“DAS BEBEN HAT UNS AUS DER APATHIE GEWECKT”

Das Beben vom 19. September 2017 erschütterte Zentralmexiko nur wenige Stunden nach der alljährlichen Übung, die seit dem schweren Erdbeben 1985 – auf den Tag genau 32 Jahre zuvor – in Mexiko-Stadt stattfindet. War es abzusehen, dass erneut ein Erdbeben vergleichbarer Stärke eintreten würde?
Beben passieren andauernd, da die tektonischen Platten, auf denen die Kontinente und Ozeane des Planeten ruhen, in ständiger Bewegung sind. Diese Bewegungen sind für Menschen zumeist nicht wahrnehmbar, da sich ihre Geschwindigkeiten im Bereich von jährlichen Millimeterverschiebungen abspielen. Allerdings entstehen so langfristig große Erschütterungen durch Kollisionen der verschiedenen Platten. Es war also klar, dass die Bewegung der Cocosplatte (die tektonische Platte, die entlang der mexikanischen Pazifikküste Berührungspunkte mit der Nordamerikanischen Platte aufweist, Anm. d. Red.) irgendwann wieder ein Beben auslösen würde. Dennoch war dieses Beben für die mexikanische Zivilgesellschaft und auch für die Wissenschaft überraschend. Die Szenarien, die traditionell für die Bewertung der seismischen Gefahr herangezogen werden, betrachten zumeist den Prozess der Subduktion (Unterschiebung einer Platte unter eine andere, Anm. d. Red.) der Cocosplatte unter die Nordamerikanische Platte entlang der mexikanischen Pazifikküste, nicht jedoch wie in diesem Fall eine Bewegung im Landesinneren.

Was ist also wissenschaftlich gesehen das Besondere an diesem Erdbeben?
Im Juni des Jahres 1999 war ich Zeuge des Bebens von Tehuacán, Puebla. Aufgrund der Lage des Epizentrums habe ich dieses im Nachbarstaat Tlaxcala, in dem ich aufgewachsen bin, intensiv gespürt. Dieses Beben hat, neben den emotionalen Auswirkungen eines Erdbebens, in mir den Wunsch ausgelöst, die Erde und ihre Bewegungen besser verstehen zu können. Es stellte sich heraus, dass jenes Beben von 1999 mit dem am 19. September in Zentralmexiko eine Gemeinsamkeit bezüglich der Bewegungsmechanismen aufweist: Es handelte sich bei beiden Beben, auch bei dem am 7. September in Südmexiko, um sogenannte Intraplattenbeben. Sie entstanden durch Bewegungen des Gesteins innerhalb der Cocosplatte.

Wie laufen solche Bewegungen des Gesteins ab?
Stellen wir uns vor, wir würden von den beiden Enden einer Metallstange aus in gegensätzliche Richtungen Druck auf diese ausüben. Irgendwann wird sich diese Stange deformieren und brechen, nämlich dann, wenn der Druck so hoch ist, dass er das Widerstandslimit des Materials übersteigt. Die Cocosplatte ist eine Gesteinsfläche, die von Kräften, die aus allen Richtungen auf sie einwirken, ständig deformiert und gebrochen wird. Das Besondere an der Cocosplatte ist, dass sie, im Gegensatz zu anderen ozeanischen Platten, die sich ebenfalls in einem Subduktionsprozess befinden, auf der Höhe der mexikanischen Küstenabschnitte von Guerrero und Oaxaca eine leichte Neigung aufweist. Richtung Norden wird sie dann horizontal. Das heißt, dass die Platte sich horizontal unter einem Großteil des Gebiets der beiden Bundesstaaten bewegt und sich schließlich auf der Höhe des transmexikanischen Vulkangürtels unter ihrem eigenen Gewicht neigt – es scheint, als wurde das Beben am 19. September genau an dieser Stelle ausgelöst. Es ist also ein außergewöhnliches Beben, das aufgrund seiner Lage, seiner Beschaffenheit und seiner sozialen Auswirkungen aus verschiedenen Blickwinkeln untersucht werden sollte.

Warum war das Beben vom 19. September so schwerwiegend im Vergleich zu anderen Beben, die eine höhere Stärke auf der Richterskala erreichen?
Das Beben entstand in einer Tiefe von 51 Kilometern, 12 Kilometer südöstlich von Axochiapán im Bundesstaat Morelos, rund 100 Kilometer von Mexiko-Stadt entfernt. Drei Faktoren sind für seine Schwere verantwortlich: Die Nähe zur Erdoberfläche, seine Stärke und die Materialität des Bodens im Valle de México (Hochebene in Zentralmexiko, auf der u.a. Mexiko-Stadt liegt, Anm. d. Red.). Rufen wir uns in Erinnerung, dass die aztekische Hauptstadt Tenochtitlán, das heutige Mexiko-Stadt, auf einer Insel im Texcoco-See erbaut wurde. An vielen Orten der Stadt ist der Boden deswegen noch heute sumpfartig und weich, vergleichbar mit der Oberfläche eines Wackelpuddings. Seismische Wellen benötigen zwar einen festen Leiter, um sich fortbewegen zu können, wodurch auf weichem Untergrund die Geschwindigkeit reduziert wird. Allerdings wird durch die Reduktion der Geschwindigkeit die Weitläufigkeit der Wellen erhöht, was in diesem Fall zu größeren Schäden an Gebäuden auf diesem weichen Untergrund geführt hat.
Doch auch das Beben vom 7. September vor der Küste von Chiapas darf nicht unterschätzt werden. Die ebenfalls hohe Zahl der Opfer und Gebäudeschäden ist durch die Nähe der betroffenen Gemeinden in Chiapas und Oaxaca zum Epizentrum dieses ersten Bebens zu erklären, das übrigens historisch gesehen eines der heftigsten Intraplattenbeben war, die je registriert wurden.

