„Es ist keine Klimakrise, sondern eine koloniale Krise“

Demonstrieren auch in Deutschland Juan Pablo Gutiérrez (vorne rechts) mit anderen Demonstrierenden vor der kolumbianischen Botschaft in Berlin
(Foto: Klaus Sparwasser)

Das Verfassungsgericht hat im Jahr 2009 erklärt, dass die Gemeinschaft der Yukpa unmittelbar von physischer und kultureller Auslöschung bedroht sei. Was sind die Gründe dafür?
Das hängt mit dem Verlust unseres angestammten Territoriums zusammen. Der Betrieb der Minen (siehe Infokasten unten) war nur möglich, weil paramilitärische Gruppen dieses Gebiet Bäuer*innen, Indigenen und Afrokolumbianer*innen gewaltsam entrissen haben, die dort seit langem gelebt haben. Diese Gruppen haben viele Menschen vertrieben und ermordet.
Als Halbnomad*innen konnten wir Yupka uns von jeher durch Jagd und Fischfang ernähren, aber die Bergbauunternehmen haben die Flüsse umgeleitet und verschmutzt. Jagd und Fischfang werden immer schwieriger, da wir immer weitere Entfernungen zurücklegen und Tage unterwegs sein müssen, um noch Tiere zu finden. Die Anstrengung lohnt sich immer weniger. Daher wachen bei den Yukpa heute häufig nachts die Kinder auf und weinen vor Hunger. Der Hunger und der in der Luft vorhandene Kohlenstaub verursachen jedes Jahr den Tod von etwa 40 Kindern. Da das Territorium auch unsere Kultur und Kosmovision prägt, sind diese ebenfalls bedroht. Viele Pflanzen und Tiere verschwinden aus unserem Wortschatz, weil sie aufgehört haben zu existieren. All das konnte nur geschehen, weil der Staat uns vernachlässigt und vergessen hat und aufgrund der Komplizenschaft der früheren Regierungen mit den Bergbaukonzernen, gestützt auf den Begriff „Fortschritt“ – unseres Erachtens nach das neue Gesicht des Kolonialismus.

Die Yukpa bemühen sich derzeit um die Abgrenzung ihres angestammten Territoriums, die auch das kolumbianische Verfassungsgericht seit 2017 fordert. Warum ist das so wichtig?
Sobald die dafür zuständige Nationale Landbehörde (ANT) die Urteile des Verfassungsgerichts umsetzt und unser Territorium abgrenzt, wird damit auch offiziell festgehalten, dass die Kohletagebaue auf Yukpa-Gebiet liegen. Das ist ein wichtiger, mächtiger Baustein für unsere juristische Strategie (siehe Infokasten unten). Es wird uns erlauben, nachträglich unser Recht auf eine vorherige Anhörung einzufordern, die vor Beginn des Minenbetriebs nicht stattgefunden hat. Es wird uns auch ermöglichen, unser Recht auf eine Nachkonsultation durchzusetzen, um eine Wiedergutmachung für die entstandenen Schäden zu bekommen. Die Umsetzung der Abgrenzung ist also der Schlüssel für die Lösung der Probleme der Yukpa.

Was stellen sich die Yukpa unter Wiedergutmachung vor?
Wir in Kolumbien bemühen uns seit 2016 (Abschluss des Abkommens mit der FARC-Guerilla, Anm. d. Red.) um Frieden. Dabei haben wir gelernt, dass dafür drei Dinge nötig sind: Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. Die Autoritätspersonen der Yukpa vor Ort werden sich zu gegebener Zeit zum Thema Wiedergutmachung äußern. Persönlich glaube ich, dass die Behebung der Umweltschäden dabei zentral wäre: die Befreiung und Säuberung der Flüsse, die Wiederansiedlung von Fischen, anderen Tieren und Pflanzen. Letzten Endes würde das auch das Hungerproblem angehen.

Wie ist es zu erklären, dass der Konzern Glencore 2021 seine Bergbaulizenen in der Region Cesar an die Regierung zurückgegeben hat, während er die große und bekanntere Cerrejón-Mine in der Region La Guajira weiter ausbeutet?
Nachdem das Verfassungsgericht uns im Jahr 2021 zum zweiten Mal Recht gab, hat Glencore seinen vollständigen Rückzug aus unserem Gebiet angekündigt. Als Begründung nannten sie den gefallenen Kohlepreis. Dass gleichzeitig die Cerrejón-Mine auf dem Gebiet der indigenen Gemeinschaft der Wayuu noch in Betrieb ist, zeigt jedoch, dass das nicht der wahre Grund ist. In Wirklichkeit haben sie Angst bekommen, da wir Yukpa sie durch unsere juristische Arbeit in die Ecke getrieben haben. Sie haben gemerkt, dass sie gehen müssen, um der Verantwortung zu entgehen.

Die linke Regierung von Gustavo Petro respektiert die indigenen Rechte und möchte aus der Kohlegewinnung aussteigen. Warum habt ihr euch dafür entschieden, gemeinsam mit Vertreter*innen der Zivilgesellschaft in kolumbianischen Botschaften einen offenen Brief zu übergeben?
Die Verantwortung für die Probleme, die wir in dem Brief ansprechen, liegt bei den früheren Regierungen, nicht bei der von Petro. Seine Regierung entstand auch aus sozialen und indigenen Bewegungen heraus. Wir Yukpa unterstützen die Regierung, die indigenen Gemeinschaften regieren zum Teil sogar in den Institutionen mit. Wir haben Organisationen aus verschiedenen Ländern zur Übergabe des offenen Briefes aufgerufen, um die Regierung daran zu erinnern, dass es dieses Urteil gibt. Wir sind uns nämlich sicher, dass sie das Urteil gar nicht kennt, denn es ist nur eins von sehr, sehr vielen Gerichtsurteilen, die von früheren Regierungen nicht umgesetzt wurden.
Ich spreche manchmal mit Regierungsbeamten und mit Petros Ministern und ihnen ist ganz klar, dass die Herausforderung darin besteht, die Abhängigkeit Kolumbiens von fossilen Energien zu beenden. Für uns heißt es daher: jetzt oder nie.

Deutschland importiert aufgrund des Kriegs gegen die Ukraine nun mehr Kohle aus Kolumbien als zuvor. Was erwartest du von den Aktivist*innen in Europa?
Der Kohleexport aus Kolumbien ist infolge des Kohleembargos der EU gegen Russland um über 200 Prozent angestiegen, ohne dass die sterbenden Kinder der Yukpa oder der Wayuu von den Einnahmen etwas hätten. Deutschland wird Kolumbien unter Druck setzen, nicht aus der Kohle auszusteigen. Daher ist es wichtig, dass der Ausstiegswille der kolumbianischen Regierung gestärkt wird. Andererseits sollte die deutsche Zivilgesellschaft auch ihre eigene Regierung an die Notwendigkeit des Ausstiegs aus den fossilen Energien erinnern. Ich fände es sehr wichtig, dass die Aktivist*innen hier ihr Narrativ über die Krise mehr auf das fokussieren, was sie für uns ist: nicht eine Klimakrise, sondern eine koloniale Krise. Lösen muss sie die Handvoll Länder, die sie auch verursacht haben. Wenn weiter nur von einer Klimakrise die Rede ist, wird die zentrale Forderung sein, ein CO2-ausstoßendes Modell der Landausbeutung durch eines zu ersetzen, bei dem kein CO2 freigesetzt wird. Und für uns wird sich dabei nichts ändern, denn die Energiewende wird weiter auf der Ausbeutung unserer Territorien beruhen, nur in Zukunft dann eben mit grünem Wasserstoff oder Solarzellen anstatt mit Kohle.
Ein anderer Punkt ist, dass der Kampf ums Klima hier noch aus verschiedenen Nischen und Gruppen heraus geführt wird. Das kommt der Regierung und den Unternehmen entgegen. Eine Masse von Menschen, die entschieden und entschlossen sind, die Dinge zu verändern, ist unaufhaltsam. Daran fehlt es hier noch. 2024 sollte das Jahr sein, um eine Bewegung von Bewegungen zu schmieden, unter Einschluss der Gewerkschaften – auch angesichts der Tatsache, dass der Faschismus in Europa auf dem Vormarsch ist.
Das sage ich aus der Perspektive der organisierten indigenen Gemeinschaften in Kolumbien heraus. Seitdem wir uns auf nationaler Ebene als ONIC organisiert haben, sind wir Indigene ein Machtfaktor. Hätten wir Yukpa allein weitergemacht, wären wir längst verschwunden.

