PERUS LANGSAMER PUTSCH

Es ist ein durchsichtiges Manöver. Keiko Fujimori wollte in einem historisch einmaligen Prozess über 200.000 Stimmen mit einer Klage beim Wahlgericht für ungültig erklären lassen, um aus einer Niederlage einen Sieg zu machen. In über 800 Wahllokalen, die in den Hochburgen ihres Kontrahenten liegen, sei es zu irregulären Vorgängen gekommen. Schnell wurde aber klar, dass der Betrugsvorwurf auf Sand gebaut ist. Internationale Wahlbeobachter*innen und das Meinungsforschungsinstitut IPSOS sahen keine Anzeichen für Wahlbetrug. Dementsprechend wurden sämtliche Klagen bei den speziellen Wahlgerichten (JEE) auf Regionalebene in erster Instanz abgewiesen.

Ein Teil der Akten liegt nun beim obersten Wahlgericht (JNE), der höchsten Instanz in Sachen Wahlrecht. Auch hier wurden bereits 90 Prozent der Fälle abgelehnt. Für die verbleibenden Akten steht noch die Entscheidung des Richters Víctor Rodríguez Monteza aus, der erst seit Ende Juni Teil des Gremiums ist. Sein Vorgänger Luis Alberto Arce hatte sein Amt niedergelegt, mit der offensichtlichen Absicht, eine offizielle Bestätigung des Wahlergebnisses weiter zu verzögern. Mit seinem Ausscheiden war das oberste Wahlgericht zunächst entscheidungsunfähig.

Zahlreiche Beobachter*innen haben diese Vorgänge, die darauf abzielen, eine Präsidentschaft von Pedro Castillo zu verhindern, als „langsamen Putsch“ bezeichnet. Mit der Neubesetzung des obersten Wahlgerichts wird nun eine Entscheidung für Mitte Juli erwartet.

Der öffentliche Druck ist enorm, nicht zuletzt durch einen landesweiten Streik mit Demonstrationen, Kundgebungen und Straßenblockaden am 6. Juli. Unter dem Motto „Peru gegen den Putsch“ gingen Hunderttausende Menschen für eine Präsidentschaft von Pedro Castillo auf die Straße. Dabei sind die Vorgänge des „langsamen Putsches“ nicht auf das Wahlgericht beschränkt: Zusätzlich wird auch im Kongress um die Ernennung von neuen Verfassungsrichter*innen gerungen, welche die Präsidentschaftswahl komplett annullieren könnten. Die Zeit dafür wird allerdings immer knapper, da am 28. Juli der Regierungswechsel erfolgen soll.

Unter dem Motto „Peru gegen den Putsch“ gingen hunderttausende Menschen auf die Straße

Fest steht: Als Präsident wäre Pedro Castillo mit einer Übermacht von Mitte-rechts-Parteien im Kongress konfrontiert. Die Möglichkeiten, seine Agenda umzusetzen, sind im derzeitigen politischen System eher gering. Seine Partei Freies Peru ist zwar die stärkste im Parlament, allerdings mit nur 37 von 130 Sitzen. In den vergangenen Jahren wurden bereits mehrere Präsidenten durch Amtsenthebungsverfahren im Kongress abgesetzt. In drei Jahren standen vier unterschiedliche Präsidenten an der Spitze des Landes. Das in der Bevölkerung ohnehin schon ausgeprägte Misstrauen in die politischen Institutionen erreichte ein neues Niveau.

Nach dem hoch emotionalen und teilweise regelrecht hasserfüllten Wahlkampf ist nicht nur die Stimmung im Land extrem polarisiert, überdies scheint auch die politische Situation festgefahren. Neben den Versuchen eines institutionellen langsamen Putsches bleibt ein militärischer schneller Putsch weiterhin ein denkbares Szenario, auch wenn Verteidigungsministerium und Militär bisher ablehnend reagierten haben.

Eine wünschenswertere Perspektive zur Auflösung des politischen Patts ist sicherlich die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung. Dies ist ein zentraler Programmpunkt von Pedro Castillo, der von breiten Teilen der Bevölkerung unterstützt wird. Die aktuelle Verfassung wurde 1993 als Baustein der neoliberalen Umstrukturierung unter dem damaligen Präsidenten und Diktatoren Alberto Fujimori geschrieben. Spätestens mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie wurde deutlich, wie ungleich verteilt der Reichtum nach drei Jahrzehnten des neoliberalen Modells ist. Die Armutsrate wuchs jüngst um zehn Prozent an und umfasst nun fast ein Drittel der Bevölkerung, über 70 Prozent der Erwerbstätigen arbeiten im informellen Sektor. Mit zeitweise über 800 Corona-Toten pro Tag ist Peru eines der weltweit am stärksten betroffenen Länder.

Der Andenstaat befindet sich in einer umfassenden Gesellschaftskrise. Der Wunsch nach grundlegender Veränderung ist so groß wie lange nicht, die neue Verfassung ein möglicher Hebelpunkt. An dieser politischen Neugründung will Castillo nicht nur politische Parteien beteiligen, sondern auch Basisorganisationen, die 60 Prozent der Sitze im Konvent erhalten sollen. Der Verfassungsprozess würde nicht nur die Möglichkeit bieten, ein gerechteres Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell zu etablieren, sondern auch die politischen Spielregeln zugunsten von Castillo zu ändern, die Befugnisse des Kongresses zu beschneiden oder neue Parlamentswahlen einzuberufen. In jedem Falle sind die Risiken erheblich, da auch Castillo einen Hang zum Autoritären hat.

Für kurzfristige Perspektiven dürfte zunächst das Verhältnis des Wahlsiegers zur Elite in Lima entscheidend sein. Castillo kommt aus einfachen Verhältnissen in einem Andendorf, fand als Gewerkschafter seinen Weg in die Politik, hatte nie ein politisches Amt inne und verzichtete auf direkte Kontakte zum Establishment in Ökonomie und Staat.

Castillo verachtet die weißen Eliten, die wiederum abgeschreckt von dem Unbekannten und seiner teilweise radikalen Rhetorik sind. Aber die Gräben sind nicht unüberwindbar. Seit Wochen finden bereits Gespräche zwischen pragmatischeren Teilen der Wirtschaftseliten und Castillos Beratern statt. Dabei ist hilfreich, dass Castillo im Vorfeld der Wahl eine Allianz mit dem Wahlbündnis Gemeinsam für Peru von Verónika Mendoza geschmiedet hat, die eher ein städtisches Milieu von Linksliberalen, ökologisch und feministisch Bewegten anspricht. Vor allem gelangten über diese Allianz namhafte Ökonomen wie Pedro Francke in den Beratungsstab des Linkskandidaten, die in den Gesprächen mit der Wirtschaftselite besänftigend wirken.

Über 70 Prozent der Erwerbstätigen arbeiten im informellen Sektor

Zwar trat Castillo für die leninistische Partei Freies Peru an, er hat dort jedoch eher eine Gastrolle, zumal er in der Partei keine Vorgeschichte hat. Er wurde weniger wegen des Parteiprogramms gewählt, sondern weil er für das marginalisierte, ländliche Peru steht. Wie die internen Kräfteverhältnisse einer Regierung Castillo aussehen würden, ist schwer absehbar.

Währenddessen sind die internationalen Bedingungen günstig: Seit Monaten steigen die Rohstoffpreise stark an. Für die exportabhängige peruanische Wirtschaft bedeutet dies ein deutliches Mehr an Einnahmen, die einer Regierung Castillo finanziellen Spielraum für die versprochene Sozial- und Gesundheitspolitik verschaffen könnten. Freilich geht diese Strategie zulasten von Mensch und Umwelt in den Abbaugebieten. Die Abkehr vom Extraktivismus bleibt eine Mammutaufgabe.

// NIE WIEDER FUJIMORI?

Keiko Fujimori und ihre Unterstützer*innen in Politik und Medien lassen in Peru die Geister der Vergangenheit wieder aufleben. Die Tochter des ehemaligen Diktators Alberto Fujimori (1990-2000) ist diesen April zum dritten Mal in Folge in die Stichwahl um die Präsidentschaft gelangt. Der Minimalkonsens „Nie wieder Fujimori“ schmolz in den Stichwahlen von 2011 und 2016 sonst politisch verfeindete gesellschaftliche Sektoren zu einem antivoto, einer taktischen Wahl gegen Keiko zusammen. Das könnte dieses Mal wieder gelingen, auch wenn Liberal-Konservative wie Mario Vargas Llosa prominent die Seite gewechselt haben. Laut einer Kolumne, die der Schriftsteller nach dem ersten Wahlgang in der spanischen Zeitung El País veröffentlichte, gebe es mit Keiko „mehr Möglichkeiten, unsere Demokratie zu retten“. Dabei steht Keiko Fujimori mittlerweile offen für das Erbe ihres wegen Menschenrechtsverbrechen inhaftierten Vaters ein. Hatte sie in vergangenen Wahlkämpfen noch Distanz zu ihm gewahrt, propagierte sie dieses Mal die Politik der „harten Hand“ zur „Rettung des Landes“. Rettung wovor?

Erst dieses Jahr wurde Keiko Fujimori angeklagt, Chefin einer kriminellen Organisation zu sein. Der Staatsanwalt forderte 30 Jahre Haft für die 45-jährige Politikerin. Unter anderem soll ihre Partei Fuerza Popular illegale Wahlspenden vom brasilianischen Baukonsortium Odebrecht angenommen haben. Peru ist seit Jahren mit einer politischen Krise konfrontiert, die auf die massiven rechtsstaatlichen Defizite aus der Amtszeit ihres Vaters, eine mangelhafte Dezentralisierung und das Agieren ihrer Fraktion im Parlament von 2016 zurückzuführen ist. Parteien verschwinden schnell in der Versenkung, Präsidenten enden nahezu alle vor Gericht. Die Rettung vor den korrupten Eliten kann es demnach auch nicht sein, was einflussreiche Stimmen wie Vargas Llosa umtreibt.

Stattdessen wird die Angst vor dem Kommunismus mobilisiert – in Peru eng verknüpft mit der Erinnerung an den blutigen bewaffneten Konflikt zwischen maoistischer Guerilla und Militär. Damals wurde der Vorwurf des terruqueo, der Verbindung zur Guerilla, gegen alle verwendet, die Kritik an der harten Politik und Menschenrechtsverletzungen der Regierungen García und Fujimori äußerten. Heute trifft der Vorwurf den Gewerkschafter Pedro Castillo, der überraschend als Sieger in die Stichwahl zur Präsidentschaftswahl einzog. Rechte und konservative Kreise lassen kaum eine Gelegenheit aus, Castillo in die Nähe der ehemaligen Guerillaorganisation Leuchtender Pfad zu rücken. An der Verbreitung dieser schlecht belegten Vorwürfe zeigt sich auch, dass in Peru noch lange kein Minimalkonsens für ein „Nie Wieder“ besteht – vor allem aber mangelt es an den sozio-ökonomischen Bedingungen, die ein solches ermöglichen würden.
Als Hauptursache für den bewaffneten Konflikt hat die Wahrheitskommission, die die Menschenrechtsverletzungen der 1980er und 1990er Jahre aufarbeitete, die staatliche Vernachlässigung der andinen Provinzen benannt. Dies ist seither geflissentlich übergangen worden. Der Zentralstaat als Mitverursacher des Konflikts wird außer Acht gelassen.

