DER LANGE SCHATTEN VON EVO MORALES

Wie weiter? Präsident Luis Arce und Parteichef Evo Morales beim 26. Jahrestag der MAS (Foto: Ricardo Carvallo Terán, ABI, frei verfügbar)

Die Freiheit von Jeanine Áñez endete versteckt in einem Bettkasten. Früh am 13. März wurde sie unter einer Matratze im Haus ihrer Verwandten in Trinidad, der Hauptstadt des Departamentos Beni, von Polizeikräften entdeckt, dann festgenommen und nach La Paz geflogen. Der Vorwurf der Generalstaatsanwaltschaft: Beteiligung am damaligen Putsch gegen Präsident Evo Morales, außerdem Verschwörung, Aufwiegelung und Terrorismus. Morales und die Bewegung zum Sozialismus (MAS) hatten bei den Wahlen im Oktober 2019 zwar gesiegt, unter Vorwürfen des Wahlbetrugs wurde Evo Morales jedoch mit Unterstützung von Militärs zur Flucht aus dem Land gezwungen (LN 547). Die Macht übernahm als selbsternannte Übergangspräsidentin Jeanine Áñez, die sich dann ein Jahr lang an dem Amt festhielt.

Am Tag vor Áñez’ Festnahme waren bereits zwei frühere Minister ihrer De-facto-Regierung verhaftet worden: Rodrigo Guzmán (Energie) und Álvaro Coimbra (Justiz). Weitere Minister*innen sind auf der Flucht, darunter der ehemalige Innenminister Arturo Murillo und der frühere Verteidigungsminister Fernando López; beide hatten sich direkt nach dem Wahlsieg der MAS im Oktober 2020 in die USA abgesetzt. Auch ehemalige Polizeikommandeur*innen und hohe Militärs werden von der Justiz gesucht.

Der Vorstoß der Staatsanwaltschaft kam nicht überraschend, viele hatten ihn längst erwartet. Bemerkenswert ist allerdings der Zeitpunkt nur sechs Tage nach den Regionalwahlen, bei denen am 7. März 2021 Gouverneur*innen, Regionalparlamente und Bürgermeister*innen neu bestimmt wurden. Wurde mit der polarisierenden Aktion absichtlich gewartet bis nach dem Wahltag? Oder sollte damit politische Handlungsfähigkeit gezeigt werden? Nach dem großen Erfolg bei der Präsidentschafts- und Parlamentswahl im Oktober 2020 erreichte die MAS nun bei den Regionalwahlen ein eher durchwachsenes Ergebnis, kann ihre Macht in ländlichen Regionen aber festigen: In den vier größten Städten Boliviens, Santa Cruz, El Alto, La Paz und Cochabamba verpasste sie wie schon 2015 das Bürgermeisteramt, in anderen Großstädten verlor sie deutlich. Bei den Wahlen der Gouverneur*innen siegte die MAS in drei der neun bolivianischen Departamentos, in vier weiteren erreichte sie die Stichwahl am 11. April.

Áñez räumte den Militärs per Dekret Straffreiheit ein


Die Rechte Boliviens verzeichnete bei den Regionalwahlen einige Erfolge, bleibt dabei aber zersplittert: In der Oppositionshochburg Santa Cruz siegte bei der Gouverneurswahl der rechtsklerikale Populist Luis Fernando Camacho, der im November 2019 die Proteste gegen Evo Morales organisiert und dann mit Bibel und Nationalflagge in den Händen den alten Präsidentenpalast in La Paz symbolisch zurückerobert hatte. Neuer Bürgermeister in La Paz wird Iván Arias, ein ehemaliger Minister der Regierung von Áñez. Während Camacho und Arias sich mit ihrer geplanten Amtsübernahme Anfang Mai Immunität vor Strafverfolgung sichern könnten, bleibt diese für Jeanine Áñez unerreichbar: Sie kandidierte im Amazonas-Departement Beni als Gouverneurin, landete bei der Wahl aber nur auf dem dritten Platz.

Innerhalb der MAS hatte die Auswahl mancher Kandidat*innen zuvor für Streit gesorgt. In El Alto, der Stadt Potosí und Cochabamba beklagten protestierende Parteianhänger und verbündete soziale Bewegungen, dass Evo Morales als Parteivorsitzender die Kandidat*innen per dedazo, per Fingerzeig, bestimme, statt die Parteibasis entscheiden zu lassen. Besonders hitzig war der Konflikt in El Alto, Boliviens zweitgrößter Stadt, die von ländlicher, indigener Bevölkerung und starken sozialen Organisationen geprägt ist: Dort wurde die populäre ehemalige Senatspräsidentin Eva Copa trotz großer Chancen auf das Amt als Bürgermeisterin von der MAS-Parteispitze nicht aufgestellt – Copa entschied sich deshalb für eine Kandidatur in der neuen Gruppierung Jallalla La Paz, mit der sie die Wahl mit überragenden 69 Prozent der Stimmen gewann. Im Departamento Pando wird die frühere MAS-Politikerin Ana Lucía Reis für eine andere Partei Bürgermeisterin der Hauptstadt Cobija, die Stichwahl um das Gouverneursamt erreichte Regis Richter, der zuvor von sozialen Bewegungen als MAS-Kandidat bevorzugt, dann aber von der Parteispitze abgelehnt wurde.

Es brodelt an manchen Stellen innerhalb der MAS. Dabei hatten manche kurzzeitig eine mögliche Neuaufstellung der MAS vorausgesehen, als im Oktober 2020 Luis Arce mit 55 Prozent der gültigen Stimmen und großem Vorsprung zum Präsidenten des Plurinationalen Staats Bolivien gewählt worden war. Das Ergebnis war damals in dieser Deutlichkeit eine große Überraschung, genauso wie die Erkenntnis: Die MAS kann auch ohne ihre Identifikationsfigur, den Parteivorsitzenden und langjährigen Präsidenten Evo Morales (2006-2019) gewinnen. Nach fast 14 Jahren an der politischen Macht gab es innerhalb sozialer Bewegungen und der MAS gerade von Seiten junger Menschen durchaus den Wunsch, die Korruption und den machismo stärker zu bekämpfen und Themen wie Feminismus und Umweltschutz mehr zu berücksichtigen. Es schien der Zeitpunkt einer Abnabelung gekommen − von Evo Morales und seinem einflussreichen Umfeld in Regierung und Partei. „Wir werden regieren, indem wir auf das bolivianische Volk hören“, hatte Vizepräsident David Choquehuanca noch als Kandidat vor der Wahl 2020 erklärt, „und sie fordern, dass die Entourage [von Morales] nicht zurückkehrt.“ Doch nur einen Tag nach der Vereidigung Arces am 8. November 2020 überquerte Morales von Argentinien aus die Grenze zu Bolivien, wo er von Tausenden Anhängern empfangen und auf einem Konvoi durch das halbe Land begleitet und bejubelt wurde.

Es brodelt an manchen Stellen innerhalb der MAS


Nachdem Morales nach einem Jahr im Exil zurückkehrte und als Parteivorsitzender der MAS im Regionalwahlkampf allgegenwärtig war und aus der ersten Reihe Entscheidungen trifft, scheint Präsident Arce häufig im langen Schatten der Identifikationsfigur Morales zu stehen. Am Tag der Festnahme von Áñez war es Morales, der sich via Kurznachrichtendienst Twitter meldete und in einem Tweet forderte: „Für Gerechtigkeit und Wahrheit für die 36 Todesopfer, die mehr als 800 Verwundeten und die mehr als 1.500 bei dem Staatsstreich illegal Inhaftierten. Dass die Täter und Komplizen der Diktatur, die die Wirtschaft ausgeplündert und das Leben und die Demokratie in Bolivien angegriffen haben, untersucht und bestraft werden.“ Áñez und die früheren Minister selbst nannten ihre Festnahmen „illegal“, sie sprachen von „politischer Verfolgung“ und „Machtmissbrauch“. Zu ihrer Unterstützung organisierten die rechten Bürgerkomitees von Santa Cruz, La Paz und Cochabamba große Kundgebungen.

Die Verhaftung von Áñez und Co. schlug auch international Wellen. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) forderte die Freilassung der Gefangenen „bis zu unparteiischen Prozessen“ und schlug eine internationale Kommission zur Untersuchung der letzten Regierungsperiode des ehemaligen Präsidenten Morales bis zur Gegenwart vor − ein Vorschlag, den zwölf ehemalige Präsident*innen der Region, darunter Luiz Inácio „Lula“ da Silva und Dilma Rousseff aus Brasilien, in einer gemeinsamen Erklärung entschieden ablehnten. Die USA forderten die Freilassung von Áñez und ihren Ministern, die Europäische Union und das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte forderten ordentliche Verfahren und eine transparente Justiz frei von politischem Druck. Der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador bewertete dagegen die Aufnahme des Verfahrens positiv.