// Fette Gewinne und trockene Kehlen

Der Mangel an sauberem Süßwasser wird immer dramatischer. Darauf machte die chilenische Wasser- und Umweltorganisation MODATIMA aufmerksam, die im September auf Einladung der Lateinamerika Nachrichten und anderer Organisationen nach Deutschland reiste. In der Veranstaltungsreihe „Bis zum letzten Tropfen“ betonten die Aktivist*innen immer wieder die chilenische, aber auch die globale Dimension des Problems.

Chile ist in Bezug auf Wassermangel ein besonders drastischer Fall. Im Zuge der Neoliberalisierung während der Militärdiktatur wurde Wasser privatisiert. Bis heute hat sich daran nichts geändert: Statt als Grundrecht der Bevölkerung wird es als Ware behandelt. Es fließt reichlich in den Bergbau, in die Forst- und die Landwirtschaft, so auch in den Anbau von Avocados für den europäischen Markt.

Während transnationale Unternehmen so fette Gewinne einfahren, geht den lokalen Gemeinden das Trinkwasser aus. Die Bewohner*innen ganzer Regionen werden in Chile mit Wasserlieferungen nur unzureichend versorgt. „Diejenigen, die über das nötige Geld verfügen, haben Zugang zu Wasser. Die normale Bevölkerung geht leer aus“, klagt Victor Bahamonde von MODATIMA. Profitmaximierung für Wenige statt menschenwürdige Lebensbedingungen für die Vielen.

Mitverantwortlich für den Wassermangel ist in Lateinamerika oft auch die Wirtschaftspolitik Deutschlands. So wie in La Guajira im Nordosten Kolumbiens. Ein großer Teil der Kohle, die bei uns verstromt wird, kommt von dort. 2022 erhöhte Deutschland die Importe kolumbianischer Steinkohle auf das Dreifache im Vergleich zum Vorjahr. Der Steinkohletagebau El Cerrejón, Teil des Schweizer Multis Glencore, verbraucht in der niederschlagsarmen Region täglich 24 Millionen Liter Wasser – eine Menge, die ausreichen würde, um 15.000 Menschen zu versorgen.

Dagegen wehrt sich auch der Umweltaktivist Samuel Arregocés. „Wir können unser Wasser nicht weiter El Cerrejón überlassen“, erklärte er gegenüber LN. In La Guajira sind infolge des Bergbaus bereits mehr als 17 Wasserläufe ausgetrocknet, der Tagebau hat 30 Flüsse umgeleitet. Sollten weitere Flüsse umgeleitet werden, wäre das „das Ende der Guajira“, ist sich Arregocés sicher. Die Wasserknappheit in La Guajira zeigt, wie die deutsche Regierung ihre miserablen Klima- und Umweltbilanzen vertuscht: Die Folgen des auf dem Raubbau an der Natur basierenden Wirtschaftsmodells werden in den Globalen Süden auslagert. Hierzulande verkündet sie gleichzeitig die „grüne Wende“.

Wassermangel ist allerdings schon lange nicht mehr nur ein Problem anderer Weltregionen. Auch in Deutschland wird das Nass knapp. Jedoch nicht für alle: Während das Versorgungsunternehmen WSE in Brandenburg 2022 damit begann, das Wasser für Privathaushalte zu rationieren, bedient sich der Großkonzern Tesla in Grünheide weiter am Grundwasser. In dem wasserarmen Bundesland wurde die Großfabrik für den Bau von Elektroautos 2020 trotz Protesten eröffnet.

Jetzt soll die Fabrik in Grünheide noch erweitert werden. Dagegen organisierte ein breites Bündnis aus Klimaaktivist*innen und Anwohner*innen am 16. September ein „Wald- und Wasserfest“. Mitglieder von MODATIMA betonten dort während ihrer Rede, Umweltaktivist*innen weltweit müssten angesichts der sich zuspitzenden Lage voneinander lernen. Der Kampf um den Zugang zu Wasser verbinde die lokale Bevölkerung in allen Erdregionen. Victor Bahamonde forderte: Auch wenn das Thema Wasser in den reichen Ländern noch wenig als Problem wahrgenommen werde, sollte es eine zentralere Rolle in den Kämpfen für Klimagerechtigkeit einnehmen. Bewegungen wie das Bündnis „Tesla den Hahn abdrehen“ sind dafür ein wichtiger Schritt.

“Wir kommen aus der Zukunft”

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“Wasser ist Menschenrecht!” MODATIMA-Aktivist*innen beim Klimastreik im September 2023 in Berlin (Foto: Ute Löhning)

50 Jahre nach dem Militärputsch stimmt der Verfassungsrat in diesen Tagen über die Normen für den neuen Verfassungsentwurf ab. Wie blickt ihr auf diesen Prozess?

Catalina: Was dort entworfen und verabschiedet wird, könnte am Ende sogar schlimmer aussehen als die Verfassung von Pinochet. Der Klimawandel wird im Prozess nicht berücksichtigt. Die Ultrarechte, die im Rat dominiert, leugnet ihn und stellt sogar grundlegende Menschenrechte in Frage. Für öffentliche Güter wie Flussufer und Auen, die bisher nie privatisiert waren, sollen nun Konzessionen vergeben werden. Deshalb setzen wir so gut wie keine Hoffnung in den Prozess. Er setzt unsere Forderungen von den Protesten im Oktober 2019 nicht um.

Das klingt fast so, als wäre es besser, wenn der Entwurf beim Verfassungsplebiszit im Dezember abgelehnt wird.

Jorge: Ich sehe tatsächlich einen Vorteil, wenn die Verfassung von 1980 bleibt, denn sie ist bereits delegitimiert. Damit würden sich für die Zukunft gewisse Spielräume öffnen. Deshalb finde ich es wichtig, dass der Rechazo (dt. Ablehnung) im Dezember gewinnt.

Catalina: Eine wichtige Aufgabe für uns als Bewegungen wird es sein, das Ergebnis des ersten Verfassungsplebiszits von 2020 zu bekräftigen, in dem man sich gegen die Pinochetverfassung ausgesprochen hatte. Der Plebiszit im Dezember wird auch ein wichtiger Moment für die politischen Kräfteverhältnisse und für die Regionalwahlen nächstes Jahr.

Was würde ein Sieg des Rechazo für die Rechte bedeuten?

Victor: Es gibt nicht die eine Rechte, sie ist gespalten. Die Ultrarechte mit der Republikanischen Partei bringt alle wichtigen Themen ihres politischen Entwurfs in die Verfassung ein. Für sie ist es eine Win-Win-Situation: Entweder gewinnt das Ja – dann gewinnt ihre Position – oder es gewinnt das Nein und Pinochets Verfassung bleibt in Kraft.

Welche Aussicht bleibt dann noch auf die Abschaffung der Diktaturverfassung?

Victor: Ich denke das einzige, das uns dann bleibt, wäre eine Verfassungsreform. Aber mit dem aktuellen Kongress ist das sehr schwierig, es müsste zu einem anderen Moment geschehen. Fürs Hier und Jetzt bleibt uns der Weg des Protests.

Catalina: Genau. Derzeit bilden wir uns politisch weiter und wollen wachsen – qualitativ und quantitativ.

MODATIMA ist nicht nur auf der Straße aktiv, sondern auch in politischen Institutionen.

Victor: Ja, in der Kombination von Basisarbeit und dem institutionellen Weg auf lokaler Ebene sehen wir eine große Stärke. Zum Beispiel in den Regionalregierungen, im Fall der Region Valparaíso mit unserem Gouverneur Rodrigo Mundaca. Hier arbeiten wir daran, die Verwaltung des Wassers innerhalb des rechtlichen Rahmens zu demokratisieren.

Was hat Rodrigo Mundaca als Gouverneur seit Juli 2021 erreicht? Welche Befugnisse hat er?

Victor: In allen Provinzen der Region werden derzeit Flussgebietsräte als runde Tische eingerichtet. Dort beteiligen die Menschen sich zum ersten Mal an Entscheidungen zum Thema Wasser. Die Regierung plant, solche Räte über ein Gesetz zukünftig landesweit einzurichten. In der Region von Valparaíso funktioniert das bereits, allerdings ohne gesetzliche Grundlage. Außerdem wurden Bildungsprogramme für Führungspersonen in den Trinkwassergenossenschaften der Region geschaffen. Das Trinkwasser auf dem Land ist das einzige Wasser, das nicht privatisiert, sondern öffentlich und gemeinschaftlich ist.

