GEWÄHLT, ABER NOCH NICHT IM AMT

KAZIKE MARCOS Der Kazike Marcos Luidson de Araújo (43) ist Sohn des Kaziken Chicão, der im Mai 1998 ermordet wurde. Mit 21 Jahren ist er Anführer der Xukuru geworden, ein indigenes Volk von etwa 20.000 Mitgliedern im nordostbrasilianischen Bundesstaat Pernambuco. Marcos Luidson de Araújo ist auch in regionalen und nationalen indigenen Organisationen aktiv und hat sich 2020 zum ersten Mal einer allgemeinen Wahl gestellt. (Foto: Thiago Silva)

Was bedeutete Ihre Wahl für Pesqueira?

In Pesqueira hat immer eine bestimmte Elite regiert, es gab nie einen Bürgermeister, der nicht zu dieser traditionellen Elite gehörte. Im Jahr 2000, als ich Kazike wurde, haben wir eine Umfrage in Auftrag gegeben zu den Einstellungen gegenüber Indigenen in Pesqueira. 70 Prozent der Bevölkerung hatten negative Einstellungen und Vorurteile gegenüber uns Xukuru. In den über 20 Jahren seither hat sich einiges verbessert, so dass ich mit einer Mehrheit zum Bürgermeister gewählt werden konnte. Das ist ein wichtiger Schritt für Pesqueira.

Ihre Wahl fiel unerwartet klar aus und das bereits im ersten Wahlgang. Warum konnten Sie trotzdem bis heute als Bürgermeister ihr Amt nicht antreten?

Gleich nach den Wahlen hat die unterlegene Seite Klage erhoben mit der Begründung, dass ich im Jahr 2003 – nach einem Anschlag auf mich, bei dem zwei meiner indigenen Begleiter erschossen wurden – Teil einer Gruppe war, die Eigentum der Angreifer zerstört hätte. Nach brasilianischem Gesetz kann niemand ein öffentliches Amt bekleiden, dem Zerstörung öffentlichen Eigentums vorgeworfen wird. Obwohl damals 2003 privates Eigentum wie Autos und Teile von Immobilien zerstört wurden, behandelte das Gericht dies wie öffentliches Eigentum. Das fechten wir jetzt an. Wir warten auf das abschließende Urteil der höchsten richterlichen Instanz in Brasília (TSE).

Wie fiel denn das ursprüngliche Urteil aus?

Nach dem Anschlag auf mich und der Sachbeschädigung haben die Polizei und Staatsanwaltschaft bestimmte Dinge nicht untersucht. Ich habe bei dem Anschlag einen Streifschuss abbekommen, weshalb ich mich im Krankenhaus behandeln ließ. Dies wurde nie überprüft. Mit mir wurden von insgesamt 50 Angeklagten 35 verurteilt − ich zu zehn Jahren und vier Monaten. Ich bin ganz ruhig. Wir haben schon viel erreicht. Egal wie das Urteil ausfällt, werde ich mich weiter für die Xukuru und meine Stadt einsetzen, so wie ich das auch heute mache. Ich sitze ja nicht zu Hause herum, sondern arbeite bereits im Bürgermeisteramt. Der Interimsbürgermeister hat mich zum sogenannten Regierungssekretär ernannt. Ich bin für die Koordination und Planung von Projekten der Stadtverwaltung zuständig.

Wie hat Ihre Familie und Ihr Umfeld auf Ihre Entscheidung reagiert, sich als Bürgermeisterkandidat aufstellen zu lassen?

Meine Mutter hatte zwei Einwände: Erstens, Pesqueira sei chaotisch, es wird schwer sein, etwas zu erreichen und deshalb viele Angriffe auf mich geben. Zweitens, es gab viele Unregelmäßigkeiten in den letzten 30 Jahren. Wenn man daran rüttele, sei es möglich, dass ich so ende wie mein Vater, der ermordet wurde.