Heute repräsentiert Pedro Castillo, wie einst Alberto Fujimori bei seiner ersten Präsidentschaft, die Anti-Elite. Aus einer der ärmsten Regionen Perus stammend, hat er die Stimmen insbesondere dort gewonnen, wo der Reichtum des peruanischen „Wirtschaftswunders“ produziert wird: in den Regionen mit Großbergbau und massiven sozialen Konflikten. Das überdurchschnittliche Wirtschaftswachstum seit den 1990ern basiert maßgeblich auf den Gewinnen der extraktiven Industrien, angefeuert durch die 1993 unter Fujimori eingesetzte neoliberale Verfassung – ein unbearbeitetes Erbe seiner Amtszeit. Dass auch Castillo im Wahlkampf mit autoritären Parolen kokettierte, ist durchaus beunruhigend. Doch steht im Gegensatz zu Keiko keine geschliffene Parteiorganisation hinter ihm. Castillo könnte – wie im kürzlich geschlossenen Bündnis mit der linksprogressiven Verónika Mendoza angedeutet – Schritte in die richtige Richtung gehen.

RÜCKKEHR DER GESPENSTER

Schräge Wahrnehmung „Armut, Tod, Angst und Verzweiflung wie in Kuba“ prophezeien anonyme Gegner*­innen des Kandida­ten Castillo (Foto: Héctor Béjar)

Eine wütende Stille durchdrang die privilegiertesten Viertel der peruanischen Hauptstadt Lima am Sonntagnachmittag des 11. April. Die städtischen Eliten und die Mittelschicht nahmen mit Entsetzen das erste Ergebnis der Nachwahlbefragung auf. Diese zeigte einen Provinzlehrer, Gewerkschafter und Bauern auf dem ersten Platz. „Wer ist Pedro Castillo? Woher kommt er?“ waren die großen Fragen der Familien, die vom neoliberalen Wachstum der vergangenen Jahrzehnte profitieren konnten. Einmal mehr manifestieren sich bei den diesjährigen Wahlen die Widersprüche, die sozialen Brüche und die alte Zerrissenheit der peruanischen Gesellschaft.

Es ist nicht das erste Mal seit der Einführung der neoliberalen Wirtschaftsordnung in den 1990er Jahren, dass eine linke oder systemkritische Wahloption ein beachtliches Ergebnis erreicht. So gewann der Linksnationalist Ollanta Humala im Jahr 2006 und 2011 beachtlich viele Wählerstimmen, 2011 reichten diese zur Übernahme des Präsidentenamts, wobei er seine Reformvorschläge schnell wieder ad acta legte. Auch der dritte Platz Verónika Mendozas, damals Kandidatin des Linksbündnisses Breite Front bei der Präsidentschaftswahl 2016, zeugt davon, dass solche Positionen stets an den Wahlurnen präsent waren, sichtbar für einige, unverständlich für andere. Diese Wahlentscheidungen sind Ausdrücke eines Einspruchs gegen das ökonomische Modell. Dieses wurden autoritär eingeführt, in einem Land, das immer noch weit davon entfernt ist, Rassismus und Formen sozioökonomischer und kultureller Segregation überwunden zu haben.

Pedro Castillo (Foto: La Encerrona, presented by Marco Sifuentes and produced by Romina Badoino – youtube.com, Copyrighted free use, via wiki commons)

Was für die einen das „peruanische Wunder“ war, stellte und stellt für viele einen Ausschluss dar: eine Art unsichtbare Mauer, die Millionen von Peruaner*innen effektiv den Zugang zu einer guten öffentlichen Gesundheits- und Bildungsversorgung sowie einem angemessenem Rentensystem verwehrt. Weiterhin haben fast sieben der 33 Millionen Einwohner*innen Perus keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser.

Stattdessen bietet das ökonomische Modell kaufkräftigen Kund*innen einen guten Service sowie Geschäftsmöglichkeiten in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Verkehr und Altersvorsorge. Staatliche Vernachlässigung für die Armen trifft auf Steuernachlässe für große Unternehmen, die auf prekäre und billige Arbeit setzen dürfen. Und es gibt eine minimale, quasi imaginäre Chance, der Armut auf eigene Faust zu entkommen und Kleinunternehmer*in zu werden.

Seit das neoliberale Modell vor 30 Jahren gefestigt wurde, werden von einflussreichen gesellschaftlichen Kräften, insbesondere konservativen Sektoren, Medien und staatliche Institutionen für ein Mittel der Einschüchterung genutzt: den terruqueo. Mit dem Vorwurf des „terruco” (umgangssprachlich für Terrorist) lässt sich jede Kritik an der bestehenden Ordnung als Gefahr brandmarken. Der systematische Gebrauch dieses Adjektivs kam während des inneren bewaffneten Konflikts der 1980er und 1990er-Jahre auf und wird von Rechten bis heute verwendet, wenn es gerade politisch opportun erscheint. Hauptziel dieses Vorwurfs sind linke Kräfte und im ganz rechten Lager, dem Fujimorismus, sind politische Gegner*innen von progressiv bis liberal nicht davor gefeit.

Die auf den republikanischen US-Senator der 1950er Jahre Joe McCarthy zurückgehende Strategie des terruqueo wurde in den vergangenen Jahren so oft angewandt, dass sie ihre Wirkung Angst zu erzeugen verloren hat. Der letzte schwerwiegende Fehler war zweifellos der terruqueo tausender Demonstrant*innen, die im November 2020 gegen die De-facto-Regierung von Manuel Merino auf die Straße gingen.

„Wer ist Pedro Castillo und woher kommt er?“

Der terruqueo ist nicht die einzige diskursive Waffe gegen den Wandel. Seit Beginn der zweiten Runde des Präsidentschaftswahlkampfes sind an verschiedenen Orten in Lima riesige Plakate aufgetaucht. Die Botschaft, die sie vermitteln, ist nicht neu, denn sie appelliert an die alte Angst vor dem Kommunismus und den Modellen Venezuelas und Kubas. „Sozialismus führt zum Kommunismus“, „Denkt an die Zukunft eurer Kinder, nicht an den Kommunismus“, lauten einige der Botschaften, die auf den Plakaten zu lesen sind. Wer sie finanziert hat, ist nicht bekannt. Die alte Strategie des Rückgriffs auf die „roten Gespenster“ (Terrorismus, Kommunismus, Staatsinterventionismus, Venezuela und Kuba) durch die Rechte könnte jedoch unwirksam sein. Tatsache ist, dass in der peruanischen Gesellschaft eine Reihe von Traumata vorherrschen, die – im Gegensatz zu der Angst, die die Rechte zu erzeugen versucht – real, aktuell und drängend sind: das hohe Maß an Unzufriedenheit mit dem politischen System und die verheerenden Auswirkungen der Covid-19-Pandemie.

Einerseits ist die politische Klasse Perus zutiefst in Ungnade gefallen. Es gibt mehrere Aspekte, die diesen Niedergang ausdrücken. Die Aspekte reichen von den korrupten Geschäften des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht, in die fast alle Präsidenten der vergangenen zwei Jahrzehnte und politische Kandidaten verwickelt waren (wie im Fall von Keiko Fujimori), über das katastrophale Agieren des Parlaments – etwa unter der Mehrheit der fujimoristischen Fuerza Popular (Volkskraft), die so viele Minister*innen oder Präsidenten stürzte, wie möglich. Die größte Empörung brach aus, als der Kongress im November vergangenen Jahres mitten in der Pandemie den Präsidenten Martín Vizcarra des Amtes enthob und eine De-Facto-Regierung unter Manuel Merino einsetzte, der sich mittlerweile außer Landes befindet. Ein weiterer Aspekt ist die Aprilwahl, in der kein*e Kandidat*in mehr als 20 Prozent der Stimmen erreichen konnte.

Eine Niederlage Castillos hieße mehr als eine verlorene Gelegenheit

Peru ist zudem eines der Länder Lateinamerikas, das am stärksten von der Gesundheitskrise betroffen ist. Angaben des Gesundheitsministeriums zufolge sind bisher zwischen 63.000 und 170.000 Todesfälle durch Covid-19 zu beklagen, je nachdem, ob man die Daten des Gesundheitsministeriums oder des nationalen Sterberegisters zugrunde legt. Die Pandemie hat die Verfehlungen des peruanischen Neoliberalismus schonungslos offengelegt, wie etwa die Vernachlässigung der Krankenhäuser und des öffentlichen Gesundheitswesens, schlecht bezahltes Gesundheitspersonal und geringe Investitionen in die Gesundheitsforschung. Der freie Markt tut sein Übriges: übermäßig hohe Kosten für die Mehrheit der Bevölkerung – etwa für Sauerstoff – und Privatkliniken, die dem Geld Vorrang vor dem Leben der Menschen einräumen. Darüber hinaus hat die Krise spürbare Auswirkungen auf die ökonomische Situation der Menschen. Familien haben sich verschuldet, viele kleine und mittlere Unternehmen mussten schließen und es kam zu massiven Entlassungen von abhängig Beschäftigten.

Vor diesem Hintergrund muss der Aufstieg von Pedro Castillo verstanden werden. Ein Lehrer und rondero (rondas campesinas sind bäuerliche Selbstorganisationen, u.a. gegen Viehdiebstahl und Terrorismus, Anm. d. Red.) aus Chota, einer ländlichen Provinz im nordperuanischen Andendepartament Cajamarca, der den Wahlkampf mit unauffälligem Profil und knappen Finanzmitteln, aber mit einem kraftvollen Diskurs gegen das Wirtschaftsmodell begann. Sein Programm deckt sich in zentralen Punkten mit dem von Verónika Mendoza, in der Änderung des Wirtschaftsmodells etwa, einer neuen Verfassung und einer zweiten Agrarreform. Obwohl Mendoza bereits ihre Unterstützung für Castillo für die zweite Runde zum Ausdruck brachte, gibt es zwischen den beiden auch Diskrepanzen. Die progressive Linke, die von Mendoza repräsentiert wurde, legte den Fokus auf die Inklusion verschiedener Identitätspolitiken, auf Feminismus und Rechte von LGBTI*, und fand damit Anklang bei der städtischen Mittelschicht. Pedro Castillos Linke hingegen bezieht diese Identitätskämpfe, die seit dem vergangenen Jahrzehnt in Lateinamerika stattfinden, nicht mit ein, sondern konzentriert sich auf politische und wirtschaftliche Fragen.

Unterstützung findet Castillo in den Provinzen, besonders im südlichen und zentralen Andenhochland. Im Gegensatz zur progressiven Linken, die eher um Konsens bemüht war, hat die linke Provinzpartei, Freies Peru (PL), für die Castillo kandidiert, keine Skrupel sich als „marxistisch, leninistisch und mariateguistisch“ (José Carlos Mariateguí (1894-1930) war Journalist, marxistischer Theoretiker und Gründer der sozialistischen Partei, Anm. d. Red.) zu bezeichnen. Grund genug, um die Mittel- und Oberschicht, vor allem in der Hauptstadt, zu schocken und die alten Schreckgespenster der Rechten zu beschwören.