Carolina: Rodrigo Mundaca hat im kommenden Jahr die Möglichkeit, der Agorechi – der Gouverneursvereinigung Chiles – vorzusitzen. Dadurch könnte er deutlich stärker auf die landesweite Politik einwirken. Abseits davon sind die Stärkung der Umwelt- und genossenschaftlichen Trinkwasserinstitutionen, der Bürger*innen und die finanzielle Stärkung der Gemeinden wichtig. Dadurch gibt es heute wieder deutlich mehr Vertrauen in die Politik und Institutionen – das war vor dem estallido social von 2019 undenkbar.

Und doch verhindert der Wasserkodex aus Diktaturzeiten mehr Gerechtigkeit beim Zugang zu Wasser. Gab es hier in den vergangenen Jahren Fortschritte?

Carolina: Am 25. März 2022 wurde die jüngste Reform des Wasserkodexes beschlossen. Alle Eigentumsrechte an Wasser, die nach diesem Datum vergeben werden, haben keine unbegrenzte Laufzeit mehr. Personen, die bereits Eigentumsrechte an Wasser besitzen, müssen diese neu einschreiben lassen, wofür jedoch genug Wasser verfügbar sein muss. Da das häufig nicht der Fall ist, wird das dazu führen, dass in Zukunft weniger Eigentumsrechte an Wasser existieren. Wo zukünftig bei Wassermangel Konflikte entstehen, wird die Wassergeneraldirektion tätig und kann das Wasser neu verteilen. Das war im Flussbecken des Aconcagua bereits der Fall.

Mit Dürresommern und Unwettern ist der Klimawandel auch in Deutschland zu spüren. Unterschätzen wir die Probleme, die es bald auch hier mit der Wasserversorgung geben könnte?

Victor: Ich denke, in den reichen Ländern wird das Thema Wasser immer noch nicht als Problem wahrgenommen. In diesem März hat in New York zum ersten Mal seit 50 Jahren eine Weltwasserkonferenz stattgefunden. In diesen 50 Jahren hat sich das Weltwasserforum, eine von Privatunternehmen finanzierte Institution, jedes Jahr getroffen. In den entwickelten Ländern gibt es genug Wasser für Bevölkerung und Unternehmen. Wir in Chile sind nach 40 Jahren Wasserprivatisierung bei dem Extrem angekommen, dass es Wasser für die Reichen gibt, aber nicht für die Armen. Wir fordern, dass dem Wasser fortan die Bedeutung zugeschrieben wird, die es auf der Welt hat. Und wenn man von Klimawandel spricht, darf es nicht nur um Temperaturanstiege gehen, man muss die Verfügbarkeit von Süßwasser miteinbeziehen. In Chile werden bereits Menschen wegen des Klimawandels vertrieben, weil es zu wenig Wasser gibt. Und jetzt kommen noch neue Industriezweige wie Lithium oder grüner Wasserstoff dazu, die ebenfalls große Mengen Wasser brauchen.

Gleichzeitig werden diese Rohstoffe als zentral für die Energiewende angesehen. Wie blickt ihr auf dieses Dilemma?

Jorge: Beim Lithium ist die Rede von grüner Energie, aber seine Gewinnung ist extrem verschmutzend und kostet viele Ökosysteme in den Abbauländern das Leben. Gleichzeitig ist Lithium ein flüchtiger Rohstoff, denn wenn in 20 oder 25 Jahren bessere Energiequellen kommen, wird Lithium zu teuer sein. Das Gleiche ist mit den Deutschen und dem Salpeter passiert: Salpeter war einst die Lösung für alles, mein Vater hat in der Gewinnung gearbeitet, mein Großvater auch. Irgendwann kam das synthetische Salpeter und hat alles ersetzt. Das Problem ist auch die fehlende Wissensvermittlung: Wir gewinnen das Lithium, aber die Batterien stellt ihr her. Uns bleiben am Ende nur die Umweltkatastrophen.

Victor: Für die Energiewende haben die reichen Länder ihre Pläne bis 2030. Länder wie Deutschland müssten bei Vertragsabschlüssen nicht nur darauf achten, das billigste Lithium oder den billigsten Wasserstoff zu kaufen, sondern auch darauf, wie diese Rohstoffe erzeugt werden können, ohne das Leben der benachbarten Gemeinschaften zu beeinträchtigen. Und sie müssen die Variable Wasser miteinbeziehen.

Was kann die Welt und was können wir von der Situation in Chile lernen?

Carolina: Zu was führen denn der Konsum und der Export aus den so genannten „Opferzonen“ (Anm. d. Red.: von massiver Verschmutzung durch Industrie betroffene Regionen)? Wir sehen, wie Menschen im Avocado-Anbaugebiet ohne Wasser leben, obwohl es Wasser gibt – aber die Agrarindustrie nimmt es uns weg. Und Deutschland geht in Lateinamerika auf Rohstoff-Einkaufstour und will Freihandelsabkommen schließen, um unsere Territorien zu plündern. Wir haben gelernt, dass dies nicht nachhaltig und weder für Investitionen noch für den internationalen Handel sicher ist. Denn es zerstört unseren Wasserkreislauf. Ich glaube, die einzige Gegenstrategie besteht darin, Allianzen zu bilden, das Bewusstsein zu schärfen und Aufklärung zu betreiben, um zu verstehen, dass in Chile heute Investitionen wichtiger sind als Menschenrechte. Dabei geht es nicht nur um eine Änderung der Technologie, sondern um eine Änderung des Lebensstils und des Verbrauchs von Ressourcen.

Jorge: Die ganze Natur, die Wälder, die Ozeane, die Flüsse, sind in großem Umfang geplündert worden. Wenn die reichen Leute und Länder sich dessen nicht bewusstwerden und den unnötigen Konsum reduzieren, werden wir mit Lateinamerika und Afrika am Ende ihre Hinterhöfe zerstören. Wir müssen also der Bevölkerung beibringen, dass man mit dem leben muss, was man hat, auch wenn das ziemlich schwierig ist.

Vielen Menschen fällt es schwer, ihren Lebensstil zu ändern. Was denkt ihr, auf welche sozialen Probleme sollten wir uns einstellen, wenn auch hier das Wasser knapp wird?

Victor: Wir erleben bereits einen Krieg um Wasser: Es gibt Gebiete, in denen die Menschen kein Trinkwasser haben, auf die Straße gehen und sich mit der Polizei anlegen und denen, die das Wasser haben. Dieses angeblich so ferne Zukunftsszenario ist in Chile und an einigen Orten in Afrika längst eingetreten. Als MODATIMA ist es unsere Aufgabe, betroffene Gemeinschaften zu organisieren, Kritik zu üben und die Fragen zu stellen, um die sich die Regierungen nicht sorgen. Wir Chilen*innen und andere kommen aus der Zukunft, in der es Kriege um Wasser gibt. Und Länder wie Deutschland, in denen es bisher keine Wasserprivatisierung gibt, könnten wie Chile enden.

Während der Veranstaltungen in Berlin habt ihr die Idee einer Internationalen des Wassers erwähnt. Worum geht es dabei?

Carolina: Es geht dabei um Solidarität: Es gibt etwas, das über ein Projekt wie MODATIMA hinausgeht, wie bei den ALBA-Bewegungen oder der Landlosenbewegung MST. Wir sind bereit, über eine internationale Bewegung für Wasser Macht aufzubauen, die auf Solidarität und ihrer Bedeutung für die Menschheit basiert, die eindeutig Grenzen überschreitet.

Victor: Seit der Gründung von MODATIMA sind wir mit anderen großen und kleinen Bewegungen zusammengetroffen, die sich mit denselben Themen beschäftigen: die Rondas Campesinas in Peru, Afectados por Represas in Brasilien, Ríos Vivos in Kolumbien und die Coordinadora Agua para Todos in Mexiko. In den lateinamerikanischen Ländern wird der Kampf um Wasser bereits stark geführt, aber es gibt auch die europäische Wasserbewegung, zu der wir Beziehungen unterhalten. Ich denke, das ist ein Projekt auf lange Sicht. Zum Beispiel mit der Bewegung der von Staudämmen betroffenen Menschen (MAR) in Lateinamerika. Wir haben die Idee, eine globale Bewegung für Wasser und Energie aufzubauen, eine Art Via Campesina bezogen auf Wasser und Energie, die sich weltweit Verbündete sucht – MAR arbeitet bereits seit zehn Jahren in diese Richtung.

Hat diese Reise nach Deutschland euch dahingehend weitergebracht?

