“KULTURELLES GEDÄCHTNIS MIT DEFIZITEN”

Warum haben Sie Chile 1986 verlassen und sich für Berlin entschieden?
Ich hatte ein persönliches Angebot bekommen, nach Berlin zu kommen, das ich sofort annahm. Die siebziger und achtziger Jahre in Chile waren schrecklich, ich wollte nichts wie weg. Dass man in einer Diktatur aufgewachsen ist, kann man aus der Biographie nicht mehr wegradieren. Und den Übergangsprozess hin zur Demokratie habe ich nicht mitgemacht, so dass meine Erinnerungen an Chile noch aus Diktaturzeiten stammen. Bis 2015 war ich dort immer wieder zu Besuch, doch nie länger als zwei Wochen. Erst seit 2016 bin ich für längere Zeit dort gewesen. Die Literatur bringt mich ein bisschen nach Chile zurück.

Wie sind Sie vor Ihrer Emigration mit der politischen Situation umgegangen? Haben Sie diese schon literarisch verarbeitet?
Um in der Diktatur Widerstand zu leisten, musste man bereit sein, alles zu riskieren. Ich hatte damals keine radikalen Gedanken und habe Abstand zu allen Ideologien gehalten. Für Leute wie mich gab es im Chile der achtziger Jahre keinen Platz. Meine eigenen Erfahrungen verarbeite ich in meinem neuesten Roman, Luz en Berlín, der die Ereignisse um das Jahr 1989 thematisiert, in denen sich Deutschland und Chile parallel im Umbruch befanden.

Ihr erster Roman, Mestiza, spielt im 17. Jahrhundert, als Chile spanische Kolonie war. Inzwischen erscheint das Buch in der vierten Auflage und wird auch als Fernsehserie verfilmt. Wie erklären Sie sich den großen Erfolg?
Momentan gibt es einen Trend in Chile, in die Geschichte zurückzublicken. Viele historische Romane in anderen lateinamerikanischen Ländern haben sich schon auf die Suche nach Erklärungen für die Gegenwart gemacht, während Chile da ein klares Defizit hat, das wir jetzt versuchen aufzuarbeiten. Dann hat mich ein Produzent gefragt, ob ich Interesse hätte, den Roman als Serie zu verfilmen. Sofort hat sich ein Team gebildet, jetzt sind wir in der Antragsphase. Ich habe schon mit dem Drehbuch angefangen.

In verschiedenen Interviews für chilenische Medien haben Sie betont, dass der Umgang mit der Araucanía – der Region in Südchile, wo traditionell die Mapuche leben – entscheidend für das historische Identitätsproblem der Chilenen sei: Statt die mestizische Herkunft anzuerkennen, hat man sich immer mehr nach Europa orientiert. Wie sehen Sie die heutige Beziehung der Chilen*innen zum Erbe der Mapuche?
Das ist eine Problematik, die von Generation zu Generation verschleppt wurde. Einer der Gründe dafür ist, dass man zu wenig über den historischen Prozess weiß und auch nicht mehr wissen will. Die Bevölkerung, insbesondere die Bourgeoisie, gibt sich mit angeblichen Allgemeinwahrheiten zufrieden und verbreitet diese immer weiter. Es gibt keinen differenzierten Blick in die Vergangenheit, der versucht das Anliegen der Mapuche zu verstehen und dieses mit unserer eigenen Identität zu verknüpfen. Die Protagonistin von Mestiza ist hingegen eine sehr starke Frau, die ihre Identität akzeptiert. Ich hoffe, dass sich die Leserschaft durch diese Figur mit der eigenen Geschichte besser identifizieren kann.

