„Ein anderer Blick auf die Diktatur“

Sehen und hören Aufführung von Soporte Vital im Berliner Mehringhof (Foto: Susanne Brust)

Wann und wie entstand die Idee für Soporte Vital?
Roberto Pacheco: Die Idee kam mir während der Pandemie. In Chile gab es lange Zeiten mit kompletter oder teilweiser Quarantäne, wir konnten oft nur für ein paar Stunden auf die Straße gehen. Das führte zu viel Stress, die Gemüter und die geistige Gesundheit wurden in Mitleidenschaft gezogen. Psychische Störungen und Krankheiten wie Depression, Anorexie oder Suizidgedanken waren die Folge. In Gesprächen mit Freund*innen stellte ich mir oft die Frage: „Wie haben wir uns in unserer Kindheit mitten in der Diktatur gefühlt, wie haben wir das geschafft?“ Wenn wir es überhaupt geschafft haben… Die Frage ging mir nicht mehr aus dem Kopf, gleichzeitig näherte sich in Chile das Gedenken zum 50. Jahrestag des Putsches. Das war der Moment in dem ich dachte: „Ich werde ein Werk zu der Frage machen, wie es war, die Kindheit in der Diktatur zu erleben“. Das war Mitte 2022.

Nun habt ihr diese Performance auch nach Deutschland gebracht. Wieso?
Roberto Pacheco: Als ich ein Jugendlicher war und die Berliner Mauer fiel, sprachen meine Geschwister – linke Aktivist*innen – viel über dieses Ereignis. Ich habe das Phänomen nie ganz klar verstanden, fühlte aber, dass es etwas sehr Bedeutendes für die Welt war und irgendwie auch für die chilenische Linke, in der ich aufgewachsen bin. In der Performance geht es auch um ein Mädchen, das mit ihrer Familie ins Exil nach Deutschland geht und darum, wie sich ihr Leben für immer verändert. Aufgrund dieser Verbindungen dachte ich, dass Deutschland ein guter Ort sein könnte, um dieses Werk zu zeigen.

Ist es anders, die Performance hier aufzu­führen?
Vanessa Leiva: Ja. Der Unterschied liegt in der Art und Weise, wie das Publikum sich zum Bühnenbild verhält. In Chile wollen die Zuschauer immer alles sehen und die kleinen Spielzeuge anfassen, alles ist sehr nah – schließlich geht es um eine gemeinsame, geteilte Geschichte. Deutsche Zuschauer*innen kennen unsere Geschichte nicht so gut, also beobachten sie das Objekt eher und halten aus Respekt etwas Abstand, oder vielleicht auch, weil sie sich emotional nicht zu sehr darin verwickeln wollen.

Welche Gefühle soll die Performance hervor­rufen?
Roberto Pacheco: Für mich persönlich ist sie mit meiner Biografie verbunden. Ich war ein Frühchen und musste lange im Inkubator bleiben. Das war eine sehr schwierige Zeit für meine Eltern und auch für meine Schwester und meinen Bruder, die damals erst 8 und 4 Jahre alt waren. Ich wollte ein interaktives Objekt entwickeln, das verschiedene Erfahrungen der Kindheit in dieser Epoche darstellt. Für die Performance habe ich Interviews mit drei Frauen geführt, die diese Zeit unter unterschiedlich starker politischer Repression erlebt haben. In den Interviews taucht das Spielen als ein Ort des Widerstands auf. So kam mir die Idee, dass die Performance auch eine Art Spiel sein könnte, das es Kindern und Erwachsenen erlaubt, sich diesen Geschichten zu nähern und sie als wiedergefundene Erinnerung zu verstehen. Es ging mir darum, eine Möglichkeit zu erschaffen, um an diese Zeit zu erinnern und eine Reflexion über Menschenrechte anzuregen. In Chile ist es schwierig über das Thema zu sprechen: Es ist ein Tabu, außerdem gibt es ein hohes Maß an Geschichtsleugnung und das Land ist weiterhin polarisiert, wenn es um den Prozess der Unidad Popular, den Putsch und die Diktatur geht, die daraufhin über uns einbrach.

Vanessa Leiva: Ich bin Teil der Interviews, die diesem Projekt eine Form gegeben haben. Meine Geschichte lässt einen anderen Blick auf die Diktatur in Chile zu. Ich bin Enkelin eines Unteroffiziers der Armee, dessen harte und autoritäre Vorstellungen auch das familiäre Zusammenleben prägten. Als Interpretin bringe ich das Radio zum Laufen, ich trage das Sounddesign – nämlich die Geschichten – und halte die Bindung zum Bühnenbild. Ich kümmere mich um diesen Inkubator und die Wesen, die darin sind; die Babys und die drei Geschichten, die erzählt werden.


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EHRLICHE FOTOGRAFIE

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Fotos: Chris Erland

„An einem kalten Morgen im Februar 2011 sah ich, wie ein älterer Herr an eine Hauswand gelehnt die Sonne genoss. Genau in diesem Moment entschied ich, Fotograf zu werden. Vorher hatte ich ohne klare Richtung Details verfolgt, die mir aufgefallen sind. Das war das Ergebnis einer Suche innerhalb der visuellen Künste, die zu meiner ersten Ausbildung in der Bildenden Kunst gehörte. In dem Moment, als ich dieses Bild sah, wusste ich, dass ich mich der dokumentarischen Fotografie zuwenden will.

Gesellschaftliche Themen wie Alter, Kindheit, Glauben und das Leben in der Stadt sind dabei wiederkehrende Inhalte meiner dokumentarischen Fotografie. Ich begann eine Serie über Arbeit im hohen Alter und wollte dieses Problem sichtbar machen, denn oft wird es wie selbstverständlich verdrängt, aus unserer Aufmerksamkeit weggeschoben, weil es normal scheint oder einfach zu unserer sozialen Realität gehört. Über Jahre habe ich die Arbeit dieser Menschen dokumentiert. Um die Serie abzuschließen, wollte ich Personen aufeinandertreffen lassen, an denen sich verschiedene Lebensgeschichten ablesen lassen.

Das Alter und die Kindheit sind kontrastreiche menschliche Zustände, essenzielle Teile im sozialen Gefüge und für mich Symbole unseres Strebens. Als fotografisches Thema sehe ich sie nicht im Kontrast. Ich denke, dass beide Teil der Strecke sind, auf der sich alle Menschen im Laufe des Lebens bewegen. Ein Weg, der beide Positionen sozial interpretiert und uns veranschaulicht, was wir als Gesellschaft sind und wohin wir gehen wollen.

Mich interessiert der Glaube sehr: der Akt, in dem ein Mensch sich dazu entscheidet, an etwas zu glauben, sich einer besseren Zukunft zu widmen, sich wünscht die Schlüssel für das Glück und die Erlösung zu finden. Ich lebe in einer Gesellschaft, die religiös divers ist, vielfach synkretistisch und im evolutionären Prozess. Das definiert unseren Charakter, unsere Identität und unsere kulturellen Wurzeln.

Beim Fotografieren einer Person bin ich mir bewusst eine dokumentarische Aufzeichnung zu machen, eine Erinnerung. Das zeichnet die Fotografie als Kunst gegenüber einem einfachen Bild aus und zeigt sich in der Bildkomposition. Die Annäherung des Fotografen an das Fotografierte ist eine Kommunikation mit dem Betrachter. Diese Beziehung und die Wahrhaftigkeit, welche die Fotografie in einem Fragment der Realität zeigt, war und ist die größte Herausforderung für das Auge des Fotografen und seiner Ehrlichkeit.“


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