Tragische Königin im Zirkuszelt

Violeta Parra wurde 1917 in einem kleinen Ort im Süden Chiles geboren. Als ihr Vater, ein verarmter Dorflehrer, wenige Jahre später starb, besann sich ihre Mutter ihrer früheren Arbeit als Sängerin und tingelte mit ihren zehn Kindern jahrelang durch Zirkusarenen, Bars und Musikkneipen, den “Peñas”. Mit 15 Jahren kam sie nach Santiago, und gemeinsam mit ihrer Schwester trug sie in den Bars der Stadt die alten, von der Mutter gelernten Volkslieder vor und griff aktuelle Musik auf. Die dreißiger Jahre in Chile waren die Dekade der “Primera Onda Folklorica”, der ersten Volkslied-Welle. Das Volkslied war zu jener Zeit die Musik der städtischen Arbeiter und der Landarbeiterfamilien, die wegen der wirtschaftlichen Rezession in die Städte geflohen waren. Mit zwanzig heiratete sie einen fast doppelt so alten Eisenbahnangestellten, der ihr die Musik verbot, und bekam ihre beiden Kinder Angel und Isabel. Fast zehn Jahre sollte es dauern, bis sie sich aus dem Drama dieser Ehe befreite.

Volkslieder vor der Vergessenheit bewahren

Sie nahm ihre Gitarre bei der einen und ihre Kinder bei der anderen Hand und reiste kreuz und quer durch das Land, sang und begann, Lieder, die ihr unterwegs begegneten, aufzuzeichnen. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das ursprüngliche Volkslied in Chile vor der Vergessenheit zu bewahren. So sammelte sie mehr als 3000 Lieder und bekam dafür bei Radio Chilena gar eine eigene wöchentliche Sendung. Zu dieser Zeit entstanden auch ihre ersten selbst geschriebenen Lieder, die den traditionellen Rahmen der Volksmusik überschritten: Lieder voll zornigem Sarkasmus über die gesellschaftlichen Verhältnisse, zarte Liebeslieder, die jedes Klischee sprengten, eine Rückbesinnung auf die Rhythmen und Instrumente der Andenvölker. Violeta Parra war es, die fast vergessene Instrumente wie das Charango, die Zampona und die Quena wieder populär machte. 1954 wurde sie mit dem “Premio Caupolicán”, dem bedeutendsten Volksmusikpreis in Chile, ausgezeichnet.

Reisen für die Musik

Es folgten Jahre des Reisens, bis nach Europa, Skandinavien, und in die Sowjetunion. Allein in Paris blieb sie zwei Jahre, lernte dort Malraux und Sartre, Picasso und ihr großes Vorbild, Edith Piaf, kennen. Zurück in Lateinamerika, durchzogen ihre Wege auf der Suche nach Musik den ganzen Kontinent: Argentinien, Peru, Ecuador, Kolumbien und Bolivien. Wieder in Santiago, erkrankte sie schwer, blieb monatelang ans Bett gefesselt, lernte in der Zeit Töpfern, Malen und Weben, entfaltete darin ein derartiges Talent, daß sie bei ihrem zweiten Paris-Aufenthalt im weltberühmten Musée du Louvre ausstellte – als erste lateinamerikanische Künstlerin trat sie ein in den Pantheon der europäischen Kultur, damals eine Sensation.
Als sie 1964 abermals nach Santiago zurückkam, begann die Morgendämmerung der zweiten chilenischen Folklorewelle, die ohne sie nicht denkbar gewesen wäre. Zusammen mit ihren Kindern Angel und Isabel gründete Violeta Parra 1965 die legendäre “Peña de los Parra” im Zentrum Santiagos, und diesmal waren es die jungen Menschen, Arbeiter, Studenten, Schüler, die diese neue Bewegung emporhoben, die zu Violeta Parra kamen, um zu lernen: Victor Jara, Patricio Manns, die jungen Musiker von Illapu, Inti Illimani und Quilapayún. Sie errichtete am Rande von Santiago ein altes Zirkuszelt, Hommage an ihre Kindheit, und nannte es ironisch “La Carpa de la Reina”, das Zelt der Königin.

Selbstmord an der Schwelle zum Weltruhm

Hier fand man sie an einem lauen Sommermorgen des Jahres 1967 tot in ihrem Bett: Das Scheitern ihrer leidenschaftlichen Liebe zu dem Ethnologen Gilbert Favre, Geldsorgen, die Repressionen der Regierung Frei raubten ihr den Lebensmut, liessen sie sich selbst töten – an der Schwelle zum Weltruhm. Die Welle folkloristischer Musik, die Suche nach der Kraft der eigenen Wurzeln hatte den gesamten amerikanischen Kontinent erfaßt, für kurze Zeit die traditionellen kulturellen Grenzen überschritten. Posthum wurde ihr letztes Lied, interpretiert von der Nordamerikanerin Joan Baez, zu einem Welterfolg: “Gracias a la vida”.
In Chile selbst wurde sie zur Mutter des “Movimiento de la Nueva Canción Chilena”, der “Neuen Gesangsbewegung”, deren Schicksal sich eng mit dem Aufstieg und Fall von Salvador Allende, dem ersten frei gewählten sozialistischen Präsidenten Lateinamerikas, verbinden sollte. Allende war es dann auch, der gemeinsam mit Pablo Neruda den Trauermarsch für Violeta Parra durch die Straßen Santiagos anführte: Einen “Marsch tausender Menschen des Protestes, des unendlichen Bedauerns, der Blumen und der Tränen” (Patricio Manns).

Wildgewordenes Billardspiel

Die erste Frage, die auftaucht, de­finiert schon das Problem: Was ist Latin Jazz ? Die Verbin­dung música latina und Jazz scheint zu sugge­rieren, daß zwei unter­schiedliche Dinge kom­biniert sind, wobei die Dominanz auf letz­terem liegt. Nicht jazz latino – son­dern anscheinend eine Unterart des Jazz, Latin Jazz eben. Aber so ein­fach ist es nicht.
Fängt man an, eine kleine Phäno­menologie der Mu­sik zu ba­steln, in der sich Teile von música latina & jazz vermi­schen, stellt man er­schrocken fest, daß die Angelegen­heit schnell ausufert. Fangen wir einfach mal an, willkürlich aus den Vinyl- und CD-Regalen gezerrt und ohne jede Art von Anspruch auf Vollständigkeit:
W.C. Handys “St. Louis Blues” hat einen deutlichen Tango- Teil, im Spiel des Chica­goer Pianisten Jimmy Yancey fin­den wir Tango-Fi­guren in Hülle und Fülle, die Bässe sind oft Habanera-Linien. Astor Piaz­zollas Tango Nuevo wurde von Kritikern sofort als Jazz (dis)qualifiziert; wenn Piazzolla etwa mit Gerry Mulligan spielt, gibt’s keine Dis­kussionen. Der brasilianische Altsaxophonist Paulo Moura hat in den frühen 60er Jahren mit seinem Kollegen Cannon­ball Adderley funky Jazz ge­spielt, heute nimmt er in Brasi­lien Dinge auf, auf denen Latin Jazz draufsteht. Latin Jazz sind die Bossa-Nova-Hits von Stan Getz & Astrud Gilberto (wobei via Getz die jiddischen Klezmer-Traditio­nen, die Jazz auch hat, ins Spiel kommen). Jazz & Latin sind ver­mischt bei Bands wie den “Skatelites” aus New York, die eben Ska aufre­gend als Jazz spielen – oder Jazz als Ska ?. Der (weiße) Kalifor­nier Andy Narell spielt in einer Band des Ku­baners Paquito D’Rivera calypso­artige Steelpans – das nennt sich “The Caribbean Jazz Project”. Seit den vierziger Jahren und be­sonders seit Dizzy Gillespies Zusam­menarbeit mit di­versen kubanischen Percussio­nisten gilt “Cubop” als gesicherte Art des Latin Jazz, und Duke El­lingtons “Caravan”, eine Kom­position von Juan Tizol, ist ein Evergreen im Latin-Idiom. Lo­renzo Tio war um die Jahrhundert­wende ein einfluß­reicher Klarinet­tenlehrer in New Orleans, bei dem Heer­scharen von Jazz-Klarinetti­sten gelernt ha­ben. Manuel Pérez war Chef ei­nes Or­chesters, das als “typisch” für die Kindertage des Jazz gilt. In der Bronx von heute spielen in Forma­tionen wie “Jerry González & The Fort Apache Band” weiße und schwar­ze, anglo- und hispano­phone Menschen deut­lich Latin Jazz. Und die spannenden neuen Musiker des avan­cierten main­stream ha­ben Namen wie David Sánchez, Danilo Pérez, John Be­nítez oder Steve Berrios (und sind bei genauer Be­trachtung so jung gar nicht mehr). Gonzalo Rubalcaba aus Kuba spielt im avantgardistischen Free-Music-Idi­om, Fernando Tarrés aus Bu­enos Aires macht in größeren und kleineren Be­setzungen im­provisierte Musik irgendwo zwi­schen Free Jazz, Tango und eu­ropäischer Kunstmusik. Und nicht zu vergessen die Forma­tionen, die Latin Jazz in die Supermärkte ge­bracht haben: “Sergio Mendes & Brazil ’66” (ff.) und “Herb Alpert’s Tijuana Brass”. Der große Tenorsa­xophonist Joe Hen­derson weist immer wieder darauf hin, daß der funk von Horace Silver in den 60ern, der wi­der den blutleeren Ästhetizismus des (weißen) West Coast Jazz als Rückbesinnung auf die schwarze soul music , als back to the roots gefei­ert wurde, ganz entscheidende Latin-Züge hatte.

The spanish tinge of Jazz

Ralph Mercado, der Besitzer des Plattenkonzern(chen)s RMM und durch­aus skep­tisch zu be­trachtender “Händler” von La­tin Music aller Genres, versammelt die Creme des La­tin Jazz von Tito Puente über Mongo Santa­maria bis zu Giovanni Hildago, Eddie Palmieri und Juan Pablo Torres zu Mega-Sessions, die ganz gezielt die Funktion des be­rühmten Jazz at the Philharmony übernehmen wollen: Popularisie­rung mit­tels eines rie­sigen Staraufge­bots.
Und dann ist da natürlich noch die oft zitierte Äuße­rung ei­nes der Gründungsväter des Jazz: Jelly Roll Morton, der mit eini­ger Plausibi­lität be­hauptet, Jazz ohne den be­rühmten spanish tinge sei sowieso unvorstellbar. Er meinte dabei nicht die ibe­rische Halbinsel. Trotz­dem wühlte man bei Miles Davis’ “Spanish Key” aus dem epoche­ma­chenden “Bitches Brew”-Album verzwei­felt nach der einen Fla­menco-Figur, die im to­nalen Zentrum stecken soll, und übersah doch hin und wie­der, daß der ganze Titel über einen lupen­reinen boogaloo läuft.
Ad infinitum. Quer durch die Jahrzehnte, quer durch die Geogra­phie, quer durch vier Sprachräume: Spanisch, Portu­giesisch, Eng­lisch, Franzö­sisch. Will man diesen Wust sor­tieren, wird’s problema­tisch. Einmal, weil sich Musikgeschichte nicht nach den Be­dürfnissen von Klas­sifikationen richtet (zumindest solange die Musik noch lebt und sich so verändert, wie es ihr ge­fällt). Zum ande­ren, weil Defini­tionen ins Spiel kommen, die so­fort wieder un­sinnige Ausgren­zungen vornehmen müssen. Wer guten Gewissens meint zu wis­sen, was Jazz ist, der kann, wenn er auch noch guten Gewissens zu wissen meint, was Latin bedeu­tet, festsetzen, daß Latin Jazz eben Jazz ist, der mit la­teinamerikanischen Rhythmen ver­sehen, zum Vortrag ge­bracht wird. Zum Beispiel: Das SFB-Tanzorchester ohne Streicher, aber dafür mit zwei Conga-Spielern gibt “In the mood” (wobei ich auf­richtig hoffe, daß es dieses Beispiel nicht wirklich gibt). Latin Jazz ?
Oder: Wenn der kolumbiani­sche Pianist Héctor Martignon einen Titel einspielt, der auf ei­nem 7/4 Takt balkanesi­schen Ur­sprungs beruht, was dann ? Mar­tignons Kla­vierspiel ist nun­mal “jazzig”, weil er nach bestimm­ten Konventionen und Standards von Jazz phrasiert und weil er nach Maßgabe des un­notierbaren Phänomens Swing swingt (wir wissen alle, was swing ist, wenn wir es hören, resp. ver­missen; die mu­siktheo­retischen Grund­lagen kann ich hier nicht repro­duzieren). Akzeptieren wir mal, er spielt nach den Mustern von “Bebop” und “Postbop” oder “Neobop” oder wie auch immer die hier fällige Schublade heißt – und fügt dann zu den balkanesi­schen sieben Vierteln auch noch rhythmi­sche Figuren hinzu, die deut­lich lateinamerikani­schen Ursprungs sind – Latin Jazz ?
Oder: Was macht der Gitarrist Fa­reed Haque, der überhaupt nicht aus dem weiten ka­ribischen, gar afrokari­bi­schen Kontext, sondern aus einer pakista­nisch-chileni­schen Fami­lie kommt, sein Handwerk am Flamenco gelernt hat und plötz­lich in einem kuba­nisch/exil­kubanischen Reunion-Pro­jekt auf­taucht (demjenige der beiden Ex-“Irakere”-Musiker Arturo Sandoval und Paquito D’Rivera, die man wegen ihrer je­weils eige­nen Spielweise so­wieso nur als Jazz-Musi­ker be­zeichnen kann) und dort zwi­schen Bop und Rock alles spielt, was ge­rade ge­braucht wird? La­tin-Jazz?
Noch’n bißchen komplizierter: Die bei­den Bandoneon-Virtuo­sen Dino Sa­luzzi (aus Argen­tinien) und René Marino Rivero (aus Uruguay) benutzen für ihre sperrig-faszinierende Mu­sik alle Möglich­keiten, die ihnen Astor Piazzollas Tango Nuevo bie­tet, dazu die, die Free Jazz von der Sorte geöffnet hat, den man nicht mehr mit den Para­metern von swing etc., son­dern nur als “Entgrenzung” von einst ge­bundenen Spielwei­sen ver­stehen kann. Sowohl bei Saluzzi als auch bei Rivera ist der Tango noch da, in Taktpartikeln, in Rhythmus­fetzen und als “Atmo­sphäre”, aber er ist durch den Filter von Free Music gegan­gen. Latin-Jazz?