Ihr zweiter Roman, Rugendas, ist nach dem Augsburger Maler Johann Moritz Rugendas benannt, der im 19. Jahrhundert Mittel- und Südamerika bereiste und Landschaft und Menschen porträtierte. Was fasziniert Sie an dieser Person?
Da ich zwischen zwei Welten lebe, interessieren mich die Leute, die Brücken zwischen diesen Welten schlagen. Mich hat Rugendas’ Blick fasziniert. In Chile traf er auf eine Bourgeoisie, die sich sehr wenig um das Wohl des Landes kümmerte. Wenn er Indigene porträtierte, wurde seine Kunst nicht akzeptiert. Niemand wollte in seinem Haus das Porträt eines Indigenen oder Bauern hängen haben, sondern lieber eins des Hausherrn. Das hat Rugendas nicht geboten. Sein Versuch, die Romantik nach Lateinamerika zu transportieren, ist gescheitert. So ist er abgereist und zehn Jahre später als armer Mann in Bayern gestorben. Heute ist er jedoch in vielen Museen an den Orten der lateinamerikanischen Länder, in denen er gearbeitet hat, wie Chile, Argentinien, Uruguay, Brasilien, Mexiko, prominent vertreten.

In welchem Verhältnis stehen für Sie Geschichte und Literatur?
Die Geschichte ist natürlich sehr nützlich dafür, die Gegenwart zu verstehen. Diese Perspektive ist für Lateinamerika als postkolonialer Kontinent sehr wichtig. Unsere Gegenwart ist gänzlich kolonial geprägt, und der Wille der Eliten, etwas daran zu ändern, ist sehr begrenzt. Durch fiktive Figuren, die Geschichte selbst erleben, kann diese noch viel besser erzählt werden. Es geht darum, der Geschichte zusätzlich zur Dimension von Raum und Zeit die Dimension der Emotionen zu geben. Dahinter steht die Frage, wie Menschen eine bestimmte Epoche erleben. Die Protagonistin von Mestiza beispielweise erzählt mit 70 Jahren ihr Leben, ihren persönlichen Eindruck vom kolonialen Königreich Chile.

Im Prolog zu Mestiza sprechen Sie von einem ungeöffneten Originalmanuskript im Archivo de Indias in Sevilla. Existiert diese Quelle?
Nein. Die Technik, ein fiktives historisches Dokument zu erfinden und dieses als realhistorisch zu verkaufen, um eine Geschichte darum zu spinnen, ist in der Literatur sehr beliebt. Ich fand es passend, um die Leserschaft wissen zu lassen, dass die Erzählerin vertrauenswürdig ist. Die Person ist fiktiv, aber es kann sie trotzdem gegeben haben. Die im Roman erwähnten Rahmenkonstellationen des 17. Jahrhunderts sind natürlich real.

Der Roman Rugendas beruht auf dem Briefwechsel zwischen dem Reisemaler aus Deutschland und der Chilenin Carmen Arriagada. Deren Briefe an Rugendas wurden zufällig in Deutschland entdeckt. Sie selbst hat dagegen Rugendas’ Briefe verbrannt, um ihre – rein platonische – Liebesbeziehung vor ihrem Ehemann geheim zu halten. Wie haben Sie in diesem Fall eine reale Geschichte zu Fiktion gemacht?
Bei Rugendas war es ein anderer kreativer Prozess als bei Mestiza. Ich hatte die 235 Briefe der platonischen Geliebten im Iberoamerikanischen Institut in Berlin gefunden, dort gelesen und als realhistorische Quellen verwendet: Basierend auf den Briefen habe ich versucht, die ganze Geschichte von Rugendas in Chile zu rekonstruieren. Somit ist es auch meine Version von Rugendas in Chile.

Könnte man in Bezug auf Ihre Literatur vielleicht von einer Art Geschichtspädagogik sprechen?
Auf jeden Fall. Das kulturelle Gedächtnis in Chile ist sehr defizitär. Miserabel geradezu. Ich habe vom deutschen Umgang mit der Geschichte etwas gelernt, da ich den Eindruck habe, dass zumindest an einigen Stellen das Interesse besteht, ohne Heuchelei in die Vergangenheit zu schauen. Ich stelle jedoch auch in Chile Verbesserungen fest, Mestiza wird heute zum Beispiel auch teilweise in Schulen gelesen.