Jeanine Áñez und ihre ehemaligen Minister sitzen nun erst einmal sechs Monate in Untersuchungshaft. Ihnen werden von der Generalstaatsanwaltschaft vor allem zwei folgenschwere Vorwürfe gemacht: Erstens der des Staatsstreichs, wobei die Opposition zur Verteidigung von Áñez argumentiert, diese habe gemäß der Rangfolge in der bolivianischen Verfassung das Amt als Präsidentin übernommen. Deshalb werden in Bolivien jetzt auch gründlich entscheidende Details diskutiert: Wann und warum genau hatte sich Morales 2019 zum Rücktritt und zur Flucht entschieden? War das, als ihn Oberbefehlshaber des Militär unter Druck setzten oder war der entscheidende Auslöser bereits zuvor die bröckelnde Unterstützung durch Verbündete wie den mächtigen Gewerkschaftsdachverband Central Obrera Boliviana (COB)? Auch die Rolle der geplanten Ausbeutung von Lithium und eine vermutete Finanzierung des Putsches durch die Regierung Großbritanniens wird ausgiebig erörtert.

Der zweite schwerwiegende Vorwurf der Anklage sind die Massaker in Senkata (La Paz), Sacaba (Cochabamba) und anderen Orten an Demonstrant*innen, bei denen im November 2019 nach offiziellen Ermittlungen mindestens 35 Menschen getötet und 833 verletzt wurden. Nach der Machtübernahme war es damals in mehreren Landesteilen zu massiven Kundgebungen für Evo Morales und gegen die rechte De-facto-Regierung gekommen, und zu Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften und zwischen verschiedenen politischen Lagern. Einen Tag nach ihrer Vereidigung als Präsidentin erließ Jeanine Áñez das Dekret 4078, das dem Militär bei Einsätzen zur Herstellung der öffentlichen Ordnung Straffreiheit einräumte – praktisch die Erlaubnis für das Militär, die Proteste mit brutaler Gewalt zu beenden. Und erst 20 Tage später, als die Proteste im Land nachließen, wurde das Dekret wieder aufgehoben.

Jeanine Áñez und die anderen Angeklagten sitzen nun erst mal sechs Monate lang in Untersuchungshaft. Boliviens Justizminister Iván Lima forderte bereits eine Strafe von 30 Jahren Haft für Áñez. Luis Arce meldete sich zweieinhalb Wochen nach der Festnahme von Jeanine Áñez dann doch noch und bekräftigte, dass die Justiz eine Strafverfolgung wegen Putsches verfolge: „Wir stellen hier noch einmal klar, dass es im November 2019 einen Staatsstreich gab“, sagte Arce am 1. April. Die Menschen würden Gerechtigkeit fordern, und diesem Wunsch werde man nachkommen, betonte er.

REGIERUNG DROHT MIT AUSNAHMEZUSTAND

Straßen dicht Sicherheitskräfte kontrollieren die generelle Ausganssperre (Foto: privat)

„Die Hausaufgaben kommen über die WhatsApp-Gruppe der Mamas, heute waren es Satzkonstruktionen“, erklärt Daniela Orellana. Die alleinerziehende Mutter bekommt jetzt die Schulaufgaben ihrer zehnjährigen Tochter via Messenger auf ihr Handy. Die Regierung hat am 12. März alle Schulen in Bolivien schließen lassen. „Wegen Corona“, sagt die 30-Jährige und streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Seit 22. März sind nicht nur die Schulen und Universitäten dicht, sondern es herrscht generell eine Ausgangssperre. Nur zum Einkaufen und wenn es unbedingt notwendig ist, darf man das Haus verlassen.

Für Daniela Orellana ist es nicht nur deswegen eine schwierige Situation, weil sie nun ihre Tochter im Haus hat. Mit ihrer Schwester und ihrer Mutter betreibt sie einen kleinen Laden. „Momentan kaufen die Leute fast nichts mehr, nur noch Brot“, meint sie, „auch ansonsten ist es gerade schwer, wegen der Ausgangssperre Geld zu verdienen.“ Wie ihr geht es vielen: Geschätzt über 60 Prozent der Bolivianer*innen verdienen ihre Brötchen im informellen Sektor, auf Märkten, im Taxi oder als Minibusfahrer.

Wie leergefegt Straßenzug in La Paz (Foto: privat)

Die Ausgangssperre stößt nicht nur auf Verständnis. In den Randbezirken von El Alto kam es bereits zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und aufgebrachten Marktbesucher*innen. Auch in Bolivien ist das Coronavirus inzwischen Thema Nr. 1, auch wenn die Fallzahlen noch relativ gering sind. Alle wissen, dass sich das schnell ändern kann, Vertrauen in das Gesundheitssystem gibt es kaum, und selbst die De-Facto-Präsidentin Jeanine Añez empfahl ihren Landsleuten zu beten.

Mit dem Militär gegen die Uneinsichtigen

Es sei „die stärkste Waffe, die das Land hat“, ließ Añez in einer Fernsehansprache verlauten. In der Bergbaustadt Oruro, die bisher am meisten bestätigte Infizierte hat, gibt es bereits seit zwei Wochen eine lokale Ausgangssperre. Auch die nicht zur Freude aller Bewohner*innen. Aufgrund von Protesten musste sich die Polizei aus einigen Stadtteilen zurückziehen, die Leute halten sich nicht überall an die Weisung, zuhause zu bleiben. Arturo Murillo, Innenminister der De-Facto-Regierung, rief die Präsidentin Añez dazu auf, für die Gebiete, deren Bewohner*innen sich nicht an die Ausgangssperre halten, den Ausnahmezustand zu verhängen und mit dem Militär gegen die Uneinsichtigen vorzugehen.

Innenminister Murillo kommt die Pandemie zupass. Das Thema Ausnahmezustand hatte der Hardliner im Kabinett von Añez auch schon vor der Corona-Krise immer wieder ins Spiel gebracht. Die Konflikte, die es seit dem Sturz von Präsident Evo Morales im November 2019 gibt, würde er am liebsten – so scheint es – mit dem Militär lösen. Bisher konnte er sich damit innerhalb der Regierung nur teilweise durchsetzen, mit Corona scheint er eine neue Chance zu wittern.

„Bleib zu Hause” Banner in La Paz (Foto: privat)

Murillo wird zusammen mit dem Verteidigungsminister Fernando López für das Massaker im November vergangenen Jahres in Senkata verantwortlich gemacht. Damals starben im Kugelhagel mindestens zehn Menschen, als Polizei und Militär aus dem blockierten El Alto Benzin aus einem Treibstofflager in Senkata für den benachbarten Regierungssitz La Paz abtransportieren wollten.

Die Regierung versucht das Massaker in Senkata aus der Welt zu schaffen

„Es ist schwer zu sagen, wie viele Menschen wirklich an diesem Tag ums Leben kamen“, meint Orellana, die sich für die Opfer engagiert. „Direkt nach dem Massaker gab es viele, die verzweifelt Angehörige suchten, es gingen allerhand Geschichten um.“ Augenzeugen berichteten davon, wie Polizisten Leichen verschwinden ließen, darunter soll auch ein zwölfjähriges Mädchen gewesen sein. Andere Familien brachten ihre toten Angehörigen, so wird berichtet, auf die Dörfer und ließen sie nicht obduzieren. Bis zu 25 Menschen könnten in Senkata ums Leben gekommen sein. Dazu kamen jede Menge Verletzte, bis zu 100, meint Orellana. Sie hat einige begleitet, wie Terroristen seien sie behandelt worden. „In einigen Krankenhäusern wollte man sie nicht behandeln, in anderen ließ man sie in der Einfahrt der Notaufnahme liegen“, berichtet sie.

Fast überall mussten sie die Rechnungen sofort begleichen. Beweise, wie Arztbriefe über die Art der Verletzung oder die Projektile wurden ihnen nicht ausgehändigt. „Viele haben sich deswegen erst gar nicht behandeln lassen“,  meint die Unterstützerin. Auch andere berichten von Drohungen. „Es gibt Verletzte, die damals einfach dort vorbeigegangen sind und angeschossen wurden. Als sie ins Krankenhaus gingen, um sich behandeln zu lassen, sagte man ihnen sie seien Terroristen, sie hätten das Treibstofflager in die Luft sprengen wollen“.

Inzwischen hat sich die Situation etwas verändert. Mithilfe von Anwälten und der „Permanenten Versammlung für die Menschenrechte” aus El Alto konnte zumindest erreicht werden, dass sie die Behandlungskosten erstattet bekommen. Die De-Facto-Regierung versucht das Massaker aus der Welt zu schaffen. Dabei droht sie, nach dem Prinzip Zuckerbrot und Peitsche, auf der einen Seite denjenigen, die öffentlich über das Massaker reden, mit Verhaftung und versucht auf der anderen Seite, die Familien der Opfer mit Geldangeboten zu locken. Jüngst hat sie das Entschädigungsangebot an die Familien von 50.000 auf 100.000 Bs (13.500 Euro) erhöht. „Das führt zu Streit, denn es gibt Familien, die das Angebot annehmen wollen, andere sagen, dass sich das Leben ihrer Angehörigen nicht durch Geld aufwiegen lässt“, sagt Daniela Orellana. Die Regierung verlangt als Gegenleistung, dass die Angehörigen nicht vor Gericht ziehen.

Murillo und sein Ministerkollege López behaupten immer noch, dass die Sicherheitskräfte keinen Schuss abgefeuert haben. Einer parlamentarischen Befragung haben sie sich bisher verweigert. Die plurinationale Versammlung hat daraufhin Verteidigungsminister López das Misstrauen ausgesprochen, was laut Verfassung dazu führt, dass er entlassen werden muss. Das hat De-Facto-Präsidentin Añez auch getan, ihn aber am selben Tag erneut zum Verteidigungsminister ernannt.