Wildgewordenes Billard­spiel

Man sieht: Ich benutze Jazz als Redekonvention, nicht als termi­nus technicus. Mit Latin meine ich alles, was süd­lich der USA anzusie­deln ist. Und be­gehe schon wieder eine grobe Verein­fachung. Es ist in der Tat so, daß wir unter Jazz eine Mu­sikform verstehen, die in den USA entstanden und zur Blüte ge­bracht worden ist. Aber was da in den USA entstanden ist, ist deswe­gen nicht zwangsläufig rein US-ame­rikanisch. Wie auch ? Die Musik­geschichte des Groß­raums zwi­schen New York City und Buenos Aires ist ein wild­gewordenes Billardspiel über viele Banden, die Andalusien heißen und somit Nor­dafrika, Westafrika und Böhmen, Bay­ern, Bretagne, Sizi­lien, Mexiko, Bra­silien, what ever. Wobei die Kugeln von jeder Bande mit neuen Schich­ten überzogen zu­rückkommen. Volks­musik aus Kasti­lien ge­riet auf Kuba mit westafrikani­scher Rhythmik zu­sammen, hüpfte als ob­zöne zara­banda nach Spanien zurück oder als lasziver Fandango, wurde nebst ein paar maurischen Ein­sprengseln von ei­nem italieni­schen Komponisten, der viel­leicht wie Boccherini gerade am verlot­terten Madrider Hof ge­strandet war, in die Musikspra­che des Spätrokoko umgegos­sen, geriet mit einem Liebha­ber an Bord eines englischen Kriegs­schiffes nach Sta. Lucia, wurde dort neu rythmisiert und ricochet­tierte fröhlich zwischen den Inseln umher, bis er in New Or­leans in das ein­floß, was man spä­ter Jazz nen­nen wird.Ver­mutlich könnten musikhi­storische Genies sol­che Reisen so­gar rekonstruie­ren.
Unzähliger sol­cher Kugeln sind un­terwegs, in alle Richtun­gen. Melo­dien, Liedformen, Ryth­men, Akzentu­ierungen, Instru­mente, Instrumentenbe­hand­lung, Texte, ti­mings – das ganze Sachwörterbuch der Mu­sik rauf und runter. Bläser zum Beispiel: Dizzy Gillespie, eine der ganz entschei­denden Figuren für Latin Jazz, hat seit den vier­ziger Jahren immer wie­der mit Latino-Mu­sikern gespielt – er saß in der Band von Machito (= Raul Grillo) und in der von Alberto Socarras, er holte Chano Pozo in seine Band und seitdem jeden, der Rang und Namen in der spa­nisch und portugiesisch spre­chenden Musik­welt hat. Umge­kehrt saß etwa der Kubaner Ma­rio Bauzá als musika­lischer Di­rektor dort, wo Harlem am “schwärzesten” war – in der Band von Chick Webb, bei dem (Spurensuche !) auch die junge Ella Fitzgerald ange­fangen hat.

Dizzy und Monk schätzten Latin

Wie man also Big-Band-Sätze arran­giert, das ist auch so eine Billardkugel. Be­sonders in­tensiv saust sie zwischen Kuba, Mexiko, Ko­lumbien und den USA hin und her.
Es gibt auch ein paar un­schöne, weil poli­tische Implika­tionen. Die allerdings haben vermutlich weni­ger mit den Mu­sikern und der Musik selbst als mit den Sekundärbearbeitern, den Vermarktern und den jewei­ligen ideologischen Kriegsge­winnlern zu tun.

Jazz oder Salsa

Dennoch, um ein paar Punkte kommt man nicht herum: “Schwarz” in den USA scheint nicht gleich “Schwarz” zu sein. Anglo­phone Schwarze und hi­spanophone Schwarze (resp. frankophone, resp. “brito­phone”, näm­lich Westindies) haben, folgt man den entspre­chenden Diskus­sionen, Pro­bleme, sich gegen­seitig wahrzuneh­men. Der ein­gangs zitierte Don Cherry ist eher die Ausnahme. Der Streit, der in den letzten Jahren als “Marsalis”-Debatte be­rüch­tigt gewor­den ist, zeigt die Bruch­stellen sehr schön: Es ging un­ter anderem darum, wer die Definiti­onsmacht über (nicht nur) den Teil der Black Culture hat, die man “Jazz” nennt. Die sogenannten “Neocons” um den Trompeter Wynton Marsalis wollen Jazz als die “klassische” Musik der Schwarzen mit einem normativen Kanon versehen, aus dem alles ge­tilgt ist, was ihre Definition überschreitet – grob gesagt von Louis Armstrong bis Thelonius Monk. Dazu ge­hört auch der Sünden­fall “Bitches Brew” von Miles Davis. Die an­dere Position, vertre­ten durch den Trompeter Lester Bowie, argu­mentiert für einen weit offe­neren Be­griff von Jazz, mit allen gesell­schaftspolitischen Impli­kationen. An einem Punkt ist man sich aller­dings fatal einig: Jazz sei eine anglo­phone Veran­staltung, ein Ding, das nur in den USA stattfin­de. Und was spa­nischsprachig ist, das trommele viel­leicht im Hinter­grund. An­sonsten handele es sich wohl um Salsa.
Achtung: Das ist arg verein­facht, hat aber ein Gran Wahr­heit. Der ent­scheidende Punkt für mich ist nicht, daß es sich dabei um einen un­schönen Re­flex auf die auch von anglo­phonen Schwarzen als Be­drohung empfundene Hispanisie­rung der USA handelt (und das Dumme an den “specs” ist, daß sie alle mögli­chen Schattierun­gen von Schwarz, Nicht-Schwarz, indí­gena und Braun aufwei­sen). Dies ist so­wieso eine de­moskopi­sche Tatsa­che und wird noch sehr schöne Pro­bleme ma­chen. Nein, der Punkt, der hier interes­siert, ist, daß das La­tin-Element verschwindet hin­ter ei­nem merkwür­dig idola­trisierten “Afrika” und somit ei­nem sehr eigen­artig blankgeputz­ten back to the roots. All die rhythmi­schen und tanzbaren Zaube­reien, die der La­tin-Jazz so wun­derbar und virtuos vorführt (ob sie aus Kolumbien oder Ve­nezuela stam­men, aus Kuba oder Santo Domingo), werden an­scheinend als au­thentisch “afrikanisch” be­griffen. Als ob diese Rhythmen und ihre wich­tige spezifi­sche Seman­tik aus den Jahren 1492ff. direkt und unverändert ins späte 20. Jahrhun­dert gesprungen sind. Als ob neben der rhythmi­schen Ge­nialität die me­lodischen und the­matischen Kompo­nenten von Musik, die aus den hi­spano- und franko­phonen Teilen Amerikas ins US-Amerikanische ge­drungen sind, keine Rolle ge­spielt haben. Da entsteht in man­chen Köpfen (und vor allem in einer flugs nachplap­pernden Publizi­stik) eine un­schöne, weil ganz und gar falsche “Sau­ber­keit”.
Die Verwirrung, die das Thema La­tin Jazz anrichten kann (und die ich hier bewußt ange­richtet habe), ist das be­ste Anti­dot gegen einfache Weltbilder. Was tun ? Musik hö­ren.

“Da sind ja auch unsere Kosten drin” – Kommissionärsverhandlungen á la Mauss

Wie in LN 272 berichtet, ist zu Beginn des Jah­res ein Ton­band mit kompromittierenden Telefon­gesprächen des deut­schen Multiagenten Werner Agenten Werner Mauss an die Öffentlichkeit ge­langt. Offenbar handelt es sich um wichtiges Be­weismaterial der kolumbiani­schen Staatsanwalt­schaft, die ge­gen das Ehepaar Mauss wegen “Mitarbeit bei Entführungen” ermittelt. Es wird damit gerech­net, daß in Kürze entweder An­klage erhoben wird oder aber die beiden freigelassen werden.
Eine der brisantesten Passa­gen des Tonbandes ist das fol­gende Gespräch zwischen Mauss und Jan Carlsen, Manager der dänischen Firma F.L. Schmidt, in denen beide über Höhe und Überga­bemodalitäten des Löse­geldes für die Freilassung von drei im Februar 1996 ent­führten Firmeningeni­euren verhandelten. F.L. Schmidt hatte zu diesem Zeitpunkt eine Million US-Dol­lar Lö­segeld ange­boten. Mauss übermittelte ein Gegenangebot von fünf Millionen US-Dollar und versuchte mit allen Mitteln und offensichtli­chem Eigeninter­esse, Carlsen zum Ein­gehen auf die Forderung der Ent­führer zu bewe­gen.

Mauss: Wir könnten jetzt nur eins machen, daß wir versu­chen, mit den Leuten nochmal auf un­serem Level zu reden und sagen also, ob sie damit einver­standen sind, daß das als Ge­samtpaket zu verstehen ist, die­ser Betrag …

Carlsen: Aber den Preis haben wir ja noch nicht, die haben das erste Angebot abgelehnt, und jetzt geht’s weiter.

Mauss: Die wollen bei fünf bleiben.

Carlsen: Ja, das geht nicht, das wissen Sie auch, das ist nicht der Preis in Kolumbien.

Mauss: Ja, also ich kenne, ich kenne nur Preise, die viel höher sind, das kann Ihnen auch der Minister (gemeint ist Bernd Schmidbauer; d. Red.) be­stätigen, der hat da durch seine Dienste genaue Informationen. Die Preise liegen im all­gemeinen so um fünf herum, zwischen fünf und acht und das ist so bei diesen Leuten hier. (…) Sie sagen, wenn wir diesen Preis akzeptieren, dann sind sie in einer Woche frei.

Carlsen: Glaub’ ich nicht.

Mauss: Ja, aber 100 Prozent.

Carlsen: Ich glaub’ das nicht. (…) Ich zahle fünf Millionen nicht.

Mauss: Sie müssen eins be­denken, in diesen fünf sind ja auch unsere Kosten drin, und es sind Kosten drin, für die Mittel ins Land zu bringen, für die Mittel in den Urwald zu fliegen.

Carlsen: Da brau­chen Sie sich nicht zu kümmern, das mach’ ich selbst. Das ist viel zu gefährlich für Sie, Sie sind eine humani­täre Organisation, das bin ich nicht (…) Das kann ich machen, das hab’ ich schon ge­macht.

Mauss: Was ma­chen Sie?

Carlsen: Ich will alle Mittel nach Ko­lumbien bringen, da ha­ben wir kein Problem.

Mauss: Zur Gue­rilla selbst?

Carlsen: Natürlich. Da brau­chen Sie sich nicht zu kümmern (…) Ich will auch selbst die Ge­fangenen transportieren und al­les, da gibt’s keine Kosten von Ihnen.

Mauss: Für uns ist es so, daß wir nur eine Sa­che komplett ma­chen können oder gar nicht, das hängt mit den sensiblen Mitar­beitern zusammen. Die ELN ist sonst nicht dazu bereit, aus Si­cherheitsgründen …
Monate später kam es schließlich zur Einigung, ganz offensichtlich unter Beteiligung von Werner Mauss. Am 15. September 1996 wurden die drei Ingenieure Dressel, Schulz und Halten freigelassen – die Firma F.L. Schmidt zahlte angeblich ein Lö­segeld von über zwei Mil­lionen US-Dollar. Im darauf fol­genden Entführungsfall “Brigitte Scho­ene” überspannte das Team Werner Mauss und Bernd Schmidbauer den Bogen: Die kolumbiani­schen Behörden, an denen erneut vorbeiverhandelt worden war, nahmen Mauss und seine Ehefrau fest.

Guerillero in Kolumbien: Zwischen Beru­fung und Beruf

Mit ihrer rund sechzigjährigen Geschichte gilt die kolumbiani­sche Guerilla als die älteste der Welt. Bereits in den dreißiger Jahren gründeten kommunisti­sche Rebellen in Viotá eine “unabhängige Republik”, die von der damaligen Regierung als “Ver­brechervereinigung” be­kämpft wurde. Der Ermordung des liberalen Partei­führers Gaitán im Jahre 1948 folgte ein Jahrzehnt des Bürgerkrieges (La Violencia) zwischen Liberalen und Konser­vativen mit über 300.000 Toten. Fortan waren Liberale und Linke starker Ver­folgung ausgesetzt, der sie sich mit einer Flucht in die Berge zu entziehen versuchten. Dort bildeten sich die er­sten “bäuer­lichen Selbstverteidi­gungs­grup­pen” zum Schutz ge­gen die Mörderkommandos der Konse­r­vativen.
Im Gefolge der kubanischen Revolution entstanden 1964 die ortho­dox kommuni­stisch orien­tierten “Revolu­tionären Streit­kräfte Kolum­biens” (FARC). Die heute an die zehntausend bewaffnete Kämp­fer­Innen zäh­len­den FARC sind die wichtigste und mächtig­ste Guerilla­gruppe. Ihr 67jähriger Grün­der Manuel Maru­landa Vélez alias Tirofijo (Scharf­schütze) ge­hört zu den großen Mythen der kolumbiani­schen Guerilla.
1965 gründeten Studenten und Ordensbrüder das castristische “Heer zur nationalen Befreiung” (ELN), in dessen Reihen später der berühmte Priester Camilo Torres kämpfte und fiel. Die ELN bekämpfte von Beginn an ne­ben der Armee auch die aus­ländi­schen Erdölgesell­schaften, die sie des Raubes an den nationalen Res­sourcen be­zich­tigt. Seit den achtziger Jahren spezia­lisierte sich die ELN auf die Sprengung von Ölpipelines – eine Strategie, mit der sie häufig Um­welt­katastro­phen auslöst.
Das “Volksheer zur Befrei­ung” (EPL), eine 1966 gegrün­dete, maoistisch orientierte Re­bellenbewegung, stellte sich sowohl ideologisch als auch mi­litärisch gegen die FARC. Ihre wichtigsten Führer sitzen heute in kolumbianischen Gefängnis­sen. Erbittert bekämpft die EPL jene abtrünnigen Mitglieder, die sich in der Gruppe Esperanza, paz y libertad (Hoffnung, Frie­den und Freiheit) zusammenge­schlossen und ein Friedensab­kommen mit der Regierung un­terzeichnet haben.
In den siebziger Jahren schließlich gründeten Jaime Ba­teman und Iván Ospina, einstige Mitglieder der FARC, die nicht­marxistische “Bewegung des 19. April” (M-19). Durch spektaku­läre “Robin-Hood-Aktionen” wie etwa den Diebstahl eines Schwertes Simón Bolívars er­regte M-19 in der Folgezeit Auf­sehen und gewann große Sym­pathien in der Bevölkerung. Nach einem Friedensschluß mit der Regierung erzielte die Grup­pierung Anfang der neunziger Jahre zunächst überraschende Erfolge. Die in sie gesetzten Hoffnungen konnte sie jedoch nicht erfüllen und verlor so rasch wieder an Bedeutung.
Ein weiteres parteipolitisches Projekt der kolumbianischen Linken fiel dem “schmutzigen” Krieg der Armee und der para­militärischen Truppen zum Opfer: Seit ihrer Entstehung 1985 hat die der kom­mu­ni­sti­schen Partei PCC nahestehende Unión Patriótica (UP) über 3.000 ermordete Akti­vistInnen zu verzeichnen.
Heute stellt sich angesichts der immer stärkeren Verwick­lung der Guerilla in Drogenhan­del und Entführungen unweiger­lich die Frage: Was ist von ihren Idealen noch üb­rig? Auch aus eigenen Reihen wird zunehmend Kritik wie die des ehemaligen FARC-Führers Au­gusto Zavala Molina laut: “Durch die Allianz zwischen der Guerilla und dem Drogenhandel sind die revolu­tionären Ziele verlorenge­gangen.” Dieser zu beklagende Werteverlust geht indes keineswegs mit einem Macht- oder Sympathieverlust einher. Im Gegenteil: Die ko­lumbianische Guerilla verzeichnet unver­ändert eine territoriale Expansion mit zunehmendem Einfluß in der Bevölkerung. War sie 1985 in 173 der 1.059 Ge­meinden Kolumbiens präsent, so besetzte sie im Jahre 1996 be­reits 569 Gemeinden. Zudem sympathi­sieren schätzungsweise 40.000 Personen mit der Guerilla, ohne unmittelbar einer ihrer Grup­pierungen anzugehören. Auf lo­kaler Ebene üben die Rebellen also reale Macht aus. Nur muß wohl stark bezweifelt werden, ob tatsächlich noch der politische Wille zu einer revolutionären Um­wälzung der Gesamtgesell­schaft besteht. Denn Guerillero zu sein scheint mehr und mehr zu einer Frage des Berufs und eben nicht der Berufung zu wer­den.

