Erzählte Topographie

Camuflaje, Berlinale 2022 (Foto: © Alina Films and Off The Grid)

Bewertung: 3 / 5

Félix Bruzzone läuft. Er läuft und läuft. Kein Jogger, sondern ein Langstreckenläufer. Sein tägliches Training führt ihn immer entlang des Zauns, der den Campo de Mayo – Argentiniens größte Militärbasis – umgibt. Ein tragischer Ort, in dem sich während der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983 vier geheime Folterzentren befanden. In einem davon, El Campito, starb Bruzzones Mutter, als er erst drei Monate alt war.

Bruzzone ist die Hauptfigur und Co-Autor des Dokumentarfilms Camuflaje von Jonathan Perel. Im wirklichen Leben ist er nicht nur Langstreckenläufer, sondern auch argentinischer Schriftsteller, der bereits mehrere Romane, Kurzgeschichten und auch ein Kinderbuch veröffentlicht hat. Seine Bücher wurden ins Französische, Schwedische und Deutsche übersetzt; 2010 erhielt er den internationalen Anna Seghers-Preis. Über den Campo de Mayo hat er 2019 ein Buch geschrieben, das er in den folgenden Jahren auch als Performance-Lesung im Theater inszenierte. Und nun der Film Camuflaje, in dem er sich ein weiteres Mal mit dem Militärgelände auseinandersetzt.

In einer Art erzählter Topographie lässt sich Bruzzone (und das Filmteam) von ganz unterschiedlichen Menschen in den Campo de Mayo mitnehmen, während sie von ihrer Geschichte mit und auf dem Gelände erzählen. Obwohl der Zutritt der noch aktiven Militärbasis eigentlich verboten ist (und Autos die beiden großen Verbindungsstraßen durch das Gelände zwar befahren, dort aber nicht anhalten dürfen), sind überall im Zaun große und kleine Löcher, die von Besucher*innen genutzt werden.

1901 gegründet, ist der Campo de Mayo heute in weiten Teilen eine Wildnis am Rande der Stadt. Dort finden sich viele alte Gebäude, die nur noch teilweise für militärische Übungen genutzt werden, wie vergessene Relikte einer vergangenen Zeit. Bruzzone trifft hier einen Naturschützer, der das Gelände am liebsten in ein offizielles Naturreservat umwandeln würde. Oder eine Gruppe von drei Künstlerinnen, die in klandestinen „Begehungen“ Material für ihre künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Gelände sammeln. Ein Extremsportler schätzt die verschiedenen Geländeformationen, wenn er dort mit dem Mountainbike unterwegs ist. Nur ein kleiner Teil des Geländes ist als 3-D-Ausstellung erschlossen und dokumentiert die grausamen Geschehnisse während der Diktatur. Absurder Höhepunkt der Begegnung von Freizeitkultur und militärischer Geschichte ist Bruzzones Teilnahme am „Killer Race“, eine Art Hindernislauf durch das Gelände, dessen beängstigende Momente den Autor immer langsamer und nachdenklicher werden lassen.

Unbearbeitet, ungeordnet und nahezu unsichtbar erscheinen das Gelände des Campo de Mayo und seine Geschichte. So wie auch das Militär als sein eigentlicher Nutznießer fast unbeobachtet ist – nur ein einziges Mal begegnet das Filmteam beim Dreh einer Gruppe Soldaten. Regisseur Jonathan Perel hat sich seit seinem Dokumentarfilm über das Folterzentrum der ESMA 2008 auf „verschiedene Orte der Erinnerung, besonders solche, die als geheime Haftzentren funktionierten“ spezialisiert. „Orte, die schwierig zu filmen sind – entweder wegen der Schwierigkeit, zu ihnen Zugang zu erhalten, oder die schwierig zu durchqueren sind, weil sie von Geistern bewohnt werden“, erklärt er zum Film. Obwohl sich Argentinien stärker als andere Länder auch offiziell mit den Verbrechen der Militärdiktatur auseinandergesetzt hat, offenbart sich in Camuflaje im Zustand des Campo de Mayo ein noch immer ungeklärtes Verhältnis zum Militär und seiner Rolle in der Geschichte des Landes.