„Ein unglaublicher Rechtsruck und eine Militarisierung der Politik“

„Durch die Ereignisse im November hat sich die Büchse der Pandora geöffnet“, meint der LGBT-Aktivist César Antezana.  „Es hat ein unglaublicher Rechtsruck und eine Militarisierung der Politik stattgefunden.“ Auch er sitzt wegen Covid-19 zu Hause und muss seinen zwei Töchtern Schulstoff vermitteln. Vor ein paar Wochen, erzählte er − noch kettenrauchend, gekleidet in Minirock und mit High Heels − auf einer Party: „Es gab den Versuch eine linke Partei zu gründen, als die Bewegung zum Sozialismus (MAS) nach rechts abdriftete. Aktivisten aus dem Gewerkschaftsdachverband COB wollten das, aber dann haben MAS treue Funktionäre das unterbunden.“ Im Prinzip sei das Problem, dass „die MAS in den vergangenen Jahren versucht hat, alle linken Basisbewegungen zu kooptieren. In vielen Organisationen gibt es heute zwei Vorsitzende und einen tiefen Riss zwischen Gegnern und Befürwortern der MAS.“ Das sei auch ein Grund, warum viele Linke Morales und der MAS heute kritisch gegenüber stehen.

LGBT-Aktivist César Antezana „Die Ereignisse im November haben die Büchse der Pandora geöffnet“ (Foto: privat)

Antezana sieht die MAS ambivalent: „Auf der einen Seite ist es richtig, dass die MAS-Regierung bis heute für einen laizistischen Staat und für die Pluralität Boliviens steht und damit auch für die Rechte von Schwulen, Lesben und Transgender, auf der anderen Seite hat die MAS bereits 2009 eine konservative Wende gemacht.“ Im Rahmen der Verfassungsgebenden Versammlung gab es damals zu Beginn auch Beschlüsse, die Homo-Ehe zuzulassen, eine weitreichende Autonomie für Indígenas in der Verfassung zu verankern und den Landbesitz zu beschränken. „In der Verfassunggebenden Versammlung in Oruro waren die Beschlüsse noch da, später bei der Versammlung in Sucre, fehlte beispielsweise die Homoehe.“

„Die MAS ist mitverantwortlich“

Morales sei damals mit der konservativen Elite in Santa Cruz ein unausgesprochenes Bündnis eingegangen, ihre Privilegien wurden nicht angetastet und dafür unterstützten die Großgrundbesitzer die Separationsbestrebungen nicht mehr. „Die jetzige Regierung ist klar christlich orientiert und hat vor, viele Reformen zurückzudrehen“, meint er. „Dass sie das kann, dafür ist die MAS auch mitverantwortlich.“ Es sei die Abkehr von der Orientierung an den sozialen Bewegungen gewesen, meint der LGBT Aktivist weiter. Diese führten 2011 zum größten Bruch mit Teilen der Basis, als die indigene Bevölkerung des Naturparks TIPNIS zu Protesten aufrief. Der Grund: Die MAS-Regierung wollte dort eine Überlandstraße gegen den Willen und die Autonomie der lokalen Bevölkerung bauen.

Viele solidarisierten sich mit den indigenen Bewohner*innen des TIPNIS, auch die städtische Mittelschicht. Es kam zu einem Marsch auf La Paz und die Regierung Morales musste zurückrudern. Ein Teil der jungen städtischen Wählerschicht kehrte hier Morales den Rücken zu, so auch Anthony Pérez. Der junge Ingenieur war zwar nie überzeugter MAS-Anhänger, hatte aber gleichwohl „mal für die MAS gestimmt“, wie er meint. „Jetzt sollte die MAS auf gar keinen Fall mehr an die Macht kommen“, meint Pérez. „Sie war zu lange an der Regierung und wurde am Ende zu korrupt.“

Deswegen, so der junge Ingenieur, sei ein Regierungswechsel notwendig. Es waren Leute wie Anthony Pérez, die im Oktober auf die Straße gingen und den Rücktritt von Morales forderten und letztlich den Ausgangspunkt für den vom Militär erzwungenen Rücktritt von Morales bildeten. Zwar ist er mit der jetzigen Regierung auch nicht einverstanden, „aber sie ist immer noch besser als die MAS an der Regierung.“

Es kann gut sein, dass die jetzige Regierung noch eine Weile an der Macht bleibt. Aufgrund der Corona-Virus Krise wurde der Wahltermin am 3. Mai verschoben. Noch ist nicht abzusehen, ob und wie schnell sich das Covid-19-Virus im Land verbreitet. Bislang sind die bestätigten Fallzahlen noch sehr gering.

VORWAHLCHAOS IN BOLIVIEN

Regierungssitz La Paz Im Mai sollte sich entscheiden, wer hier ans Ruder kommt (Foto: Jonas Klünemann)

Er hatte letztendlich Glück. Das Projektil, das in seinem Kopf steckte, konnte mit einem einfachen Eingriff entfernt werden. Es hatte sich lediglich unter die Kopfhaut geschoben und wie durch ein Wunder weder Schädeldecke, noch Gehirn ernsthaft verletzt. Glück hatte Pablo auch, weil er den Eingriff durch Spenden bezahlt bekam. Seit dem Massaker in Senkata am 19. November sammeln Aktivist*innen Spenden, organisieren Solidaritätsveranstaltungen und kümmern sich um die Hinterbliebenen der gut zwei Dutzend Toten und um die rund 100 Verletzten. Unter den Opfern sind auch viele, die an diesem Tag einfach an der Raffinerie in Senkata in El Alto vorbeigingen. „Mein Cousin kam gerade von der Arbeit“, meint etwa Joel, „er wurde angeschossen und musste sich auf eigene Kosten ärztlich versorgen lassen, nachher kam die Polizei und drohte ihm mit Konsequenzen, sollte er über die Vorfälle reden.“

Die De-facto-Regierung behauptet bis heute, die Sicherheitskräfte hätten bei ihrer Operation in Senkata keinen Schuss abgefeuert. Dabei gibt es längst eine Vielzahl von Hinweisen, dass Militärs geschossen haben. Auch in der Stadt Sacaba waren Mitte November bei einer Demonstration von Kokabauern nahe der Stadt Cochabamba fünf Protestierende getötet worden, zahlreiche Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Trotz der zahlreichen Indizien verweigert sich die Regierung, die Vorfälle unabhängig aufklären zu lassen. Das Abgeordnetenhaus, in dem die Bewegung zum Sozialismus die Mehrheit hat, wollte die zuständigen Minister Arturo Murillo (Polizei) und Fernando López (Militär) zu den Vorfällen in Senkata und Sacaba befragen, die Minister sind bisher nicht erschienen, mit der Begründung, die MAS habe dort die Mehrheit.

Es ist nicht nur dieses Verhalten der Minister, das Zweifel aufkommen lässt, dass es der De-facto-Regierung von Jeanine Añez um die Wiederherstellung der Demokratie geht. Inzwischen gibt es auch mehrere hundert Verhaftungen, vor allem von MAS-Funktionär*innen. Der Vorwurf lautet fast immer: Korruption, Aufruhr oder Verschwendung öffentlicher Gelder. Viele, die sich nicht ins Ausland absetzen konnten, befinden sich in Untersuchungshaft. In Bolivien ist das gleichbedeutend mit unbefristeter Haft. Laut der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch sind über 16.000 Gefangene auf rund 5.000 Haftplätze im Land verteilt. Viele der Gefangenen sitzen Jahre in Untersuchungshaft, ohne dass sie einen Prozess bekommen. Das war auch unter der MAS-Regierung von Evo Morales so. Die Anordnung von Untersuchungshaft ist ein probates Mittel, um politische Gegner*innen auszuschalten.

Ein Sieg der MAS in der ersten Runde ist möglich

Bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen am 3. Mai tritt für die MAS der ehemalige Wirtschaftsminister Luis Arce an, als Vize der frühere Außenminister David Choquehuanca. Trotz der Betrugsvorwürfe gegenüber der Morales-Regierung bei den Wahlen im Oktober 2019 und der aktuellen Politik der De-facto-Regierung, die auf eine Ausgrenzung der MAS bedacht ist, ist die Partei des Ex-Präsidenten in den Umfragen stark. In den vergangenen Umfragen im Februar lag sie mit bis zu 32 Prozent zwischen 10 und 15 Prozentpunkten vor dem zweitplatzierten neoliberalen Carlos Mesa, der bis zu 23 Prozent Zustimmung verbuchen konnte. Da bei den Umfragen in der Regel der ländliche Raum, und damit ungefähr 20 Prozent der Wähler*innen­stimmen, nicht berücksichtigt werden, ist davon auszugehen, dass die Zustimmung für die MAS noch höher ist. Damit läge ein Wahlsieg in der ersten Runde im Bereich des Möglichen.