“Kunst: eine Leidenschaft mit Risiko”

Ein kühles, stilles Morgenlicht liegt noch wie ein zartes Luftgewebe über Barranco. Noch ist die Straße menschenleer, ab und an nur braust ein zeternd hupendes Taxi vorrüber oder ein scheppernder Bus poltert mit klirrenden Scheiben durch die Schlaglöcher. Die Calle Domeyer zweigt von der Hauptstraße ab, und sie endet schon nach wenigen Metern an einem Tor hoch über den Klippen der Bucht von Lima. Víctor Delfín, ein kleiner alter Mann mit in Würde zerfurchtem indianischem Gesicht, langem grauem Haar, die sehnigen Beine ragen aus farbbeklecksten Shorts, schaut einen Moment lang listig wachsam hinter seinen großen Brillengläsern hervor. Freundlich heben sich seine Augenbrauen, und er läßt ein in sein Atelier, vor dessen weiten Fenstern von Horizont zu Horizont der Pazifische Ozean tobt.
Geboren 1927 als Sohn eines Erdölarbeiters im Norden des Landes, verschenkte er bereits als Kind selbstgebastelte Spielzeugautos aus Holz, Draht, und Blechdosen, und als Schüler verkaufte er Zeichnungen, um sich Zeichenutensilien kaufen zu können. Mit zehn Jahren mußte er von der Schule, und wie so viele peruanische Kinder zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Jahre verbrachte er als Straßenhändler, Hilfsarbeiter in Fabriken und auf Baustellen, doch vom Zeichnen ließ er nie. Er bestand die Aufnahmeprüfung für den Eintritt in die Kunstakademie von Lima, seinerzeit für einen Bewerber ohne Schulabschluß eine Sensation, die ihm ein Stipendium einbrachte.

Eine Generation von Künstlern auf der Suche nach ihren Wurzeln

Lateinamerika schien in den fünfziger Jahren nach Krieg und Zuwandererwelle kulturell neu zu erwachen. Der Kunststudent Víctor Delfín stürzte sich in die Bohème von Lima, die so sein wollte wie jene in Paris oder New York.
“Zu Beginn habe ich all diese “-ismen” aufgesaugt wie ein trockener Schwamm, die Befehle der Generäle Bréton, Picasso, Henry Moore, beinah bis zur Selbstvergessenheit. Doch da gab es in mir einen rebellischen Geist, der mir keine Ruhe ließ, der fragte: Wo bleibt die Seele?” Er ging auf die Suche, und gehörte zu jener Generation peruanischer Künstler wie auch Alberto Quintanilla, Tilsa Tsuchiya und Fernando de Szyzlo, die ihre indigenen Wurzeln neu entdeckten in einer Zeit, in der die politische und kulturelle Nomenklatura des Landes voller rassistischer Ressentiments und Ignoranz auf die “cholos”, wie sie Mestizen und Indios abfällig nennt, herabblickte. Nicht etablierte Ausstellungen und Wettbewerbe besuchte diese junge Generation, sondern Dörfer und Märkte und Werkstätten, sie stiegen hinauf nach Macchu Picchu, durchschritten die Ebenen von Nazca, studierten in den Museen die lustvolle, bunte Formenwelt der Keramiken und der farbenprächtigen, meisterhaft gewebten Stoffe präkolumbiner Kulturen. Während Künstler wie Szyzlo die Farben und Formen der indigenen Tradition in ihre abstrakte Malerei zu integrieren suchten, wandte sich Delfín dem Figurativen zu.

Bilder von Alltagsszenen im Altiplano

Nach Abschluß seines Kunststudiums wurde er Dozent und schließlich Direktor der Kunstakademien von Puno am Titicacasee und Ayacucho, Zentrum des peruanischen Kunsthandwerks. “Ich ging morgens auf den Markt von Ayacucho, sah die Stoffe aus Lamawolle, Hüte, Sättel aus Leder, kleine Spielzeugkühe aus Quinoafasern, so vieles und mehr, und fühlte mich wie in einer riesigen Akademie”. In dieser Zeit entstander flach und geometrisch wirkende, rationalistische Bilder; Landschaften und Porträts, streng durchkomponiert und in traditionellen Farben gehalten. Bilder von täglicher Arbeit: Maurerkolonnen auf dem Gerüst, Marktfrauen mit ihrer Ware, der Bauer auf der Scholle. Die Farbe des Bildes atmet den herben Duft der Erde des Altiplano. Dem Kulturministerium war dies schon zu revolutionär: Delfín wurde von seinem Posten entlassen.
Er ließ das reaktionäre Lima hinter sich, ging nach Santiago de Chile. Die sechziger Jahre lösten hier eine Welle der Rückbesinnung auf die kulturellen Wurzeln Lateinamerikas aus. Pablo Nerudas “Canto General” erscholl über den Kontinent, Violeta Parra machte das chilenische Volkslied populär, und ihre Kinder Angel und Isabel Parra gründeten die Bewegung des “Neuen Gesanges”. Einige Jahre lebte Delfín mit den Parras, aus seinem Atelier im Zentrum Santiagos wurde später gar die legendäre “Peña de los Parra”, wo auch Víctor Jara seine ersten musikalischen Schritte wagte. Delfín gab Zeichen- und Malkurse an den Kulturinstituten von Los Condes und Providencia. Erst hier bekam er das Gefühl, seine künstlerische Identität gefunden zu haben.

“Retablos” – eine Brücke zum Mestizo-Barock

Das Resultat seiner Suche, “den Durst nach der Wirklichkeit zu stillen”, waren seine bemerkenswerten “Retablos”, bemalte flache Kästen mit räumlichen Szenen, mit denen er eine Brücke schlägt zu den berühmten “Retablos” von Ayacucho, bemalten Tafeln oder mit prunkvollen Goldschmiedearbeiten gestaltete Tryptichone mit religiösen oder anekdotischen Szenen, die einst Kirchen- und Hausaltäre schmückten und zu den herausragensten Arbeiten des sogenannten Mestizo-Barock gehören. In seinen “Retablos” ersetzte Delfín das traditionelle Thema zunächst durch die plastische Umsetzung von Methaphern der populären Poesie, wie z.B. einem Schwarm Tauben oder Rosetten von Blüten, später gar durch erdachte, illusionistische Elemente aus Metall, Holz und Gips.

Ein Skulpturengarten auf den Klippen vor der Stadt

Er kehrte zurück nach Lima, kaufte eine heruntergekommene Villa in Barranco, das zu jener Zeit, den späten sechziger Jahren, nicht mehr als ein verschlafener Küstenort war. Nach Delfín entdeckten weitere Künstler, Schriftsteller, Dichter, Intellektuelle den beschaulichen Ort mit der Kolonialkirche und der baumüberdachten Plaza, wo das Zwitschern der Vögel morgens noch den Verkehrslärm übertönt, und machten ihn zu einer “Künstlerkolonie” von kontinentalem Rang, nicht zuletzt Delfíns Freund und Weggefährte Mario Vargas Llosa, der vor seiner Übersiedlung nach Spanien nach seiner Niederlage im Präsidentschaftswahlkampf 1990 gegen Alberto Fujimori in unmittelbarer Nachbarschaft wohnte.
Im Laufe der Jahre erlebte das Haus auf den Klippen vor Lima gleichsam eine kreative Explosion. Den Garten mit Blumenbeeten in versteckten Winkeln und windumtosten Terassen zieren zahlreiche Skulpturen, die Wände in seinem Atelier hängen voller großer Ölbilder. In manchen Porträts liest sich der Kommentar des Künstlers, das ganze Spektrum seiner Leidenschaften: Der liebevolle Blick, den ihm seine Tochter erwidert, eine Mischung aus Trotz und Zuneigung im Gesicht einer Freundin, der schneidende Schmerz des Christus, der von den Bajonetten des peruanischen Militärs durchbohrt am Boden liegt, der dumme, ignorante Ausdruck im feisten rosa Gesicht eines Generals, der mit seinem fetten Hintern auf einer Staatsflagge sitzt, die notdürftig einen Berg Totenschädel verhüllt.
“Wenn jemand verrückte Ideen hat, Ideen von Rebellion, von Weite angesichts der Natur, dann drückt er sie aus, und somit manifestiert sich das Ich, das Persönliche, das Unverwechselbare. Die Kunst ist kein Beruf, sie ist eine Leidenschaft, der man sich hingibt mit allen Risiken. Ich male keine angenehmen Themen, es gefällt mir zu streiten, wenn ich ausstelle.”
“Nur wenn ich gegen meinen eigenen Erfolg rebelliere, kehre ich zu den Wurzeln zurück und entwickle mich fort. Ich mache mir keine Schwierigkeiten über das Ziel, daß ein Kunstwerk haben könnte. Ich sehe die Kunst weder als eine Art Wettbewerb, noch glaube ich, daß ich eine Art Erleuchteter bin, der anderen den Weg vorgeben könnte.”

Monumentale Skulpturen aus Schrott und Wut

Mit der Rückkehr nach Lima wuchs in Delfín die Wut über die Ignoranz, die ihm begegnete. “Als ich nach Barranco kam, war ich ein sehr unruhiger Mensch, mit einem Ruf hin bis zur Gewalttätigkeit. Ich nahm ein paar Stücke Eisen, Schrott, Abfall- und fing an, meine ganze Wut, Frustration auszudrücken gegen diese rassistische Gesellschaft, wie ich sie erlebt habe, man nannte uns “diese cholos, diese negros”. Ich habe all dies wahrgenommen und mein “Bestiarium” (eine Serie großer, wuchtiger Tierplastiken aus Stahl) geschaffen: Jedem Stück verpaßte ich ein gewaltiges Geschlechtsorgan, groß, gewalttätig. Und unvorstellbarerweise genau das Publikum, daß ich damit angreifen wollte, jene die ihr Schäfchen im Trockenen haben, hat diese Sachen gekauft wie verrückt.”
Erst als Bildhauer eroberte sich der studierte Maler seinen Platz in der Kunstszene: Es folgten Ausstellungen, Verkäufe, Preise in Peru, in Chile, Ecuador, Kolumbien, schließlich schaffte er den Sprung nach Nordamerika, blieb zwölf Jahre lang in New York. Eine eigene Galerie im Greenwich Village, Ausstellungen im Hauptquartier der OAS, Versteigerungen bei Sothebys, Empfänge, Vernissagen.
Und doch zog es ihn wieder zurück nach Peru, nach Lima, nach Barranco. Seit Anfang der achtziger Jahre lebt er wieder ständig dort und hat den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Niedergang Perus in Zeiten von Militärdiktatur und Terrorismus durchgestanden.
Das Peru der späten achtziger und frühen neunziger Jahre war ein Staat in Auflösung. Der “Sendero Luminoso”, die maoistische Guerilla des “Leuchtenden Pfades”, rief zu einem “reinigenden Blutbad mit einer Million Toten” auf und trieb den Terror bis in das Zentrum von Lima. Bombenanschläge und Schießereien in den Straßen, das öffentliche Leben erlahmte, die Menschen trauten sich vor Angst nicht mehr aus den Häusern. Angesichts von Wirtschaftskrise und Terrorismus war das Regime von Präsident Alan García nicht mehr Herr der Lage.
Auch für Víctor Delfín begann eine Zeit der Isolation und der Furcht – nicht nur um die physische Existenz, sondern auch um das geistige Überleben in einer Zeit, in der “an Kunst, an Glück, an Liebe nicht zu denken war”.
Eine dröhnende, bleierne Stille herrscht in der verwaisten Skulpturenwerkstatt, aus Mangel an Leinwand werden alte Bilder übermalt. Sein früher zügelloser, aufbrausender Charakter ist einer beständigen, kämpferischen Natur gewichen, die nicht weniger leidenschaftlich ist.

Ein “Park der Liebe” für ein Land in der Krise

Stärker als je zuvor fühlte er sich mit seinem Land und seinen Mitmenschen verbunden, und er machte ihnen auf dem Höhepunkt der Krise ein herrliches Geschenk, daß ihn schlagartig im ganzen Land bekannt machte: Einen Hymnus an die Liebe, den “Parque del Amor”. Der Park, auf einem Felsen am Meer im Stadtteil Miraflores gelegen, ist zu einem Wallfahrtsort für Liebespaare aus dem ganzen Land geworden. Die geschlängelten Umfassungsmauern mit zahlreichen verborgenen Sitznischen und Durchbrüchen, gaudiesk bunt gefliest, sind geschmückt mit Zitaten aus den schönsten Liebesgedichten peruanischer Dichter, laden ein zum Verweilen und Entdecken.
“Ich denke, daß man als Künstler die Gabe hat, seine Sensibilität auszudrücken. Wie könnte ich unempfindsam sein angesichts eines vergewaltigten Mädchens, eines toten Kindes, eines verschwundenen Studenten? Wie kann man da still sein? Wie kann man sich isolieren, wenn man aus dem Haus geht und nur Elend, Unordnung, Korruption, Gewalt sieht? Die Jahre des Terrors, gegen den Staat und von ihm ausgehend, haben viele von uns hartherzig gemacht, wir haben einen Teil unserer Seele verraten. Man hat mich in den letzten Jahren gelehrt, demütig, bescheiden, standhaft zu sein, die Stirn zu bieten, keine Angst zu haben…Carajo!”
Überraschend gewann 1990 der japanstämmige Agraringinieur Alberto Fujimori, ein populistischer Außenseiter, die Präsidentenwahlen. Die ökonomische Krise und die ersten Folgen der neoliberalen Wirtschaftsreformen brachten das Land an den Rand des Abgrunds und das soziale Pulverfaß zum explodieren. Im April 1992 putschte Fujimori mit Hilfe des Militärs gegen sein eigenes Amt, setzte die Verfassung außer Kraft, löste das Parlament auf und stattete sich selbst mit weitreichenden Vollmachten aus. Die folgende Großoffensive der Armee gegen die zahlreichen im Land operierenden Guerillabewegungen brachte mit der Verhaftung von “Sendero”-Chef Abimael Guzman einen großen Erfolg, der das Land weitgehend befriedete. Die Wirtschaftsreformen griffen, stoppten die rasante Inflation und führten zu einem bescheidenen Wachstum. Doch der Preis dafür ist hoch. Steigende Arbeitslosigkeit, die Schere zwischen arm und reich klafft weiter auseinander, an den grundsätzlichen Problemen hat sich nichts geändert. Fujimori schaffte die demokratische Verfassung ab, ersetzte sie durch ein autokratisches, ihm beinah absolute Macht garantierendes Gesetzeswerk. Eine beispiellose Terroristenhatz überzieht das Land mit dem Ergebnis, daß tausende “Verdächtiger” zum Teil seit Jahren ohne Prozeß in Haft sitzen. Noch heute “verschwinden” Menschen spurlos, oder werden auf offener Straße vom Geheimdienst entführt, wie es zum Beispiel kurz vor Weihnachten dem Ex-General Robles geschah, der die Verbindungen des Chefs des Geheimdienstes SIN und engsten Fujimori-Vertrauten, Víctor Montesinos, zur Drogenmafia enthüllte.