Catalina: Diese Reise war sehr bereichernd, um einen Horizont für den Erfahrungsaustausch zu schaffen, auch dafür, den Kampf um das Wasser zu internationalisieren. Vor allem war es interessant, dass die Themen Wasserstoff und Lithium so oft zur Sprache kamen. Wir nehmen diese neuen Herausforderungen der Energiewende an und die dringende Aufgabe mit, sie tiefer in die Bewegung einzubringen.

Jorge: Ich hätte nicht gedacht, dass es hier in der Gegend einen Konflikt mit Tesla gibt, bei dem Leute ihr Wasser in Gefahr sehen. Es hat meine Aufmerksamkeit erregt, dass auch hier Menschen sich für diese Themen mobilisieren und territorial denken. Wir fühlen uns also mit ihnen verbunden und freuen uns darüber.

Victor: Ich finde es sehr wichtig, sich nach einer Pandemie wieder persönlich mit Menschen austauschen zu können, die auf der gleichen Wellenlänge sind, um uns gegenseitig zu stärken. Und Medien wie eure Zeitschrift tragen viel dazu bei, durch Information Verbindungen und Netzwerke aufzubauen und Meinungen auszutauschen.

Carolina: Ich denke, es war 50 Jahre nach dem Putsch eine Reise voller Erinnerung für uns, aber auch eine Reise voller Zukunft: darüber, wie wir uns unser Land erträumen, was wir von eurem Land erwarten, was wir von unseren Kontakten erwarten. Es war nach dem Scheitern des Verfassungskonvents eine heilende Erfahrung. Für mich bleibt davon der Wunsch und die Erwartung, eine Gemeinschaft aufzubauen und mit einer Internationalen des Wassers voranzukommen.

GEGEN DEN FINANZKOLONIALISMUS

„Debt for Climate“ will eine Schuldenstreichung für den Globalen Süden. Warum widmet ihr euch dem Thema Schulden?

Esteban: Das Thema Schulden ist ein gemeinsamer Nenner, der Arbeiter*innenorganisationen, soziale und Klimabewegungen sowie feministische und indigene Gruppen zusammenbringt. Wir versuchen, politische Macht herzustellen, in dem wir viele verschiedene Bewegungen miteinander verbinden und aufzeigen, dass Schulden im Mittelpunkt der Klimakrise stehen. „Debt for Climate“ hat mittlerweile dezentrale Gruppen in rund 30 Ländern.

Ihr sprecht von der „Klimaschuld“ des Globalen Nordens. Was meint ihr damit?

Esteban: Die Entwicklung der industrialisierten Länder des Globalen Nordens hat auf dem Rücken der Nationen im Globalen Süden stattgefunden, dessen natürliche Ressourcen dafür geplündert wurden. Die Industrialisierung hat dabei die meisten Treibhausgas-Emissionen verursacht. Deutschland ist historisch gesehen der viertgrößte CO2-Emittent weltweit. Der Globale Süden ist nur für etwa acht Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich, sogar inklusive China. Daraus ergibt sich eine „Klimaschuld“ des Globalen Nordens gegenüber dem Globalen Süden.

Ihr stellt euch auch gegen den globalen „Finanzkolonialismus“. Was genau versteht ihr darunter?

Esteban: Der jüngste IPCC-Bericht erkennt an, dass Kolonialismus die Ursache der Klimakrise ist. Heutzutage nimmt Kolonialismus die Form von Schulden an. Wenn wir ernsthaften Klimaschutz betreiben wollen, müssen wir uns fragen: Wer schuldet wem? Der Globale Süden schuldet dem Globalen Norden kein Geld: Die sogenannten Schulden sind zumeist unrechtmäßig. Etwa, weil sie mit Diktatoren vereinbart worden sind oder schon mehrfach in Zinsen zurückbezahlt wurden. Der erste Schritt, um die „Klimaschuld“ des Globalen Nordens zu begleichen, muss eine Streichung der finanziellen Schulden des Globalen Südens sein, sodass diese Länder souverän und selbstbestimmt einen gerechten Gesellschafts- und Energiewandel vollziehen können. Wegen der Schulden sind diese Länder dazu gezwungen, ihre fossilen Ressourcen auszubeuten, darunter viele CO2-Bomben wie die gigantische Ölschiefer-Lagerstätte Vaca Muerta in Argentinien. Wenn diese fossilen Energieträger im Wert von Milliarden von US-Dollar im Boden gelassen werden, kommt das der gesamten Welt zugute.

In den Kreisen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) wurden bereits Konzepte des „Green Debt Swap“ diskutiert, die einen Schuldenerlass für besonders von der Klimakrise gefährdete Länder vorsehen, wenn diese im Gegenzug in Klima- und Umweltschutz investieren. Zuletzt gab es im Herbst 2022 einen solchen Deal zwischen der Schweizer Bank Credit Suisse und dem Staat Barbados. Ihr bezeichnet solche Deals aber als „Greenwashing“.

Louise: Diese Deals funktionieren so: Eine dritte Institution des Globalen Nordens, etwa eine Naturschutzorganisation wie der WWF, kauft einen meist unbedeutenden Teil der Schulden auf. Dafür erhält sie Landrechte in dem verschuldeten Staat, mit denen sie Naturschutz nach Auffassung des weißen Globalen Nordens durchsetzen kann. Dem zugrunde liegt die Vorstellung einer unberührten Natur, die es vor jeglichem menschlichen Eingriff zu bewahren gilt, da der Mensch diese nur zerstören würde. Das muss nicht so sein – es gibt durchaus auch Lebensweisen, die die Umwelt als Mitwelt verstehen und auf einer Vorstellung des Austausches statt der Ausbeutung basieren. Diese Art von westlichem Naturschutz hat meist zur Folge, dass das Land privatisiert und die Menschen, die dort leben oder fischen, enteignet oder vertrieben werden. Durch die „Green Swap Deals“ entsteht somit ein Macht-Dreieck aus den Kreditgebern und der NGO, die zu so etwas wie einer Pseudo-Regierung des verschuldeten Staates werden. Das ist keine Schuldenstreichung, sondern „Greenwashing“ beziehungsweise „grüner“ Kolonialismus. Denn es gibt wiederum den Institutionen des Globalen Nordens Macht über die Energie- und Umweltgesetze der verschuldeten Staaten. Die beteiligten Institutionen stellen das als eine „Win-Win-Win-Situation“ dar, aber das stimmt nicht: Die ehemaligen Kolonialländer lassen die kolonialisierten Länder für deren Energiewende bezahlen, anstatt die Schulden zu streichen, zusätzlich Reparationen zu zahlen und Klimafinanzierungen bereitzustellen.

Am 27. Februar hat eine globale Aktion von „Debt For Climate“ stattgefunden. Warum an diesen Tag?

Louise: Am 27. Februar war der 70. Jahrestag der Schuldenstreichung von Deutschland. 1953 hat die Bundesrepublik das Londoner Schuldenabkommen unterzeichnet, das die immensen Schulden Deutschlands aus der Zeit rund um die Weltkriege um über die Hälfte verringerte. Verschiedene Länder und Privatinstitutionen beschlossen da außerdem günstige Bedingungen für das Abbezahlen der restlichen Schulden. Keinem Staat des Globalen Südens werden heutzutage solche Bedingungen zugestanden – etwa die Schulden in der landeseigenen Währung zurückzuzahlen. Länder des Globalen Südens müssen fossile Rohstoffe gewinnen und exportieren, um überhaupt an US-Dollar zu kommen, mit denen sie ihre Schulden bezahlen können. In dem Londoner Schuldenabkommen wurde außerdem beschlossen, dass Deutschland nicht mehr bezahlen musste, als es an Geld aufbringen konnte. Das ist genau das Gegenteil von dem, was heute mit den Schulden des Globalen Südens passiert.

Warum diese Ungleichbehandlung?

Louise: Die Staaten des Globalen Südens sind in einer ewigen Verschuldung gefangen, weil das eine Einnahmequelle für den Globalen Norden ist. Deutschlands Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg ist als Wirtschaftswunder bekannt – aber es war kein Wunder, sondern es hatte mit der Schuldenstreichung zu tun! Der Globale Norden weiß genau, welches Potenzial in der Schuldenstreichung steckt, denn Deutschland ist heute eine der stärksten Wirtschaftskräfte weltweit.

// DAS VERSAGEN DER COPS

Mit der am 20. November zu Ende gegangenen COP27 ist eine weitere Weltklimakonferenz Geschichte und wieder sucht man im Abschlusspapier vergeblich nach konkreten Maßnahmen oder Verpflichtungen zur CO2-Reduktion. Wo tiefgreifende Veränderungen her müssten, um den Klimawandel und seine katastrophalen Folgen zu begrenzen, bleibt es erneut bei Absichtserklärungen. Alle seit der letzten COP eingereichten nationalen Pläne zur Reduktion von Treibhausgasen führen laut UN-Umweltprogramm nur dazu, diese bis zum Jahr 2030 um ein Prozent zu verringern. Nötig wäre aber eine Reduzierung um 45 Prozent, um das 1,5 Grad-Ziel einzuhalten.