Die Umfrageergebnisse lösten bei den Gegner*innen der MAS Bestürzung aus. Luis Camacho, der Anführer der Bürgerplattform von Santa Cruz und wesentlich mitverantwortlich für den Sturz von Morales, bot nach der Veröffentlichung der Umfragen Jeanine Añez an, auf seine eigene Kandidatur zu verzichten und sich mit ihr zusammen zu schließen, damit die „Tyrannei“ nicht wiederkehre. Añez, die im November 2019 noch verkündete: „Ich habe nicht den Wunsch bei den nächsten Wahlen zu kandidieren, diese Regierung ist eine Übergangsregierung“, hatte im Januar ihre Kandidatur erklärt. Den Gegner*innen der MAS ist es zwar gelungen, Morales im November zu stürzen, die Stabilisierung der eigenen Macht danach bleibt jedoch prekär. Das liegt auch daran, dass die Rechte zum ländlichen und indigenen Teil der Bevölkerung fast keinen Zugang hat, beziehungsweise diese nicht als vollwertige Bürger*innen wahrnimmt. Das sei ein Wähler*innenpotenzial, das exklusiv der MAS vorbehalten sei, so der Soziologe Fernando Mayorga: „Die MAS ist die einzige Partei, die in den vergangenen 20 Jahren 60 Prozent der Wählerstimmen, mindestens jedoch 40 Prozent, erhalten hat.“ Lediglich eine Koalition der drei größten Oppositionsbündnisse, von Añez, Mesa und Camacho könnte den Sieg der MAS verhindern. Zwar reden die Kandidat*innen alle davon, das Land einen zu wollen, allerdings gilt es eher als unwahrscheinlich, dass es vor dem Wahltermin zu einem echten Bündnis der drei kommt.

Die Aufrufe zur Einheit können zudem den Bruch mit der indigenen Bevölkerung nicht kitten. Das zeigt sich im Verhalten der Regierung zu den Massakern in Senkata und Sacaba, bei dem es keine Versuche gibt, das Geschehene unabhängig untersuchen zu lassen. Diese Politik spielt der MAS und Evo Morales in die Hände, die sich vor den Unruhen durchaus auch in ihren Hochburgen wie El Alto vielen kritischen Stimmen gegenüber sahen.


„Evo Morales war ein Symbol indigener Bürgerlichkeit.“

„Für viele Leute, die im Zentrum von La Paz wohnen, sind die Bewohner aus El Alto keine Mitbürger, sondern Indios“, erläutert der Philosoph Boris Chamani, „Evo Morales war ein Symbol indigener Bürgerlichkeit.“ Den Status als gleichwertige Bürger*innen sehen viele durch den Putsch und die Massaker vom vergangenen November in Frage gestellt. Das hat dazu geführt, dass die MAS die Reihen hinter sich schließen konnte. Man hört öfters von Leuten, die vergangenen Oktober die MAS nicht gewählt haben, dass sie es bei den kommenden Wahlen aber wohl tun werden, um Añez und Camacho zu verhindern.

Selbst der neoliberale Herausforderer von Evo Morales bei den Wahlen im Oktober 2019, Carlos Mesa, hat sich in den Augen vieler Wähler*innen diskreditiert. In einem Radiointerview wurde er von Maria Galindo, einer bekannten Feministin, ins Kreuzverhör genommen. Im Laufe des Interview kam heraus, dass es im Moment des Rücktritts von Evo Morales ein Treffen von ihm mit Luis Fernando Camacho und Vertreter*innen der brasilianischen Botschaft gab, auf dem man beschloss, die Senatorin Añez ins Präsidentenamt zu hieven. Galindo, die im Oktober noch von einem „legitimen Aufstand gegen das Regime Morales“ gesprochen hatte, sieht den Umsturz nun auch als Putsch. Als Añez ihre Kandidatur für die kommenden Wahlen ankündigte, meinte selbst Carlos Mesa, jetzt hätten diejenigen, die von einem Putsch sprachen, die „Bestätigung“ erhalten.

Die Konflikte könnten nach den Wahlen wieder aufflammen

Die MAS hatte in der vergangenen Legislaturperiode auch in den eigenen Reihen viel Sympathie eingebüßt. Ein immer autoritärer werdender Regierungsstil, der sich gegen Teile der sozialen Bewegungen richtete, die ihre Basis bildeten und die Partei 2005 an die Macht brachten, hatte dazu geführt, dass ihre Basis erodierte. Beim Konflikt mit den Kokabauern und -bäuerinnen in den Yungas, nördlich vom Regierungssitz La Paz, oder den Auseinandersetzungen mit den Kooperativen der Bergbauarbeiter*innen zeigten sich deutliche Risse zwischen der Basis und der Regierung. Die Auseinandersetzungen mit den Minenarbeiter*innen forderten 2016 mindestens vier Tote. Neben dem Staatssekretär Rodolfo Illanes, der von den protestierenden Bergleuten getötet wurde, kamen auch drei der Protestierenden, wahrscheinlich durch Sicherheitskräfte, ums Leben. Auch hier gibt es keine Aufklärung.

Im Januar bezeichnete es Evo Morales in einem Interview mit Radio Coca Kawsachun als einen Fehler, während seiner Amtszeit keine „Milizen wie in Venezuela” aufgebaut zu haben, um den Prozess des Wandels zu verteidigen. Zwar distanzierte er sich später von dieser Aussage, aber es bleibt insgesamt unklar, wie die MAS mit der Spaltung im Land umgehen will, sollte sie die Wahlen gewinnen und den nächsten Präsidenten stellen. Da sich beide Seiten nicht anerkennen, ist davon auszugehen, dass die Konflikte nach den Wahlen wieder aufflammen. Das Bürgerkomitee von Santa Cruz hatte Mitte Februar bereits mit Blockaden gedroht, sollte Evo Morales als Kandidat für den Senat zu den Wahlen zugelassen werden. Morales, der sich im Exil in Argentinien befindet, wurde nicht zugelassen. Er habe keinen ständigen Wohnsitz in Bolivien, begründete der Präsident des Obersten Wahlgerichts diese Entscheidung. Sollte Luis Arce von der MAS tatsächlich gewinnen, ist davon auszugehen, dass es im östlichen Tiefland zu Protesten kommen wird, wie zu Beginn der Amtszeit von Evo Morales in den Jahren 2007/2008. Auf der anderen Seite ist es unwahrscheinlich, dass die MAS, beziehungsweise der große Teil der indigenen Bewegungen, Landarbeiter*innengewerkschaften und anderen Basisorganisationen eine Präsidentin Añez oder einen Präsidenten Mesa anerkennen würden. Añez hat zudem ein Glaubwürdigkeitsproblem, da sie sich von der Übergangspräsidentin in eine Kandidatin verwandelt hat, die den gesamten Regierungsapparat für ihren Wahlkampf nutzen kann. Carlos Mesa dagegen gilt als schwach und opportunistisch.

Ob es eine wirklich unabhängige Aufklärung der Vorfälle in Senkata und Sacaba geben wird, ist daher ungewiss. Pablo, der Glück hatte, weil das Projektil nicht ins Gehirn eindrang, ist immer noch arbeitsunfähig. Für seine Tochter, die Mitte Februar geboren wurde, fehlt es am Notwendigsten, an Kleidung und Windeln. Das kann er nicht kaufen, da er kein Einkommen hat. Wie Pablo geht es vielen der Betroffenen in Senkata. Neben dem Verlust von Familienangehörigen und den Verletzungen, mussten sie auch die Beerdigungskosten oder ärztliche Behandlungen begleichen und sich mit Einnahmeausfällen aufgrund von Arbeitsunfähigkeit auseinandersetzen.

DEMOKRATIEFREIE WAHLEN

Nach wochenlangen Mutmaßungen hat das Oberste Wahlgericht Boliviens den Termin für die Präsidentschaftswahlen auf den 3. Mai festgelegt. Die Partei von Morales, dem die neue argentinische Regierung seit Mitte Dezember Asyl in Buenos Aires gewährt, einigte sich am 19. Januar auf ihren Präsidentschaftskandidaten: Luis Arce, ehemals Wirtschaftsminister unter Morales, soll die MAS an die Regierungsspitze Boliviens zurückführen. Seine zahlenmäßig erfolgreiche Wirtschaftspolitik in den drei Amtszeiten von Morales und sein moderates Image als Mann aus der Mittelklasse stehen für wirtschaftliche Stabilität, mit der Arce bei breiten Bevölkerungsschichten punkten soll. Als Vizepräsident kandidiert mit ihm Ex-Außenminister David Choquehuanca, der als Aymara die Stimmen der indigenen Bevölkerung einfangen soll. In MAS-Kreisen wurde er zunächst als wahrscheinlicher Präsidentschaftskandidat gehandelt, doch angeblich setzte sich Morales letztlich mit einem Votum für Arce durch. Der Gegenwind aus den eigenen Reihen ließ nicht lange auf sich warten: MAS-nahe soziale Organisationen ließen verlauten, sie fühlten sich von dem Entschluss gegen einen indigenen Kandidaten an der Spitze verraten.