Eine Ausstellung für die Verschwundenen

Das Massaker der Armee an neun Studenten und einem Professor der Universität von La Cantuta, der ein enger Freund von ihm war, weckte in Delfín sein politisches Engagement. Er hat die Menschenrechtsorganisation APRODEH mitbegründet, und als Fujimori 1995 alle uniformierten Menschenrechtsverletzer, unter ihnen auch die Täter von La Cantuta, generalamnistierte, rief er eine Initiative gegen das Amnestiegesetz ins Leben. Seitdem schreibt er Zeitungsartikel, spricht auf Demonstrationen, setzt sich für Gefangene ein. Mit einer Ausstellung in seinem Haus in Barranco, rief Delfín im Juni letzten Jahres zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema der “Desaparecidos”, der Verschwundenen, auf. “Es wurde klar, wie sehr das Thema von der Angst aus der Öffentlichkeit verdrängt ist, wie groß aber auch das Interesse an der Wahrheit ist. Wir entreißen die “Desaparecidos” ihrer Anonymität, zeigen, daß sie Individuen waren, keine Zahlen, genauso wie ihre Mörder.”
Die Geiselnahme in der japanischen Botschaft durch ein Kommando der MRTA war auch für Delfín ein Schock, er fürchtet um die relative Stabilität im Land. Nach den verfehlten Hoffnungen der Regierung, Peru könnte ein ökonomischer “Tiger” Lateinamerikas werden, und nachdem sich jetzt zunehmend die Folgen des radikalen Ausverkaufs von Staatsbetrieben zeigen, galt der “Sieg über den Terrorismus” als Fujimoris größter politischer Erfolg. Ein Trugschluß, wie sich nun zeigt. Für Víctor Delfín sind die eigentlichen Probleme des Landes grundsätzlicherer Natur. “Welche Art von Land sind wir? Wir wissen, wir sind spät dran und haben eine wichtige Verabredung mit der Zukunft, also beeilen wir uns und entscheiden, welche Art von Modernität wir wollen: Die Erfahrungen der Industrieländer nutzen, ihre Fehler vermeiden, das Beste unserer Kultur retten und Bewußtsein zu erlangen für unsere Identität, so werden wir eine menschlichere Gesellschaft erreichen.”

Ein steinernes Meer auf der Säule

Zur Zeit arbeitet Delfin an einer Skulptur auf dem Kreisel von Chimbote, einer Hafenstadt im Norden Perus, einer elf Meter hohen Säule, mit mehrfach durchbrochener Positiv-Negativ-Ornamentik , die an Escher erinnert. “Ich habe mir Leute von dort gesucht, ganz einfache Handwerker. Ich weiß um ihr Erstaunen, wenn man sie aus ihrem Schema herausreißt. Einer der immer nur gerade Steinmauern hochzieht wird verrückt, wenn er einen Zylinder machen soll, und wenn dieser Zylinder auch noch Bilder trägt. Sie sind stolz auf das was herauskommt und fühlen sich als ein Teil des Ganzen.”
Die Skulptur steht auf dem Verkehrsknoten von San Pedrito, wo täglich hunderte von Autos, Bussen und Lastern vorbeikommen auf dem Weg nach Norden oder zurück. “Hier stellen wir den ganzen Reichtum des Meeres dar, das alte Peru, daß sich von Fisch ernährte, das gegenwärtig ist bei den Mochica, ihren Keramiken, ihren Stoffen, gegenwärtig in Paracas, Nazca und Chanchán. Das Meer ist gegenwärtig in meinen steinernen Pelikanen, den Krebsen, den großen Fischen, den gigantischen, die Formen abstrahierend, denn man kann die Natur nicht imitieren. Man zieht aus ihr die Kraft, die Zartheit, die Farben, schließlich die Atmosphäre; die Farbe, die eine Landschaft hat, kann manchmal nur ein Künstler erfassen.”
Barranco taucht wieder zurück in die Dunkelheit. Wenn man über die “Puente de Suspiros” geht, die Seufzerbrücke, unter der die “Pirañitas”, jugendliche Taschendiebe, lauern, kommt man zu einem Aussichtspunkt auf der Klippe, von wo man die Schaumkronen der Wellen wie weiße Würmer über das Wasser tanzen sieht. Tief unten zieht ein Ausflugsdampfer in weitem Bogen durch die Bucht, ein Tango hallt herauf. In Barranco erwacht ein brodelndes Nachtleben, die Bars und Diskotheken sind “in” bei den Jugendlichen aus dem mondänen Nachbarort Miraflores, chic gekleidete, wohlduftende Teenies heizen in glitzernden japanischen Geländewagen um die Plaza. Während eines dieser zeternd hupenden Taxis hält, klingt noch der letzte Satz von Don Víctor in mir nach, kurz bevor er das große Tor hoch über den Klippen hinter mir schloß. “Das Einzige, was ich weiß ist, daß weder Du noch ich unendlich sind. Das menschliche Wesen, die menschlichen Leidenschaften sind das Zerbrechlichste.”

Argentiniens Kampf gegen die Haare

Summa summarum war Ar­gen­tinien in den letzten 20 Jah­ren die er­folg­reichste la­tein­ame­ri­ka­ni­sche Mann­schaft. Zweimal Welt­meister (1978 und 1986) und zweimal Amerikameister (1991 und 1993). Seitdem ist al­ler­dings der Wurm drin. Bei der Qua­lifikation zur WM 94 setzte es in Buenos Aires mit dem 0:5 ge­gen Kolumbien die höchste Heim­schlappe in der Länder­spiel­geschichte, bei der WM selbst wurde Maradona des Do­pings überführt und Argentinien schied ohne ihn und den ver­letz­ten Caniggia bereits im Ach­tel­fi­nale aus. Der Trainer Al­fredo Ba­sile wurde entlassen und durch Maradonas Intimfeind Da­niel Passarella ersetzt. Passarella, der Kapitän der Weltmeister­trup­pe von 1978, ist bis heute sauer auf Maradona, den Welt­mei­ster­ka­pitän von 1986. Der Grund: Pas­sarella gehörte 1986 noch zum WM-Aufgebot und hätte als er­ster Argentinier zum zweiten Mal Weltmeister werden können. Spie­len durfte er indes nicht, sei­ner Meinung nach we­gen Mara­do­na, der ihm den Ruhm nicht gönnte und deswe­gen für José Luis Brown als Li­bero plädierte. Je­denfalls stellte Trainer Carlos Bi­lardo Brown auf, Argentinien wur­de Weltmei­ster und die In­tim­feindschaft Passarella-Mara­do­na nahm ihren Lauf.
Kettenraucher Passarellas er­ste Amtshandlung war denn auch ziel­gerichtet: Spieler mit langen Haaren und/oder mit Ohrringen hät­ten in der Nationalmannschaft fort­an nichts mehr zu suchen. Klar wem diese Maßnahme in er­ster Linie galt: dem ohrbe­ring­ten Maradona und dessen lang­mäh­nigem Freund Caniggia. Ei­ne glatte Überreaktion, war doch Ma­radona wegen seines Do­ping­ver­gehens ohnehin 15 Mo­nate ge­sperrt und damit für die Na­tio­nal­mannschaft kein Thema. Ca­nig­gia wiederum war in Europa wie­der einmal auf Ver­einssuche un es war äußerst un­klar, ob er über­haupt weiter für die Aus­wahl spielen wollte. Über­re­ak­tion aber insbesondere des­we­gen, weil neben Caniggia auch zwei andere Starspieler der Mann­schaft, Mittelfeldspieler Fer­nando Redondo und Torjäger Gab­riel Batistuta lange Mähnen zier­ten.

Der Trainer als Frisör

Die Reaktionen fielen un­ter­schiedlich aus: Caniggia wollte erstmal eine Pause einle­gen, Redondo machte klar, daß sei­ne langen Haare ein Teil sei­ner Persönlichkeit seien und er un­ter diesen Bedingungen nicht wei­ter spielen würde, Batistuta be­suchte hingegen flugs den Fri­sör und ließ sich die Haare schnei­den. Für ihn stand auch am mei­sten auf dem Spiel. Schließ­lich war er auf dem besten We­ge, Maradona als Rekordtor­schütze der Nationalmannschaft zu verdrän­gen, Pausen à la Ca­nig­gia kämen da ungelegen.

Die Krise geht weiter

Passarellas erstes Turnier, die Copa America 1995 in Uruguay, wur­de zum Fehlschlag. Mara­do­na ließ sich von seinem Feri­enort ein­fliegen, begutachtete die Spie­le und lästerte über die Dar­bie­tungen. Vor allem die bla­mab­le 0:3 Niederlage gegen die USA gab ihm dafür reichlich Muni­tion. Das unglückliche Aus­schei­den gegen Brasilien folgte auf dem Fuß, der Hausse­gen hing schief. Nur noch ein knap­pes Jahr bis zur Qualifika­tion und der argentinische Fuß­ball in der großen Sinnkrise. Zwei Tur­nie­re hintereinander frühzeitig ge­scheitert, die ein­stige Tur­nier­mann­schaft par ex­cellence be­gann an sich zu zwei­feln.

Ein haariger Kompromiß

Maradonas Sperre war unter­des­sen abgelaufen und Caniggia nach Argentinien zurückgekehrt. Bei seinem letzten Klub in Eu­ro­pa, Benfica Lissabon, war Ca­nig­gia wegen unmotivierten Auf­trit­ten bei den Fans derart in Un­gna­de gefallen, daß er auf of­fener Straße eine Abreibung ver­paßt be­kam. Daraufhin kehrte er der eu­ropäischen Diaspora den Rük­ken, zumal Maradona bei Boca Ju­niors sehnsüchtig auf seinen er­klärten Lieblingsmit­spieler war­tete. Wenn sie zu­sammen spiel­ten, harmonierten sie wie Zwil­linge. Wenn, denn oft war der eine oder der andere verletzt, be­ziehungsweise wegen roter Kar­ten gesperrt. Titel blie­ben so für Argentiniens populär­sten Club Boca Juniors de Bue­nos Aires aus.
Dennoch geriet Passarella zu­neh­mend unter Druck. Er mußte den Kader für das erste Qualifi­ka­tionsspiel gegen Bolivien be­nen­nen und Caniggia spielte im­mer stärker. Wiedereinmal mischte sich der Fuß­ball­fan und Staatspräsident Menem ein. Caniggia sei unver­zicht­bar, Maradona eigentlich auch, aber der würde ja nicht mehr wollen.
Was nun Passarella?
Caniggia zeigte sich kom­pro­miß­bereit. Um ganze drei Zen­ti­me­ter ließ er sich die Haare schnei­den. Passarella konnte an die­ser Geste des guten Willens nicht vorbeigehen und berief Ca­nig­gia ins Aufgebot. Alles in But­ter, da sich das Problem Re­don­do wegen dessen Verletzung zu diesem Zeitpunkt nicht stellte. Caniggia kam, sah und siegte. Ar­gentinien schlug Bolivien 3:1, Caniggia wurde zum man of the match gewählt und der große Fa­vo­rit schien wieder auf den Er­folgs­pfad zurückgekehrt zu sein.

Ecuadors bolivianische Taktik

Nach dem Heimspiel in Bue­nos Aires stand das Auswärts­spiel in Ecuador an. Ecuador konnte sich noch nie für eine Welt­meisterschaft qualifizieren. Bis 1994 hatten sie diese Bilanz mit Bolivien gemeinsam. Boli­vien setzte damals auf die Karte La Paz, Fußball in der Höhe von 3600 Meter, da geraten die Flach­landbewohner aus Argenti­nien, Uruguay und Brasilien aus der Puste. Nun, Ecuador besann sich seiner geographischen und kli­matischen Möglichkeiten und terminierte die Partie auf High Noon in der Höhe von 2700 Me­ter in Quito bei Temperaturen von 28 bis 30 Grad. Passarella be­zeichnete die Höhe als zusätz­li­chen Spieler Ecuadors. Mit 20 Li­tern Sauerstoff sollte dieser zu­sätzliche Spieler bekämpft wer­den. Es war vergebens und der ecuadorianische Torwart Car­los Morales behielt Recht: “Ba­tistuta und Caniggia werden Schwindel­anfälle bekommen und sich zeitweise nicht bewegen kön­nen”. Das argentinische Stür­mer­duo war wirklich nur ein laues Lüftchen, die 0:2 Nieder­lage die logische Konsequenz. Ecua­dor hat nebenbei bemerkt mit dieser Strategie vier seiner bis­herigen fünf Heimspiele ge­won­nen, nur gegen die Allklima­spie­ler aus Kolumbien gabs eine 0:1 Niederlage. Auch die Aus­wärts­bilanz Ecuadors spricht für sich: drei Spiele, ein Tor, null Punkte. Bisher reicht das für den vier­ten Platz.

Zurück in der Krise

Das nächste Auswärtsspiel Ar­gentiniens war nun in Perus Haupt­stadt Lima. Ausreden gebe es hier nicht, meinte Passarella. Mit viel Glück konnten die Ar­gen­tinier ein torloses Unent­schie­den retten. Neben dem Tor­wart Burgos war Abel Balbo der auf­fälligste Spieler Argenti­niens: Mit einem brutalen Foul setzte er sich gekonnt in Szene und durfte schon nach einer hal­ben Stunde duschen gehen. Ca­niggia übte nach dem Spiel Selbstkritik: “Ich schä­me mich nicht, zuzugeben, daß ich gegen Peru schlecht ge­spielt habe. Ich suche keine Ent­schul­digungen, ihr (die Medien) müßt schon die fragen, die nach Ent­schuldigun­gen suchen.” Vor­erst war es wiedereinmal das letzte Spiel Caniggias. Seit Juli 1996 macht er wieder Pause, suchte bisher erfolglos einen Ver­ein in Europa und befindet sich nun wieder in Ver­hand­lun­gen mit Boca, wie auch Spezi Diego Maradona.
Ohne seinen gewohnten Sturm­partner Caniggia machte sich Gabriel Batistuta im näch­sten Spiel gegen Paraguay auf die Socken, Maradonas Länder­spiel­torrekord von 34 zu über­bie­ten. Ein Schuß, ein Tor und Batigol hatte sein Ziel erreicht. Die Show wurde ihm dennoch ge­stoh­len. Im Tor Para­guays steht nämlich José Luis Chi­la­vert, Torhüter und Torjäger in ei­ner Person. Der Keeper des ar­gen­tinischen Vereins Velez Sars­field hatte vor dem Spiel an­ge­kün­digt, einen Treffer zu ver­sen­ken. Nichts ungewöhnliches für Chi­lavert, der schon über 30 Elf­meter- und Freistoßtore zu Buche stehen hat. Er hielt Wort, schnapp­te sich kurz vor Ende des Spiels den Ball und traf mit ei­nem Freistoß zum 1:1 Endstand. Ar­gentinien war schwer getrof­fen. Ausgerechnet der Gastar­bei­ter. Wenige Tage später stand eine Sportgerichtsverhandlung an. Chilavert hatte während eines Punkt­spiels eine leichte Tätlich­keit begangen, die nun schwer ge­ahndet wurde. Mehrere Mo­na­te Ausschluß vom Spielbetrieb lau­tete das erste Urteil. Chilavert war mit Recht sauer und kün­dig­te seinen Weggang aus Ar­gen­ti­nien zum Jahresende 1997 an. Das Urteil wurde revidiert, Chi­la­vert spielt und trifft weiter, aber nicht immer. Kürzlich ver­lor er seinen Nimbus als unfehl­ba­rer Elfmeterschütze und ver­sieb­te gleich deren zwei in einem Punkt­spiel. Paraguay hat es indes in erster Linie seinen Leistungen zu verdanken, daß es nach Ab­schluß der Vorrunde hinter Ko­lum­bien an zweiter Stelle steht, punkt­gleich mit dem Ersten und ge­radezu selbstverständlich mit den wenigsten Gegentoren.
Argentiniens Selbstbewußt­sein war heftig angeknackst, ge­gen Mannschaften wie Peru und Pa­raguay nicht zu gewinnen, war reich­lich ungewohnt. Venezuela kam da als Aufbaugegner gerade Recht. Jahrelang hatte das vene­zo­lanische Team kein Länder­spiel gewinnen können, von Punk­ten bei Qualifikationsspie­len ganz zu schweigen. Diesmal stand derweil schon ein Punkt aus dem Spiel gegen Chile zu Buche, deren Trainer daraufhin zu­rücktrat. Gegen Argentinien lang­te es immerhin zu einem Füh­rungs- und Anschlußtor. Zwei Tore in einem Spiel. Die Vene­zolaner hatten getroffen wie nie zuvor und doch verloren wie fast immer. Überzeugen konnten die Argentinier trotz ihrer fünf Tref­fer nicht, das Ziel Selbstbe­wußt­sein für die anstehenden Spie­le zu tanken, schlug fehl.
Die folgenden zwei Spiele gegen Chile und in Uruguay brach­ten das alte Leid. Krampf und Kampf und zwei schmei­chel­hafte Unentschieden. Und nur noch vier Wochen bis zum letz­ten Vorrundenspiel beim bis dato ungeschlagenen Tabellen­füh­rer Kolumbien. Unterdessen glänz­te der wiedergenesene Re­don­do beim designierten spani­schen Meister Real Madrid wäh­rend Passarella ungewohnte Töne von sich gab. Hatte er noch eini­ge Monate zuvor Maradona als abschreckendes Beispiel für den argentinischen Fußball be­zeich­net, jammerte er nun ge­gen­über dem Präsidenten von Lazio Rom, Dino Zoff: “Argentinien sehnt sich nach großen Namen. Wie Italien, das Zoff, Bettega, Causio und Paolo Rossi verloren hat. Wir in Ar­gentinien haben kei­nen Mara­dona mehr, das ist viel schlim­mer.” Maradona zu be­rufen kam im natürlich nicht in den Sinn, zum einen war die­ser vereinslos und zudem hatte er in seiner vor­erst letzten Spielzeit bei Boca vorallem dadurch auf sich auf­merksam gemacht, daß er sage und schreibe fünf Elf­meter hin­tereinander ver­schos­sen hatte. Von den gegnerischen Fans ver­spottet, von Selbst­zwei­feln ge­plagt, machte er sich dann zwecks Entziehungskur und Er­ho­lung Richtung Europa auf, um nach seiner Rückkehr nun wieder die Medien mit immer neuen Ver­tragsvorstellungen auf Trab zu halten. Maradona also nicht, den vereinslosen Caniggia auch nicht, da blieb nur noch Re­don­do. Dieser wurde berufen, kam aber nicht. Der Streit um die Haare war für ihn noch aktuell und in der Annahme, daß er sei­ne Haare mindestens um drei Zen­timeter kürzen müßte, sagte er ab. Batistuta war zudem we­gen einer Formkrise nicht mal be­rufen worden, so daß Argenti­nien zum ersten Mal seit der WM ohne einen der drei damali­gen langhaarigen Leistungsträger Re­dondo, Batistuta und Caniggia an­trat. Argentinien gewann 1:0 und ist nun Dritter. Die Zeichen ste­hen seitdem wieder auf Kurz­haar­schnitt, aber bis zur WM 1998 ist noch Zeit und Caniggia wird nicht ewig Pause machen.