Zwar hat der Gipfel einen Fonds zur Bewältigung klimabedingter Schäden und künftiger humanitärer Katastrophen beschlossen, die in den verwundbarsten Ländern entstehen. Dies bleibt jedoch weit hinter den legitimen Forderungen der Debt for Climate Bewegung zurück, die die Entschuldung dieser Länder fordert, um die Umstellung auf ein nachhaltigeres Wirtschaften zu ermöglichen.

In den betroffenen Staaten gehören Indigene zu den besonders verwundbaren Gruppen. Das machte der peruanische Quechua-Bauer und mehrfache COP-Teilnehmer Saúl Luciano schon 2015 durch seine Klage gegen RWE deutlich. Im Vorfeld der COP27 berichteten viele Medien über die Umsiedlung des indigenen Dorfes Gardi Sugdub in Panama, das immer wieder Überschwemmungen ausgesetzt ist. Aber ob in den Bergen oder auf Inseln – da sie vom Klimawandel so unmittelbar bedroht sind, wurde indigenen Gemeinschaften schon auf vergangenen Konferenzen eine besondere Rolle zugeschrieben. Auch zum 27. Klimagipfel reisten indigene Delegierte aus Australien, Kanada, Kolumbien, Mexiko und weiteren Staaten an. Sie hatten für die Konferenz eine eigene Agenda ausgearbeitet, nahmen aber an den Sitzungen nur als Beobachter*innen teil. „Wir sind ebenso wichtig wie existierende Nationalstaaten. Wir haben das Recht, an der Debatte teilzunehmen, denn wir sind keine Umwelt-NGO“, kritisierte Gregorio Diaz Mirabal, Mitglied des Dachverbands der indigenen Organisationen im Amazonasbecken (COICA) dies im Gespräch mit Journalist*innen.

Viele der indigenen Gemeinschaften leben zudem in den am besten geschützten Gebieten der Erde, was sie zu wichtigen Partnerinnen für den staatlichen Umweltschutz macht. Ein wütender Delegierter von den australischen Torres-Strait-Inseln sagte gegenüber dem Guardian, er fühle sich von der COP ignoriert, dabei könne die Welt vom Wissen der Aborigines nur profitieren. Bevormundet werden Indigene auch bei den auf der letzten COP zu ihren Gunsten beschlossenen direkten Finanzhilfen in Höhe von 1,7 Milliarden Dollar. Sie sollten zur Umstrukturierung der lokalen Wirtschaft und zur Projektförderung eingesetzt werden, kamen aber bisher vor Ort kaum an. „Wir haben es satt, dass Gelder an indigene Stiftungen ohne indigene Menschen gehen. Das ganze Geld geht für die Bezahlung von Beratern und die Kosten für Büros mit Klimaanlagen drauf“, erklärte Yanel Venado Giménez aus Panama gegenüber IPS. Etliche Delegierte bezweifeln, dass die Zusammenarbeit zwischen den lokalen indigenen Gemeinden und den etablierten NGO künftig noch notwendig ist. Viele indigene Gemeinschaften hätten inzwischen eigene Strukturen aufgebaut, die die Finanzhilfen selbst verwalten können.

Wenn Kolumbiens neuer Präsident Gustavo Petro zusagt, den indigenen Widerstand gegen die Bergbauindustrien zu unterstützen, oder Brasiliens zukünftiger Präsident Lula da Silva ankündigt, die Abholzung des Regenwalds stoppen zu wollen, ist dies positiv. An der strukturellen Ausgrenzung indigener Gemeinschaften ändert es jedoch nichts. Indigene Vertreter*innen müssen als Verhandlungspartner*innen endlich ernst genommen werden – bei der globalen Klimapolitik genauso wie bei ihren Rechten auf Land und Autonomie vor Ort.

LICHT UND SCHATTEN

Hoffnungsschimmer auf der COP27 Lula da Silva stellt die neue Klimapolitik Brasiliens vor (Foto: Oliver Kornblintt/Midia Ninja via Flickr, CC BY-SA 4.0)

Angesichts der düsteren Aussichten mit Blick auf den Klimawandel, an denen auch das Zusammenkommen von 197 Staaten auf der 27. Weltklimakonferenz nichts geändert hat, war der Führungswechsel in Brasilien ein willkommener Lichtblick. Schließlich ist Brasilien die Heimat der „grünen Lunge“ der Welt – des Amazonas. Nach seinem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen Ende Oktober nutzte der neu gewählte Präsident Luiz Inácio Lula da Silva von der Arbeiterpartei (PT) die Gelegenheit, zu bekräftigen, dass sich seine neue Regierung der Klimapolitik verpflichtet. Sein Vorgänger, der rechtsextreme Klimawandelleugner Jair Bolsonaro, hat eine verheerende Klimabilanz hinterlassen. Für Lula war die Reise nach Ägypten kurz vor seinem Amtsantritt ein günstiger Moment. Ab Januar muss er sich auf Kompromisse der breiten Allianz seiner Regierungskoalition einlassen.

Innenpolitisch hat sich Lula auf der Klimakonferenz und in anderen Reden zu Klima- und Umweltmaßnahmen verpflichtet. Eine Wiederauf- nahme des Aktionsplans zur Verhinderung und Kontrolle der Entwaldung in den drei Biomen des sogenannten Amazônia Legal (PPCDAm) ist zu erwarten. Eingeführt 2004 während der ersten Lula-Regierung, waren in den vorangegangenen Amtszeiten Emissionsreduzierungen von historischem Ausmaß erreicht worden. Außerdem kündigte Lula die Gründung eines Ministeriums für indigene und traditionelle Völker an. Gemeinsam mit Deutschland und Norwegen wird Brasilien den Amazonienfonds wieder auflegen, den Lula als Präsident 2008 gegründet hatte und den Bolsonaro 2019 abschaffte. Dieser Fonds war eine Alternative zum Emissionshandel und ein bedeutendes Beispiel für Nord-Süd-Transfer zur Finanzierung des Waldschutzes. Im Gegensatz zu Marktmechanismen liegt die Kontrolle der finanziellen Mittel beim Empfängerland Brasilien, das damit öffentliche strukturelle Maßnahmen sowie lokale Initiativen unterstützt, ohne Emissionskredite an Geber zu gewähren.

Der außenpolitische Schwerpunkt früherer PT-Regierungen lag auf Kooperation zwischen Ländern des Globalen Südens, Frieden, Diplomatie und multilateraler Zusammenarbeit. Lulas neue Regierung hat versprochen, diesen Geist wiederzubeleben.

Auf der COP27 kritisierte der neu gewählte brasilianische Präsident die Geberländer des Globalen Nordens scharf dafür, dass sie sich weigern, die zugesagten Zahlungen in Höhe von 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr an Entwicklungsländer zu leisten. Die Vereinten Nationen sowie die Mechanismen zur Finanzierung der durch den Klimawandel verursachten Verluste und Schäden müssten so reformiert werden, dass die territoriale Integrität der Länder des Globalen Südens respektiert würde. „Wir sind offen für eine internationale Zusammenarbeit zur Erhaltung unserer Biome. Aber immer unter der Führung Brasiliens, ohne jemals auf unsere Souveränität zu verzichten“, so Lula in Ägypten. Ähnlich wie zuvor die Präsidenten von Kolumbien und Venezuela schlug Lula eine Allianz für regionale Entwicklung, Integration und den Schutz des Regenwaldes vor. Er brachte außerdem die Idee ein, die COP30 im Jahr 2025 im brasilianischen Amazonas abzuhalten. Mit diesem Schritt würde die Notwendigkeit einer angemessenen Rolle der Region und seiner Bevölkerung anerkannt, denn die Entscheidungen über die Entwicklung des Amazonasgebiets werden oft aus weiter Ferne getroffen.

Lula verteidigte den Klimaaktivismus in seiner Rede auf der COP27 nicht, sondern dankte der ägyptischen Gastgeberregierung. Dennoch wird die internationale Führungsrolle Brasiliens gemeinsam mit anderen Ländern des Globalen Südens entscheidend sein, um Multilateralismus und Frieden, den Kampf gegen den Hunger, Umweltschutz und Gleichberechtigung zu fördern. Im eigenen Land sieht sich seine Regierung jedoch mit einem starken Block der Agrarwirtschaft und einer schwachen Umweltfraktion im Parlament konfrontiert.