Ist denn nun nach zwei so schweren Beben erst einmal wieder Ruhe?
Wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob nun, sagen wir, 20 oder 30 Jahre Ruhe herrschen wird. Solche genauen Berechnungen lassen sich leider noch nicht anstellen. Sicher ist, dass einige Zeit verstreichen muss, damit sich wieder genügend Energie ansammeln kann, um ein Beben einer solchen Stärke entstehen zu lassen. Wir können jedoch keine exakten Daten, Orte, Stärken oder Tiefen vorhersagen. Die technologische Entwicklung ist auf diesem Gebiet noch nicht so weit, dass wir Untersuchungen in solchen Tiefen des Planeten anstellen könnten. Das einzige, was wir tun können, ist das Risiko von Todesopfern und materiellen Schäden zu reduzieren.

Seit dem Erdbeben von 1985, bei dem große Teile von Mexiko-Stadt zerstört wurden, müssen bestimmte Sicherheitsprotokolle eingehalten werden. Es gibt strenge Bauvorschriften, Evakuations- und Notfallpläne und ein Frühwarnsystem. Dennoch gab es am 19. September und in den Tagen danach viele Todesfälle und auch einige Gebäude, die nach 1985 erbaut wurden, sind eingestürzt. Wie erklären Sie sich das?
Ich bin überzeugt, dass diese neueren Gebäude eingestürzt sind, weil die bestehenden Bauvorschriften bewusst nicht eingehalten wurden. Hinzu kommt, dass auch die regelmäßig vorgesehenen Überprüfungen der Bausubstanz oftmals nicht durchgeführt wurden. Die Unverantwortlichkeit und Korruptheit der zuständigen Behörden, die wieder einmal Entscheidungen zugunsten ihrer eigenen Bereicherung und nicht im Sinne der Gesamtbevölkerung getroffen haben, waren eindeutig die Auslöser dieser Tragödie. Es hätte deutlich weniger Opfer geben müssen.

Es heißt sogar, dass einige Arbeitgeber*innen in Mexiko-Stadt ihre Angestellten bereits kurz nach dem Beben, als noch Nachbeben zu erwarten waren, gezwungen hätten, in beschädigten Bürogebäuden ihrer normalen Arbeit nachzugehen.
Ich bin kein Ingenieur und kann nicht beurteilen, ob die betroffenen Gebäude einsturzgefährdet sind und welchem Risiko diese Angestellten konkret ausgesetzt sind. Wenn aber zum Beispiel tiefe und diagonal verlaufende Risse an Gebäuden festgestellt werden, ist es sehr gut möglich, dass diese bei einem Nachbeben oder einem erneuten, wenn auch leichteren Beben weiteren Schaden nehmen. In jedem Fall müssen solche Verstöße seitens der Arbeitgeber festgehalten und dem Zivilschutz gemeldet werden!

Mexiko steckte schon vor den beiden Erdbeben in einer schweren Menschenrechtskrise. Wie beeinflusst das Erdbeben diesen Moment?
Ohne Frage hat uns das Erdbeben am 19. September in einem historisch schwierigen Moment erschüttert. Zwei Wochen zuvor ereignete sich das Beben in Chiapas und Oaxaca, von dem die Gemeinden sich noch immer nicht erholt haben. Kurz darauf wurde der Mord an Mara Castilla in Puebla bekannt, einer von unzähligen Frauenmorden unter der Regierung von Enrique Peña Nieto. Ende September war der dritte Jahrestag des Verschwindens der Studenten aus Ayotzinapa, Anfang Oktober jährte sich wieder einmal das Massaker an Studierenden im Jahr 1968. Das Beben hat uns buchstäblich aus einer tiefen Apathie geweckt. Viele von uns hatten die Straflosigkeit und Korruption im Land, die uns den Kopf vor einer repressiven und mörderischen Regierung senken ließ, einfach akzeptiert, anstatt uns gegenseitig ins Gesicht zu schauen. Es ist der Moment gekommen, wieder das Mexiko zu sein, das nur in der Folge großer Katastrophen wiederzukehren scheint.

Das Mexiko, das sich durch Solidarität und gegenseitige Unterstützung auszeichnet, wie es in diesen Tagen zu sehen ist?
Genau. Nach dieser langen Phase der Apathie, des Individualismus, haben wir unseren Sinn für Menschlichkeit wiederentdeckt. Unsere Empathie und Sensibilität für die Situation unserer Mitmenschen, die soziale Verantwortung, die wir alle gemeinsam tragen. Dies ist der Moment, um Mexiko von der Gleichgültigkeit zu befreien.

Newsletter abonnieren