Auch im ultrarechten Spektrum gab es einigen Wirbel um die Ernennung der Kandidat*innen. Luis Camacho, der ehemalige Vorsitzende des Bürgerkomitees von Santa Cruz, und Marco Pumari, Präsident des Bürgerkomitees Potosí, überraschten mit der Ankündigung, nach öffentlich ausgetragenen Streitereien nun doch gemeinsame Sache machen zu wollen. Camacho, der als einer der Strippenzieher des Putsches gegen Morales gilt, hatte sich zuerst im Alleingang als Kandidat deklariert. Für die größte Überraschung sorgte jedoch Áñez: Nach monatelangen Beteuerungen, neutral zu bleiben und keine*n Kandidat*in unterstützen zu wollen, kündigte sie kurz vor dem Stichtag doch ihre Kandidatur mit Luis Revilla, dem Bürgermeister von La Paz, an. Zuvor hatte sie vor einer Zersplitterung der Stimmen und einer Rückkehr der „Wilden“ an die Macht gewarnt. Durch Áñez’ Teilnahme wird die wiederholt angekündigte Transparenz der Wahlen offensichtlich untergraben. Kritik an ihrer Entscheidung kam unter anderem von Kommunikationsministerin Roxana Lizágarra, die umgehend zurücktrat. Daraufhin forderte Áñez alle ihre Minister*innen zum Rücktritt auf, um das Kabinett neu zu strukturieren.

Unter den weiteren Präsidentschaftskandidat*innen befindet sich neben Ex-Präsident Jorge ‚Tuto‘ Quiroga (2001-2002) auch der für das Bündnis Bürgergemeinschaft kandidierende Carlos Mesa, der sich im Oktober 2019 erfolglos gegen Morales zu behaupten versucht hatte.

Die Wiederwahl von Morales und seinem Vize Álvaro García Linera ist hingegen faktisch unmöglich. Das Gesetz zur Durchführung der Neuwahlen, das beide Kammern des Parlaments im November letzten Jahres verabschiedet hatten, sieht vor, dass kein*e Kandidat*in mehr als zwei Mal zur Wahl antreten darf. Unter Morales war ebendiese Klausel durch das Verfassungsgericht ausgesetzt worden. Daran hatte sich im Vorlauf der letzten Wahlen eine kritische Debatte über die Legitimität Morales‘ als Präsidentschaftskandidat entzündet (siehe LN 541/542).

Morales selbst sowie García Linera dürfen nicht nur nicht kandidieren, auch eine Teilnahme als Wähler wird ihnen verwehrt. Denn das Oberste Wahlgericht hat entschieden, die dafür nötige aktualisierte Eintragung ins Wählerverzeichnis nur den im Inland lebenden Bolivianer*innen zu ermöglichen, obwohl im Ausland lebende Bürger*innen ebenso wahlberechtigt wären. Nur wer bereits bei den letzten Wahlen am 20. Oktober 2019 im Ausland abgestimmt hat, kann das wieder tun. Außerdem haben die Wähler*innen nur neun Tage Zeit, um eine Aktualisierung vorzunehmen – eine ungewöhnlich kurze Zeit, die das Oberste Wahlgericht mit zeitlichen Zwängen begründet. Dahinter könnte allerdings vielmehr der Versuch stehen, exilierte MAS-Politiker*innen von einer Wahlbeteiligung abzuhalten.

Die Repression hat System

Damit nicht genug der Diffamierungsversuche: Erst Ende Dezember hatte das Oberste Wahlgericht mehrere Klagen abgelehnt, die zum Ziel hatten, die MAS als politische Partei komplett aufzulösen. Gegen Morales wurde ein Haftbefehl wegen Aufruhr und Terrorismus erlassen – auf Basis eines umstrittenen Audiomitschnitts, in dem er angeblich zur Blockade von Städten aufruft. Und Anfang Januar hatte Arturo Murillo, Minister der De-Facto-Regierung, auf einer Pressekonferenz mit Handschellen in der Hand behauptet, es wäre von Interpol ein internationaler Haftbefehl gegen ihn ausgegeben worden. Dies wurde allerdings kurz darauf von der bolivianischen Staatsanwaltschaft dementiert.

Die Repression hat System. Zu den ersten Verhaftungswellen nach dem Putsch kommen gezielte Korruptions-Ermittlungen gegen ehemalige Regierungspolitiker*innen wie Ex-Innenminister Carlos Romero. Romero wurde am 14. Januar im Krankenhaus festgenommen, da er aufgrund seines gesundheitlichen Zustands nicht zur Aussage vor Gericht erschienen war, und kurzerhand präventiv ins Gefängnis gebracht. Auch das harte Vorgehen gegen Demonstrant*innen und besonders Indigene, das von der Interimsregierung nicht nur gebilligt, sondern auch angestachelt wurde, erschreckt (siehe LN 547). Kurz vor dem 22. Januar zeigte das Militär erneut massiv Präsenz auf den Straßen, angeblich um für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. MAS-nahe Organisationen hatten zu Protesten an diesem Tag aufgerufen, an dem traditionellerweise Feierlichkeiten zur Gründung des „plurinationalen Staates“ stattfinden. Sie protestierten damit auch gegen eine Verlängerung des Mandates der De-facto-Präsidentin, da an diesem Tag die Mandate der Abgeordneten und der Ex-Regierungsmitglieder abgelaufen wären. Um dieses theoretische Machtvakuum zu füllen, hatten Verfassungsgericht und Parlament jedoch einer Mandatsverlängerung bis zu den Neuwahlen zugestimmt und nach heftigen Diskussionen offiziell den Rücktritt von Morales und García Linera akzeptiert.

Von einem fairen Wahlkampf kann keine Rede sein

Tatsächlich ändert dies nichts an der Tatsache, dass Morales‘ Rücktritt erzwungen wurde. Vor diesem Hintergrund und den mannigfaltigen Repressionen gegen seine Partei kann keine Rede von einem fairen oder gar demokratischen Wahlkampf sein. Dazu trägt auch die Zensur in den Medien bei: Die TV-Sender Telesur und Russia Today wurden bereits kurz nach Morales‘ Rücktritt abgeschaltet, im neuen Jahr widerfuhr den 53 kommunitären, mehrheitlich MAS-nahen Radiostationen das gleiche Schicksal. Inwieweit es der De-facto-Regierung mit ihrer gezielten Diffamierungs-Strategie gelingen wird, die MAS nachhaltig zu schwächen, ist schwer abzusehen. Zumindest in den Wahlumfragen liegt Arce noch weit vor seinen Konkurrenten Mesa und Camacho. Zu De-facto-Präsidentin Áñez lagen aufgrund der späten Anmeldung ihrer Kandidatur bei Redaktionsschluss noch keine Umfragewerte vor.

Die turbulenten politischen Ereignisse der letzten Wochen scheinen die Kritik an Morales und an den Unstimmigkeiten der letzten Wahlen teilweise zu übertünchen. Währenddessen inszeniert sich die De-facto-Regierung als demokratische Instanz, die das Land in die Normalität zurückführen will – nun auch mit eigener Präsidentschaftskandidatin. Dabei greift sie allerdings massiv in die bolivianische Politik ein und überschreitet dadurch weit ihre eigentlich einzige Aufgabe, Neuwahlen zu organisieren. Wer von Freiheit und Transparenz spricht und gleichzeitig das Militär auf die Straßen schickt, kann nicht ernsthaft an einer demokratischen Lösung des aktuellen politischen Konflikts interessiert sein.

KLIMA DER ANGST

Foto: Jonas Klünemann

In der Kirche des Heiligen Franz von Assisi, im Stadtteil Senkata von El Alto, liegen auf den Bänken mehrere Leichen, eingewickelt in Decken. Darauf liegen Zettel mit den Namen und den Geburtsdaten der Toten. Dazwischen sitzen Angehörige, manche mit einem stieren Blick, andere weinen leise. In einer Ecke, neben dem einfachen Altar der Kirche, ist eine Pritsche aufgestellt, darauf ein Leichnam mit zwei Einschüssen, einem in der oberen linken Brust und einem im Gesicht. Vier Forensiker untersuchen die Leiche. Es ist Mittwoch, der 20. November, ein Tag nach dem Massaker im Stadtteil Senkata von El Alto. „Nicht alle haben ihre Toten in die Kirche gebracht“, meint Carlos, dessen Bruder am Vortag erschossen wurde, „sie trauen den Forensikern nicht. Wir haben beschlossen, uns nicht zu verstecken.“

Die De-facto-Regierung hat in kürzester Zeit ein Klima der Angst geschaffen, das dazu geführt hat, dass viele Menschen eingeschüchtert sind. In der öffentlichen Debatte, die auch die meisten großen Medien in Bolivien mittragen, wurden die Bewohner*innen El Altos pauschal als „MAS-Horden“ und „Terroristen“ abgestempelt. MAS steht für „Bewegung zum Sozialismus“, die Partei des ins Exil nach Mexiko getriebenen Präsidenten Evo Morales, der inzwischen nach Argentinien weitergezogen ist und dort Asyl beantragt hat, kurz nachdem der Mitte-Links-Peronist Alberto Fernández in Buenos Aires die Amtsgeschäfte übernommen hat. Kaum ein*e Journalist*in aus La Paz hat sich die Mühe gemacht, vor Ort zu recherchieren und zu berichten. Einfacher war es, die Verlautbarungen der De-facto-Regierung zu übernehmen. Der Verteidigungsminister Fernando López behauptete noch am selben Tag, die Operation sei friedlich verlaufen, es sei kein einziger Schuss abgefeuert worden. Das wiederholte auch Jeanine Áñez in der ersten Dezemberwoche in einem Interview: „So weit ich weiß, ist alles friedlich verlaufen!“

Laut den Anwohner*innen hat das Militär die tödlichen Schüsse abgegeben, so auch die Auffassung des Sicherheitsexperten Samuel Montaño, er hat Fotos von den Tatorten in Sacaba/Cochabamba und Senkata/El Alto ausgewertet. Es gibt mindestens zwei Fälle, so der Experte, bei dem Soldat*innen geschossen haben.