Was haben Sie den Einwänden Ihrer Mutter entgegnet?

Meine Mission war immer, die Xukuru und unser Territorium zu verteidigen. Viele von uns leben aber in Pesqueira, die Anstrengungen für die Xukuru und für die Stadt gehen ineinander über und beeinflussen sich. Die Probleme der Stadt sind nicht in vier Jahren zu lösen, aber man kann wenigstens davon träumen, etwas zum Besseren zu verändern. Trotzdem habe ich über ein Jahr lang überlegt, ob ich den Schritt in die Politik wirklich wagen soll. Pesqueira ist Teil unseres ursprünglichen Landes und um etwas verändern zu können, geht kein Weg an politischer Teilhabe vorbei. Ich habe meiner Mutter gesagt, dass ich dafür bereit bin. Meine Mutter weinte, umarmte mich und wünschte mir viel Glück.

Wie ist dann der Wahlkampf verlaufen?

Es war uns klar, dass es eine harte Auseinandersetzung werden würde. Es gab eine Kampagne gegen mich, um mich zu isolieren. Gerade in sozialen Medien wurde gegen mich agitiert. Man hat gesagt, ein Indio kann doch nicht eine solche Aufgabe übernehmen oder man hat sich darüber mokiert, dass ich ein Handy benutze. Die Kampagne war sehr persönlich und verletzend. Die Strategie war, mein Image zu zerstören.

Was haben Sie dem entgegengesetzt?

Ich habe versucht, in den Peripherien der Stadt, unser politisches Projekt zu erklären. Ich wollte in persönlichen Gesprächen Vertrauen schaffen. Während der Kampagne habe ich nichts versprochen, das ich nicht halten kann, keine Infrastrukturprojekte, keine Jobs. Ich habe auch gesagt, dass vier Jahre nicht reichen, aber dass jetzt ein neuer Moment sei für positive Veränderung. Jeder soll teilhaben können und sich dadurch auch mehr verantwortlich fühlen.

Ihr Vater fiel einem Attentat zum Opfer, wie hat sich Ihr Leben dadurch verändert?

Als ich 19 Jahre alt war, wurde mein Vater ermordet und ich von einer Versammlung der Xukuru zum Kazike bestimmt. Das Amt habe ich Anfang 2000 mit 21 Jahren übernommen. Das war natürlich so nicht mein Lebensplan. Ich hätte mir gewünscht, von meinem Vater mehr lernen zu können und das Amt ungefähr in einem Alter, in dem ich jetzt bin, also Anfang 40, zu übernehmen. Ermutigt vom Beispiel meines Vaters, habe ich mich erstmal darum bemüht, unsere indigenen Strukturen zu stärken. Aber von Anfang an gab es auch immer Spannungen mit denen, die das uns zustehende Land besetzt hatten. Ich erhielt umgehend Morddrohungen, die mich stark getroffen haben.

Wie kann man sich die indigenen Strukturen vorstellen?

Seit 2001 organisieren wir regelmäßig eine große Zusammenkunft der Xukuru, um über Probleme und Lösungen zu diskutieren. Das hat mit der Zeit das Interesse von anderen geweckt, die mittlerweile auch an diesen Versammlungen teilhaben. Alle können teilnehmen. Wir haben damit ein anderes politisches Projekt als Alternative gezeigt, einen anderen Weg, in Form einer kollektiven Arbeit. Wir als Xukuru verstecken uns nicht. Jedes Jahr am 20. Mai, dem Todestag meines Vaters, organisieren wir eine Demonstration, zu der wir auch an den Ort gehen, an dem er ermordet wurde. Mit dieser Vorarbeit und Form der Organisation konnten wir dann auch die Macht in der Stadt brechen.

Sie sind für die republikanische Partei REP angetreten, die nicht gerade zum progressiven und minderheitenfreundlichen politischen Lager gehört. Warum diese Partei?