Mauss’sche Missionen auf dem Holzweg

Im Januar hat die Affäre Mauss in Kolumbien kaum noch Wel­len geschlagen. Stärker in den Vordergrund gerückt sind da­gegen die ersten Geplänkel des Wahl­kampfvorjahres 1997, die Ver­bindungen zwischen Armee und paramilitäri­schen Banden in Ura­bá, der “wirtschaftliche Not­stand”, den die Regierung Sam­per ausrief, um die prekäre Haus­halts­lage zu stabilisie­ren, die lä­cher­lich geringen Gefäng­nis­stra­fen gegen die Drogen­bosse Ro­drí­guez Orejuela und last but not least die Be­ziehungen zu den USA: Be­kommt die Regierung am 1. März die heißbegehrte “Be­schei­nigung” des Lehrmei­sters aus dem Nor­den (siehe LN 262), daß sie sich diesmal aus­rei­chend im “Drogenkrieg” en­ga­giert hat?
In diesem Zusammen­hang gab der oft als kolumbianischer “Vi­ze­könig” titulierte US-Bot­schafter Myles Fre­chette der Zeitung El Tiempo ein viel­be­achtetes Interview, in dem er auch auf die angeblichen Ver­mitt­lungsversuche der Bun­des­re­gie­rung im Som­mer 1996 ein­ging: “Zu kei­ner Zeit (…) ha­ben sich Herr Kohl und Herr Clin­ton per­sönlich über Kolum­bien aus­ge­tauscht, weder telefo­nisch noch schriftlich. Ebenso­wenig ha­ben nordamerikanische und deut­sche Regierungs­beamte den Fall Kolumbien besprochen (…) In der zweiten Juliwoche 1996 teil­te dieser Minister Schmid­bau­er amerikani­schen Diplomaten in Deutschland mit, daß er in Deutschland mit der ko­lum­bi­a­ni­schen Regierung und dem Cali-Kartell zu verhandeln ge­denke, und frag­te, ob die ame­ri­kanische Re­gierung an ei­ner sol­chen Ver­hand­lung interessiert sei. Wir lehn­ten das sofort strikt ab.”
Die deutsche Botschaft de­men­tierte diese Version und be­ton­te hingegen – ganz im Sinne Schmidbau­ers – die Bemühungen um einen Friedensprozeß, über die die USA informiert worden sei­en. In die gleiche Richtung läuft die Verteidi­gungsstrategie von Werner und Ida Mauss, die von Anfang an den angeblich hu­ma­nitären Charakter ih­rer Mis­sionen hervorgeho­ben haben. Kurz vor Weih­nachten richtete Isa­bel Sei­del alias Ida Mauss ein recht pathetisches Schrei­ben an den Gouverneur der Provinz An­tioquia, in dem sie auf einen Friedensplan zu sprechen kam, “der sich in Eu­ropa mit der Unterstüt­zung mehrerer Regie­rungen entwickelt hat­te”.
Unter anderem sei ein Waf­fen­stillstand vorgesehen gewe­sen; die Guerilla sollte in der Über­gangsphase fi­nanziell unter­stützt werden, um sich nicht durch Entführungen finanzieren zu müssen. Außerdem hät­ten die so­ziale Entwicklung, das Erzie­hungs­wesen und der Umwelt­schutz vorange­trieben werden sol­len. Schließlich beklagte sie “das Schicksal Kolumbiens (…), wenn seine Bürger (…) nicht nur an sich selbst dächten, sondern an die anderen und an das Ge­mein­wohl, gäbe es keine Aus­län­der, die das Land ausbeuten.”

Mauss in der Falle

Die unfreiwillige Iro­nie des letzten Satzes wird wohl erst deutlich, wenn man sich den Einsatz von Wer­ner Mauss für Siemens (siehe oben und vgl. LN 271) und sein Eingreifen in den Entführungsfall Brigitte Schoene vor Augen hält. Schmidbauer und selbst der Spiegel, wenn auch nur zwischen den Zeilen, brin­gen Verständnis für die “un­kon­ventionellen Metho­den” des Agenten in einem so chaoti­schen Land wie Kolum­bien auf. So soll die ziemlich undiploma­tische Vor­gehens­weise der Möch­te­gern-Groß­macht Deutschland ver­tuscht wer­den, die die ko­lum­bi­anische Regie­rung nur sehr spär­lich über die Mauss’schen Machenschaften in­formiert hatte.
Das eigenmächtige Vorbei­agie­ren an den ko­lumbianischen Be­hörden bei den Verhandlun­gen in mehreren Entführungs­fäl­len rächte sich mit der Fest­nahme von Werner und Ida Mauss. Offenbar waren die bei­den im Oktober und November 1996 beschattet und ihre Ver­haftung von langer Hand vorbe­reitet worden. Ulrich Schoene wollte die Freilassung sei­ner Frau unter Einschal­tung der Po­lizei und der britischen Firma Control Risks Group er­reichen und unterbreitete den Entfüh­rern ein erstes Angebot über 250 000 US-Dollar. Auf Anregung des In­te­rims-Bot­schafters Vor­werk je­doch traf er sich mit Mauss, der sich als Jür­gen Seidel vor­stellte und seine Dienste anbot. Er wisse über Kontakte mit dem ELN (Heer zur nationalen Be­freiung), daß sich Bri­gitte Schoe­ne in der Ge­walt von Paramili­tärs befinde, und könne inner­halb von zwei Wochen ihre Frei­las­sung errei­chen; allerdings müs­se ein Löse­geld von bis zu 1,5 Millionen US-Dollar gezahlt werden.
Schoene lehnte dankend ab, doch sein ursprüngli­cher Kon­takt­mann ließ wochenlang nichts von sich hören. Mauss meldete sich erneut, Vorwerk bestärkte Schoene, und dieser ließ sich schließlich auf die “un­kon­ven­tio­nel­le” Variante ein. Das Ende dieser Epi­sode ist be­kannt, nicht je­doch, ob und wie­viel Löse­geld floß.

Kompromittierendes Tonband wird den Medien zugespielt

Der Niedergang des deutschen Multiagenten Werner Mauss scheint eine längere Vorgeschichte zu haben als bisher angenommen: Offenbar be­kamen einige kolumbianische Behörden bereits Wind von seinen Aktivitäten, als er monatelang in einem komplexen Entführungsfall ermittelte. Nun wurde den Behörden ein Tonband mit meh­reren Telefongesprächen über diesen Fall zuge­spielt, die ein Mitarbeiter der dänischen Firma F.L. Schmidt mit dem deutschen Ingenieur Karl-Heinz Dressel und einem Herrn Weber geführt hatte. Bei Weber handelt es sich eindeutig um Werner Mauss.
Was war passiert? Vor rund einem Jahr, am 5. Februar 1996, hatte das ELN (Heer zur nationa­len Befreiung) bei San Luis südöstlich von Me­dellín drei ausländische Ingenieure, den Deutsche Karl-Heinz Dressel, den Dänen Ulrich Schulz, den Engländer Philip Halten und Diego Blandón, ihren kolumbianischer Chauffeur gekidnappt. Die Mitarbeiter von F.L. Schmidt waren auf dem Rückweg von Wartungsarbeiten an einer Anlage, die die Zementfabrik Cementos Rioclaro von die­ser Firma F.L. Schmidt gekauft hatte.
Als erster erlangte überraschend schnell Karl-Heinz Dressel die Freiheit wieder. Bereits am 11. März meldete er sich in Deutschland zurück. Mauss’ Erklärung: “Wir haben ja nun diese Ver­bindung für die anderen Konzerne in Deutsch­land. Und deswegen ist er frei, reiner Zufall.” Später bezieht sich Mauss noch einmal “auf die Firma, mit der wir hauptsächlich zusammenar­beiten” – nach allem was inzwischen bekanntge­worden ist, liegt es nahe, Siemens dahinter zu vermuten.
Aus den Aufnahmen geht auch die große Ent­täuschung Dressels hervor, dem der Agent ver­sprochen hatte, seine Kollegen würden sieben bis zehn Tage später ebenfalls freikommen, was nicht eintraf. Nur mit Mühe konnte er von dem dänischen Firmenmitarbeiter davon abgehalten werden, die Presse zu verständigen.
Die brisantesten Passagen sind zweiffellos jene, in denen Mauss versucht, den gewitzten Mit­ar­bei­ter von F.L. Schmidt zum Eingehen auf die For­de­run­gen der Entführer zu bewegen. Denn obwohl Mauss die ELN wiederholt als “Ter­ror­or­ga­ni­sa­tion” bezeichnet, dramatisiert er die Lage, um die dä­nische Firma einerseits zur Zahlung ei­nes Lö­se­gel­des von mindestens fünf Millionen US-Dollar zu bewegen, andereseits soll sich sein Ge­sprächs­par­tner in Kolumbien dafür einsetzen, eine “Frie­dens­lösung” zwischen Ce­mentos Rio­cla­ro und der ELN herbeizuführen. Die Me­de­llí­ner Firma hatte sich nämlich stand­haft ge­weigert, Schutzgelder an die Guerilla ab­zuführen.
Mehrfach erwähnt Mauss in den Telefonge­sprächen einen “Herrn S.” in Bonn, der über “viele Er­kenntnisse” verfüge und der doch von den Dä­nen konsultiert werden sollte. Ein anderes Mal soll­te der dänische Mitarbeiter einen hoch­ste­hen­den kolumbianischen Industriellen zu ei­nem “Frie­dens­gespräch” ins Kanzleramt lotsen, “da sind sie doch anders beeindruckt, aber man sollte die ko­lum­bianische Regierung rauslassen.” Offenbar scheiterte der quirlige Hobbydiplomat hier, wie auch beim “großen” Friedensprozeß.
Dressels Freunde wurden schließlich am 15. Sep­tember freigelassen. Bei dieser Gelegenheit kri­tisierte der Gouverneur Antioquias, Alvaro Uribe Vélez, vehement die Zahlung des Lösegel­des von angeblich über zwei Millionen US-Dollar und forderte: “Die deutsche Regierung und die deut­schen Firmen müssen unserer Provinz die Wahr­heit über ihre Abkommen mit der Guerilla sagen.”
Das vom ELN angestrebte Stillhalteabkommen mit Cementos Rioclaro kam nie zustande. Auf­grund zahlreicher Anschläge auf ihre Stromlei­tungen durch das ELN mußte die Zementfabrik von Mitte Oktober bis Ende November den Be­trieb ein­stellen. Die Gegend um Cementos Rio­claro ist heute ein von paramilitärischen Gruppen und den ELN-Guerillaverbänden heiß umkämpf­tes Terri­to­ri­um.

Nebenaußenpolitik mit Hauptabsichten

In der Nacht vom zwölften auf den dreizehnten Dezember 1996 kam es im Parlament in Bogotá zu einer denkbar knap­pen Abstimmung in Sa­chen” Kampf gegen die Narco-Mafia”: Mit 59 zu 57 Stimmen wurde die Gesetzesvorlage der Regierung verabschiedet. So wi­dersprüchlich wie die Regierung von Staatspräsident Ernesto Samper ist, dem nicht nur von der US-Regierung vorgeworfen wird “das Bett mit der Dro­genmafia zu teilen” (US-Senator Jesse Helms), so widersprüch­lich ist das Gesetz selbst: Es er­möglicht einerseits die Ausliefe­rung von Drogenbossen an die USA, “das einzige”, so der Kor­respondent der “Frankfurter Rundschau”, Ulrich Achermann, “was die Größen im kolumbiani­schen Kokaingeschäft wirklich fürchten”.(1) Gleichzeitig sieht es die Möglichkeit der Vermö­gensbeschlagnahmung bei Dro­genbaronen vor, allerdings nur von solchem, das seit 1991 an­gehäuft wurde. Die bisher gel­tenden gesetzlichen Regelungen, die auch die Beschlagnahme von in den achtziger Jahren ange­häuften Vermögen ermöglichten, wurden aufgehoben. So bleibt unter anderem das Drei-Milliar­den Dollar Erbe des Drogenbos­ses Pablo Escobar verschont.
Verwundern kann die Wider­sprüchlichkeit des Gesetzes und die knappe Abstimmung indes kaum. Wurde doch im Hochsi­cherheitsgefängnis von Bogotá in der Zelle der Gebrüder Rodri­guez Orejuela, den Bossen des Cali-Kartells, eine lange Liste mit den Namen von Abgeordne­ten gefunden. Jede einzelne Par­lamentarier-Stimme soll ihnen 25.000 US-Dollar wert gewesen sein.
Dieses Gesetz wäre vermut­lich noch günstiger für die Dro­gen-Bosse ausgefallen, wenn nicht wenige Wochen vorher eine deutsche Nebenaußenpolitik in Kolumbien in einem “Scherbenhaufen” (Norbert Gan­sel) geendet hätte. Wieder ein­mal wollte die Bundesregierung die auf­steigende Weltmacht spie­len. Der Berg kreißte und gebar die sprichwörtliche Maus(s). Und die sitzt nun selbst im Hochsi­cherheitsgefängnis in Kolumbien mit denjenigen Drogen-Baronen ein, denen sie freies Geleit und eine Legalisierung ihrer Vermö­gen ermöglichen wollte.