In der Zeitschrift Crítica schreiben Sie in einem Artikel, dass Ihnen die „bescheidenen“ Autor*innen gefallen und Sie die „eitlen“ ablehnen. Wie definieren Sie „bescheidene“ und „eitle Literatur“?
Das kommt auf die Motivation an, mit der man schreibt. Etwas geben, das ist bescheidene Literatur; und sich zu zeigen, wie man wirklich ist. Ohne Heuchelei eine Thematik anzugehen. Wenn ich anfange, ein Buch zu lesen, kommt mir diese Dichotomie sofort in den Sinn. Wenn sich der Autor zu sehr in den Vordergrund drängt, habe ich keine Lust mehr weiterzulesen.

Haben Sie Beispiele dafür?
Eitel wäre: Schau mal hier, wie toll ich schreiben kann. Bescheiden ist: Schau mal, was ich zu sagen habe. Das kann sich natürlich auch vermischen, diese Unterscheidung ist eine Vereinfachung, die ich für mich gemacht habe, um meinen eigenen kreativen Prozess zu verstehen. Gar nicht eitel ist für mich zum Beispiel Thomas Bernhard. Er entflieht der Eitelkeit in jeder Form. Auch Bukowski. Wahrscheinlich auch deswegen, weil ich im Chile der achtziger Jahre groß geworden bin, wo alles Heuchelei und Eitelkeit war, gefallen mir die Schriftsteller besonders gut, die zum Beispiel über Einsamkeit schreiben. Denn wer einsam ist, ist meist nicht eitel, Eitelkeit entsteht ja erst im gesellschaftlichen Umgang.

Zu Ihren größten Einflüssen zählt der Philosoph Schopenhauer, den Sie mi maestro adoptado, Ihren „Adoptivlehrer“, nennen. Was haben Sie von Schopenhauer gelernt?
Ich glaube, das hat mit seinem klaren Blick auf das menschliche Dasein zu tun. Wie er unsere Ängste erklärt, unsere Aggressivität und unseren Egoismus. Wenn man wie ich das Chile der achtziger Jahre erlebt hat, die ganze Grausamkeit, die Arroganz, die fehlende Empathie, das Absurde und Irrationale, dann ist Schopenhauer ein möglicher Rückzugsort: ihn zu lesen und zu versuchen, diese Motive als menschliche Defizite zu verstehen und sich selbst vor ihnen zu schützen.

Sie leben in Berlin, veröffentlichen aber auf Spanisch und in Chile. Wie schätzen Sie – aus der Ferne – den aktuellen Literaturbetrieb in Chile ein?
Mir gefällt dieser Blick von außen. Der Literaturbetrieb in Lateinamerika ist für mich zum Teil sehr unangenehm, vielleicht ist es auch hier so, aber ich mag den Abstand zu diesem Literaturbetrieb. Ich bin gerne dort, um Kontakte zu knüpfen und zu vertiefen und zu sehen wie die Rezeption meiner Bücher abläuft, aber die Details des Betriebs, die Konkurrenz und all das, vermeide ich lieber. Viele Schriftsteller sind zerstritten und führen teilweise absurde Debatten, die mich nicht interessieren.

Wann werden Ihre Bücher auch auf Deutsch zu lesen sein?
Hoffentlich bald, obwohl ich teilweise sehr spezifisch lateinamerikanische Themen behandle. Aber vor allem Luz en Berlín soll natürlich ins Deutsche übersetzt werden. Ich bin jedoch bisher meine eigene Agentin, und die Literatur ist ein langsamer, akkumulativer Prozess. Bisher weiß ich noch nicht, was mit meinen Büchern passieren wird.

Newsletter abonnieren