Wir haben es mit einer Stadt im Landesinneren von Pernambuco zu tun, die lange Zeit von konservativen Agrar-Oligarchien beherrscht wurde. Eine konservative Partei hat es deshalb in so einem Umfeld leichter, in weiteren Kreisen akzeptiert zu werden. Trotzdem war ich zu Beginn monatelang allein unterwegs, nur mit zwei Xukuru-Stadtratsmitgliedern. Nach und nach gewannen wir an Sichtbarkeit, die Kandidatur gewann an Stärke und das Verhältnis zu den politischen Kräften veränderte sich. Die Arbeiterpartei (PT) hat nach langem Zögern unsere Kandidatur unterstützt. Aber über die politischen Parteien hinaus haben wir auf eine breite Basis an Unterstützenden gesetzt. Es gab einen Dialog mit den Gewerkschaften, mit der Zivilgesellschaft. Im Kommunalen hängt sehr viel von den zwischenmenschlichen Beziehungen ab. Wir haben deshalb versucht, so viele Kreise wie möglich zu erreichen.

Wie hat sich das Leben der Xukuru in der Zeit Ihrer Anführerschaft verändert?

In den letzten 20 Jahren hat sich die Lebenssituation und -qualität der Xukuru deutlich verbessert. Davor waren viele in sklavenähnlichen Anstellungsverhältnissen in der Landwirtschaft tätig.

In welchen Berufen arbeiten die Xukuru heute?

Viele leben von traditionellen Formen der Landwirtschaft und Fischerei, vor allem in den indigenen Dörfern rund um Pesqueira, von denen es 24 gibt. Einige arbeiten mittlerweile auch in der Stadt, in Geschäften, Supermärkten oder Imbissen. Eine immer wichtigere Rolle spielen aber heute unsere indigenen Erziehungsstrukturen. Wir haben 37 Schulen für Xukuru Kinder, in denen 200 Lehrende arbeiten, die für etwa 3.000 Schulpflichtige zuständig sind. Diese Schulen werden von der Regierung des Bundesstaates Pernambuco finanziert. Da wir Xukuru leider unsere ursprüngliche Sprache verloren haben, ist der Unterricht ausschließlich auf Portugiesisch.

Wie sehen Sie die Rolle der Funai, der Nationalen Stiftung für Indigene, bei der Verteidigung indigener Rechte?

Die Funai ist ein notwendiges Übel. Man braucht eine Institution, die sich um die Territorien und die Anliegen der Indigenen kümmert. Das große Problem sind die dort Tätigen. Leider gibt es wenig Kontinuität und es finden sich dort Personen, die von Indigenen keine Ahnung haben und sich weder für uns interessieren, noch sich für unsere Belange einsetzen. Das Ziel der jetzigen Regierung ist es, die Funai zu schwächen.

Was haben die Xukuru in den letzten Jahrzehnten trotz dieser geringen staatlichen Unterstützung erreicht?

Vor allem seit den 1980er Jahren gibt es eine andauernde Bemühung um die Demarkation unseres Territoriums, in der mein Vater eine wichtige Rolle spielte. Es geht um die Rückeroberung physischer Orte. Seitdem haben wir viel erreicht. An die 50 Territorien konnten demarkiert werden.

Nach über 20 Jahren politischer Auseinandersetzung fühlen Sie sich heute als Indigener von Nicht-Indigenen als gleichwertig akzeptiert?

Es ist schwierig zu sagen, dass ich als Indigener schon als gleichwertig akzeptiert werde. Leider ist das Wissen über Indigene sehr gering, Vorurteile halten sich deshalb. Dies kann nur durch Bildung und das Erziehungssystem geändert werden. Zur Zeit wird der plurinationale Charakter Brasiliens nicht gelehrt. Wir als Indigene können über mehr Sichtbarkeit zu einer positiven Veränderung beitragen. Aber das ist noch ein langer Weg, den wir als Indigene und Brasilien vor uns haben.


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