Umrisse der Bonner Nebenaußenpolitik

Fünf Mosaiksteine charakteri­sieren das Bild der Bonner Ne­benaußenpolitik in Kolumbien – also einer geheimen, über die of­fizielle Bonner Politik hinausge­henden Version.
Erstens: Seit etwa 1984 ist die Bundesrepublik in Kolumbien mit einer Nebenaußenpolitik prä­sent. Von Anbeginn wurde sie durch den “Privatagenten Mauss” personifiziert. Dieser war mindestens bis Ende der siebziger Jahre mit offiziellem Auftrag deutscher geheimer Dienste aktiv. Unter anderem war es Klaus Kinkel als Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND), der diesen zwielichtigen Undercover-Agenten für den Pullacher Dienst verpflichtete. Im Dezember 1996 mußte der BND anläßlich der Verhaftung von Mauss in Kolumbien zuge­ben, daß dieser seit 1984 in Ko­lumbien aktiv war und daß diese Aktivitäten von der Bundesregie­rung – so Schmidbauer in der Parlamentsdebatte – “positiv be­gleitet” wurden. Dadurch werden andere Aktivitäten von Mauss in diesem Zeitraum in ein völlig neues Licht – und in Regierungs­nähe gerückt. (2) Darauf wird zurückzukommen sein.
Der entscheidende Hebel, mit dem diese Nebenaußenpolitik umgesetzt wurde, war der Ein­stieg in die “Entführungs­industrie”. Mit die­ser Branche sind viel Geld und somit Einflußmöglichkeiten ver­bun­den. Da es sich hier aller­dings um einen illegalen Wirt­schaftszweig handelt, lag der Einsatz eines Privatagenten nahe, von dem die Bundesregierung gegebenenfalls hätte sagen kön­nen, sie wisse nichts von dessen Handeln.
Der Einstieg in die Entfüh­rungsbranche öffnete zugleich den Zugang zur Guerilla. Mauss scheint bereits damals das be­sondere Spiel getrieben zu ha­ben, mit dem er auch im Sommer 1996 im Fall von Frau Schoene, der Ehefrau eines BASF-Mana­gers, die Lösegeldforderungen steigerte. Der Guerilla verhalf er so zu besonders hohem Gewinn und sich zu einer verbesserten Verhandlungsposition.
Der SPIEGEL berichtete über einen solchen Deal Ende der achtziger Jahre:
“Der Mannesmann Konzern wollte damals eine 700 Kilome­ter-Pipeline von den kolumbiani­schen Ölfeldern an die Karibik-Küste verlegen – mitten durch das Guerilla-Gebiet. Die Rebel­len der ELN drohten mit Sabo­tage und Entführungen. Der da­malige Projektleiter erinnert sich heute voller Verachtung an den Helfer Mauss. Der habe Räuber-und-Gendarm gespielt, als die Guerilla ein Camp und wert­volles Baugerät gesprengt und die ersten Geiseln genommen hatte. Er habe das Leben der Geiseln gefährdet. Um die Gue­rilla ruhigzustellen, ließ Mauss im Dschungel Kindergärten und Hospitäler bauen. Er soll zusätz­lich einige Millionen Dollar an die klammen Rebellen gezahlt haben…Guerilleros gäben keine Quittungen, sagt Zipfel lako­nisch. In Anbetracht der Be­scheidenheit der Forderungen der Guerilla war es absolut schleierhaft, warum man Herrn Mauss beauftragt hat, wundert sich Zipfel noch heute.” Der Fall Mannesmann war in Kolumbien damals ein Politikum. Die Regie­rung in Bogotá erließ ein Gesetz, das ausländischen Firmen das Zahlen von Schmier- und Löse­geldern verbietet. Mittlerweile will die Regierung nur noch vorab informiert werden.(3)
Herr Zipfel mag recht haben, daß der Mauss-Einsatz aus wirt­schaftlicher Sicht keinen Sinn machte und nur teuer war. Vor dem Hintergrund der skizzierten Nebenaußenpolitik jedoch, ma­chten die Mauss-Aktivitäten durchaus politischen Sinn.
Zweitens: Bis 1994/95 hatte sich die Bonner Regierung in internationalen Kreisen einen solchen Namen im kolumbiani­schen Entführungsgeschäft ge­macht, daß Bonn – und hier Schmidbauer und Mauss – als er­ste Adresse in Entführungsfällen von FirmenvertreterInnen galten.
Dänische und italienische FirmenvertreterInnen, die in Kolumbien entführt wurden, sollen unter Einschaltung der Bundesregierung und Mauss wieder die Freiheit erlangt haben – nach Übermittlung erheblicher Lösegeldzahlungen.
1996 war es schließlich der Entführungsfall von Vertretern der argentinischen Stahlfirma Techint, der im fernen Bonn ge­löst werden sollte. Dazu ein Auszug aus der Bundestagsde­batte: Volker Beck (Bündnis 90/Die GRÜNEN): “Können Sie uns erklären, wie argentinische Unternehmen überhaupt auf die Idee kommen, sich in einem sol­chen Fall an die Bundesregie­rung beziehungsweise an das Bundeskanzleramt zu wenden, um in dieser Frage zu vermit­teln?” Bernd Schmidbauer: “…Ich gehe davon aus, daß Geschäfts­verbindungen der Fir­ma zu ande­ren Firmen, die von Geiselnah­men betroffen sind, der Grund dafür sind, daß sich ein Land wie Argentinien …mit der Bitte um Hilfe an uns wendet.”(4)
Dieses starke deutsche Enga­gement im kolumbianischen Gei­selgeschäft hatte den Nach­teil, daß damit Mauss’ Aktivitä­ten der Konkurrenz, zum Bei­spiel dem CIA, nicht geheim bleiben konnten.
Andererseits erhöhte sich da­mit natürlich das Gewicht dieser Nebenaußenpolitik und damit der Einfluß von Bonn/Mauss bei der Guerilla und bei der kolum­bianischen Regierung mit dem steigenden Umsatz im Geiselge­schäft.
Drittens: Mitte der neunziger Jahre scheint bei der Bonner Re­gierung der Eindruck entstanden zu sein, der in Kolumbien er­reichte Einfluß sei groß genug, um ein großes Rad zu drehen. Der Gedanke reifte, in Sachen “nationaler Konsens” in Kolum­bien zu vermitteln – mit eigenen Hintergedanken und Interessen. Im Dezember 1996 sollte es in Kolumbien zur Bildung eines “Runden Tisches” kommen, an dem Regierung und Guerilla Platz nehmen sollten. Einer der Vermittler sollte dabei Daniel Ortega sein, mit dem es, so Schmidbauer, “in Bonn ein lan­ges Gespräch gab.” (5)
Im Rahmen dieses Runden-Tisch-Projekts wollte dann auch Kanzler Kohl sich als Friedens­stifter feiern lassen. Ein Treffen zwischen Schmidbauer und Samper in New York, das im Sommer 1996 stattfand und an dem auch Werner Mauss teil­nahm, diente der Vorbereitung. Die Tatsache, daß Samper zu seinem Besuch in New York bei der UNO ein US-Visum benö­tigte und die US-Presse den ko­lumbianischen Präsidenten als jemanden bezeichnete, der ge­meinsame Sache mit den Dro­genbossen machte, deutet bereits auf den nur mühsam verborge­nen Interessenkonflikt zwischen Bonn und Washington hin.
Teil dieses Aussöhnungspla­nes war auch der Versuch, den Drogenbossen eine legale Basis zu verschaffen. So wurde in ei­nem gemeinsam von einem Be­auftragten der kolumbianischen Regierung und Schmidbauer ent­worfenen “inoffiziellen schrift­lichen Angebot” am 29. Mai den Drogenhändlern garan­tiert, daß sie bei Selbststellung nicht an die USA ausgeliefert würden und Teile ihres Vermö­gens zur Gründung einer neuen beruflichen Existenz im Ausland behalten dürften.(6) Offensicht­lich waren sich die Bonner Strippenzieher sehr sicher, daß sie kurz vor einem außenpoliti­schen Durchbruch standen. Der Staatsminister fürs Grobe, Bernd Schmidbauer, wurde in der zi­tierten Bundestagsdebatte an ei­ner Stelle ausgesprochen heftig, als Norbert Gansel davon sprach, dieser habe “eine außenpolitische Initiative gestartet, die nun ge­scheitert” sei.
Darauf Schmidbauer: “Herr Gansel, ich widerspreche ihnen ganz entschieden, daß dies ge­scheitert ist. Die Sondierungsge­spräche waren sehr erfolgreich. Die ersten Bemühungen…zur Bildung eines Runden Ti­sches…sind so gelaufen, daß des­sen Bildung fest auf Anfang De­zember terminiert war. Ich wi­derspreche ihnen ganz entschie­den.” (7)
Viertens: Eine gewisse Rolle bei der beschriebenen Bonner Nebenaußenpolitik spielten die Interessen deutscher Konzerne. Das Projekt von Mannesmann wurde bereits erwähnt. Der Sie­mens-Konzern verfolgt im Land ebenfalls wirtschaftliche Interes­sen; unter anderem geht es um ein großes U-Bahn-Projekt.
Insgesamt wäre es jedoch falsch, die Bonner Nebenaußen­politik primär mit solchen Wirt­schaftsinteressen zu erklären. Es handelt sich wohl vielmehr um eine auf längere Sicht angelegte politische Strategie.
Fünftens. Die kolumbianische Regierung spielt in diesem Zu­sammenhang offensichtlich eine ähnlich zwielichtige Rolle wie die Bundesregierung. Sie war spätestens seit 1987 offiziell über die Rolle von Mauss und in Umrissen über die Bonner Ne­benaußenpolitik informiert. Da­mals gab es einen Kontakt zwi­schen der Kohl-Regierung und der Regierung in Bogotá; Bonn bat, Mauss nicht zu enttarnen. Im Gegenzug soll das Bundeskrimi­nalamt Hilfe bei der Aufstellung einer kolumbianischen Sonder­einheit geleistet haben.(9)
Mindestens bis Oktober 1996 scheint die Regierung Samper geneigt gewesen zu sein, das deutsche Spiel mitzuspielen; der Gesandte Sampers zu Schmid­bauer, der zumindest an einem der “insgesamt rund sechs Son­dierungsgespräche teilnahm, war immerhin der kolumbianische Innenminister Serpa. Gut vor­stellbar ist, daß die Regierung Samper gerade als Ergebnis des Drucks aus den USA die deut­sche Initiative aufgreifen wollte, um so ein Gegengewicht zu schaffen.
Ganz offensichtlich haben sich am Ende andere Interessen durchgesetzt. Der folgende Fra­ge-Antwort-Wechsel in der Bun­des­tagsdebatte beschreibt dies trefflich:
Hermann Bachmaier (SPD): “Herr Staatsminister, nachdem der Herr Mauss nach ihren Schilderungen seine Aufgabe so bravourös erledigt hat, wie erklä­ren Sie sich dann, daß er akkurat zu Beginn dieser Sondierungsge­spräche über einen Friedenspro­zeß in Medellín…verhaftet wor­den ist und schwerster Straftaten beschuldigt wird?”
Bernd Schmidbauer: “Ich kann ihnen das nicht beantwor­ten.”(10)

Verschleierung der Bonner Kolumbien-Politik

“All das ist gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt gesche­hen. Ich höre da immer etwas von Nebenaußenpolitik. Einen größeren Schwachsinn kann es überhaupt nicht geben.” (Bernd Schmidbauer, Bundestagsdebatte am 4. Dezember 1996)
Die Umrisse der eben skiz­zierten Bonner Nebenaußenpoli­tik wurden nur durch das Ein­wirken von Kräften publik, die aus Bonner Sicht nicht vorgese­hen waren. Wäre Mauss nicht verhaftet worden, hätten Kanzler Kohl und Außenminister Kinkel an Weihnachten 1996 eine Art kolumbianische Bescherung vor­geführt und sich als Friedens­bringer feiern lassen – Seit’ an Seit’ mit Daniel Ortega. Die Vor­arbeit, von Werner Mauss und Bernd Schmidbauer wäre dann ausge’blendet worden. Zumindest Mauss hätte dies bei seiner Gage von ein paar Millionen Dollar wohl verschmerzen können.
Von Anfang an und bis zur Verhaftung Mauss’ und seiner Ehefrau war die Nebenaußenpo­litik konspirativ abgesichert. Der Aufwand, der dabei betrieben wurde, war erheblich.
– Alle beschriebenen Treffen in Bonn mit Mauss und mit ko­lumbianischen Vertretern waren geheim. Geheim war auch, daß Mauss und Ehefrau Ida bei dem Treffen Schmidbauer-Samper in New York mit von der Partie wa­ren.
– Mauss wurde der kolumbia­nischen Regierung als offizieller Vertreter der Bundesregierung präsentiert. Seine Rolle als “Privatagent” blieb der kolum­bianischen Seite zumindest offi­ziell verborgen. Das bei Mauss gefundene Schreiben, erstellt von der deutschen Botschaft in Bo­gotá, wies diesen als “in offi­zieller Mission” reisend aus.
– Mauss war mit mehreren deutschen Pässen ausgestattet worden. Diese wurden von “ehe­maligen” BND-Mitarbeitern er­stellt. Eine solche Konspiration ge­genüber der kolumbianischen Re­gierung wäre dann völlig un­nö­tig gewesen, wenn Mauss nicht auch gegenüber dieser ein doppeltes Spiel gespielt hätte.
– Indem die Bundesregierung behauptet, es habe mit Mauss “kein dienstlich-offizielles Ar­beitsverhältnis” bestanden, ent­band sie sich auch von der Not­wen­digkeit, über die Mauss’schen Tätigkeiten im Rah­men der Parlamentarischen Kon­troll­kommission (PKK) zu be­richten. Groteskerweise be­ant­wortete Schmidbauer in der Bundestagsdebatte einige Fragen zu Mauss nicht und verwies dar­auf, dazu werde er – nunmehr! – in der PKK Stellung nehmen.
– Auf Vermittlung der Bun­desregierung und von Werner Mauss weilten im Juni 1995 führende Vertreter der Guerilla-Organisation ELN in Deutsch­land. Manfred Such (Bündnisgrüne) stellte im Bun­destag die Frage, inwieweit die Bundesregierung die Einladung der “drei führenden ELN-Gue­rilleros, Manuel Perez sowie Comandante Nicolas und Co­mandante Antonia García, die zu den meistgesuchtesten Straftä­tern Kolumbiens gehören, zu Vorträgen und Diskussionen mit PolitikerInnen nach Deutschland und Frankreich…mit den kolum­bianischen Gesetzen vereinbar halte.”
Schmidbauer antwortete dar­auf mit einem nebulösen Wort­schwall.
Er sagte unter anderem:
“Das ist eine sehr breit ange­legte Frage, weil diese Zusam­menkünfte…nach meiner Kennt­nis nicht stattgefunden ha­ben…Ich schließe nicht aus, daß es Gespräche mit der Guerilla gegeben hat. Aber ich glaube nicht, daß man in jedem einzel­nen Fall dieser Gespräche irgend jemandem Rechenschaft ablegen muß. Vielmehr ist das die freie Entscheidung jedes einzelnen, im übrigen auch anderer Fraktionen. Ob die bei ihnen aufschlagen (sic), weiß ich nicht, aber es gibt vielfältige Gespräche, in denen wir mit vielen Gruppen reden…” (11)
Gelegentlich wird darüber la­mentiert, Schmidbauer und das Bundeskanzleramt hätten diese Nebenaußenpolitik am Außen­ministerium vorbei betrieben. Das dürfte sich als Ente erwei­sen. Dagegen spricht bereits, daß aus dem Außenministerium und von Kinkel selbst keine Andeu­tung dieser Art kam, obwohl es eine gute Gelegenheit gewesen wäre, sich angesichts des Scher­benhaufens, vor dem das Bun­deskanzleramt heute steht, ent­sprechend zu profilieren.
Dagegen sprechen aber auch folgende zwei Details:
– Die Pässe für Mauss wurden von dem ehemaligen BND-Oberst Joachim Philip ausge­stellt. Dieser (Deckname: Pan­ten) spielte zu Kinkels BND-Zeiten dort eine wichtige Rolle. Kinkel hatte ihn bei dubiosen Waffengeschäften mit dem Irak gedeckt. (13)
– Im Zusammenhang mit der Affäre Mauss wurde von dem MdB Bachmaier im Bundestag angesprochen, daß “der Madrider Resident des BND, Herr Fischer-Hollweg, Aktivitäten im Zu­sammenhang mit den Befrei­ungsaktionen von Mauss unter­nommen habe.”
Darauf reagierte Bernd Schmidbauer gereizt und mit dem Verweis, er werde diese Frage nur in der PKK beantwor­ten. Tatsächlich dürfte besagter Fischer-Hollweg eine zentrale Rolle in der Affäre gespielt ha­ben und weiter spielen. Dieser Herr (Deckname: Dr. Eckerlin) war von Klaus Kinkel als BND-Chef dazu eingesetzt worden, das BND-Netz in Lateinamerika auszubauen. (14) Es ist höchst unwahrschein­lich, daß Kinkel nicht von diesen früheren engen Mitarbeitern über die Aktivitäten von Schmidbauer und Mauss informiert worden wäre – einmal abgesehen davon, daß er selbst es war, der Mauss für den BND erstmals angeheu­ert hatte.
Vor allem aber sprechen poli­tische Gründe dafür, daß es ge­wissermaßen eine deutsche Au­ßenpolitik “aus einem Guß” gab, mit voll integrierter Nebenau­ßenpolitik: Es mußte Teil der Konspiration sein, daß die offi­zielle deutsche Außenpolitik in Kolumbien vom Auswärtigen Amt repräsentiert wurde, wohin­gegen für die Nebenaußenpolitik der Minister fürs Grobe und sein Privatagent fürs Illegale zustän­dig waren.
So kann heute zumindest der Eindruck erweckt werden, als sei das Auswärtige Amt an dem Scheitern dieser Nebenaußenpo­litik nicht beteiligt und als müßte nur der nach außen als zweitran­gig gewertete Schmidbauer den Scherbenhaufen zusammenkeh­ren.