Pedro Castillo hat die schwierige Aufgabe, die antifujimoristische und unentschlossene Wählerschaft anzuziehen, ohne dabei die Gruppen zu vernachlässigen, die mit dem Wirtschaftsmodell an sich unzufrieden sind. Außerdem muss er sich mit einer Politikerin auseinandersetzen, die die Kunst der Demagogie beherrscht und seit einem Jahrzehnt Erfahrung als Präsidentschaftskandidatin hat. Auch ist Keiko Vorsitzende einer Partei, die Verbindungen zu kriminellen Organisationen und der korrupten konservativen Rechten des Landes hat. Mit deren Hilfe möchte sie als Präsidentin ihren Vater, den Ex-Diktator Alberto Fujimori, begnadigen. Auf dessen Politik der „harten Hand“ nahm sie bereits im Wahlkampf positiv Bezug. Hauptziel des Fujimorismus in der zweiten Runde ist, die Stimmen der städtischen Ober- und Mittelschicht unter der Verteidigung des Wirtschaftsmodells und der Verfassung von 1993 zu vereinen. Diese Haltung brachte ihr bereits den Spitznamen „Kandidatin der Reichen“ ein.

Eine Niederlage Castillos würde nicht nur bedeuten, die Gelegenheit für wichtige Veränderungen zu verlieren. Seine Niederlage hieße auch die Rückkehr der reaktionärsten und mafiösesten Kräfte an die Spitze des peruanischen Staates. Diese Rückkehr streben diese Kräfte seit dem Sturz der Diktatur im Jahr 2000 an. Ein Gewinn würde eine heftige Niederlage der sozialen Bewegungen und organisierten Arbeiter*innenorganisationen bedeuten.

EIN SCHRITT RICHTUNG GERECHTIGKEIT

Auch im zweiten Anlauf nach dem Abbruch im Januar begannen die Anhörungen schleppend. „Die Angeschuldigten versuchen erneut, den Prozess zu verzögern“, kritisierte die ehemalige peruanische Kongressabgeordnete Indira Huilca auf Twitter. Das dürfe man nicht zulassen. Der Anwalt des Angeschuldigten und ehemaligen Gesundheitsministers Marino Costa hatte beantragt, die Sitzung zu verschieben, da sein Mandant sich für medizinische Behandlung in Chile aufhalte. Dies wies der Richter Rafael Martínez zurück. Costa, seine ehemaligen Amtskollegen Eduardo Yong und Alejandro Aguinaga sowie der Ex-Diktator Alberto Fujimori werden beschuldigt, die Drahtzieher der Zwangssterilisierungen zu sein.

„Die Staatsanwaltschaft erstattet Strafanzeige für mittelbare Täterschaft wegen angeblicher Verbrechen gegen das Leben, den Körper und die Gesundheit; schwere Körperverletzung mit Todesfolge im Zusammenhang mit schweren Menschenrechtsverletzungen und wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung“, erklärte Staatsanwalt Pablo Espinoza bei der Vorstellung der Anklage am 1. März. Auch hob er den Charakter der Sterilisierungen als staatliche Politik hervor.

Die erste Anhörung war im Januar abgebrochen worden, da keine entsprechenden Dolmetscher*innen für die Quechua-Variante der Region Cusco zur Verfügung standen, welche viele der Betroffenen sprechen. Darauf aufmerksam gemacht hatte Fujimoris Verteidiger. Das sei zwar inhaltlich richtig gewesen, erklärte die Nationale Betroffenenorganisation zwangssterilisierter Frauen (AMPAEF), gleichzeitig wurde es aber auch als ein „Trick der beschuldigten Seite“ gelesen, „einen über 20 Jahre andauernden Kampf weiter zu verzögern“. Es wird erwartet, dass Richter Martínez nach Abschluss der Anhörungen entscheidet, ob es zu einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren kommt, was eine spätere Hauptverhandlung ermöglichen würde.

Die Sterilisierungen fanden damals auch international Zustimmung

Konkret geht es um 1.307 Frauen, welche gegen ihren Willen einer Eileitersterilisation unterzogen worden waren. Fünf starben infolge der Eingriffe. Ein emblematischer Fall ist jener der campesina Maria Mamérita Mestanza Chávez. Sie war 33 Jahre alt, als man sie 1998 sterilisierte. Vorausgegangen waren wiederholte Drohungen und Ein­schüch­­terungen durch Personal des staatlichen Gesundheitswesens in der nordperuanischen Region Cajamarca, in der Mestanza mit ihrem Mann und ihren sieben Kindern lebte. Unter anderem hatten Mitarbeiter aus dem Gesundheitssektor behauptet, Familien mit mehr als fünf Kindern drohe eine Geldstrafe sowie die Verhaftung. Mestanza verstarb wenige Tage nach dem Eingriff an den Folgen der Zwangssterilisation und fehlender medizinischer Nachsorge. Frauen- und Menschenrechtsorganisationen brachten den Fall vor die interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH). Die CIDH erreichte, dass der peruanische Staat 2003 erstmalig die Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen im Kontext von Zwangssterilisationen eingestand und sich zur Aufarbeitung verpflichtete.

Laut der peruanischen Ombudsstelle für die Rechte der Bevölkerung wurden im Rahmen des „nationalen Programms für Familienplanung und reproduktive Gesundheit“ zwischen 1996 und 2001 272.028 Frauen und 22.004 Männer sterilisiert, überwiegend Indigene aus den Anden- und Amazonasregionen. Das Programm wurde von der Regierung Alberto Fujimoris in dessen zweiter Amtszeit (1995-2000) durchgeführt und hatte sich die Reduktion der Geburtenrate auf dem Land als Mittel der Armutsbekämpfung zum Ziel gesetzt. Verknüpft wurde das Programm mit einer Rhetorik der reproduktiven Freiheit der Frau. Damit fand es auch international Zustimmung, etwa als Fujimori es 1995 auf der UN-Frauenkonferenz in Peking vorstellte.

Bis 2001 wurden 272.028 Frauen und 22.004 Männer sterilisiert

Das Programm, welches unter anderem durch die US-Entwicklungsbehörde USAID und den UN-Bevölkerungsfonds finanziert wurde, verlief in der Praxis ganz im Geiste des neoliberalen Umbaus des Staates, den Fujimori seit Amtsantritt betrieben hatte. Den Mediziner*innen und dem Gesundheitspersonal wurden Quoten vorgegeben, wie viele Sterilisierungen sie zu erreichen hatten, teils versehen mit finanziellen Anreizen. Den Betroffenen, die oft kein Spanisch sprachen oder Analphabet*innen waren, wurden dabei häufig Informationen über Alternativen zu den Eingriffen oder deren Irreversibilität vorenthalten. Manche wurden im Rahmen anderer Behandlungen ohne ihr Wissen oder unter Gewaltandrohung sterilisiert. Auch wurde die prekäre Lage der indigenen Bevölkerung ausgenutzt, indem man ihnen Kleidung oder Lebensmittel als Gegenleistung versprach. Forscher*innen wie die Anthropologin Alejandra Ballón konstatieren zudem einen Zusammenhang der rassistischen Bevölkerungspolitik mit der militärischen Aufstandsbekämpfung der 90er-Jahre.

Für die Betroffenen ist der Prozess von enormer Bedeutung in ihrem Kampf für Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. Die Täter*innen sind bis heute ungestraft, die Taten fanden zudem bisher wenig Eingang in die peruanische Erinnerung. „Diese Verbrechen an Frauen wurden im Prozess der Wahrheitskommission nicht berücksichtigt und auch nicht in das Museum der Erinnerung aufgenommen“, erläuterte kürzlich die Historikerin Sobrevilla Perea gegenüber Deutsche Welle. Erst diesen Februar wurde auf Initiative der Frauenrechtsorganisation DEMUS und engagierter Politiker*innen das auf diesen Konflikt bezogene Reparationsgesetz geändert. In Zukunft können auch „Opfer sexueller Gewalt in all seinen Formen“ entschädigt werden, worunter auch Zwangssterilisierungen fallen.

Zwischen der Zusage des peruanischen Staates im Jahr 2003, die Zwangssterilisationen aufzuarbeiten und der Verhandlung war es ein langer Weg. Mehrmals wurden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft eingestellt, unter anderem zur Frage, ob es sich um Genozid handelt. Ein Register der Betroffenen wurde erst 2015 eingerichtet, bisher sind über 8.000 Fälle registriert. Auftrieb erhielt das Thema auch im Kontext der Wahlkämpfe von 2011 und 2016, bei denen Fujimoris Tochter Keiko als Präsidentschaftskandidatin antrat. 2016 waren feministische Gruppen Teil der Gegenbewegung „Keiko no va“ („Keiko schafft‘s nicht“), welche Massendemonstrationen gegen den fujimorismo organisierte. 2018 stellte die Staatsanwaltschaft unter wachsendem zivilgesellschaft­lichen und internationalen Druck Strafanzeige. Ein 2019 von Ex-Minister Costa gestellter Antrag, den Fall aufgrund von Verjährung zu den Akten zu legen, wurde vergangenen Oktober vom Verfassungsgericht abgelehnt. Eine weitere Sammelklage wird von der Staatsanwaltschaft bearbeitet.

Ex-Präsident Fujimori erschien auch dieses Mal nicht zur virtuell abgehaltenen Anhörung. Der 82-Jährige sitzt aufgrund des Einsatzes von Todesschwadronen während seiner ersten Amtszeit eine 25-jährige Haftstrafe ab. Ob und wann es zu einem Urteil kommt, ist indes ungewiss. Keiko Fujimori kündigte im Januar an, ihren Vater zu begnadigen, sollte sie die diesjährigen Präsidentschaftswahlen gewinnen. Wenige Wochen vor der Wahl am 11. April liegt die rechte Politikerin in den Umfragen mit 8,1 Prozent auf dem vierten Platz. Für ihre rechtspopulistische Fuerza Popular tritt auch Ex-Gesundheitsminister Alejandro Aguinaga an. Als einer der mutmaßlichen Drahtzieher hinter den Zwangssterilisationen will er jetzt wieder in den Kongress einziehen.

„ALLE SOLLEN GEHEN!“

„Dieses Vorhaben wird die Pfeiler der Republik zementieren, auch wenn dies bedeutet, dass wir alle gehen müssen!“ So kündigte Präsident Martín Vizcarra überraschend das Projekt der vorgezogenen Neuwahlen am 28. Juli, dem peruanischen Nationalfeiertag, in seiner Rede vor dem Parlament an. Sein Vorschlag: Die erst 2021 wieder anstehenden Wahlen schon im nächsten Jahr abzuhalten, sie durch ein Referendum zu legitimieren und durch den Kongress, das peruanische Einkammerparlament mit 130 Abgeordneten, absegnen zu lassen. „Auf die Stimme des Volkes muss gehört werden!“ Doch Ende September legte das durch die Opposition kontrollierte Parlament den Vorschlag kurzerhand ad acta und befasste sich stattdessen mit der Neubesetzung des Verfassungsgerichts – ohne Debatte, im Eilverfahren und vor allem gegen den Willen Vizcarras, der eine Vertrauensfrage an diesen Prozess geknüpft hatte. Daraufhin erklärte Vizcarra in einer Fernsehansprache am 30. September die nunmehr zweite Vertrauensfrage der Regierung für gescheitert und verkündete die sofortige Auflösung des Parlaments. Mit der Opposition sei „keinerlei Einigung“ möglich, behauptete er und berief sich wiederholt auf die peruanische Verfassung. Diese ermächtigt ihn laut Artikel 134 nach zweimalig gescheiterter Vertrauensfrage den Kongress aufzulösen.