Von der De-facto-Regierung wird behauptet, es wäre darum gegangen, einen terroristischen Anschlag zu verhindern. In der regierungsnahen Tageszeitung Página Siete hieß es, Anhänger*innen von Evo Morales wollten ein Treibstofflager in Brand setzen. Andere Quellen ließen verlauten, dass Dynamit im Spiel gewesen sei. Bisher gibt es aber keine stichhaltigen Beweise dafür, dass es um mehr ging, als eine Blockade des Treibstofflagers. Augenzeug*innen vor Ort berichten, dass niemand mit Dynamit hantiert hat, „nicht einmal Knallfrösche hatten wir, als Polizei und Militär auf uns schossen“, meint eine Anwohnerin.

Wie die Anwohnerin wollen die meisten anonym bleiben. Es wird von Polizeibesuchen berichtet, wo den Betroffen nahegelegt wird, besser keine Aussagen zu machen, auch anonyme Drohanrufe gibt es. Das bestätigen auch Mitglieder der permanenten Menschenrechtsversammlung. „Es ist sehr schwer, im Moment als Menschen­rechts­verteidiger zu arbeiten. Das Misstrauen der Leute ist sehr groß, außerdem erhalten wir Drohungen von der Regierung“, sagte ein Mitarbeiter gegenüber den LN.

Daher bleibt bisher auch im Dunkeln, wie viele Menschen beim Massaker in Senkata umgekommen sind. Es wird berichtet, dass es neben den zehn offiziellen Toten sechs weitere gibt, bei denen die Familien sich geweigert haben, sie offiziell anzugeben. Zudem gibt es Berichte über mindestens zehn gewaltsam verschwundene Personen, von denen man nicht weiß, ob sie tot sind oder was mit ihnen passiert ist. Darunter soll, nach Zeug*innenberichten, auch ein zwölfjähriges Mädchen sein, das zwei Einschusslöcher aufwies und von Polizist*innen weggeschafft wurde.
Für die bolivianische Öffentlichkeit spielen diese „Details“ kaum eine Rolle. Die Version eines „terroristischen Anschlags“ und eines „friedlichen Polizei- und Militäreinsatzes“ stehen im Vordergrund.

45 Verletzte sind von Hilfsorganisationen in El Alto registriert worden, es wird jedoch von bis zu 100 Verletzten ausgegangen. „Von den Registrierten haben alle Schussverletzungen“, erklärt Danuta Orea, die sich mit um die Verletzten kümmert. „In vielen Krankenhäusern der Stadt wurden die Verletzten wie Terroristen behandelt. In der Holländischen Klinik ist keiner der Verletzten in den normalen Krankenzimmern untergebracht worden, sondern alle wurden im Hof abgestellt.“

Die De-facto-Regierung setzt die Stimmen, die eine unabhängige Untersuchung fordern, unter Druck. Als der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte die Ereignisse untersuchen wollte, wurde von Anhänger*innen der Regierung der Eingang zum dessen Tagungsort blockiert, Zeug*innen sollten an der Aussage gehindert werden. Lokale Menschenrechtsorganisationen wie die permanente Versammlung der Menschenrechte Boliviens oder Aktivist*innen wie die Ombudsfrau für Menschenrechte Nadja Cruz erhalten ebenfalls Drohungen. Als eine Delegation aus Argentinien unter der Leitung von Juan Grabois Ende November das Land besuchte, warnte Innenminister Arturo Murillo, man werde es nicht zulassen, dass „Ausländer aufrührerisch im Land tätig werden“ und man werde die Delegation „sehr genau beobachten“.

Dass die Regierung mehr Interesse an Verschleierung denn an Aufklärung hat, zeigt auch das Angebot, dass sie den Familien der Toten gemacht hat. Jede Familie soll rund 6.500 Euro Entschädigung erhalten, wenn sie darauf verzichtet, den Fall vor ein internationales Gericht zu bringen. Dies soll im Rahmen der „Befriedung des Landes“ geschehen. Im Rahmen der Befriedung wurde auch das Militär in die Kasernen zurückgeschickt und auch ein Dekret, das für die Soldaten*innen Straffreiheit vorsah, wieder zurückgenommen. Eine Maßnahme, die auf internationalen Druck zustande kam und der Tatsache, dass während der zehntägigen Blockade in El Alto der Regierungssitz bereits mit Engpässen bei Lebensmitteln und Benzin zu kämpfen hatte.

Kritische Stimmen in der Presse werden bedroht und angefeindet

Die De-facto-Regierung fährt eine Doppelstrategie: Während sie aufgrund des Drucks teilweise auf die Gegner*innen zugeht, versucht sie auf der anderen Seite, so weit es geht, Fakten zu schaffen und lässt viele politische Gegner*innen verfolgen. Neben mindestens 34 Toten und 700 Verletzten sind unzählige Mitglieder der MAS, Mitglieder der Wahlbehörde und andere Funktionär*innen verhaftet worden. Auch in wirtschaftlichen Fragen werden Fakten geschaffen. So verabschiedete die Regionalregierung Ende November im Departamento Beni ein neues Agrargesetz, das in Zukunft fast die Hälfte der Fläche des Departamentos als Agrarfläche ausweist – die indigene Bevölkerung wurde dazu nicht konsultiert.

Kritische Stimmen in der Presse werden massiv bedroht und angefeindet. Der bekannte Karikaturist Al-Azar hat aufgrund von massiven Drohungen gegen seine Familie aufgehört, in der Tageszeitung La Razón zu veröffentlichen. Hinter den Drohungen stecken immer häufiger paramilitärisch organisierte Gruppen, die den zivilgesellschaftlichen Bürgerkomitees des Landes nahe stehen, wie die Resistencia Juvenil Cochala aus Cochabamba.
Teile der neuen Machthaber*innen und ihre Unterstützer*innen versuchen, zu verhindern, dass die MAS bei Neuwahlen antritt. Sie müssen befürchten, dass die Partei von Morales bei einem erneuten Urnengang als Siegerin hervorgeht. Der Politologe Fernando Mayorga sieht in der MAS die einzige Kraft, die im ganzen Land eine Basis hat, während die übrigen Akteur*innen, wie zum Beispiel der neoliberale Präsidentschaftskandidat Carlos Mesa, nur im Departamento La Paz eine wirkliche Basis hat.

Die Stimmen, die sich für den Entzug der Zulassung der MAS als politische Partei aussprechen, sehen sich durch den Abschlussbericht der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bestätigt und sprechen von einem „gigantischen Wahlbetrug“. Von „Wahlbetrug“ berichtet das Abschlussdokument zwar nicht, weist jedoch auf schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen im Oktober hin. So gab es eine nicht vorhergesehene Änderung bei der elektronischen Erfassung der Stimmen, bei dem ein Server zugeschaltet wurde, der vorher nicht im System vorgesehen war. Das wertet die OAS als „vorsätzliche Manipulation“. Auch bei den Stichproben der Niederschriften der Wahlergebnisse in den einzelnen Wahllokalen gibt es bei etwa fünf Prozent der Niederschriften Unregelmäßigkeiten. Zudem stellt der Abschlussbericht fest, dass eine Überprüfung des Wahlergebnisses unmöglich ist, da ein Teil der Wahlunterlagen von Gegner*innen der MAS verbrannt wurden. Im Zuge der Unruhen nach den Wahlen gingen in den Departamentos Potosí und Chuquisaca 100 Prozent der Wahlunterlagen, in Santa Cruz immerhin 75 Prozent verloren. Am Montag nach der Wahl steckten Gegner*innen von Morales die lokalen Wahlbehörden in mehreren Departamentos in Brand.
Unter den Bürgerkomitees nehmen die Spannungen inzwischen zu. Luis Fernando Camacho, bisher Vorsitzender des Bürgerkomitees in Santa Cruz, hat sich im Alleingang zum Präsidentschaftskandidaten erklärt und damit Marco Pumari, den Vorsitzenden des Komitees in Potosí, vor den Kopf gestoßen. Eigentlich wollten beide als Duo gemeinsam kandidieren. Neben Camacho haben auch Ex-Präsident Carlos Mesa, der am 20. Oktober gegen Evo Morales angetreten war, und der evangelikale Prediger Chi Hyun Chung bereits ihren Hut in den Ring geworfen. Die MAS will voraussichtlich noch dieses Jahr klären, mit welchen Kandidat*innen sie bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr antreten wird, die voraussichtlich im März stattfinden sollen. Festgelegt hat sich die MAS schon auf ihren Wahlkampfleiter: Evo Morales.

“LAS ELECCIONES SON UNA TRAMPA”

Für die deutschsprachige Version hier klicken.