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ZIVILE KOMPLIZ*INNEN

© Jonathan Perel

„Es ist nicht wahr, dass wir nur für bessere Löhne gekämpft haben: Wir wollten die Welt verändern und das ist es, was uns nicht verziehen wird.“ Mit diesen Worten beschreibt Carlos Leguizamón im Oktober 2014 den Kampf der Arbeiter*innen des Unternehmens Astarsa vor und während der argentinischen Militärdiktatur. Selbst Mitglied der peronistischen Arbeiterjugend, ist er als Zeuge für den Gerichtsprozess gegen neun Angeklagte der Streit- und Sicherheitskräfte geladen. Es ist der Tag des Urteils: sechs der neun Angeklagten werden wegen Entführungen und Verschwinden-Lassen in 33 Fällen verurteilt, drei werden freigesprochen. Doch die, die an diesem Tag vor Gericht stehen, sind laut Leguizamón nicht die einzigen Verantwortlichen für die Entführungen seiner ehemaligen Kolleg*innen: „Jeder normale Mensch erkennt, wenn er das alles hört, die zivile Mittäterschaft an diesen Verbrechen, dass es Listen von der Unternehmensleitung in der Armee gab, aber die Mächtigen sind immer noch zu Hause.“ Erst zwei Jahre nach dem Gerichtsurteil im Fall der Astarsa-Arbeiter*innen wird erstmals in Argentinien ein Unternehmer – Marcos Levin – wegen Komplizenschaft zu 12 Jahren Haft verurteilt.

Der argentinischen Regisseur Jonathan Perel thematisiert in seiner neuen Dokumentation die Beteiligung von Unternehmer*innen an Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der Diktatur. Damit ordnet er sich in die schon länger voranschreitende historische Aufarbeitung ein, während die strafrechtliche Aufarbeitung nach wie vor stockt. Der Film basiert auf dem 2015 erschienenen Bericht des Ministeriums für Justiz und Menschenrechte.  Perel bleibt sich auch in dieser filmischen Aufarbeitung der Militärdiktatur treu, indem er auf die Didaktik klassischer Dokumentarfilme verzichtet. 68 Minuten lang ist die Kamera auf die zum Teil noch genutzten, zum Teil bereits leerstehenden Fabriken gerichtet. Vor deren Hintergrund liest er Ausschnitte des Berichtes vor, aus denen die Verwicklung der oberen und mittleren Hierarchieebenen in die Repression gegen die Arbeiter*innen hervorgeht.

Wie auch in seinen früheren Filmen Toponimia (2015) und 17 monumentos (2012) widmet sich Perel, selbst Sohn von Verschwundenen, in der Dokumentation den historischen Orten der Gewalt. In der Kombination der Handkamera-Totalen und dem laienhaften Vorlesen Perels wird eine große Nähe zu den Orten geschaffen, ganz so als würde man ihn auf seiner Suche nach den Verantwortlichen begleiten. Aus dem Vorgelesenen wird deutlich, dass die im Bericht genannten Unternehmen in der Diktatur nicht nur mittelbar von deren Wirtschaftspolitik profitierten, sondern auch, dass die Zerschlagung der gewerkschaftlichen Strukturen und die Errichtung eines neuen Arbeitsregimes unmittelbar Profite generierte. Dabei lief die Mittäterschaft der Unternehmensleitung immer nach dem gleichen Muster ab: Sie legte Listen mit Namen von Personen vor, deren gewerkschaftliches Engagement bekannt war oder die anders aufgefallen waren. Die Listen, teilweise mit Fotos aus den Beständen des Unternehmens, wurden an die Militärs ausgehändigt. Weiterhin sorgten die Unternehmensleitung dafür, dass die Arbeiter*innen unter fadenscheinigen Gründen von ihren Arbeitsplätzen geholt wurden. Viele von ihnen gehören weiterhin zu den Verschwundenen (desaparecidos).

Da Perel den Bericht des Ministeriums in stark gekürzter Fassung wiedergibt, verbleibt der Film auf der Ebene der Zahlen und Namen. Dadurch verlangt er seinen Zuschauer*innen nicht nur sehr viel Geduld und Aufmerksamkeit ab, sondern bricht auch mit der Darstellung der Unternehmensgeschichte als Bewegungsgeschichte, wie sie im Bericht angelegt ist. Die wechselnden Machtverhältnisse innerhalb der Betriebe vor und während der Diktatur werden im Bericht durch eine multiperspektivische Quellenzusammenstellung dokumentiert. So wird die Repression in der Kontinuität der Kämpfe zwischen Arbeit und Kapital und der Verschwisterung des Militärs mit dem Kapital verstehbar. Durch die notwendige Komplexitätsreduktion des Filmes, wird die Repression während der Militärdiktatur aus der Konfliktgeschichte der Unternehmen herausgelöst. Dadurch hat die Dokumentation für Menschen, die sich nicht explizit mit der Verwicklung der Unternehmer*innen in die konkreten Verantwortungshierarchien interessieren, vermutlich seine Längen. Perels Leistung besteht maßgeblich darin, durch die gekürzten Falldarstellungen die aktive Rolle des Führungspersonals in den Menschenrechtsverletzungen herauszustellen und damit die scheinbar trennscharfe Definition von Komplizen- und Täterschaft zu hinterfragen.


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