Die Auflösung des Kongresses wurde auf den Straßen gefeiert

Die Reaktion der Opposition ließ nicht lange auf sich warten: Noch am gleichen Abend stimmten die im Parlamentsgebäude verbliebenen oppositionellen Abgeordneten dafür, Vizcarra für zwölf Monate von seinem Amt zu suspendieren. Sie kritisierten Vizcarras Verhalten als nicht verfassungsgemäß und ernannten die Vizepräsidentin Mercedes Aráoz zur Interimspräsidentin. Doch zu diesem Zeitpunkt war das Parlament bereits offiziell aufgelöst. Nach nur einem Tag erklärte Aráoz dementsprechend auf Twitter ihren Rücktritt, um den Weg für schnellstmögliche Neuwahlen frei zu machen, und rief auch Vizcarra zum Rücktritt auf. Sie bezeichnete die verfassungsmäßige Ordnung Perus als „zerbrochen“. Die Peruaner*innen manifestierten indes ihren Zuspruch für die Entscheidung Vizcarras auf den Straßen des Landes. Militär und Polizei verkündeten ihre Loyalität zum Präsidenten und entschieden damit das Machtverhältnis vorerst zugunsten Vizcarras.

Militär und Polizei verkündeten ihre Loyalität zum Präsidenten

Dem Ganzen war ein monatelanger Machtkampf zwischen Exekutive und Legislative vorausgegangen. Vizcarra hatte dem Parlament wiederholt vorgeworfen, durch Verzögerungstaktiken und Boykottpolitik seine Antikorruptionsbemühungen auszubremsen. Dahinter vermutete er das relativ offensichtliche Ziel, dass die Opposition Politiker*innen in den eigenen Reihen vor einer Strafverfolgung zu schützen versuchte. Als Vizcarra im März 2018 die Präsidentschaft übernahm, war er mit dem Versprechen angetreten, die Korruption im Land entschieden zu bekämpfen. Seinen Vorgänger Pedro Pablo Kuczynski hatten Verstrickungen in die Korruptionsaffäre um den brasilianischen Baukonzern Odebrecht zu Fall gebracht (siehe LN 526). Der Odebrecht-Skandal hat sich bisher auf die vier letzten Präsidenten des Landes vor Vizcarra ausgeweitet, darunter auf den zweimaligen Präsidenten Alan García, der sich im Zuge der Korruptionsanschuldigungen aus Angst vor einer Haftstrafe im April dieses Jahres das Leben nahm (siehe LN 539). Vizcarras Kampf gegen die Korruption wurde allerdings durch die Zusammensetzung des Parlaments so gut wie unmöglich gemacht: Über die absolute Mehrheit verfügte dort nämlich die konservative Partei Fuerza Popular, deren Vorsitzende Keiko Fujimori, Tochter des peruanischen Ex-Diktators Alberto Fujimori, seit Oktober 2018 wegen der Annahme illegaler Wahlkampfspenden des Odebrecht-Konzerns in Untersuchungshaft sitzt (siehe LN 534). Zusammen mit der Mitte-Links-Partei APRA stellte sich die Fuerza Popular als fujiaprismo konsequent gegen jegliche Reformvorhaben Vizcarras. Die sechs zentralen Gesetzesinitiativen der Regierung, die Anfang Juni dieses Jahres nach einem Volksreferendum ins Parlament getragen wurden, beinhalteten unter anderem eine Neuregelung des Aufhebungsprozesses der parlamentarischen Immunität, über die künftig eine unabhängige Instanz entscheiden sollte, statt wie bisher der Kongress selbst. Dieser Kernvorschlag der Reformen wurde abgeschmettert und ad acta gelegt. Das erscheint besonders zynisch vor dem Hintergrund, dass viele der oppositionellen Politiker*innen bereits juristisch verfolgt wurden oder werden. Einige Tage später folgte der nächste Affront: Die fujiaprismo-Abgeordneten schützten den Obersten Staatsanwalt Chávarry trotz dringender Korruptionsbeschuldigungen endgültig vor einer Amtsenthebung.

Die Opposition bezeichnet Kongress-Auflösung als nicht verfassungsgemäß


Die Regierung stellte daraufhin die Vertrauensfrage, geknüpft an eben jene sechs Reformvorhaben, denen die Parlamentarier*innen noch bis zum Ende der Legislaturperiode zustimmen sollten – sonst werde es Neuwahlen geben. Trotz absurder, hitziger Debatten sprach das Parlament der Regierung letztlich das Vertrauen aus. Eine Auflösung des Kongresses wollte man auf Seiten des fujiaprismo zu diesem Zeitpunkt anscheinend nicht riskieren. Doch die Rufe nach Neuwahlen, die seit dem Frühjahr in der Bevölkerung laut geworden waren, konnten damit nicht erstickt werden. Im August befürworteten fast drei Viertel aller Peruaner*innen laut dem Meinungsforschungsinstitut Ipsos Neuwahlen. Anfang September demonstrierten tausende Bürger*innen in vielen peruanischen Städten unter dem Motto „¡Que se vayan todos!“ (Alle sollen gehen!). Als es Ende September wirklich zur Auflösung des Kongresses kam, wurde das massenhaft auf den Straßen gefeiert, aber auch in den sozialen Netzwerken unter dem Hashtag #cierredelcongreso.

Vizcarra wirft dem Parlament vor, seine Antikorruptionsbemühungen auszubremsen


Müssen nun alle gehen? Die Arbeit des Parlaments wird vorübergehend von einer dezimierten Versammlung aus 27 Abgeordneten (comisión permanente) weitergeführt, die nur über eingeschränkte Kompetenzen verfügt. Bereits am 3. Oktober ernannte Vizcarra eine neue Regierung und bemühte sich damit, eine gewisse Normalität wiederherzustellen. Viele Abgeordnete fürchten indessen eine Strafverfolgung, der sie bisher durch ihre parlamentarische Immunität entgangen sind. Durch die Auflösung des Kongresses haben sie diese jedoch (zumindest vorübergehend) verloren. Es ist nicht verwunderlich, dass die Opposition also mit allen Mitteln versucht, die Kongress-Auflösung als nicht verfassungsgemäß darzustellen. Dabei sind sie sich auch nicht zu schade, Vergleiche zum gewaltsamen „Selbstputsch“ des Diktators Alberto Fujimori im Jahr 1992 zu bemühen. Über die Rechtmäßigkeit der Parlamentsauflösung müsste eigentlich das Verfassungsgericht entscheiden. Dieses aber war Anstoß des aktuellen Konflikts und hat sich bis dato nicht mit der Regierungskrise beschäftigt.
Es erinnert an ein bizarres Theaterstück, was sich derzeit in der peruanischen Politik abspielt. Bis jetzt scheint Vizcarra im Machtkampf mit der Legislative die Oberhand zu behalten. Die internationalen Medien stehen mehrheitlich auf seiner Seite. Die vorherrschende parlamentsfeindliche Stimmung in der Bevölkerung dürfte dazu beitragen, Vizcarras Popularität zu steigern. Ob das allerdings bedeutet, dass er im Machtkampf mit der Legislative von den Neuwahlen des Kongresses am 26. Januar 2020 profitiert, ist vollkommen unklar.

 

SCHUSS IM MORGENGRAUEN

Alan García war vorbereitet. Als der Staatsanwalt und die Polizei am 17. April um halb sieben Uhr morgens mit einem Haftbefehl in der Tasche an seiner Wohnungstür klingelten, vertröstete er die Beamt*innen mit dem Hinweis, er müsse noch kurz mit seinem Anwalt telefonieren. Dann schloss sich der Ex-Präsident in seinem Arbeitszimmer ein, doch statt zum Telefon griff er zur Pistole und schoss sich in den Kopf. Wenige Stunden später verstarb er im Krankenhaus.
Wie konnte es so weit kommen? Ein Richter hatte eine zehntägige Untersuchungshaft für García angeordnet, weil das brasilianische Bauunternehmen Odebrecht während Garcías Präsidentschaft zwischen 2006 und 2011 etwa 24 Millionen US-Dollar an Bestechungsgeldern gezahlt haben soll. Als Gegenleistung hoffte Odebrecht auf Konzessionen für den Bau einer U-Bahn-Linie in Lima sowie die Fertigstellung einer Straße durch das Amazonasgebiet, der Carretera Interoceánica del Sur. Das Geld soll nicht an García selbst geflossen sein, sondern an hohe Regierungsfunktionäre. Unter ihnen befanden sich Garcías damaliger persönlicher Sekretär Luís Nava und der ehemalige Chef der staatlichen Ölfirma Petróleos del Perú Miguel Atala. Beide wurden am gleichen Tag verhaftet an dem die Polizei bei García aufkreuzte. Odebrecht soll ferner Garcías Wahlkampf 2006 illegal unterstützt und dem Ex-Präsidenten 100.000 US-Dollar für eine Rede vor einem Unternehmerverband in São Paulo gezahlt haben.

Ein ehemaliger Hoffnungsträger, der schwer enttäuschte


García hatte sich 2016 aus der peruanischen Politik zurückgezogen und war nach Madrid übergesiedelt. Als er vor einem halben Jahr wegen einer Aussage vor Gericht nach Lima zurückkehrte, verfügte die Justiz ein vorläufiges Ausreiseverbot gegen ihn. Davon überrascht setzte sich García in die uruguayische Botschaft ab und bat um politisches Asyl. Die Regierung in Montevideo lehnte sein Ersuchen jedoch ab. Vermutlich rechnete García damit, dass die peruanische Justiz ihn wegen der Odebrecht-Affäre in Untersuchungshaft nehmen würde. So hatte die Staatsanwaltschaft bei Ollanta Humala entschieden, Garcías Nachfolger bei der zweiten Präsidentschaft, und bei der Oppositionsführerin Keiko Fujimori. García zog es vor, zu sterben als ins Gefängnis zu gehen, und hinterließ seinem Sekretär drei Monate vor seinem Suizid einen versiegelten Abschiedsbrief. Den richtigen Zeitpunkt sah er gekommen, als der Staatsanwalt und die Polizei im Morgengrauen des 17. April auf seinem Grundstück anrückten.

Alan García während einer Fernsehansprache 2019 (Foto: TV Cultura, CC BY-NY-SA 2.0)

Ein kurzer Rückblick auf Garcías Karriere: 1985 wählten die Peruaner*innen den eloquenten und charismatischen Nachwuchspolitiker an der Spitze der sozialdemokratischen Amerikanischen Revolutionären Volksallianz (APRA) zum ersten Mal zum peruanischen Präsidenten. Auf den damals 35-Jährigen ruhten große Hoffnungen. Doch der junge und unerfahrene Präsident enttäuschte seine Anhänger*innen maßlos. In seiner Umgebung häuften sich Korruptionsfälle, wichtige Stellen im öffentlichen Dienst vergab er eher nach Parteizugehörigkeit denn nach Kompetenz.
Mit einer völlig verfehlten Wirtschaftspolitik, die zu einer Inflationsrate von über 8.000 Prozent führte, trieb der APRA-Chef das Land in den wirtschaftlichen Ruin.
Zudem hatte García sein Amt zu einem extrem ungünstigen Zeitpunkt übernommen: Von Anfang der 80er bis Mitte der 90er Jahre erschütterte ein gewalttätiger Konflikt zwischen der Armee und der maoistischen Partei und Guerillaorganisation Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) das Land, der schätzungsweise 70.000 Menschen das Leben kostete. Die meisten Opfer wurden durch Mitglieder des Leuchtenden Pfads getötet, jedoch trugen auch die Streitkräfte und damit der damalige Präsident die Verantwortung für zahlreiche Massaker an der Zivilbevölkerung. So ermordete die Armee wenige Tage nach Garcías Amtsantritt im Andendorf Accomarca 69 Dorfbewohner*innen, darunter 23 Kinder. Im Jahr 1988 richtete sie in Cayara 39 Zivilist*innen hin, und im Juni 1986 erschoss das Militär nach Meutereien in den Gefängnissen San Juan de Lurigancho, El Frontón und Santa Bárbara etwa 300 Gefangene. García ließ die Armee damals schalten und walten wie sie wollte und ging nur in Ausnahmefällen gegen verantwortliche Offiziere vor. Er wurde dafür nie zur Verantwortung gezogen.
Laut Verfassung durfte García 1990 nicht erneut als Präsident kandidieren. Als sein gewählter Nachfolger Alberto Fujimori 1992 Panzer auffahren ließ, das Parlament auflöste und fortan mit diktatorischen Vollmachten regierte, wurde García von Todesschwadronen bedroht und zog sich ins politische Exil nach Kolumbien zurück. Nach dem Untergang des Fujimori-Regimes und der Flucht des Diktators kehrte der APRA-Chef 2001 nach Peru zurück. Zwar hatte die Justiz in der Zwischenzeit wegen zahlreicher Korruptionsdelikte während seiner Präsidentschaft gegen ihn ermittelt, doch etwaige Beweisstücke kamen plötzlich abhanden und vermeintliche Zeug*innen widerriefen. Andere Straftaten waren bereits verjährt. Damit stand einem politischen Comeback Garcías nichts mehr im Wege.