Adriana Guzmán Arroyo
es aymara, lesbiana y feminista comunitaria. Es parte de la organización Feminismo Comunitario Antipatriarcal, una organización que viene de la masacre del gas del 2003. Viene de la lucha contra el patriarcado en la calle y lucha principalmente contra la violencia hacia las mujeres y por la defensa del territorio. (Foto: privado)


¿Cómo caracterizaría la situación actual en Bolivia?
En Bolivia vivimos un golpe de estado, un golpe racista hacia las organizaciones sociales. Es importante para nosotras que se reconozca, porque de lo contrario, estaríamos aceptando un gobierno que se impone con masacre, con balas, con detenciones y procesamientos ilegales, y con presos políticos. El gobierno tiene una campaña con los medios de comunicación para mostrar que en Bolivia hay dos grupos, el grupo de aquellos que quiere la normalidad, la paz, el trabajo, y el grupo de los que queremos el conflicto, o sea el problema somos las organizaciones sociales – principalmente, las mujeres y las indígenas. Y eso no es así. En realidad, las organizaciones queremos justicia, queremos vivir con un gobierno que no sea una dictadura ni un masacrador. El gobierno ha obligado a que los negocios vuelvan a funcionar y a los niños a que vayan a la escuela. Nosotras también necesitamos trabajar para comer, pero no podemos volver a la normalidad con un gobierno de facto, con la impunidad, con la injusticia de 34 personas asesinadas en la masacre, los cuerpos, las personas desaparecidas y los presos políticos.

¿Cómo describiría la ofensiva del gobierno hacia la resistencia?
A pesar de que el gobierno de facto ha dicho que daría garantías a los dirigentes políticos y a pesar de que haya convocado a la paz, los militares no se han retirado del todo. Hay mucho control en determinados barrios, hay muchos policías de civil, que todo el tiempo están siguiendo y fotografiando a quienes somos de organizaciones sociales, a quienes ya hemos hablado públicamente. Aún hoy, 9 de diciembre 2019, hay policías de civil que pueden detenerte, revisar tu celular y llevarte a la celda. Todavía hay muchos dirigentes que están siendo procesados. Se les están inventando causas, juicios. Por distintos motivos la represión sigue en medio de esta cortina de impunidad y desinformación. Hay un miedo permanente a hablar en espacios públicos, miedo de lo que no puedes decir en el bus, de cosas que no puedes hablar en la calle. Esto es un tema principalmente para los indígenas, pero, sobre todo, para las mujeres indígenas.

¿Cómo han sido afectadas las mujeres indígenas en particular?
En este mes de golpe ya ha habido grandes pérdidas. Los ataques, la violencia, el escarmiento, la humillación a las mujeres de pollera, a las mujeres indígenas. Por ejemplo, la cancillera ahora ha sacado un decreto en el que dice que nadie que trabaje en la cancillería puede llevar pollera, ni aguayos, todos tienen que vestir traje y corbata. O sea, no puede haber más indígenas en la cancillería, y si los hay, no pueden vestirse como indígenas.

Han dado escarmiento a las mujeres que pueden posicionarse frente al fascismo, al racismo; principalmente mujeres indígenas, mujeres aymaras, o que se reconocen como tales.  Ya sea que vivamos en la ciudad o en las comunidades, de cualquier manera, ya no podemos andar como andábamos hace dos meses, tranquilas en la calle, porque el racismo se ha profundizado. Antes también había racismo, pero no era impune. Como había un estado plurinacional, una discusión de las organizaciones, no podían humillarte, discriminarte impunemente en la calle. No podían decirte “india de mierda” o “anda a estudiar y después me respondes”. Hoy si pueden hacerlo. Hoy la gente puede mirarte con asco y cambiarse de asiento. Hoy pueden maltratarte en cualquier lugar, porque el golpe ha desatado ese racismo y mucha gente, que tal vez no está directamente apoyando al golpe, aprovecha el momento para mostrar su racismo. Porque su racismo estaba contenido. Entonces le da asco que estemos en la calle. Esta mañana he ido al banco y he tenido una discusión, porque me han dicho que no puedo estar con bultos en el banco. Me dijeron: “¿Por qué no aprendes a ir al banco?” Ahora, la gente puede ser racista impunemente. Nuestra vida ha cambiado.

¿Cuál ha sido el rol del sistema judicial en esta situación?
En este tiempo de golpe, donde ha habido grupos armados, donde hay detenciones ilegales, no hay ley. La ley es el gobierno mismo, el golpe. No tienes a quien recurrir y entonces la justicia comienza a operar con su cara más patriarcal. No tienes con quién quejarte. Por ejemplo, a mí, si me persiguen, ¿a quién voy a denunciar? ¿a la policía que mata? ¿a los militares? ¿a la justicia que ha encarcelado injustamente? Nosotros tenemos dos compañeras en la cárcel procesadas por terrorismo, porque una estaba en una marcha con una wiphala, la bandera de los pueblos indígenas, y otra estaba pasando por ahí, ni siquiera estaba en la marcha.

Esa justicia, por ejemplo, ha encarcelado a las autoridades de la corte electoral. No hay una investigación aún, que haya comprobado que hubo fraude. Pero están encarcelados. La presidenta de la corte electoral, María Eugenia Choque – una mujer indígena, aymara de pollera – ha sido detenida, torturada, exhibida en la televisión con esposas como si fuera una gran delincuente y ha sido transferida directamente a la cárcel sin derecho a la defensa. Por otro lado, a comienzo de diciembre han sido liberados dos femicidas, dos asesinos de mujeres que ya tenían sentencias. Han quedado impunes 12 violadores y estamos en un juicio de otro femicida que está a punto de quedar impune. Los jueces, como no hay ley, son corruptos. Si antes ya era difícil la justicia para las mujeres, hoy es peor. Ya no puedes ni siquiera hacer una denuncia, sino vos terminas detenida.

¿Qué opina sobre las elecciones que anunció el gobierno?
Nosotras como organización creemos que las elecciones son una trampa. Es muy difícil que el actual gobierno de facto vaya a una elección donde tienen la posibilidad de perder. Ellos van a suspender las elecciones o a manipularlas para mantenerse en el gobierno. Si pierden van a generar otra vez una movilización y desestabilización con el fin de no dejar el gobierno. Ahorita ya no hay movilizaciones ni bloqueos, ni cortes de rutas, ni marchas. Ya se ha desmovilizado. El gobierno de facto ha logrado eso diciendo que las elecciones son la solución, haciendo un acuerdo de paz. Pero ese acuerdo se incumple.

 ¿Cuál es la estrategia de las organizaciones sociales para las elecciones?
Hay quienes creen que no se debe ir a elecciones. Otros creen que el Movimiento al Socialismo (MAS) tiene que desaparecer. Ahí hay diferentes posiciones, hay fragmentación evidentemente. Hay ruptura en muchas organizaciones y hay organizaciones indígenas que no están de acuerdo con el MAS. Pero la gran mayoría está pensando en volver a utilizarlo como instrumento político, porque al final es el único que queda. Es la única sigla posible para ir a las elecciones.El primer momento del golpe ha sido de terror generalizado, donde los dirigentes se han escondido. Era muy difícil encontrar dirigentes en la calle. Ahora estamos en un segundo momento, entendiendo que nos vamos a paralizar si nos dejamos comer por el miedo. En este momento hay dos dimensiones de la lucha, una es estar en cabildos permanentes, en discusiones más amplias entre las organizaciones para ir preparando la resistencia. La otra es prepararse también frente a las elecciones. Aunque crea que son una trampa, igual hay que prepararse, buscar candidatos, discutir entre las organizaciones. Nosotras creemos que si se participa en las elecciones, se debe hacerlo con una fórmula indígena. Creemos que ya no son posibles los pactos con la clase media. Cuando fueron candidatos Evo y Álvaro García Linares, Álvaro García representaba a la clase media, a la intelectualidad. Pero es esa clase media la que hoy es racista, no soporta que ya no seamos sus empleadas. Por eso ha salido a protestar diciendo que el Evo era dictador, que quiere tener toda la administración del Estado.

Cuando se anunciaron las elecciones para marzo cesaron las manifestaciones. Pero, ustedes piensan que pueden ser una trampa. ¿Están pensando en volver a manifestar?
Primero, fue un error parar las movilizaciones, pero había una presión muy fuerte y una desunión en nuestras organizaciones sociales. No es como en el 2013 en la masacre del gas, en la que pudimos resistir en las calles. Las organizaciones están más debilitadas, pero pienso que en la calle nos hubiéramos fortalecido.

Yo veo dos momentos de riesgo. El primero, cuando intenten anular las siglas del MAS, porque ese es uno de los planes que tiene el gobierno de facto. Allí habrá movilizaciones. Y si no, el día después de las elecciones cuando ganen, ya sea por los votos o con fraude. Para nosotras esto no se va a poder resolver dialogando, esto se va a tener que resolver en las calles. Yo veo esos dos momentos concretos acompañados por la indignación por los muertos, por la impunidad y por la humillación, humillación causada por el gobierno dando una indemnización de siete mil dólares por muerto y haciendo que las familias firmen que jamás van a hacer una investigación.

¿Cuáles son los grupos en resistencia? ¿Hay unidad?
Las organizaciones que estamos esperando para volver a las manifestaciones son: la Confederación de Campesinos, organizaciones de los pueblos originarios, organizaciones obreras y organizaciones de mujeres. No hay unidad, porque el haber estado en el Estado por más de 13 años ha hecho que esa unidad se rompa. Entre las organizaciones había mucha disputa de poder, mucha competencia, por ejemplo, por cargos de ministros, y había muchos dirigentes que ya no representan a las bases. Pero si hay cosas comunes como, por ejemplo, que no se puede permitir la masacre. Ellos no pueden quedar impunes por los muertos. Nosotras del Feminismo Comunitario Antipatriarcal no somos parte del MAS, pero estamos en lucha y resistencia frente al golpe de estado, frente al fascismo, frente al fundamentalismo, frente a la imposición de la Biblia.

