Diese Ausgabe der LN beginnt mit einer außergewöhnlichen, weil positiven Nachricht für Journalist*innen in Lateinamerika. Mehr als zwei Jahrzehnte nach der Entführung, Folter und sexualisierten Gewalt gegen die kolumbianische Journalistin Jineth Bedoya hat der Interamerikanische Gerichtshof am 18. Oktober 2021 ein unmissverständliches Urteil gefällt: „Seriöse, präzise und kohärente Indizien“ sprächen für die direkte Beteiligung von staatlichen Akteuren an der Entführung von Bedoya. Der kolumbianische Staat sei, laut Gericht, nicht nur verantwortlich für die an ihr begangenen Verbrechen, er habe auch das Recht des Opfers auf eine angemessene juristische Aufarbeitung des Falles missachtet und sie geschlechtsspezifisch diskriminiert. Jineth Bedoya wurde im April 2000 vor einem Gefängnis in Bogotá entführt, als sie dort einen ranghohen Paramilitär interviewen wollte.
Die symbolische Bedeutung dieses Urteils ist aus vielen Gründen kaum zu unterschätzen. Vor dem Interamerikanischen Gerichtshof hat Bedoya Gerechtigkeit erfahren, was ihr in Kolumbien trotz jahrelanger Prozesse und akribischer eigener Aufklärungsarbeit systematisch verwehrt wurde. Sie wurde ihr verwehrt, weil ihre Recherchen in den Gefängnissen sowie die Aufklärung ihrer eigenen Entführung die systematische Verstrickung von paramilitärischen und staatlichen Strukturen offenlegt. Doch so groß die symbolische Bedeutung des Urteils auch sein mag, für die meisten Medienschaffenden in Lateinamerika wird sich dadurch leider wenig ändern. Wenn sogar eine der Top-Journalist*innen Kolumbiens 20 Jahre um Gerechtigkeit kämpfen muss, sind die Aussichten für weniger renommierte, vernetzte und finanziell ausgestattete Medienschaffende düster.
Schon seit Jahren ist die Situation für Journalist*innen in vielen Teilen Lateinamerikas katastrophal. Die von Reporter ohne Grenzen herausgegebene Karte zeigt auch dieses Jahr wieder den desaströsen Zustand der Pressefreiheit. Ein tiefroter, großer Fleck zieht sich über die Landkarte Lateinamerikas – von Bolivien bis nach Mexiko. Das Fazit ist – mal wieder – besorgniserregend: In keiner anderen Region haben die Verletzungen der Pressefreiheit so stark zugenommen wie in Lateinamerika. Laut eines UNESCO-Berichtes wurden mehr als ein Viertel aller zwischen 2016 und 2020 weltweit dokumentierten Fälle getöteter Journalist*innen in Lateinamerika und der Karibik verzeichnet. Wer über Korruption, Drogenhandel oder Waffengeschäfte schreibt, muss damit rechnen, zum Staatsfeind und zur Zielscheibe (para-)staatlicher Gewalt zu werden.
Das Urteil im Fall Bedoya wird an dieser Situation so schnell nichts ändern, aber immerhin ist es ein bedeutender Schritt nach vorn. Auch deshalb, weil es sexualisierte Gewalt gegen Journalist*innen sichtbar macht. Es verpflichtete den kolumbianischen Staat unter anderem dazu, Daten zu geschlechtsspezifischer Gewalt sowie Bedrohungen und Gewalt gegen Pressevertreter*innen in Zukunft zu registrieren und öffentlich zugänglich zu machen. Dass das Gericht geschlechtsspezifische sexualisierte Gewalt als Verbrechen betrachtet, ist ein Novum und könnte künftigen Verfahren als Präzedenzfall dienen. Auch für die Aufarbeitung des rund 50-jährigen bewaffneten Konflikts in Kolumbien könnte das Urteil eine wichtige Strahlkraft entwickeln. Die Vize-Chefredakteurin der größten kolumbianischen Tageszeitung El Tiempo appellierte bereits am Tag nach der Urteilsverkündung an die Sonderjustiz für den Frieden, einen Prozess zur Ahndung sexualisierter Gewalt im bewaffneten Konflikt zu initiieren.