Weltpolitik und kleine Großmacht Deutschland

Otto Schily (SPD): “Sie sagen, es gibt offensichtlich Staaten minderen Rechts, in de­nen Sie sich ein Inter­ven­ti­ons­recht an­maßen.” (Bundes­tags­de­batte vom 4. Dezember 1996).
Mehrmals wurde in der Bun­destagsdebatte zum Thema Mauss und Kolumbien direkt und indirekt erwähnt, daß Ko­lumbien schließlich ein Staat be­sonderer Art sei. Bei dem CDU-MdB Rupert Scholz hieß es zum Beispiel: “Man kann nicht ein Land wie Kolumbien… an klassi­schen außenpolitischen Stan­dards messen und… von Souve­ränität reden. Hier mischt sich international organisierte Krimi­nalität… mit einem desolaten Zu­stand des Staates, dem man in vielfältiger Weise mit Mitleid und Hilfsbereitschaft begegnen muß. (15)
Offensichtlich praktizierte das Bundeskanzleramt mit Verweis auf die nicht vorhandene Souve­ränität Kolumbiens und auf die hier geforderte “Hilfsbereit­schaft” eine typische neoko­lo­ni-ale und neoimperiali­stische Politik: verfolgt werden die eigenen Interessen, wobei behauptet wird, diese deckten sich mit den “wirklichen Interes­sen” Kolumbiens. So mußte Schmidbauer in der Bundestags­debatte am 4. Dezember einge­stehen, daß die Bundesregierung Fragen, die Kolumbiens Regie­rung in Zusammenhang mit Mauss gestellt hatte und die seit gut zwei Wochen vorlagen, noch immer nicht beantwortet hatte.
Diese deutschen Interessen laufen darauf hinaus, daß die Bundesrepublik Deutschland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und nach der Ein­verleibung der DDR sich nicht mehr mit der Rolle der Weltwirt­schaftsmacht begnügen will.
Das neue Bonner Großmacht­streben wird zunehmend aben­teuerlicher. Die Kolumbien-Af­färe weißt beispielsweise viele Parallelen zum Plutonium-Skan­dal auf. Dort wurde versucht, Rußland als nur bedingt souver­änen Staat vorzuführen. Be­hauptet wurde, daß es in Rußland eine kriminelle Atommafia gebe, die die Menschheit gefährde. Am Ende erwies sich, daß BND nunmehr mit Bundes-Nuklear-Dealer zu übersetzen ist und daß dieser Dienst als Agent Provo­kateur auftrat. Im übrigen ver­birgt sich hinter diesem Skandal ein zentrales Thema der neuen Bonner Großmachtpolitik, näm­lich die Frage, wie die Bundes­republik Deutschland zu einer Atommacht und damit gleich­wertig zu den übrigen Groß­mächten wird.
Seit einigen Jahren versucht die Bonner Regierung, die deut­schen Positionen in Lateiname­rika auszubauen. Sie gerät dabei, weit direkter als in Jugoslawien oder Somalia, in Widerspruch zu den US-Interessen. Mehrfach waren Kanzler Kohl und Au­ßenminister Kinkel, begleitet von Industriellen, in Lateiname­rika zu Besuch. Dort, wo deut­sche Interessen bereits mit eini­gem materiellen Gewicht ver­treten sind, vollzieht sich die deutsche Offensive in einiger­maßen geordneten Bahnen der Diplomatie. Mexiko beispiels­weise soll zu einem Freihandels­abkommen mit der EU bewegt und damit teilweise wieder aus der Bindung an die USA und Kanada, die mit dem NAFTA er­folgte, herausgesprengt werden. Dabei hat die Bundesregierung auf eine kleine Anfrage hin nicht bestritten, daß Mexiko durch ein solches Abkommen ein jährli­ches Handelsdefizit von rund zwei Milliarden Dollar zu er­warten hätte. Stattdessen verwies sie darauf, Mexiko könne bei ei­nem solchen Freihandelsab­kommen andere Interessen als rein wirtschaftliche haben. (17)
Ähnlich argumentierte die Bonner Regierung gegenüber Kolumbien: Ausspielen des deutschen Gewichts gegen das bisher dominierende US-Schwergewicht. Die Bonner Ne­benaußenpolitik in Kolumbien richtet sich ganz offensichtlich gegen die US-Regierung, die dieses Land als ihren Hinterhof betrachtet – und die ihre arro­gante Haltung gegenüber diesem Land aufgrund der eigenen Vor­machtstellung kaum zu verber­gen versucht. Insbesondere mußte der Bonner Plan, im Rahmen der nationalen Versöh­nung den Drogen-Bossen eine legale Zukunft zu verschaffen, in Washington als Affront aufge­faßt werden.
Immer wieder tauchte in der Bundestagsdebatte der Verweis auf die USA auf. Freimut Duve äußerte hierzu: “Ich stelle fest, daß es keine offizielle Informa­tion unseres engsten Verbünde­ten, der USA, gegeben hat, die in Kolumbien besondere Sicher­heitsinteressen gerade im Um­gang mit der Narco-Guerrilla… haben.” (18)
Auf dem Höhepunkt der Krise gab es offensichtlich auch ein Treffen zwischen Schmidbauer und dem US-Gesandten Hol­brooke. Und viel spricht dafür, daß es die USA selbst waren, die dabei ein weiteres Mal die deut­schen Großmachtbestrebungen in die Schranken wiesen – wie schon zuvor beispielsweise durch die Enthüllung der deut­schen Verstrickung in den Bau einer Giftgasfabrik in Libyen. Der Bündnisgrüne MdB Lippelt führte diesbezüglich in der De­batte aus: “Es gibt zwei Linien in der Bekämpfung des Terroris­mus. Die Verhaftung von Mauss hat natürlich damit etwas zu tun, daß jemand, der eine andere Li­nie vertrat, ihn verhaften ließ. Damit sind Sie aber in eine in­nenpolitsche Auseinanderset­zung in einem anderen Land ge­raten…” (19)
Bleibt die Frage, warum die Bundesregierung und Schmid­bauer im Bundestag und in der Öffentlichkeit jede Kritik an Mauss’ Aktivitäten abwehrten und das gesamte Spektrum seiner illegalen Auftritte – einschließ­lich der persönlichen Bereiche­rung und der wahrscheinlichen aktiven Beteiligung an der ko­lumbianischen Entführungsindu­strie – entweder verteidigten oder Unwissenheit vortäuschten.
Nun: Die Maus(s) sitzt im Loch und wenn sie aus diesem nicht bald herausgeholt wird, dann pfeift sie. Mauss war eben jahrzehntelang nicht Privat-, sondern Staatsagent. Noch die­sen Sommer trafen sich der ko­lumbianische Innenminister Serpa und Schmidbauer auf sei­nem Anwesen im Hundsrück zur Absprache von Details der abenteuerlichen Großmachtpoli­tik. Vor allem aber war Mauss Staatsagent, ausgestattet mit BND-Pässen und mit Schutzbrie­fen vergleichbarer Art wie jetzt in Kolumbien – und dies bei noch weitaus heikleren Missionen. Was wäre, wenn Mauss über sol­che andere Missionen plauderte, etwa jene, die er betrieb, als er noch von BND-Chef Klaus Kin­kel für ein Jahressalär von 650.000 Mark arbeitete? Was wäre, wenn er über den Vertrag plauderte, der zwischen dem Madrider BND-Residenten Fi­scher-Hollweg und ihm in Sa­chen Kolumbien laut Erich Schmidt-Eenboom abgeschlos­sen worden sein dürfte? (20) Und welche Turbulenzen ent­stünden, wenn Mauss über seine Mission plauderte, die ihn am 9. Oktober 1987 nach Genf und am 11. Oktober von dort wieder zu­rück in die Bundesrepublik Deutschland führte – immerhin landete er dort wenige Stunden vor Barschels letzter Reise und Ankunft und logierte im Nach­barhotel. Wenige Stunden nach der Entdeckung der Barschel-Leiche flog er wieder zurück nach deutschen Landen. Nicht zuletzt führte er gelegentlich denselben Decknamen “Roloff”, den Barschel als denjenigen Kontaktmann genannt hatte, der mit ihm in Genf dringend zu re­den wünschte…(20)

(1) Frankfurter Rundschau vom 14.12.1996
(2) Schmidbauer hat seine Formulie­rung, mit Mauss habe es zwar kein offizielles Dienstverhältnis gegeben, seine Aktivitäten in Kolumbien seien jedoch von der Bundesregierung “positiv begleitet worden”, in der Parlamentsdebatte auch auf den frü­hen Zeitpunkt 1984ff bezogen. Siehe Bundestagsprotokoll, Debatte vom 14.12.1996; S.13008.
(3) Der Spiegel Nr. 37/1996
(4) Bundestagsdebatte, a.a.O., S.12999.
(5) Bundestagsdebatte, a.a.O., S.13007.
(6) Nach El Espectator vom 1.12.1996; dpa vom 2.12.1996
(7) Bundestagsdebatte, a.a.o., S.13007.
(8) Kurzbericht über Lateinamerika, herausgegegen von der Deutsch-Südamerikanischen Bank, Hamburg, Februar 1995, S.86.
(9) Bundestagsdebatte, a.a.O., S.13011.
(10) Bundestagsdebatte, a.a.O., S.13019.
(11) Bundestagsdebatte, a.a.O., S.13016f.
(12) Der Spiegel Nr. 50/1996
(13) Nach: Erich Schmidt-Eenboom, Der Schattenkrieger – Klaus Kinkel und der BND, Düsseldorf 1995, S.81.
(14) Schmidt-Eenboom, a.a.O., S.35ff.
(15) Bundestagsdebatte, a.a.O., S.13027.
(16) Siehe Winfried Wolf, Haiti – Aroganz im Armenhaus – Bonner Diplomatie, Rassismus und Armut­sentwicklung, Köln 1996, S.27f.
(17) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage von Winfried Wolf und der Gruppe der PDS, Ok­tober 1996; La Jornada (Mexiko D.F.) vom 31.7. 1996.
(18) Bundestagsdebatte, a.a.O., S.13034.
(19) Bundestagsdebatte, a.a.O., S.13023.
(20) Erich Schmidt-Eenboom im Deutschlandfunk vom 4.12.1996, nach: Fernseh-/Hörfunkspiegel, In­land I vom 5.-12.1996, S.8
(21) Vgl. Winfried Wolf, “Es war doch Mord”, in: Abendzeitung (Wien) vom 3.12.1987; Winfried Wolf, “Barschel bis zum Abwinken – Mordmotiv: Südafrika”, in Soziali­stische Zeitung/SoZ vom 5.10.1995; Stefan Aust, Mauss – Ein deutscher Agent, Hamburg 1988, S.388.
Winfried Wolf ist MdB, Mitglied der PDS-Gruppe im Bundestag und Mit­glied im Ausschuß für Wirtschaftli­che Zusammenarbeit und Entwick­lung. Jüngste Veröffentlichungen zum Thema “Dritte Welt”: 500 Jahre Conquista – die Dritte Welt im Wür­gegriff, Köln 1992 (ISP); Haiti – Ar­roganz im Armenhaus – Bonner Di­plomatie, Rassismus und Armut­sentwicklung, Köln 1996 (ISP).

Mauss & Co.

16. November 1996, kurz vor Mitternacht: Auf dem Flugplatz Rionegro bei Medellín möchten drei Deutsche eine privat gecharterte Maschine nach Car­tagena besteigen. Doch ein Poli­zist der Anti-Entführungseinheit Gaula, die Mauss seit Tagen im Visier hatte, verständigt sei­nen Vorgesetzten, Oberst San­toyo. Dieser gibt Anweisung, die Deut­schen bei der Paß- und Ge­päckkontrolle hinzuhalten. Nach seiner Ankunft begrüßt Santoyo Brigitte Schöne, die Gattin eines ehemaligen BASF-Managers, die sich drei Monate lang in der Ge­walt der Guerillagruppe ELN (Na­tionale Befreiungsarmee) be­funden hatte. Dann läßt er Mauss und seine Frau Ida festnehmen.
Am folgenden Tag präsentiert der Gouverneur Antioquias, Al­va­ro Uribe Vélez, der Presse das Ehe­paar Mauss samt dem beschlagnahmten Material: di­verse Pässe und andere Aus­weise, Kreditkarten, vier Han­dys, ein Satellitentelefon, ein Faxgerät, ein Anrufbeantworter, ein Laptop und schließlich eine Liste mit 80 “terroristischen Or­ganisationen”. Uribe fuhr schwe­res Geschütz auf: Mauss stecke mit der ELN unter einer Decke, es sei sogar denkbar, daß er der Guerilla bei der Auswahl von Entführungsopfern helfe. Gene­ral Rosso José Serrano, der Chef der kolumbianischen Poli­zei, be­zeichnete Mauss gar als “Söld­ner” und “Mitglied eines in­ter­na­tio­nalen Netzwerks von Terro­ri­sten”.
Am 3. Dezember klagte die Staats­anwaltschaft Werner und Ida Mauss wegen Beteiligung an einem “gravierenden Entfüh­rungs­fall zur Gelderpressung”, “Pla­nung einer Entführung” und “Ge­brauchs falscher öffentlicher Do­kumente” an.