Lula bezeichnete die Agrarwirtschaft als strategischen Verbündeten und reiste mit Helder Barbalho, dem Gouverneur des Amazonasstaates Pará, zum Gipfel. Barbalho ist ein Verfechter eines marktwirtschaftlichen Ansatzes für die Bioökonomie, der der Agrarindustrie keine Beschränkungen auferlegt. Zudem soll im Bundesstaat Pará auf dem Fluss Tocantins eine Wasserstraße für den Transport und Export von Soja und Mineralien entstehen. Der Bau würde den Fischbestand und Boden zerstören, und damit die Lebensgrundlage der indigenen und traditionellen Gemeinden der Fischerinnen und Kleinbäuerinnen. Ebenso ist die Wiederbelebung der Fernstraße BR-319 geplant, die die Bundesstaaten Amazonas und Rondônia verbindet – genau in der Region, in der es starke Entwaldung gibt. Um Lulas Versprechen einer gerechteren und menschlicheren Welt tatsächlich einzulösen, wird es also nationalen und internationalen Druck brauchen.

Die nächste brasilianische Regierung ist eine große Chance für die Integration, Reindustrialisierung und sozialökologische Transformation der Region und der Stärkung des Mercosur-Blocks. Das agrarwirtschaftliche Modell der Region wirkt sich negativ auf alle Biome aus, nicht nur in Amazonien. Es sind Konzerne wie Bayer und BASF, die mit dem Export von Pestiziden und transgenen Arten davon profitieren. Sie sind es auch, die den Abschluss des neoliberalen EU-Mercosur Freihandelsabkommens gemeinsam mit den brasilianischem Agrarkonzernen vorantreiben. Dieses steht der sozialökologischen Entwicklung der Region jedoch entgegen. Die EU-Kommission und wahrscheinlich auch eine unter Druck stehende brasilianische Regierung werden den kolonialistischen Vertrag als grün darstellen, obwohl die Auswirkungen für Brasilien verheerend wären.

Auch wenn die sozialen Bewegungen Brasiliens mit der Wahl Lulas einen Sieg gegen eine faschistische Gegenbewegung errungen haben, ist man sich sicher, dass auch weiterhin Druck ausgeübt werden muss. Dabei erwarten sie die verantwortungsbewusste Solidarität der Zivilbevölkerung besonders in Europa.

Eine längere Fassung dieses Artikels erschien am 23. November 2022 bei Jacobin

„WIR SIND IN EINER DREIFACHKRISE“

DR. WALTON WEBSON
ist Botschafter von Antigua und Barbuda bei den Vereinten Nationen. Zudem ist er 2021 und 2022 turnusmäßiger Vorsitzender der Allianz der kleinen Inselstaaten (AOSIS), der 39 Inselstaaten angehören, darunter auch größere wie Kuba oder gar das auf dem Festland liegende Guyana. Alle sind wegen ihrer geografischen Lage besonders vom Klimawandel betroffen.
(Foto: Martin Ling)

Kleine Inselstaaten wie Ihr Heimatland Antigua und Barbuda waren bereits vor der Covid 19-Pandemie aufgrund ihrer wenig diversifizierten Wirtschaft und ihrer besonderen Bedrohung durch Klimawandel mit zunehmenden extremen Wetterereignissen wie Hurrikanen besonders anfällig für Überschuldung. Wie hat sich die Pandemie ausgewirkt?
Um es mit einem Wort zu sagen: zerstörerisch. Die Pandemie hat die schwierige Lage der Inselstaaten, in der sie bereits zuvor waren, weiter verschärft. Durch die Pandemie sind die Inselstaaten nun einer Dreifachkrise ausgesetzt: Zur Klima- und Schuldenkrise hat sich eine Krise im Gesundheitssektor hinzugesellt. Außerdem haben sich durch zusammenbrechende Lieferketten infolge der Pandemie viele Güterpreise auf dem Weltmarkt stark erhöht, was für die stark importabhängigen Inselstaaten verheerend ist. Und eine der Haupteinnahmequellen, der Tourismus, ist zusammengebrochen und hat sich bis heute nur ansatzweise erholt. Und unabhängig davon drohen durch den Klimawandel jeder Insel immer verheerende Wirbelstürme, die immense Schäden hervorrufen können, die in der Vergangenheit teils an einem einzigen Tag mehr als die jährliche Wirtschaftsleistung vernichtet haben! Bahamas traf es 2019, Dominica und Antigua und Barbuda 2017, um nur die verheerendsten der vergangenen Jahre zu nennen.

Die AOSIS, der Sie vorstehen, hat am 29. Juni 2020 in der ersten Welle der Pandemie mit einer bemerkenswerten öffentlichen Erklärung auf diese Probleme aufmerksam gemacht. Um diese Herausforderungen zu bewältigen, forderten Sie von der internationalen Gemeinschaft konkrete Antworten: eine Ausweitung des bestehenden Schuldenmoratoriums auf alle kleinen Inselentwicklungsstaaten (SIDS), die Einbeziehung aller Gläubiger in das Moratorium und, was noch wichtiger ist und über die vorübergehende Aussetzung der Zahlungen hinausgeht, die Schaffung eines ganzheitlichen Entschuldungsmechanismus. Was war die bisherige Antwort?
Die Antwort fiel sehr zögerlich aus. In den Internationalen Finanzinstitutionen (IFIS) werden verschiedene Optionen diskutiert. Mal geht es einen Schritt voran, mal einen zurück. In der ersten Runde konnten nur wenige SIDS von den Sonderziehungsrechten des Internationalen Währungsfonds (IWF) profitieren und sich so zu niedrigen Zinsen Liquidität verschaffen. Die meisten SIDS müssen sich bei kommerziellen Banken Kredite verschaffen und das zu Zinssätzen, die weit über denen liegen, die große europäische Staaten zu zahlen haben. Das Entgegenkommen ist sehr begrenzt. Aber wir bleiben dran, weil wir dranbleiben müssen, wir machen weiter Druck, denn wir bleiben hoch verschuldet, wir bleiben verletzlich wegen unserer exponierten geografischen Lage.

Wie gehen Sie vor?
Wir arbeiten an der Milderung der Probleme und suchen nach Partnern, die uns dabei helfen. Die Schuldenkrise ist lösbar abhängig von den Beziehungen zwischen den Gläubigerstaaten zu den kleinen Inselstaaten. Unsere Verletzlichkeit muss anerkannt werden. Wir können nichts für den Klimawandel, wir können nichts für unsere geografische Lage und wir können sie auch nicht ändern. Wir können nur mit ihr umgehen und das ist auch unser Plädoyer: Lasst uns zusammenarbeiten. Wir sind in einer Dreifachkrise. In einer Krise darf man nicht langsam reagieren, man muss schnell reagieren, man muss den Betroffenen schnell helfen.

Dass es möglich ist, zeigt sich beim Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, oder? Da wurde schnell mit Hilfen für die Ukraine reagiert.
Sehr guter Punkt. Das zeigt, dass es gemacht werden könnte, auch im Falle der kleinen Inselstaaten. Es ist offensichtlich, dass wir noch mehr Druck machen müssen. Die Reaktion auf den Krieg ist überwältigend: Zig Milliarden Dollar wurden in kürzester Zeit mobilisiert. In der Ukraine spielt sich ein humanitäres Desaster ab. Aber das spielt sich abgesehen vom Krieg auch in den Inselstaaten ab. Ich sage das jeden Tag.

In Ihrem Vorschlag zur Bewältigung der Schuldenkrise sprechen Sie von einem ganzheitlichen Entschuldungsmechanismus. Was verstehen Sie darunter?
Nun, wir haben die bestehenden Strukturen von Schuldenerlassen unter die Lupe genommen, weil sie überarbeitet werden müssen. Dabei ist uns klar geworden, dass alle Gläubiger in die Schuldenerlassinitiativen einbezogen werden müssen, auch die Geschäftsbanken, nicht nur die multilateralen Institutionen und die staatlichen Gläubiger, sondern eben auch die privaten. Alle Beteiligten müssen an einen Tisch, Schuldner und alle Gläubiger. Sonst wenden Gläubiger unterschiedliche Strategien an, die Privaten kassieren rücksichtslos weiter, die Öffentlichen erlassen nur teilweise nach eigenem Ermessen. Das ist der erste Schritt. Und danach muss dann überlegt werden, bei welchem Land reicht ein Moratorium, bei welchem Land muss es einen Schuldenerlass geben. Die Schuldentragfähigkeit muss Land für Land untersucht werden. Wo handelt es sich nur um eine zeitweise Krise und wo müssen grundsätzlich die Schulden umstrukturiert werden, weil das Land sonst keine Chance hat? Dann muss entschieden und schnell gehandelt werden. Aber das Wichtigste ist: Alle an einen Tisch, ein Abkommen, an das alle Gläubiger gebunden sind.