Korruptionsermittlungen und politisches Exil

García kandidierte gleich 2001 erneut für das Präsidentenamt und scheiterte deutlich, denn seine Reputation war immer noch sehr schlecht.
Fünf Jahre später schaffte es der begnadete Redner und Wahlkämpfer überraschend, sich mit einem hauchdünnen Vorsprung in die Stichwahl zu retten und anschließend die Präsidentenschärpe zurückzuerobern. Die zweite Präsidentschaft Garcías verlief weitgehend unspektakulär, die neoliberale Wirtschaftspolitik seiner Regierung unterschied sich kaum mehr von der seiner Vorgänger und Nachfolger. Womöglich werden von seiner zweiten Amtszeit hauptsächlich die Odebrecht-Millionen in Erinnerung bleiben. Dennoch bewarb sich der ehrgeizige und selbstbewusste APRA-Vorsitzende 2016 zum dritten Mal um das Präsidentenamt. Der Erfolg war bescheiden – gerade einmal 5,8 Prozent der Wähler*innen stimmten für ihn.
Die einst starke APRA-Fraktion schrumpfte bei den Kongresswahlen 2016 auf fünf Abgeordnete zusammen. Gemeinsam mit Mitgliedern der Partei Volkskraft von Keiko Fujimori, der Tochter des Ex-Diktators Alberto Fujimori, behinderten und torpedierten die APRA- Abgeordneten fortan die Aufarbeitung der Odebrecht-Affäre durch die Justiz. Auch wenn García das politische Geschehen in seinem Land nach 2016 nur noch aus Spanien beobachtete, bestimmte er weiterhin die Politik der APRA. Um seine eigene Haut zu retten, war er sich offenbar nicht zu schade, ein Bündnis mit den Nachfolgern von Alberto Fujimori einzugehen, der zurzeit wegen schwerer Menschenrechtsverbrechen und Korruption eine 25-jährige Gefängnisstrafe absitzt.
In seinem Abschiedsbrief zeigt García weder Reue noch Bedauern. Statt seine Unschuld zu beteuern führt er aus, die Staatsanwaltschaft könne ihm nichts nachweisen, da sie über keinerlei Beweise verfüge. Korrupt seien nur „einige Ratten“ in seiner Umgebung gewesen, er selbst nicht. So schreibt er: „Unsere Gegner haben sich für die Strategie entschieden, mich mehr als 30 Jahre lang zu kriminalisieren. Aber niemals fanden sie etwas. Ich fügte ihnen immer wieder eine Niederlage zu, weil sie nicht mehr fanden als ihre Spekulationen und Frustrationen.“ Garcías makabres Vermächtnis lautet: „Meinen Kindern hinterlasse ich die Würde meiner Entscheidungen, meinen Genossen ein Signal des Stolzes und meinen Gegnern als Zeichen der Verachtung meine Leiche.“
Dem peruanischen Historiker und Soziologen Nelson Manrique zufolge verfügte García im Justizapparat über ein Netz korrupter Beamter, die notfalls Dokumente verschwinden ließen und Festplatten löschten. Garcías aktuelles Problem sei es daher gewesen, dass ein Teil der gegenwärtigen Ermittlungsakten in Brasilien deponiert war, also außerhalb seines Einflussbereiches. In der Tat eilte García im Gegensatz zu anderen Ex-Präsidenten immer wieder der Ruf voraus, zu intelligent zu sein, um strafrechtlich belangt zu werden. Die anstehende Untersuchungshaft und eine mögliche anschließende Verurteilung bedeuteten für den egozentrischen Politiker eine schwere Niederlage. „Ich lasse mich nicht ausstellen wie eine Trophäe,“ schrieb er in seinem Abschiedsbrief.
Nach Garcías Tod ist in Peru eine Debatte um den Sinn der Untersuchungshaft entbrannt. Nur zwei Tage nach dem Suizid sollte der 2016 gewählte Präsident Kuczynski, der erst vor knapp über einem Jahr wegen eines Stimmenkaufs im Parlament zurückgetreten war, für bis zu drei Jahre in Untersuchungshaft genommen werden. Der Odebrecht-Konzern soll Kuczynski Bestechungsgelder überwiesen haben, als dieser zwischen 2001 und 2006 der Ministerriege des Präsidenten Toledo angehörte. Vor seinem Haftantritt erlitt der 80-jährige Kuczynski eine Herzattacke und wurde zunächst ins Krankenhaus eingeliefert.
Kritisiert wird auch die 18-monatige Untersuchungshaft, die gegen Kuczynskis Vorgänger Ollanta Humala und seine Frau Nadine Heredia wegen des Verdachts der Annahme illegaler Wahlkampfspenden von Odebrecht verhängt wurde. Fluchtgefahr bestand in diesem Fall eher nicht, denn Heredia war freiwillig aus dem Ausland zurückgekommen, um die Untersuchungshaft anzutreten. García hingegen schien sich der Strafverfolgung durch seinen Umzug nach Madrid und seiner Bitte um politisches Asyl in Uruguay entziehen zu wollen. Früher oder später wäre García wohl um eine Gefängnisstrafe nicht herumgekommen – die Beweislast gegen ihn ist erdrückend. Denn die peruanischen Richter*innen und Staatsanwält*innen, die sich derart engagiert um eine Aufklärung des Odebrecht-Skandals bemühen, leisten gute Arbeit.

 

ALLE UNTER EINEM DACH

Eine schrecklich nette Familie Das Drama der Fujimoris geht in die nächste Runde (Illustration: Joan Farías Luan)

Fast dreißig Jahre lang spielte die Familie Fujimori eine dominierende Rolle in der peruanischen Politik. Alberto Fujimori regierte das Land von 1990 bis 2000 mit eiserner Hand, seine Tochter Keiko verlor zweimal nur um Haaresbreite die Stichwahl um das Präsidentenamt. 2016 erreichte Keiko mit ihrer Partei Fuerza Popular (FP) sogar die absolute Mehrheit der Stimmen im peruanischen Kongress und war damit de facto die mächtigste Person im Land. Es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis sie selbst zur Präsidentin aufsteigen würde. Und Keikos Bruder Kenji errang bei den Kongresswahlen 2016 die meisten Stimmen aller Abgeordneten. Nun hat die Erfolgsgeschichte der Fujimoris ein vorläufiges Ende gefunden.

Zunächst kam es zum Bruch zwischen den Geschwistern: Ende letzten Jahres brachte Kenji Fujimori mit zehn weiteren Abtrünnigen aus der FP ein Misstrauensvotum seiner Schwester gegen den damaligen Präsidenten Pedro Pablo Kuczynski zu Fall. Kuczynski unterschrieb im Gegenzug die Begnadigung des inhaftierten Familienpatrons Alberto Fujimori (s. LN 525 und LN 526). Anschließend versuchte Kenji ein Bündnis mit Kuczynski zu schmieden und weitere Abgeordnete aus der Partei seiner Schwester abzuwerben. Beide Operationen gingen gründlich daneben: Kuczynski wurde durch das nächste Misstrauensvotum gestürzt, und Kenji ließ sich bei seinen Abwerbeversuchen filmen. Anschließend stimmte die Mehrheit der Abgeordneten auf Betreiben Keikos für den Ausschluss Kenjis aus dem Kongress.

Doch für Keiko kam es noch dicker, denn sie sitzt seit Ende Oktober im Gefängnis. Der Staatsanwalt José Domingo Pérez verdächtigt sie, als Drahtzieherin einer kriminellen Vereinigung illegale Wahlkampfspenden des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht in Höhe von 1,2 Millionen US-Dollar umdeklariert zu haben. Als Gegenleistung für die Spende sollte Keiko laut der Ermittlungsakte dem Konzern als gewählte Präsidentin überteuerte Aufträge zukommen lassen. Staatsanwalt Pérez beschuldigt Keiko Fujimori außerdem, seine Ermittlungen massiv zu behindern. Aus diesem Grund und wegen akuter Fluchtgefahr verhängte der Richter Richard Concepción die maximal mögliche Untersuchungshaft von drei Jahren gegen die Parteichefin der FP. Ohne eine Rücknahme des Urteils wird Keiko Fujimori die nächsten Präsidentschaftswahlen im April 2021 verpassen.

Die Ermittlungen gegen Keiko Fujimori wurden Richter Concepción zufolge durch Absprachen zwischen der FP und einer kriminellen Vereinigung hochrangiger Richter, Staatsanwälte und Unternehmer*innen mit dem harmlosen Namen „Weiße Kragen vom Hafen“ behindert. Vermeintliche Köpfe der „Weißen Kragen“ waren César Hinostroza, Richter am obersten peruanischen Gerichtshof, und Walter Rios, oberster Richter in Limas Hafenbezirk Callao. Die Organisation flog im Juni 2018 auf, weil die zuständige Staatsanwaltschaft Telefongespräche verdächtiger Mitglieder abgehört hatte. Dabei kam heraus, dass die „Weißen Kragen“ Bestechungsgelder für die Vergabe von Justizposten erpressten und durch Absprachen Urteile manipulierten. Außerdem offenbarten sich durch Callao Kontakte der „Weißen Kragen“ zur Drogenmafia und weitere Verbindungen zur FP.

In einer der mitgeschnittenen Aufnahmen, die auf Youtube gehört werden kann, fordert Richter Rios für die Besetzung einer Stelle „diez verdecitos“, „zehn kleine Grüne“, von einer Bewerberin ein. Damit gemeint sind zehn Tausenddollarscheine. Rios sitzt inzwischen hinter Gittern, Hinostroza flüchtete und wurde in Spanien verhaftet.

