgetauscht. So kam Jalil Rachid an den Fall. So wurde sichergestellt, dass die Justiz die Argumentation, mit der die Absetzung Lugos begründet werden sollte, bestätigt: Dass Kleinbauern, die durch Lugos Politik für eine Landreform radikalisiert worden seien, die Polizei angegriffen hätten.
Jalil Rachid ist der Sohn von Bader Rachid, dem ehemaligen Vorsitzenden der Colorado-Partei, die für die Absetzung Lugos gestimmt hatte. Und Jalil Rachid ist selbst Parteimitglied der Colorados. Er war also ein Vertrauensmann für die Opposition.
Darüber hinaus ist die Familie Rachid befreundet mit der Familie des verstorbenen Blas N. Riquelme, der auch ein ehemaliger Vorsitzender der Colorados war. Riquelme war der vorgebliche Besitzer des Grundstücks Marina Kué.

Wenige Monate nach dem Massaker von Curuguaty hat das Unternehmen Campos Morombi das Grundstück Marina Kué  dem paraguayischen Staat „geschenkt“, obwohl es ja eigentlich nie offiziell dem Unternehmen gehört hat. Warum wurde das gemacht? Wie bewerten sie die Tatsache, dass der Staat dieses „Geschenk“ angenommen hat?

Offensichtlich war das ein juristisches Manöver. Während der mündlichen Verhandlung des Massakers wurde schnell klar, dass das Unternehmen Campos Morombi sich das Grundstück illegal angeeignet hatte. Die Landbesetzer waren also im Recht. Wenn das juristisch festgestellt worden wäre, hätte man die Kleinbauern nicht wegen Besetzung fremden Eigentums belangen können. Und man hätte Untersuchungen gegen Campos Morombi und gegen die Richter und Staatsanwälte einleiten müssen, die im Juni 2012 die Räumung befohlen hatten.
Dieser Trick wurde aus folgendem Grund angewandt: Campos Morombi überschrieb das Grundstück dem Staat, und der nahm das Grundstück an. Nur auf dieser Grundlage konnte das Gericht argumentieren, dass zum Zeitpunkt der Besetzung das Land der Firma Campos Morombi gehörte und dementsprechend die Kleinbauern verurteilen.

Derzeit existiert ein weiterer Landkonflikt um einige Grundstücke in Guahory, die sich einige Farmer mit brasilianischem Migrationshintergrund illegal angeeignet haben. Was für eine Verbindung sehen Sie zwischen diesem aktuellen Fall und dem von Curuguaty?

In dem Fall von Guahory vertrete ich ebenfalls die Opfer vor dem Interamerikanischen Gerichtshof, das sind ungefähr 200 Familien. In diesem Fall haben wir eine einstweilige Verfügung beantragt, damit das Gericht interveniert. Die Familien wurden auf brutale Weise enteignet, wobei gegen jede Rechtsstaatlichkeit verstoßen wurde.
Die Räumung von Guahory wurde ohne gerichtliche Verordnung durchgeführt und von den Agrarunternehmern dieser Region finanziert, die offen zugegeben haben, dass sie die Sicherheitskräfte dafür bezahlt haben. Außerdem haben diese Agrarunternehmer sich aktiv an der Polizeiaktion beteiligt, indem sie die Hütten der Kleinbauern mit ihren Traktoren und Bulldozern zerstörten, mit dem einzigen Ziel, sich umstrittene Grundstücke anzueignen.
Der Fall von Guahory zeigt, wie der Staat und seine Institutionen vor den Interessen einer kleinen unternehmerischen Oligarchie zurückweichen.
In Curuguaty wurde nach demselben Modell vorgegangen. Das Grundstück Marina Kué gehörte dem Staat und war eigentlich für eine Landreform vorgesehen. Dennoch hat die Firma Campos Morombi – die dem Ex-Vorsitzenden der Colorados, Blas N. Riquelme gehörte – sich dieses Grundstück einfach angeeignet. Am Ende hat die Macht dieses privaten Unternehmens erreicht, dass eine illegale Räumung der Landbesitzer in einer Tragödie endete.
Man sieht: Die Parallelen sind deutlich. Sie korrespondieren mit dem wichtigsten strukturellen Problem in Paraguay, der extremen Ungleichheit der Landverteilung. Man muss daran denken, dass in diesem Land etwa 89 Prozent des Landes etwa zwei Prozent der Landbesitzer gehört.

„UNTER ALLER MENSCHENWÜRDE“

domradio.de: Es heißt, ein Drogenkrieg stecke hinter dieser Revolte. Was meinen Sie?
Es ist immer eine offizielle Entschuldigung von der Regierung, dass die Drogenkriege die große Gewalt in den Gefängnissen provozierten. Es ist sicher ein Aspekt, aber die Situation in den brasilianischen Gefängnissen ist ein richtiger Horrorfilm. Die großen Überbelegungen durch die vielen Gefangenen, die ohne Gerichtsurteil oft jahrelang in Untersuchungsgefängnissen sitzen – das sind 40 bis 60 Prozent aller Inhaftierten – bewirken, dass die Menschen revoltieren, die in diesen Höllen Brasiliens eingesperrt sind.

Sie sehen also mehr die unmenschlichen Bedingungen in den Gefängnissen als Ursache für die Revolte?
Ja, ich habe dieses Gefängnis in Manaus selbst vor zwei Jahren besucht. Es fehlt an grundsätzlichen persönlichen Hygieneartikeln, an juristischem und medizinischem Beistand. Die medizinische Versorgung ist fast gleich Null. Und in einer Zelle mit acht Betten sind 30 bis 40 Menschen eingepfercht. Das ist unter aller Menschenwürde. Und es ist ganz klar, dass solche Zustände Revolten hervorbringen. Jeder kleine Streit kann zu einer großen Rebellion werden.

Was ist das für ein Gefängnis in Manaus?
Manaus hat ein Gefängniskomplex, davon sind in vier Gefängnissen Revolten ausgebrochen. Vergangene Nacht gab es wieder fünf Tote. Die Meldung von 54 Toten wird wahrscheinlich nicht das endgültige Ergebnis sein. Hinzu kommt: Das Gefängnis in Manaus ist ein privatisiertes Gefängnis. Der Staat hat also die Sicherheitsfrage an eine Sicherheitsfirma vermietet. Und diese Firma hat natürlich kein Interesse an Resozialisierungsmaßnahmen wie beruflicher, pädagogischer oder psychologischer Betreuung. Für sie ist jeder Mensch, der im Gefängnis sitzt, ein Wirtschaftsfaktor. Je mehr, desto lukrativer.

Wer sind die Menschen, die ins Gefängnis gesteckt werden?
Zwei Drittel der Menschen in brasilianischen Gefängnissen sind jugendliche Erwachsene im Alter zwischen 18 und 25 Jahren. Die meisten leben in den Favelas unter der Armutsgrenze und sind dunkelhäutig. Sie erhalten keinen staatlichen Rechtsbeistand, weil er in Brasilien nicht funktioniert. Wir von der Gefängnisseelsorge haben in den letzten Monaten bereits gewarnt, dass in ganz Brasilien in allen Gefängnissen so eine Rebellion, so ein Massaker passieren kann. Die Richter, die Staatsanwälte, die Pflichtverteidiger und andere wissen Bescheid. Es gibt genügend Fotos und Filme oder anderes Informationsmaterial über die Situation in den Gefängnissen. Aber leider machen die öffentlichen Behörden mit ihrer repressiven Politik weiter – einsperren und die Augen schließen. Und schieben es dann auf die Drogenkartelle.

Newsletter abonnieren