Ein All-Inclusive-Ansatz für Gläubiger wie sonst im Tourismus?
Ja, genau.

Sie haben Ihre Forderungen im Prozess der Entwicklungsfinanzierung auf der Ebene der Vereinten Nationen vorgetragen. Deutschland kommt hier durch seine derzeitige G7-Präsidentschaft eine besondere Rolle und Verantwortung zu, auch im Rahmen der Vereinten Nationen. Kann Deutschland mit der G7-Präsidentschaft Impulse setzen?
Wir würden es sehr begrüßen, wenn Deutschland seinen Einfluss geltend machen würde, damit die SIDS stärker in Schuldenmoratoriums- und Schuldenerlassinitiativen eingebunden werden würden. Wir brauchen zur Bewältigung unserer Dreifachkrise starke Partner. Deutschland ist potenziell einer. Deswegen führen wir hier Gespräche mit der Bundesregierung. Wir wünschen, dass sich die Bundesregierung in ihrer G7-Präsidentschaft und darüber hinaus für die Belange der kleinen Inselstaaten stark macht. Die internationale Gemeinschaft steht in der Pflicht, darauf zu achten, dass niemand zurückgelassen wird. Sie steht in der Pflicht, den kleinen Inselstaaten zu helfen, die den Klimawandel nicht verursachen, aber am stärksten unter ihm zu leiden haben. Die Verletzlichsten müssen geschützt werden.

Gibt es ein europäisches Land, das sich bereits besonders um die Belange der Inselstaaten verdient macht?
Wir haben bilaterale Partnerschaften mit einer Reihe von Ländern. Deutschland gehört da leider noch nicht dazu. Deutschland sollte sich einreihen, auch bei den Vereinten Nationen. Dort wird mit den SIDS an der Entwicklung eines Multidimensionalen Verletzlichkeits-Index (MVI) gearbeitet. Damit sollen die besonderen Bedürfnisse der kleinen Inselstaaten erfasst werden, die vom Pro-Kopf-Einkommen nicht zu den ärmsten Staaten der Welt gehören, aber besonders den Folgen des Klimawandels und externen Schocks ausgesetzt sind, die außerhalb ihrer Verantwortung liegen. Von den Änderungen der EU-Marktpräferenzen für Afrika-Karibik-Pazifik-Staaten über die globale Rezession nach der Lehmann-Pleite 2008 bis hin zum Klimawandel und zu COVID-19 sind die externen Schocks stets von anderen verursacht, beziehungsweise andernorts ausgelöst worden. Ein MVI mit globaler Beteiligung soll mehr Daten und ein besseres Verständnis für das Klimarätsel liefern, das wir alle zu lösen versuchen. Die MVI-Expertengruppe hat das Mandat des UN-Generalsekretärs António Guterres und wird vom Ministerpräsidenten von Antigua und Barbuda, Gaston Browne, geleitet, zusammen mit der ehemaligen norwegischen Regierungschefin Erna Solberg. Also Norwegen ist ein echter Partner für die kleinen Inselstaaten, Deutschland noch nicht. Wir sind auf der Suche nach mehr Partnern.

Wenn es um die Schuldenfrage geht, sitzen Sie nicht mit am Tisch. In der G7, der G20 oder dem Pariser Club hat die AOSIS keinerlei Stimme, im IWF und der Weltbank ist Ihr Einfluss minimal. Wie wollen Sie Ihren Einfluss stärken?
Prinzipiell sehe ich zwei Wege. Die demokratisch repräsentativste Organisation sind die Vereinten Nationen. Dort haben wir wenigstens eine Stimme, weil wir dort vertreten sind. Dort werden wir auch gehört. Wir haben die Frage der Folgen des Klimawandels dort mit auf den Tisch gebracht. Seit der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio sind wir eine einflussreiche Stimme. Die Aufmerksamkeit für den Klimawandel wurde durch uns gestärkt, nicht so schnell, wie wir es gewünscht hatten, aber es gab einen Wandel. Es wurden auch Verpflichtungen eingegangen, nicht voll umgesetzt, aber immerhin aufgrund unseres Druckes eingegangen. Wir werden diesen Weg fortsetzen und in den Vereinten Nationen auf einen Wandel drängen und wirken. Der zweite Weg sind bilaterale Partnerschaften wie hoffentlich auch bald mit Deutschland. Es ist ein langer Weg, aber wir arbeiten an diesem Wandel. Im Moment verdrängt der Ukraine-Krieg den Klimawandel und die Schuldenproblematik aus der globalen Aufmerksamkeit. Das können wir uns nicht dauerhaft erlauben. Die großen globalen Herausforderungen müssen gemeinsam bewältigt werden.

DEM NEOKOLONIALISMUS DEN KAMPF ANSAGEN

Treffsicher? Protestaktion gegen den G7-Gipfel 2022 in Elmau (Foto: Sofía Quesada)

Unter antikapitalistischen, antikolonialen und Klimagerechtigkeitsgruppen sorgen hochkarätige Treffen wie der jüngste G7-Gipfel in Elmau immer für Aufruhr, sind sie doch meist Ausdruck offensichtlicher Heuchelei. Denn G7, der informelle Zusammenschluss der sieben bei der Gründung 1975 bedeutendsten westlichen Industriestaaten, ist eine Inszenierung, bei der es kaum um kritische Themen geht. Stattdessen dient das Treffen dazu, die Schere zwischen Globalem Süden und Norden zu erhalten oder sogar zu vergrößern.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass mit den Vorbereitungen für G7 in Elmau auch Mobilisierungen für Gegenproteste einsetzten. Zusammen mit linken Gruppen aus Deutschland protestierten dann lateinamerikanische und afrikanische Aktivist*innen aus Gruppen wie der Karawane für das Leben, Debt for Climate, Fridays for Future oder der Riseup-Bewegung in der Umgebung des Gipfels. Das Bündnis „Stop G7 Elmau“ hatte damit auch jenen eine Stimme verschafft, die sonst selten diese Möglichkeit bekommen. „Ich bin den Neokolonialismus der G7 über unsere Leute satt. Wir wollen Gerechtigkeit für unsere Menschen, wir wollen, dass sie für den Kolonialismus des europäischen Kontinents über unsere Länder Verantwortung übernehmen”, sagte etwa die namibische Aktivistin Ina Maria Shikongo in München. Und man muss sich nur die verheerenden Auswirkungen der geplanten Ölbohrungen im Okavango-Delta in Namibia ansehen, um zu verstehen, wie teuer der Ölkolonialismus Länder und Gemeinden im globalen Süden zu stehen kommt. Die Geschichte erzählt es uns, denn es ist nichts Neues: In Afrika werden die natürlichen Ressourcen ausgebeutet, die Gemeinschaften leben in Armut und in ständigem Überlebensmodus.

Eng verbunden mit wirtschaftlichen Fragen zeigt sich auch der Kampf gegen die Klimakrise und für Klimagerechtigkeit. Es ist offensichtlich, dass die Klimakrise Folge jahrhundertelanger Ausbeutung ist, die nicht aufzuhören scheint. So erzählt Esteban Servat, Debt for Climate-Aktivist aus Argentinien: „Es geht nicht nur um Emissionen oder eine 1,5-Grad-Politik. Wir müssen zusammen gegen die Ausbeutung und den Kolonialismus des Globalen Nordens kämpfen.“ Wann wird der Globale Süden erfolgreich unabhängig? Zur wirtschaftlichen Ausbeutung gehören auch die hohen Schulden beim Internationalen Währungsfonds, von denen viele lateinamerikanische Länder derzeit betroffen sind. So entscheiden die G7 über die Schulden der Länder des Globalen Südens, während sie selbst Klimaschulden aufhäufen. Was wiegt da schwerer? So oder so bleibt es der Globale Süden, der am Ende den Schaden davonträgt. Sei es durch unüberwindbare Schuldenberge oder dadurch, dass Lebensräume indigener Gemeinschaften dem Erdboden gleichgemacht und ihre kulturellen Identitäten zerstört werden. Auch wenn Länder des Globalen Nordens behaupten, im Globalen Süden fehle es an Infrastruktur, geschieht das meist nicht, um die Lebensbedingungen der Menschen vor Ort zu verbessern. Stattdessen dient dieser paternalistische Vorschub als Hauptbegründung für die Durchführung von Infrastrukturprojekten, die die Gemeinschaften am Ende wieder ausbeuten. Zwei der zahllosen Beispiele hierfür sind der Interozeanische Korridor im mexikanischen Isthmus von Tehuantepec oder der Tren Maya (siehe LN 567), an dem auch die Deutsche Bahn AG als sogenannter Schattenbetreiber (Shadow Operator) lukrativ beteiligt ist. Angesichts der Schulden und Verzweiflung vieler Staaten des Globalen Südens werden die natürlichen Ressourcen dieser Länder zu Zahlungsmitteln. So bot der argentinische Präsident Alberto Fernández, der als Gast aus Lateinamerika zum G7-Gipfel eingeladen war, die Vaca Muerta, eine der größten Ölschiefer-Lagerstätten weltweit, als Alternative zum russischen Gas in der aktuellen Energiekrise an.