Der Revisionsrichter war anscheindend einer der Köpfe der kriminellen „Weißen Kragen“

Ausgerechnet Richter Hinostroza, vermeintlicher Chef der „Weißen Kragen“, leitete vor seiner Suspendierung im obersten Gerichtshof die Berufungsverfahren in wichtigen Korruptionsfällen. Eine Verurteilung des FP-Genaralsekretärs Joaquín Ramírez wegen illegaler Geldwäsche hatte er bereits kassiert. Als zuständiger Revisionsrichter hätte Hinostroza auch die Anklage gegen Keiko Fujimori wegen der Gründung einer kriminellen Vereinigung zurückweisen und ihr die dreijährige Untersuchungshaft ersparen können. Keiko Fujimori ging sogar in „Vorleistung“. So stimmte eine Mehrheit um die FP im zuständigen Parlamentsausschuss zweimal gegen die Aufhebung der Immunität Hinostrozas. Unterstützung erhielt sie dabei ausgerechnet von der Partei APRA (Alianza Popular Revolucionaria Americana), aus deren Reihen der ebenfalls in den Odebrecht-Skandal verwickelte Ex-Präsident Alan García stammt. Eine Anklage gegen Hinostroza konnte damit vorerst abgewendet werden. Doch der öffentliche Druck wurde am Ende so groß, dass Hinostroza nicht zu halten war und auch nicht mehr in das Verfahren gegen Keiko Fujimori eingreifen konnte. Für seine anschließende Flucht über Ecuador nach Spanien benötigte Hinostroza indes noch einmal Hilfe, da er Peru auf richterliche Anordnung nicht verlassen durfte. Er bekam einen Ausreisestempel, wurde aber entgegen den sonstigen Gepflogenheiten nicht als Ausreisender registriert. Die zuständige Sachbearbeiterin bei seinem Grenzübertritt war zufällig die Gattin eines Kongressabgeordneten der FP.

Als weiteres mutmaßliches Mitglied der „Weißen Kragen“ wird kein Geringerer als der Staatsanwalt der Nation Pedro Chávarry gehandelt, der schon in der gleichgeschalteten Justiz des Fujimori-Regimes zum Generalsekretär der Staatsanwaltschaft aufgestiegen war. Damals gehörte es noch zu den Aufgaben der Justiz, Menschenrechtsverbrechen und Korruptionsfälle der Regierung zu vertuschen. Genau wie im Falle Hinostrozas weigert sich die Kongressmehrheit um die FP und die APRA, Chávarrys Immunität aufzuheben. Der neue peruanische Präsident Martín Vizcarra forderte Chávarry bereits mehrfach zum freiwilligen Rücktritt auf. Dieser tut stattdessen alles, um die Ermittlungen gegen Keiko Fujimori zu torpedieren, und suspendierte ohne Absprachen die mit dem Fall betraute Chefermittlerin seines Kollegen Pérez.

Durch Indiskretionen gerieten ferner Chats des engeren Führungszirkels der FP an die Öffentlichkeit, in denen Abgeordnete der Partei aufgefordert wurden, Hinostroza und Cháverry mit allen Mitteln zu unterstützen, den Staatsanwalt Pérez dagegen zu bekämpfen und zu diskreditieren. Anonyme Drohungen gegen Pérez und ein Einbruch in sein Haus während der Anwesenheit seiner Familie wertete Richter Concepción folglich ebenso als eine Behinderung der Ermittlungen wie die mutmaßlichen Absprachen und gegenseitigen Gefälligkeiten der „Weißen Kragen“ und der FP.

Die Mehrheit der Bevölkerung schaut den Manövern der FP verständnislos bis entsetzt zu

Die Kongressmehrheit beschränkt sich aber nicht nur darauf, vermeintlich korrupten Richtern und Staatsanwälten den Job zu retten. Sie wird sogar gesetzgeberisch aktiv, wenn es sein muss. Und es musste wohl sein, denn nachdem der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte die Begnadigung des Ex-Diktators Alberto Fujimori als unrechtmäßig beurteilt hatte, ordnete ein peruanischer Richter Anfang Oktober die erneute Inhaftierung des inzwischen 80-Jährigen an, der bislang nicht einmal die Hälfte seiner 25-jährigen Gefängnisstrafe abgesessen hat. Also drückte der Kongress postwendend ein Gesetz durch, das eine Begnadigung für Gefangene vorsieht, die ein Drittel ihrer Strafe verbüßt haben und älter als 78 Jahre sind. Diese Gefangenen sollen mit einer elektronischen Fußfessel unter Hausarrest gestellt werden. Präsident Vizcarra weigerte sich zwar, das Gesetz zu unterschreiben, aber es wird noch geprüft, ob seine Unterschrift überhaupt erforderlich ist.

Vorerst befindet sich Alberto Fujimori noch in einer Klinik. Fragen zu seinem Gesundheitszustand werden von den zuständigen Ärzten nicht beantwortet. Der Ex-Diktator behauptet aber, eine Rückkehr ins Gefängnis wäre sein sicheres Todesurteil. Sein Strafregister umfasst Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Gründung einer Todesschwadron, Mord, Entführung, Folter, Unterschlagung, Amtsanmaßung und Bestechung. Von dem neuen Gesetz würde aber nicht nur Alberto Fujimori, sondern auch sein ehemals allmächtiger und brutaler Geheimdienstchef Vladimiro Montesinos profitieren, der in bislang 34 Verfahren zu insgesamt mehr als 250 Jahren Haft verurteilt wurde. Kritiker*innen sprechen daher schon ironisch von einem Montesinos-Gesetz.

Die Fuerza Popular wurzelt ideologisch und personell in der früheren Regierungspartei Alberto Fujimoris. Im inneren Führungszirkel der FP halten sich bis heute zahlreiche ehemalige Helfershelfer*innen und Minister*innen des Ex-Diktators, die zum Teil in dessen Verbrechen verstrickt waren. Nur drei Beispiele: Fujimoris ehemaliger Wirtschaftsminister Jaime Yoshiyama, sein früherer Transportminister Augusto Bedoya und sein letzter Agrarminister José Chlimper sind laut Staatsanwaltschaft allesamt maßgebliche Strippenzieher der Geldwäscheoperationen in der aktuellen Odebrecht-Affäre. Chlimper war vor kurzem sogar noch Generalsekretär der FP und Keiko Fujimoris letzter Vizepräsidentschaftskandidat.

Die Mehrheit der Bevölkerung schaut den Manövern der FP verständnislos bis entsetzt zu. Laut aktuellen Meinungsumfragen unterstützen nur noch 14 Prozent der Bevölkerung Keiko Fujimori, knapp 80 Prozent lehnen ihre Politik ab. Bei den Regional- und Kommunalwahlen Anfang Oktober gewann die FP keinen einzigen Gouverneursposten und stellt seitdem nur noch wenige Provinz- und Bezirksbürgermeister. In Lima kam Keiko Fujimoris Bürgermeisterkandidat Diethell Columbus auf ganze zwei Prozent der Stimmen. Trotzdem wird das Land der Willkür, der Korruption und den Machenschaften der FP und der APRA vermutlich noch länger ausgeliefert sein, denn die nächsten Kongresswahlen finden erst 2021 statt. Daher werden die Appelle an Präsident Vizcarra, diesen Kongress aufzulösen, immer lauter. Doch Vizcarra, der ansonsten durchaus entschieden gegen die Korruption vorgeht, hält sich in diesem Punkt bedeckt. So bleibt vorerst offen, ob die Festnahme Keikos tatsächlich das Ende der Ära Fujimori markiert.

AVENGERS IM PARLAMENT

Ganze 50 Jahre sind vergangen, seit in den späten 1960er Jahren „The Avengers“, „die Rächer“, in Gestalt der karatekundigen Emma Peel und ihres ebenso charmanten wie schlagfertigen Partners John Steed das Fernsehpublikum begeisterten. Anschließend tauchten „The Avengers“ als eine Gruppe so genannter Superheld*innen zunächst in Comics und dann in Kinofilmen wieder auf, um den blauen Planeten mit zum Teil unerschütterlichen moralischen Grundsätzen vor dem Angriff heimtückischer Aliens oder Roboter zu retten. Und jetzt zogen „The Avengers“ sogar ins peruanische Parlament ein: Kenji Fujimori, Spross des peruanischen Ex-Diktators Alberto Fujimori, und zu jung, um von Emma Peel zu träumen, sieht sich selbst als Anführer einer Gruppe von Superheld*innen, als Rächer und Retter jenes Vaterlandes, das sein Erzeuger ihm und der peruanischen Bevölkerung hinterlassen hat. Als er Ende Januar mit einem knappen Dutzend Gefolgsleuten die Partei Fuerza Popular seiner Schwester Keiko Fujimori verließ, taufte er daher seine neue parlamentarische Gruppe schlicht auf den Namen „The Avengers“.

Kenji Fujimori inszeniert sich in einem Moment als Superheld und Saubermann, in dem der Odebrecht-Skandal offenbart, wie verroht die politische Moral des Landes ist. Gleich drei ehemalige peruanische Präsidenten, Ollanta Humala, Alan García und Alejandro Toledo, werden verdächtigt, gegen die Erteilung von Bau- oder Bohrlizenzen üppige Schmiergelder des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht eingestrichen zu haben. Ollanta Humala sitzt gemeinsam mit seiner Frau bereits in Untersuchungshaft, Alan García hat sicherheitshalber seinen Wohnsitz nach Spanien verlegt, und Alejandro Toledo konnte sich trotz eines internationalen Haftbefehls gerade noch in die USA retten. Allein auf sein Konto sind nach Zeug*innenaussagen etwa 20 Millionen US-Dollar Bestechungsgelder geflossen. Sollte Toledo jemals wieder peruanischen Boden betreten, muss er mindestens 18 Monate in Untersuchungshaft. Darüber hinaus sollen die drei Ex-Präsidenten ebenso wie der aktuelle Präsident, Pedro Pablo Kuczynski, und die Oppositionsführerin Keiko Fujimori, Kenjis Schwester, illegale Wahlkampfspenden von Odebrecht erhalten haben. Kuczynski steckt sogar noch tiefer im Spendensumpf: Auf seinen Firmenkonten gingen ungeklärte Zahlungen von Odebrecht ein, während er zwischen 2001 und 2006 als Wirtschaftsminister und Ministerpräsident dem Kabinett des damaligen Präsidenten Toledo angehörte.

Kenji sieht sich selbst als Anführer einer Gruppe von Superheld*innen.

Wer aus der Perspektive der frisch gegründeten Avengers die Bösen sind, die es zu bekämpfen gilt, dürfte damit eigentlich auf der Hand liegen. Aber so einfach wie im Film ist das in der peruanischen Politik nicht. Denn Kenji Fujimori ist nach eigenem Bekunden nur Politiker geworden, um seinen Vater, der Peru zwischen 1990 und 2000 mit diktatorischen Vollmachten regierte, aus dem Gefängnis zu holen. Das ist Kenji am vergangenen Heiligabend nach zwölf Jahren gelungen. Allerdings musste er dazu seine Schwester hintergehen und obendrein ein strategisches Bündnis mit dem unter Korruptionsverdacht stehenden Präsidenten Kuczynski schmieden.

Aber der Reihe nach. Keiko Fujimori, die mächtigste Oppositionspolitikerin im Land, wusste bis kurz vor Weihnachten 73 von insgesamt 130 Abgeordneten im peruanischen Kongress hinter sich, verfügte also über eine satte Mehrheit. Als bekannt wurde, dass Kuczynskis Name auf Odebrechts Liste stand, sah Keiko ihre Stunde gekommen: Sie brachte ein Misstrauensvotum wegen „permanenter moralischer Unfähigkeit“ gegen Kuczynski ins Parlament ein, doch ausgerechnet Kenji versagte ihr die Unterstützung. Gemeinsam mit zehn Gefolgsleuten aus Keikos eigener Partei enthielt er sich der Stimme und ließ das Misstrauensvotum platzen – eine bittere Niederlage für Keiko.