Pero también necesitamos hacer una autocrítica. Como feministas, es importante para nosotras hacer nuestro aporte sobre los pactos patriarcales que ha habido en el gobierno de Evo Morales. No hemos logrado hacer un control del estado, no hemos logrado que se acaben las políticas extractivistas, no hemos logrado que la lucha contra la violencia hacia las mujeres sea una prioridad. No hemos logrado nacionalizar la minería, las transnacionales estadounidenses siguen llevándose todo el mineral del país, sin parar, regalado. Digo esto porque a veces hay una mirada reducida del feminismo, como que no se ocupa de los asuntos estructurales.

¿Podría profundizar un poco más en esto?
Yo creo que el feminismo a veces confunde los conceptos del patriarcado y del machismo. Tiene que ver también con la teoría que se ha hecho principalmente en Europa donde se habla, por ejemplo, de violencia machista. Para nosotras la violencia es patriarcal. Por ejemplo, este empresario Luis Fernando Camacho quien encabeza el golpe de estado y representa a los empresarios con más dinero del país, es decir, a los terratenientes, sí es un patriarca. Ellos tienen el capital, tienen tierras, explotan a hombres y a mujeres, fomentan una cultura de violencia que tienen los patrones; evaden impuestos, tienen negocios en el extractivismo, tienen empresas madereras, fomentan el fascismo. Entonces una persona así sí es un patriarca; a pesar de que Camacho en su discurso respeta mucho a las mujeres, no ha hecho ningún comentario machista, pero racista sí. Por otro lado, no es una novedad que Evo Morales sea machista: hace chistes sobre las mujeres, cree que las mujeres tenemos que esforzarnos el doble o el triple para probar que somos capaces. Y eso era aún peor porque Evo no es cualquier hombre, es el presidente. Aun así, esto no lo pone en el mismo lugar que a los fascistas que están haciendo el golpe de estado. Evo no es patriarca. Por último, el patriarcado es estructural y el machismo es una conducta.

¿Cómo ve esta cuestión de la autocrítica en el actual proceso que están viviendo las distintas organizaciones sociales?
Con el golpe de estado las organizaciones nos encontramos en la calle, en la lucha, en la resistencia, en la represión y nos dimos cuenta de que estábamos fragmentadas. Como decía, ser parte del poder y del Estado nos había hecho también daño. Esa autocrítica ha salido de las calles, nos hemos olvidado de nuestros valores: “no seas flojo, no seas mentiroso, no seas ladrón”. Esos son los principios que tenemos como pueblo, nuestra cosmovisión. Nos hemos olvidado de eso. También ha sido un momento de autonomía, no es que todas las manifestaciones en la calle respondían a Evo. Nos hemos olvidado de rotar la autoridad, porque si bien Evo es importante por ser un símbolo en este proceso – es un presidente indígena que no viene de la universidad, viene de la calle, viene del sindicato – había muchas organizaciones que decían que este ya no es un asunto solamente del Evo, sino de cómo nos reconstruimos como organizaciones. Hay que aprovechar este momento para reconstruir, para sanar esas heridas, para volver a unificarnos entre organizaciones con el fin de revertir el golpe de estado.

¿Qué espera de lxs activistxs y de la política europea en ese proceso?
Al gobierno golpista no le importa si dentro de Bolivia protestamos o nos matan. Sin embargo, el gobierno está conformado por empresarios y ellos tienen intereses madereros, tienen interés en el gas, en el petróleo de empresas transnacionales fundadas con dinero de Europa y de los Estados Unidos. Entonces les va a preocupar la presión internacional. Más que nos apoyen a nosotras aquí, necesitamos que luchen allá para que esos capitales que vienen a nuestros territorios, que devastan los bosques con la minería y las hidroeléctricas ya no lleguen aquí. Se necesita solidaridad internacional para posicionarse frente al golpe. Es importante que los sindicatos, las organizaciones sociales, los partidos políticos a través de sus diputados en la Unión Europea, en el Congreso de los Estados Unidos, denuncien internacionalmente al golpe y a los crímenes y que reconozcan que es un gobierno de facto, no un gobierno democrático. Esa presión va a ser muy importante.

DIE PUTSCHE UNSERER ZEIT

17.11.2019

Aufgrund der Diskussionen darüber, wie die Geschehnisse in Bolivien politisch einzuordnen sind, wollen wir unsere Position als Redaktion der Lateinamerika Nachrichten transparent machen. Die Ereignisse überschlagen sich derzeit. In der letzten Woche haben wir noch nach einer gemeinsamen Position zum Rücktritt von Evo Morales und dem Putsch gesucht. Angesichts der Rücksichtslosigkeit und Geschwindigkeit, mit der die neuen Machthaber*innen in Bolivien ihre reaktionären Ziele verfolgen, tritt dies nun schon fast in den Hintergrund.
 
Wenn das bolivianische Militär in Zukunft auf Demonstrant*innen schießt, muss es keine Konsequenzen fürchten. Nur wenige Tage nach ihrer Selbsternennung zur Präsidentin von Bolivien unterzeichnete die zweite Senatsvizepräsidentin Jeanine Áñez am 15. November ein Dekret, das  dem Militär bei der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung” Straffreiheit zusichert. Kurz darauf töteten in Cochabamba mutmaßlich Schüsse der Polizei mindestens neun Menschen
 
Die eskalierende Gewalt in Bolivien macht nochmal deutlich, dass die Übergangsregierung nicht demokratisch ist. Sie ist das Ergebnis eines Putsches: Weil die Amtszeit von Evo Morales regulär noch bis Ende Januar gelaufen wäre. Weil er auf den öffentlichen Druck hin Neuwahlen angekündigt hat. Weil er nur Stunden danach durch das Militär gedrängt wurde, zurückzutreten es war kein freiwilliger, sondern ein erzwungener Rücktritt. Zwar war Morales’ Wahl von Betrugsvorwürfen überschattet. Schon vor einer Klärung der Vorwürfe hat die rechte Opposition jedoch das Ergebnis abgelehnt und auf Umsturz gedrängt.
 
Sehen wir uns die Putsche der letzten Jahre an – Honduras (2009), Paraguay (2012), Brasilien (2016) – so laufen sie nicht mehr nach dem Schema der früheren Militärdiktaturen der 1960er und ’70er Jahre ab. Keine Militärjunta mehr, die einen Präsidentenpalast stürmt und alle Anwesenden umbringt oder in Folterlager steckt. Die Rechte hat sich verändert: Sie hat die Strategie entwickelt, undemokratische Aktionen mit demokratischem Vokabular zu vereinnahmen und versucht so, ihnen politische und parlamentarische Legitimität zu verleihen. 
 
Das beginnt mit der angeblichen Verteidigung der „Menschenrechte“, der Freiheit” und der „Meinungsfreiheit“, die unter den progressiven Regierungen in Gefahr sei, und führt dann über die Aneignung der Protestformen auf der Straße schließlich zu einer scheinbar demokratischen Legitimität eines Machtwechsels. Dabei sind die Bemühungen rechter Bewegungen und Parteien, sich einen demokratischen Anstrich zu geben, rein äußerlich und nicht sonderlich nachhaltig. Es geht höchstens um unternehmerische Freiheit. Die Gewalt kommt erst danach, sie ist nicht so öffentlich wie in den 1970ern, aber dennoch real.
 
In El Alto, der zweitgrößten Stadt Boliviens direkt neben der Hauptstadt La Paz, mobilisierten an diesem Wochenende Unterstützer*innen von Evo Morales. Sicherheitskräfte schossen scharf auf sie. Gegner*innen der MAS-Bürgermeisterin der Stadt Vinto, Patricia Arce, übergossen sie mit roter Farbe und schleppten sie barfuß und mit geschorenem Kopf durch die Straßen. Wiphala-Flaggen wurden verbrannt – das Symbol der Plurinationalität, das die verschiedenen indigenen Sprachen und Kulturen als festen Bestandteil Boliviens anerkennt. Diese und andere Gewalttaten befördert Boliviens neue De-Facto-Regierung. Und es könnte noch schlimmer werden.
 
Die Akteur*innen des rassistischen und klassistischen Umsturzes bezeichnen diesen als verfassungsmäßig. Als Jeanine Áñez sich selbst zur Präsidentin ernannte, stand sie jedoch vor einem nicht funktionsfähigen Parlament: Die Mehrheit der Abgeordneten war abwesend – ob aus Protest oder aus Angst vor Repression. Sie ist nicht demokratisch legitimiert. Und selbst wenn sie es wäre, bestünde ihre Aufgabe als Interimspräsidentin in erster Linie darin, Neuwahlen auszurufen – stattdessen lässt sie politische Gegner*innen verfolgen und krempelt die bisherige Außenpolitik Boliviens um, wie etwa durch den Austritt aus dem Regionalbündnis ALBA. Unabhängig davon, wie kritisch oder wie solidarisch man mit Evos Regierung ist, steht fest: Diejenigen, die nun den Machtanspruch erheben, sind keine Demokrat*innen. 

 

Newsletter abonnieren