Und so bleibt die große Frage immer dieselbe: Wann wird der Globale Norden aufhören, die Länder des Globalen Südens zu beherrschen, zu verfolgen und zu verwüsten? Wird der Tag kommen, an dem diese Länder erfolgreich unabhängig sind? Irgendwann sicher, wenn der Aufstand gegen die Ungerechtigkeit weiter geht. So denken die Aktivist*innen, die gegen G7 protestieren ebenso wie die Autorin dieses Textes. Solange der gesellschaftliche Kampf sichtbar ist, solange die Solidarität keine Grenzen kennt, geht die Hoffnung nicht verloren. Doch im schlimmsten Fall ist es zu spät. Die Natur lässt uns keinen Aufschub mehr und die Folgen der Klimakrise werden irreparabel.

Doch vielleicht gibt es einen Faktor, der den Unterschied ausmachen kann: Die mutigen Menschen aus dem Globalen Norden, die sich ihrer Privilegien bewusst sind. Sie haben sich unermüdlich dem Kampf für Gleichberechtigung und dem Erhalt der Natur verschrieben. Sie wissen, dass ihre Stimmen ein anderes Gewicht haben und dass sie weiter gehen können, ohne größte Risiken einzugehen. Sie wissen, dass die Bewegungen im Globalen Süden sie brauchen, um mehr Reichweite zu bekommen. Sie wissen, dass ihr Status für den Wandel von Bedeutung ist.

Der Kolonialismus, über den wir in der Schule lernen und der uns an die alten Bücher erinnert, in denen Männer auf Schiffen reisen, scheint uns so weit weg. Doch er ist heute so präsent wie nie. Tag für Tag nimmt er neue und abartigere Ausdrucksformen an – manche sind offensichtlich, manche eher subtil. Wer das versteht, weiß, dass der intersektionale Kampf die einzige Lösung ist, um uns zu retten – uns alle. Denn wer weiterhin nur auf sein eigenes Portemonnaie achtet und sich im Vorteil des Glücks der Geburt im Globalen Norden wiegt; wer nicht versteht, dass dieser Kampf intersektional sein muss, der kann sich auch nicht selbst retten.

UMWELTRASSISMUS UND KLIMAKRISE

(Foto: Christian Russau)

Was ist Umweltrassismus? In Deutschland ist der Begriff nicht sehr geläufig, was können wir uns darunter vorstellen?
Thaís Santos: Ein Beispiel ist der Bezirk Perus am nordöstlichen Stadtrand von São Paulo. Dreißig Jahre lang wurde die Hälfte des gesamten Mülls aus São Paulo dorthin transportiert. Außerdem gibt es in Perus eine Zementfabrik, die massive Atemwegserkrankungen bei der Bevölkerung verursacht, die überwiegend Schwarz ist. Mülldeponien, die Entsorgung von gefährlichen Substanzen in unseren Flüssen, fehlende Abwasserentsorgung und Wasserknappheit – all dies ist Umweltrassismus, denn es passiert dort, wo die Schwarze Bevölkerung lebt. In São Paulo ist die Mordrate durch Polizeigewalt sehr hoch, aber die Folgen fehlender staatlicher Politik führen ebenfalls zu hoher Sterblichkeit. Wenn man nicht mit der Kugel tötet, dann eben mit dieser Nekropolitik, die sich als sehr effektiv erwiesen hat.

Eliete Paraguassu: Ich komme aus der Gemeinde Boca do Rio in der Region des Hafens von Aratu. Die Gemeinde ist jahrhundertealt, den Hafen gibt es erst seit den sechziger Jahren. Jetzt wurden seitens der Hafenbetreiber fünf Hektar Mangrovensumpf gerodet, der nicht nur die Bucht von Aratu ernährte, sondern die gesamte Meeresbucht Bahia de Todos os Santos, alle Gemeinden, die vom Fischfang leben. Die verantwortliche Firma heißt Bahia Terminais. Sie setzen Sprengstoff ein, um den Hafen so zu erweitern, dass dort große Schiffe entladen werden können. Der Hafen von Aratu wird immer noch ohne Umweltgenehmigung betrieben und ist unserer Meinung nach für die Belastung der Bucht mit Schwermetallen verantwortlich, zum Beispiel in der Gemeinde Santo Amaro. Umweltrassismus folgt einem Modell des Genozids.

Wie erleben Sie als Aktivistinnen, die sich vor allem mit den Themen Umweltschutz und Rassismus auseinandersetzen, aktuell Brasilien?
Eliete Paraguassu: Brasilien kriminalisiert die sozialen Bewegungen und traditionellen Gemeinschaften. Denn das politische Projekt der Regierung ist eines des Hungerns und des Sterbens der traditionellen Gemeinschaften, wie die der traditionellen Fischer, der Quilombolas, Indigenen und von Gemeinden in den Randgebieten der großen Städte. “Brasilien – ein Land für alle“ lautet der Slogan der Regierung. In Wirklichkeit ist es ein Land, das nur für das Kapital sorgt, nicht für die Menschen.

Ist das eine neue Entwicklung?
Thaís Santos: Die Schwarze Bewegung hat sich immer im Kampf befunden – sei es für unsere Territorien oder gegen die Verletzung von Menschenrechten. Während der Regierungszeit von Lula wurde einiges an Politik der öffentlichen Hand für die Schwarze Bevölkerung umgesetzt, aber im Vergleich zu dem, was uns historisch entgangen ist, war das immer noch sehr wenig. Und es wurde uns nicht geschenkt, sondern von der Schwarzen Bewegung erstritten.

Wieso verdient der Umweltrassismus in Brasilien besondere Aufmerksamkeit?
Thaís Santos: Die Klimakrise ist in ihrem Kern eine humanitäre Krise. Der Umweltrassismus ist ein Teil des strukturellen Rassismus in Brasilien. Man darf die Hauptpersonen der Klimakrise, nämlich diejenigen, die verletzlich gemacht werden und die unter den Folgen des Klimawandels leiden, bei den Lösungen nicht außen vor lassen.

Sie waren zuletzt in Schottland, Frankreich, Spanien und Deutschland unterwegs. Welche Anliegen haben Sie im Gepäck?
Eliete Paraguassu: Mit unserer Reise durch Europa möchten wir vermitteln, dass wir Unterstützung brauchen, um Brasilien international anzuklagen. Es ist ein Land der Schwarzen, sein politisches Projekt besteht aber darin, uns sterben zu lassen oder zu ermorden. Und internationale Firmen haben sehr dazu beigetragen. Wir reisen durch Europa, um das Netzwerk gegen Umweltrassismus und für soziale Umweltgerechtigkeit zu erweitern. Es gibt diesen Trugschluss, dass Brasilien sich im Dialog mit den traditionellen Gemeinschaften befindet. Aber das stimmt nicht.

Welche sind die nächsten Schritte für mehr Umweltgerechtigkeit in Brasilien?
Thaís Santos: Wir brauchen eine Vertretung im Parlament und im Senat, unsere Leute müssen an den Verhandlungstischen sitzen können, damit Umweltrassismus in den Mittelpunkt der Diskussion rückt. Wir brauchen keine Fürsprecher. Wir können für uns selbst sprechen. Wir bilden uns, wenn akademisches Wissen das ist, was sie fordern. Es gibt unzählige Schwarze Menschen, die dafür ausgebildet sind, um an den Diskussionen teilzunehmen. Aber es geht nicht so weiter, dass Umweltrassismus auf Weinerlichkeit reduziert wird, so wie das die brasilianische Regierung tut.

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