Schlimmer noch: Kenji hatte zuvor hinter Keikos Rücken die Begnadigung des gemeinsamen Vaters und Familienpatriarchen Alberto im Gegenzug für seine Stimmenthaltung ausgehandelt. Kuczynski unterschrieb am Heiligabend den Gnadenakt. Die anschließenden massiven Proteste im ganzen Land gegen die Freilassung des Ex-Diktators störten die Akteur*innen nicht weiter.

Den Bruch mit seiner Schwester und den folgenden Rauswurf aus deren Partei kalkulierte der 37-jährige Superheld Kenji eiskalt ein. Als Mitglied der Fuerza Popular wäre Kenji niemals an Keiko vorbeigekommen. Nun kann er als der Kongressabgeordnete, der bei den letzten Wahlen die meisten Stimmen gewann, als Retter seines Vaters, als Gründer der Avengers, selbst nach dem Präsidentenamt greifen. Vorerst setzt er dabei mit Rückendeckung seines Vaters auf das Bündnis mit Kuczynski und bleibt auf Konfrontationskurs mit seiner Schwester. Keiko denkt derweil über ein neues Misstrauensvotum nach, für das es rechnerisch erneut eine Mehrheit gäbe, weil inzwischen auch die über Fujimoris Begnadigung empörten Linksparteien gegen Kuczynski stimmen würden. Der Haken für Keiko: Je mehr sie einem erneuten Misstrauensvotum das Wort redet, umso größer ist die Gefahr, dass ihre eigene Fraktion auseinanderbricht. Erst in der letzten Woche liefen zwei Parlamentarier aus ihren Reihen zu den Avengers über, die Fraktion ist bereits von 73 auf 60 Abgeordnete geschrumpft.

Den Bruch mit seiner Schwester kalkuliert der 37-jährige Superheld Kenjo eiskalt ein.

Während Kuczynskis Präsidentschaft nun vom Wohlwollen Kenji Fujimoris und der Avengers abhängt, bleibt die Popularität der Geschwister Fujimori trotz des Familiendramas ungebrochen. Ohne Charisma, ohne nennenswerte politische Erfahrung, gelang beiden auf Anhieb der Sprung ins Parlament – nur weil sie Fujimori heißen. Dabei ist der inzwischen 79-jährige Mann, dem sie ihren Namen zu verdanken haben, viermal rechtskräftig zu insgesamt 45 Jahren Gefängnis verurteilt worden, auch wenn er davon nach peruanischem Recht nur die längste Strafe, in seinem Fall 25 Jahre, hätte absitzen müssen. Sein Sündenregister: Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Auftraggeber und Gründer einer Todesschwadron, Mord, Entführung, Folter, Unterschlagung, Amtsanmaßung und Bestechung. Nicht genug: Alberto Fujimori fälschte Wahlergebnisse, er ließ 330.000 Frauen und 25.000 Männer zwangssterilisieren. Im Jahre 2004 wurde er vom US-Wirtschaftsmagazin Forbes auf Platz 7 der weltweit korruptesten Politiker*innen aller Zeiten gesetzt. Gemeinsam mit seinem Komplizen, dem damaligen Geheimdienstchef Vladimiro Montesinos, bestach, erpresste und bedrohte er als Präsident systematisch Politiker*innen, Staatsanwält*innen, Richter*innen oder Zeitungsredaktionen. Etliche seiner Mitarbeiter*innen, Gefolgsleute oder Minister*innen wurden ebenso wie hohe Offiziere seines Regimes als Drahtzieher*innen schmutziger Geschäfte bis hin zum Waffen- und Drogenhandel enttarnt.

Und dennoch rankt sich ein Mythos um Alberto Fujimori. Der Ex-Diktator ist bei den Menschen nicht nur beliebt gewesen, weil die unter seiner Kontrolle stehenden Medien ihn hofierten. Er kam mit seiner einfachen Sprache und seinen Sozialprogrammen, die er mit Privatisierungsgeldern auflegte, besonders bei der armen Bevölkerung gut an. Vor allem wird er aber in großen Teilen der Bevölkerung als der Mann verehrt, dem es gelang, den brutalen Konflikt mit dem maoistischen Leuchtenden Pfad zu beenden, der in den 1980er und 1990er Jahren etwa 70.000 Menschen im Land das Leben kostete. Mehr als 40.000 Tote gingen dabei allein auf das Konto des Leuchtenden Pfads.

Dieses traumatische Ereignis der jüngeren peruanischen Geschichte drängt für viele Menschen die Verbrechen Fujimoris in den Hintergrund. Für sie befreite er das Land vom Terrorismus und sanierte die von einer Rekordinflation zerrüttete Wirtschaft. Dabei lastet die peruanische Wahrheitskommission auch der Armee systematische Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkriegs sowie die direkte Verantwortung für etwa 20.000 Tote an. Auch dafür steht der Name Alberto Fujimori.

Doch der Ex-Diktator ist noch nicht auf der sicheren Seite. Die peruanische Justiz prüft zurzeit, ob die Begnadigung durch Präsident Kuczynski überhaupt rechtmäßig war, und die Staatsanwaltschaft fordert bereits weitere 25 Jahre Haft, weil die von Fujimori gegründete Todesschwadron La Colina im nördlich von Lima gelegenen Pativilca einen sechsfachen Mord beging, der noch nicht verhandelt wurde. Zudem wird ein Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte erwartet, der die Begnadigung ebenfalls als ungültig erklären kann. Ein solches Urteil wäre für Peru bindend: Alberto Fujimori müsste zurück ins Gefängnis.

Für weitere Spannung in der peruanischen Politik ist jedenfalls gesorgt. Doch was immer passiert, eines scheint gewiss: Gemessen an der kriminellen Energie Alberto Fujimoris, sind die Ex-Präsidenten Humala, García und Toledo allesamt kleine Fische. Deswegen werden weder Keiko noch Kenji Fujimori den Vertrauensverlust in der peruanischen Politik wieder wettmachen können. Keiko Fujimori hat sich zwar in letzter Zeit zaghaft von ihrem Vater distanziert, doch sie verharmloste stets dessen Straftaten und baute ihre politische Karriere weitgehend mit Hilfe von Kompliz*innen und Helfershelfer*innen des Ex-Diktators auf. Und für Kenji ist sein Vater ohnehin ein Superheld.

DAS PRINZIP DES KLEINEREN ÜBELS

Peru hat viele Tage der Anspannung hinter sich. Am 5. Juni gingen die Präsidentschaftswahlen in die zweite Runde – eine Stichwahl zwischen der rechtspopulistischen Keiko Fujimori und dem liberalen Technokraten Pedro Pablo Kuczynski, der in Peru in der Vergangenheit schon die Posten als Wirtschafts- und Premierminister inne hatte. Die Hochrechnungen am Wahltag sahen Kuczynski mit seiner Partei Peruanos Por el Kambio (PPK) mit etwa einem Prozent vor der Kandidatin Fujimori von der Partei Fuerza Popular – zu feiern wagte bei solch einem knappen Vorsprung jedoch niemand.
Vier Tage lang blieb die Situation unklar und mit der wachsenden Unsicherheit kam auch die Angst vor einem Wahlbetrug auf – und zwar auf beiden Seiten. Am 9. Juni gab die Nationale Wahlorganisation (ONPE) schließlich die Ergebnisse bekannt, die den Sieg von Kuczynski mit knappen 50,12 Prozent bestätigten – gegen 49,88 Prozent der Stimmen für Keiko Fujimori.
Das Erstaunliche daran: Noch zehn Tage vor den Wahlen hatte Keiko Fujimori bei allen Umfragen vorne gelegen, während Kuczynski eine Niederlage vorausgesagt wurde. Was auf den ersten Blick wie ein plötzliches Erstarken der PPK aussieht, ist aber aller Wahrscheinlichkeit nicht der Partei als solcher zuzurechnen. „Die Ergebnisse der Stichwahl stellen weniger einen Triumph des Kandidaten Kuczynski, als vielmehr einen Sieg der Kampagne ‚Nein zu Keiko‘ dar“, so die Einschätzung des Journalisten und Wirtschaftswissenschaftlers Augusto Álvarez Rodrich in der Zeitung La República.
Keiko Fujimori ist die Tochter von Alberto Fujimori, der von 1990 bis 2000 als Präsident von Peru amtierte und extrem autoritär unter Missachtung der Menschenrechte regierte. Für viele Peruaner*innen symbolisiert Keiko Fujimori die Fortsetzung des autoritären Regimes – von Mitte bis Links gibt es daher eine geschlossene Ablehnung gegen alle Politiker*innen der Familie Fujimori.
Kuczynski hat diese Stimmung vor der anstehenden Stichwahl für sich zu nutzen gewusst. „Ich möchte Präsident von Peru sein, um die Demokratie zu verteidigen”, sagte er im zweiten Fernsehduell, das Ende Mai zwischen ihm und Fujimori stattfand. „Ich glaube an die Freiheit und ich bin überzeugt, dass diese Freiheit in Peru extrem gefährdet ist. Deshalb möchte ich alle Peruaner, egal welcher politischen Überzeugung, dazu aufrufen, die Freiheit zu verteidigen und die Rückkehr der Diktatur, der Korruption und der Lügen mit unseren Stimmen zu verhindern. Bürger, jetzt oder nie. Bis zum letzten Tisch, bis zur letzten Wahlstimme, es lebe Peru!“. Mit diesen Worten hatte Kuzcynski sich erfolgreich als Antifujimorist und als Demokrat positioniert, was denn auch der Schlüssel zu höheren Umfragewerten war. Wähler*innen von links und aus der Mitte konnte Kuzcynski für sich gewinnen, sofern sie gegen Fujimori waren. Auch hatte Kuczynski es geschafft, sich glaubhaft als Bekämpfer der Korruption zu präsentieren.
Fujimori hatte sich besonders mit zwei Fällen in der Öffentlichkeit unbeliebt gemacht. Zum einen wird der Generalsekretär und Hauptfinanzier der Wahlkampagne von Keiko Fujimori, Joaquín Ramírez, offenbar von der US-amerikanische Drogenfahndung DEA gesucht – wegen möglicher Verbindungen zum Drogenhandel und Verwicklung in Geldwäsche. Das behauptet zumindest der peruanische Ex-Pilot Jesús Vásquez. Zum anderen besteht der Verdacht, dass José Chlimper, der unter Fujimori als Vizepräsident kandidierte und die Kampagne ihrer Partei anführt, einem Fernsehsender eine gefälschte Audio-Datei zukommen lassen habe, auf der angeblich derselbe Jesús Vásquez gesteht, dass die Anschuldigungen gegen Ramírez falsch seien.
Dieser versuchte Betrug, zusammen mit den Beschuldigungen gegen Ramírez und gegen andere Mitglieder der Fuerza Popular, von denen sich Keiko Fuijimori bis heute nicht klar distanziert hat, dürfte viele ihrer Anhänger*innen und Sympathisant*innen abgeschreckt haben. Das war wiederum entscheidend für die Stärkung der anti-fujimoristischen Bewegung, der sich Kuczynski am Ende seiner Wahlkampagne anzunähern vermochte.
Aber auch die formale Unterstützung in letzter Minute von Seiten der peruanischen Linken war entscheidend für den plötzlichen Stimmungswechsel unter den Wähler*innen. Die Kandidatin des linken Parteienbündnisses Frente Amplio („Breite Front“), Verónika Mendoza, verpasste in der ersten Wahlrunde als Dritte knapp die Stichwahl. Für den zweiten Wahlgang rief sie ihre Anhänger*innen überraschend dazu auf, Kuczynski zu wählen „um dem Fujimorismus den Weg zu versperren, der heute eng mit Korruption und Drogenhandel verbunden ist.“
Durch diesen Aufruf, der auch auf Quechua über  diverse lokale Radios ausgestrahlt wurde, konnte Verónika Mendoza die Bevölkerung im Süden des Landes erreichen, die eigentlich gegen Kuyzynski und vor allem das von ihm repräsentierte Wirtschaftsmodell ist. Der Süden hatte in der ersten Runde großenteils Mendoza gewählt. Ihr Aufruf dürfte maßgeblich dazu beigetragen haben, Wähler*innen für Kuzcynski zu gewinnen, die andernfalls ungültige oder leere Wahlzettel bei der Stichwahl abgegeben hätten.
Der Anti-Fujimorismus stellte das ganze Land unter Spannung. Bezeichnend dafür war eine nationale und internationale Großkundgebung am 31. Mai, die von dem Kollektiv „Nein zu Keiko“ organisiert wurde. Eine große Demonstration fand unter anderem auf dem Platz Dos de Mayo in Lima statt: Mehr als 70.000 Menschen nahmen teil, unter ihnen Politiker*innen, Arbeiter*innen, Gewerkschafter*innen, unabhängige Aktivist*innen, Angehörige der Opfer des Regimes von Alberto Fujimori, soziale Bewegungen, öffentliche Personen, Journalist*innen und Studierende. Obwohl bei dieser Demonstration nicht dazu aufgerufen wurde, Kuczynski zu wählen, gab es eine klare Ablehnung der Wahlenthaltung. Dadurch wurden indirekt viele noch unentschiedene Anti-Fujimorist*innen überzeugt, den Ökonomen und ehemaligen Minister zu wählen.
„Der Anti-Fujimorismus stabilisiert sich als ein großer Akteur des politischen Lebens“, schreibt auch der Historiker Antonio Zapata mit Anspielung auf die peruanischen Wahlen im Jahr 2011, wo es zu einem ähnlichen Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Keiko Fujimori und dem damaligen Kandidaten Ollanta Humala gab, bei dem die rechtspopulistische Kandidatin ebenso verloren hatte. Damals hatte es eine ähnliche Bewegung gegen sie gegeben, die das Wahlergebnis maßgeblich beeinflusst hatte.
Die Partei Fujimoris ist damit dauerhaft in eine schwierige Situation geraten. Für den Historiker und Sozialwissenschaftler Nelson Manrique werden sich „die Spannungen zuspitzen, die den Fujimorismus zerreißen“, so seine Einschätzung. Tatsächlich trägt Keiko Fujimoris Partei auch intern viele Konflikte aus. Ihr Vater Alberto Fujimori hat zum Beispiel wiederholt seine Unzufriedenheit mit der Wahlstrategie seiner Tochter gezeigt. Hinzu kommt ein Machtstreit zwischen ihr und ihrem Bruder Kenji darüber, wer die Partei anführt.
Vom Tisch ist das Erbe Alberto Fujimoris damit aber noch lange nicht. Mit 73 von insgesamt 130 Kongressmitgliedern stellt die Partei Fuerza Popular die absolute Mehrheit im Kongress und kann Kuczynskis Regierung in vielen Punkten blockieren. Keiko Fujimori hat außerdem eine starke Opposition angekündigt. Es bleibt offen, ob das in Form von Boykott passiert, oder ob es doch ein Stück weit Kooperationen geben wird, etwa in wirtschaftlichen Fragen, bei denen Fujimori und Kuczynski sich gar nicht so uneinig sind. So gibt es zum Beispiel die Möglichkeit, dass die Fuerza Popular, die – wie Kuzcynski – den internationalen Markt für Bergbau-Investitionen öffnen will, Interesse daran hat, dass dieses Modell während der PPK-Regierung funktioniert, da sie im Falle eines Scheiterns keine Chance hätten, die nächsten Wahlen zu gewinnen.
Sie könnten aber auch die Taktik einschlagen, die nun an die Macht kommende Kuczynski-Regierung zu destabilisieren. „Wir wissen schon, wem der Kongress gehört“, sagte Pedro Spadaro, Vorsitzender von Fujimoris Partei Fuerza Popular, in einem Anfall von Überheblichkeit. Dieser Vorgeschmack auf möglicherweise Kommendes deutet eher auf eine autoritär und anmaßend agierende Fraktion hin.
Ein Fragezeichen ist die peruanische Linke mit der Fraktion der Frente Amplio. Einerseits war ihr Aufruf entscheidend für den Wahlsieg des zukünftigen Präsidenten: andererseits bedeutete diese Unterstützung in letzter Minute aber noch lange keinen Pakt mit Kuczynski. Die Frente Amplio hat nun also die Hände frei, um als echte Opposition zu handeln, die „die Logik der neoliberalen Akkumulation hinterfragt, die von beiden Präsidentschaftskandidaten repräsentiert wird“, wie Manrique hofft, und die „eine inklusive Politik fordert, ein Zurückholen unserer Kulturen und unserer Identität, und die sich mit jeder Form von Diskriminierung auseinandersetzt, indem sie radikale Änderungen fordert.“
Eine Koalition mit Kuczynski schloss Verónika Mendoza indes aus. Sie stellte klar, dass ihre 20 Kongressmitglieder eine wachsame Opposition stellen würden, die aber jene Projekte der Regierung unterstützen werden, die mit dem Programm der Fraktion vereinbar sind. Wenn die Frente Amplio sich Chancen auf die Präsidentschaft ab 2021 eröffnen will, wird ihre Arbeit im Kongress von zentraler Bedeutung sein. Dafür muss die Fraktion geschlossen und zusammen bleiben, und ihre politische Linie beibehalten, mit der sie sich als dritte politische Kraft in Peru stabilisiert hat – als progressive Linke: inklusiv, offen zum Dialog, dezentralistisch, interkulturell und respektvoll gegenüber Menschenrechten und  Umwelt. Es wird aber auch nötig sein, die mehr als acht Millionen Anhänger*innen von Fujimori zu verstehen und auf sie einzugehen, anstatt sie zu verteufeln.
Kuzcynski wird seine Amtszeit indessen in einem besonderen Kontext antreten. Für Sinesio López, Sozialwissenschaftler von der Katholischen Universität Lima, wird sich mit dem Wahlsieg Kuczynskis in Peru eine geteilte Regierung etablieren: Eine Partei stellt den Präsidenten, die andere Partei stellt die Mehrheit im Kongress. Angesichts diesem möglichen Problem der „Unregierbarkeit“ hält López es für wahrscheinlich, dass Kuczynski „die Konfrontation vermeiden und eine Politik der Einigung in mehrere Richtungen verfolgen wird: Einigungen mit dem Fujimorismus, was das wirtschaftliche Modell angeht, und Abkommen mit der Mitte und der Linken, was die Sozialpolitik und den Kampf gegen Korruption oder für Freiheit und Menschenrechte angeht.“ Das waren auch die ersten Worte Kuczynskis als gewählter Präsident. In einer Rede nach dem Wahlsieg stellte er klar, dass er eine Politik des Dialogs mit allen politischen Kräften im Land etablieren wolle.
Die Herausforderung, vor der der neue Präsident somit steht, ist groß: Ein Land regieren, das polarisiert ist zwischen einem starken Fujimorismus  im Kongress, und einem starken Anti-Fujimorismus, für den die Menschen auf die Straße gehen und der sowohl in der politischen Mitte als auch bei der Linken sehr präsent ist. Er wird daher zeigen müssen, mit beiden Seiten auf ausgeglichene Art und Weise verhandeln zu können. Das ist aber nicht einfach. Wird Kuczynski zum Beispiel mit den Fujimorist*innen über die Freilassung des Ex-Präsidenten verhandeln, der seit Jahren im Gefängnis ist? Als ihm die Frage gestellt wurde, antwortete Kuczynski, dass er Fujimori nicht begnadigen würde, ließ aber die Möglichkeit eines Hausarrests statt einer Gefängnisstrafe offen. Dabei darf er aber auch nicht vergessen, dass es der starke Antifujimorismus war, der ihn überhaupt in den Regierungspalast gebracht hat. Für diese Bewegung ist es inakzeptabel, den Ex-Präsidenten aus dem Gefängnis zu lassen.
Für Salomón Lerner Febres, ehemaliger Präsident der Kommission für Wahrheit und Versöhnung, ist einer der wichtigen Faktoren, dass die neue Regierung ihre Versprechen in Sachen Menschenrechte einhält. Das heißt, dass nicht nur alle Arten der Diskriminierung bekämpft werden, sondern auch ein Plan der Personensuche von Verschwundenen aufgestellt wird. Der „Plan Integral de Reparaciones“ für die Opfer der Gewaltperiode, die Peru zwischen 1980 und 2000 erlebt hat, müsse weitergeführt werden, so Lerner. Ein weiterer entscheidender Punkt ist, dass nach einem Null-Toleranz-Prinzip mit Korruption verfahren wird. Das Gesetzesprojekt des „zivilen Todes“ für Korrupte müsste daher weitergeführt werden, sowie die Unverjährbarkeit für Korruptionsdelikte.
Und schließlich müsste ein Gleichgewicht hergestellt werden zwischen der Wirtschaftspolitik Kuczynskis, die ausländische Investitionen besonders im Bergbau fördern will, und dem Schutz der Umwelt, zu dem sie sich verpflichtet hat, sowie der Einhaltung der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die die Befragung indigener Völker bei allem, was auf ihren Territorien stattfinden soll, vorschreibt.
Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass Kuczynski in der Vergangenheit sein öffentliches Amt als Minister dazu genutzt hat, den transnationalen Firmen große Vorteile zu bescheren – zum Nachteil der peruanischen Bevölkerung. Bekannt ist unter anderem der auf Kuczynski lastende Vorwurf, er habe der International Petroleum Company geholfen, aus dem peruanischen Finanzsystem 115 Millionen US-Dollar herauzuziehen, als er 1968 Geschäftsführer der Zentralbank war. Außerdem wurde er 2001 als Berater der Firma Hunt Oil eingestellt, im selben Jahr also, in dem er sein Amt als Wirtschaftsminister antrat. Als Minister soll er dem Unternehmen ein Preiszugeständnis für das Erdgasfeld (lote) Nr. 56 gewährt haben. Zudem hatte er auch maßgebliche Gesetzesänderungen unterstützt, die Hunt Oil ermöglichten, die Produktion des Erdgasfeldes Nr. 88 zu exportieren, was die Deckung des nationalen Gasbedarfs gefährdete.
Kuczynski bestreitet diese Vorwürfe bis heute. Viele befürchten, dass er transnationalen Unternehmen Vorteile einräumen wird. Seine öffentlich gezeigte Geringschätzung der andinen und indigenen Völker lassen jedenfalls Jahre der sozialen und ökologischen Konflikte befürchten, deren Preis menschliche Leben sein könnten, wie es in Bagua, Tía María oder Conga der Fall war. Man solle ihn nicht als „kleineres Übel“ wählen, hatte Kuczynski noch gesagt, sondern als Vorteil für das ganze Land. Wie das mit seiner industrienahen Position vereinbar ist, wird sich in den kommenden fünf Jahren zeigen.

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