Geschäfte mit Mannesmann und Siemens

Werner und Ida Mauss sollen von 1984 bis 1987 in Kolumbien gewohnt haben, just zu der Zeit, in der Mannesmann die Pipeline von Puerto Limón (Arauca) nach Coveñas an der Karibikküste bau­te. Mit unkonventionellen Me­thoden half Mauss dem Düs­seldorfer Multi über lästige bü­rokratische Vorschriften hinweg, die beispielsweise vorschrieben, nicht mehr als 10 Prozent der 4.000 benötigten Fachkräfte dürf­ten Deutsche sein. Also schleuste Mauss deutsche Man­nesmann-Angestellte als Touri­sten ins Land und – mit 300 US-Dollar Bestechungsgeld pro Na­se – wieder hinaus. Auch Ma­schi­nen, Röhren und Pumpen wurden mit Hilfe geschmierter Zollbeamter ins Land ge­schmuggelt. Schließlich löste er das Problem mit der ELN, die zu Beginn des Projekts zwei In­ge­nieure entführte und An­schläge auf den Bau verübte. Mauss or­ganisierte die Zahlung von an­geblich vier Millionen US-Dollar und weiteren Monats­raten à 200.000 US-Dollar an die Gue­ri­lla, um die Fertigstellung der Pi­peline sicherzustellen. Diese Fi­nanzspritzen trugen er­heblich dazu bei, daß sich die ELN in je­nen Jahren als zweit­größtes Gue­rillaheer Kolumbiens kon­so­li­dieren konnte. Seitdem führt sie jährlich rund 40 An­schläge auf genau diese Pipeline durch, um – so die Rechtferti­gung – eine Erd­ölpolitik im na­tionalen Interesse einzufordern.
1990 traten “Klaus und Mi­chaela Möllner” als “besondere De­legierte für informelle Ge­spräche” für Siemens in Erschei­nung, wie die Erlanger Zentrale dem damaligen Gouverneur An­tio­quias mitteilte. Siemens ist am deutsch-spanischen Konsortium Me­tromed beteiligt, das seit 1985 die Medelliner S-Bahn baut, ein äußerst kostspieliges und um­strittenes Projekt. Die Ma­drider Zeitung El Mundo be­hauptete Anfang dieses Jahres, Metromed habe allein an Be­ste­chungs­geldern 45 Millionen US-Dollar verbraucht.
Mauss versprach seinerzeit dem kolumbianischen Ver­trags­partner Metro de Me­de­llín, durch Interven­tion bei der Bundesre­gierung und Ban­ken die Kosten um 600 Mil­lio­nen US-Dollar zu senken, wenn er Forderungen von Me­tro­med in Höhe von 150 Millionen US-Dollar anerkenne. Daraus wur­de nichts, doch heute re­klamiert Metromed immer noch 103 Millionen US-Dollar – Sach­verwalter für das Konsor­tium ist in dieser Angelegenheit der Ex-Konsul in Berlin, Carlos Villamil.
Ein weiteres Siemensprojekt ist – vorläufig – geplatzt, und zwar die großangelegte Moder­ni­sie­rung des kolumbianischen Ein­wohnermelderegisters. Denn ge­rade an dem Tag, an dem Sie­mens als eindeutiger Favorit für den Zuschlag proklamiert wurde, kam ein bei Mauss gefundenes Schreiben ans Tageslicht, in dem ihn der Ex-Senator Eduardo Me­stre um 50.000 US-Dollar für ein “ge­lungenes Geschäft” bittet; alles spricht dafür, daß damit der Vertrag mit der Meldebehörde ge­meint war. Mestre, Villamil und Mauss kennen sich seit 1991.

Friedensengel Mauss

Villamil ist auch derjenige, auf den die Version vom “Frie­dens­engel Mauss” zurück­geht. Danach stamme die Idee für Ver­hand­lungen zwischen der kolum­bia­nischen Regierung und der ELN, die unter der Ägide Helmut Kohls im Bonner Kanz­leramt steigen sollten, vom deut­schen Multiagenten. Zur Vorbe­reitung reiste Innenminister Ho­racio Serpa im Juli in offizieller Mission nach Deutschland, wo er im kitschigen Mauss-Schloß an der Mosel nächtigte, in Bonn mit Ge­heimdienstkoordinator Bernd Schmid­bauer und in München mit Siemens-Chef Heinrich von Pierer zusammentraf.
Kernstück von Serpas fünf­stündiger Verteidigungsrede vor dem Kongreß am 6. Dezember war denn auch sein farbiger Be­richt von dieser Reise. Tief be­ein­druckt zeigte er sich vom Frankfurter Flughafen, von Mauss’ Mercedes mit vier Tele­fonen und Radaranlage sowie der Fahrt mit dem 550 Stundenkilo­meter schnellen Transrapid. Mit von Pierer habe er sich über Kolumbien unterhalten, über Fuß­ball und – am Rande – über die Millionen-Reklamation an Me­tro de Medellin. Er habe den Siemens-Leuten al­lerdings versi­chert, dies liege außerhalb seiner Kompetenz. Bei den Gesprächen mit Schmid­bauer sei es vor allem um die geplanten Friedens­ver­hand­lun­gen gegan­gen. Außer­dem sollte die Bun­desregierung gut Wetter bei Bill Clinton machen, der Tage zuvor dem ko­lum­biani­schen Präsiden­ten Er­ne­sto Sam­per das Einrei­sevisum in die USA entzogen hat­te.

Über Fußball geredet

Über diese Treffen gibt es ein so­genanntes “Nicht-Dokument”, das auf einem Protokoll von Ida Mauss basieren soll, sowie ein Villa­mil-Memorandum an Sam­per. In ersterem ist auch die Rede von Verhandlungen mit der Drogenmafia, doch will niemand dieses Thema aufgebracht haben. Die Bundesregierung behauptet, der Wunsch zu diesen informel­len Kontakten sei von Kolum­bien ausgegangen.
Zurecht wurde im kolumbia­nischen Kongreß auf die zwei­fel­hafte Verknüpfung von Ge­schäfts­interessen und etwaigen Frie­densgesprächen verwiesen. Ser­pa, Schmidbauer und auch das Agentenpärchen führen zu ihrer Verteidigung wortreich die “Friedensmission” an. Serpa – dessen Vetter Jorge mit dem Mo­der­nisierungsprojekt des Mel­de­re­gisters betraut war – ver­sicherte hoch und heilig, Mauss nur als Kontaktmann zum Kanz­leramt zu kennen. In seine “un­kon­ven­tio­nellen, humani­tä­ren Mis­sio­nen” (Schmidbauer) als “Kom­mis­sionär der ELN” (ko­lum­bianische Polizei) sei er nicht eingeweiht gewesen. Das Ende seiner Rede nutzte Serpa gar, um sich erstmals öffentlich als Prä­si­dentschaftskandidat für 1998 ins Spiel zu bringen. Das Er­gebnis – über 80 Prozent der Ab­ge­ord­ne­ten lehnten den Miß­trau­ens­an­trag gegen ihn ab – war ein po­li­ti­scher Triumph.
Geschickt hatten es Serpa und sein möglicher Rivale Uribe ver­mieden, sich gegeneinander aus­spielen zu lassen. Innerhalb der dominierenden liberalen Partei sind sie die markantesten Ver­treter des linken bezie­hungs­wei­se rechten Flügels; die Mauss-Affä­re nutzte Uribe endgültig, um sein Image als un­beirrter Sau­bermann gegen die Guerilla und ihre Helfershelfer zu fe­sti­gen. Generalstaatsanwalt Alfon­so Valdiviso, der ebenfalls als Prä­sidentschaftskandidat im Ge­spräch ist und in dessen Hän­den das Schicksal der beiden Deut­schen nun liegt, sprach von einer “ern­sten Gefährdung der na­tio­na­len Sicherheit.”
Die Stimmung im Lande bei die­ser Frage geht in Richtung ei­ner Politik der “harten Hand” im Sinne von Uribe und Valdivieso, zu­mal Mauss auch mit Waf­fen­im­porten für die ELN in Ver­bin­dung gebracht wurde. Daher scheint es durchaus denkbar, daß die Bundesregierung – die Mauss über die Botschaft nach Kräften un­terstützt hatte und ihn jetzt los­ei­sen möchte – zunächst ein­mal auf Granit beißt, jedenfalls, so­lange die Affäre in den Schlag­zeilen bleibt. An­dererseits dürf­ten einflußreiche Po­litiker in bei­den Ländern – allen voran Sam­per, Serpa und Schmidbauer – sehr daran in­ter­es­siert sein, daß Mauss sein Wissen über die Schat­tenseiten der deutsch-ko­lum­bianischen Beziehung für sich behält.

Gemeinsame Realitäten

Nahezu sieben Jahre ist es her, daß Vanete Almeida aus Pernambuco die Idee zu diesem Treffen hatte, als sie während des 5. lateinamerikanischen Fe­ministinnentreffens feststellte, daß unter 3000 Teilneh­merinnen lediglich sieben Landfrauen wa­ren.
Sie ist eine der Hauptorgani­satorinnen des Treffens und seit 20 Jahren in der Landfrauenbe­wegung im brasilianischen Nord­osten tätig. 1993 begannen die eigentlichen Vorbe­reitungen mit Tref­fen von Basisgrup­pen, Ko­ope­rativen und Gewerk­schaften auf regionaler bzw. na­tionaler Ebene. Hier wurden die The­men­schwer­punkte des 1° ENLAC dis­ku­tiert und an die in­ter­na­ti­o­na­le Ko­ordination, die sich eben­falls 1993 das erste Mal in Forta­leza und ein zweites Mal 1995 am Rande der Weltfrauen­kon­fe­renz in Peking traf, weiter­ge­ge­ben.
“Die meisten Landarbeiterin­nen leben sehr isoliert, ohne Te­lefon, und es mußten viele, viele Ki­lometer zu Fuß zurückgelegt wer­den, um an die Frauen heran­zu­kommen.”

Begriffsbestimmung

Auf der Suche nach einer ge­mein­samen Diskussionsgrund­lage stellte sich in Kleingruppen und den anschließenden Ple­nen heraus, daß unterschiedlichste Be­reiche und Beschäftigungs­ver­hält­nisse berück­sichtigt wer­den müs­sen. So zum Beispiel unter­schei­det sich die älltägliche Ar­beit einer boliviani­schen Mi­nen­ar­beiterin ganz erheblich von dem, was man allgemein unter Land­frauen­arbeit verstehen wür­de. Die Defini­tion, die für alle Frau­en gleicherma­ßen paßte, war fol­gende: Sie lebt auf dem Land, er­nährt sich und ihre Fa­milie, ihre Arbeit wird oft nicht als Extraarbeitskraft erwähnt und sie lei­det fast immer unter der Dop­pel­belastung Landar­beit­/Haus­ar­beit. Bei Kreditver­gabe­pro­gram­men werden Land­frauen so gut wie nie berück­sichtigt, da sie als Fa­milienvor­stände nicht aner­kannt werden. Auch der Land­erwerb ist in vielen Ländern den Män­nern vorbe­halten, ge­nau­so wie der Verkauf von Pro­duk­ten.
Das Schicksal des Ehren­gastes Dona Elisabeth Alpina Teixeira, die nach der Ermor­dung ihres Mannes 17 Jahre un­ter falschem Namen lebte, ist leider keine Seltenheit. Während des Erfah­rungsaustausches zum The­ma “Gewalt gegen Land­frau­en” berichteten erschüttern­der­wei­se viele Frauen über sehr ähn­liche Er­fahrungen mit physi­scher, psychischer, sexueller und öko­no­mischer Gewalt in­nerhalb der Familie, bei der Arbeit, in Or­ganisationen und durch die Re­gierung. Vergewaltigungen von Ehefrauen und Töchtern mit an­schließenden Mord­drohungen, falls die Opfer es wagen sollten sich zu wehren, sind keine Sel­ten­heit.
Die Landarbeite­rinnen über­leg­ten sich Strategien, wie sie ihre Situation und die ihrer Kin­der verbessern können. Wichtige As­pekte waren die Erziehung der Kin­der im Hin­blick auf Gleich­be­rechtigung und die Stärkung der Landarbeiterinnenorganisa­tio­nen.

Verarmung und Globalisierung

Auch ökologische Themen spielten eine wichtige Rolle wäh­rend des Treffens. Vor einem imaginären Tribunal klagten die Cocaleiras (Kokapflanzerinnen) aus Kolumbien ihre Regierung an, die Herbizide im Kampf ge­gen den Drogen­handel versprüht und dabei die Ver­giftung von Arbei­terinnen und deren Kindern in Kauf nimmt. Für viele Land­arbeiterinnen ist der Anbau von Koka die einzige Chance zu überleben, denn der ehemals be­triebene Kaffee­anbau bringt kei­nen Gewinn mehr.
Im Laufe der Dis­kussion wurde ein Zusammenhang zwi­schen zunehmender Verarmung im rura­len Sektor und Globali­sierung der Wirtschaft bzw. neo­liberaler Politik hergestellt, da die Staaten ihre Aus­gaben für Bildung, Gesundheit und techni­scher Unter­stützung mit fort­schrei­tender Glo­balisierung re­duzieren, wovon Frauen beson­ders betroffen sind. He­lena Selma (Universidade Fede­ral do Ceará) for­derte eine differen­zierte Agrarpolitik im Sinne von “positiver Diskrimi­nierung” von Min­derheiten wie z.B. Kleiner­zeugerInnen, um überhaupt eine Kon­kurrenzfähigkeit gewährlei­sten zu können.
Zwischen Diskussi­onsrunden und Ple­nen hatten die Veran­stalterinnen bewußt Raum für kulturelle Veran­staltungen gelas­sen, der den Frauen die Mög­lichkeit gab, ihre eigene kul­turelle Identität mit Musik, Kunsthandwerk und typischer Kleidung in den Mittelpunkt der Veranstaltung zu stellen. Hier wurde die Hetero­genität, die sich vorher in den Diskussionsbeiträ­gen gezeigt hatte, noch einmal sichtbar.
Trotz einiger organisatori­scher Mängel bedeutet das 1° Encontro Latino-Americano e do Ca­ribe da Mulher Tra­balhadora Rural einen wichtigen Schritt für die Landarbeiterinnenbewegung in Lateiname­rika und der Kari­bik. Für die meisten Landarbeite­rinnen und vor allem für die, die noch nie die Möglichkeit hatten ihre Region, geschweige denn ihr Land zu verlassen, war die wichtigste Erfahrung, zu wis­sen, daß es sehr viele Frauen mit den gleichen Problemen, Ängsten und Hoff­nungen gibt, die für diesselbe Sache kämpfen.

KASTEN

Ehrengast Dona Elisabeth Altina Teixeira

Dona Elisabeth Altina Teixeira, eine heute 71jährige Bäuerin aus Paraíba, wurde 1984 be­rühmt, als der Dokumentarfilm “Cabra Marcado pra Morrer” (“Die zum Sterben verurteilte Ziege”) den goldenen Tukan auf dem Filmfestival in Rio gewann. Der Film erzählt die Geschichte ihres Le­bens und der Ermordung ihres Ehemannes Joâo Pedro Teixeira.
Der Regisseur Eduardo Coutinho hatte Dona Elisabeth bei einem Protestmarsch sieben Tage nach dem Mord angesprochen, um mit ihr einen Film zu drehen, in dem sie sich selber darstellen sollte.
Einen Monat nach Drehbeginn gab es den Mi­litärputsch. Das Filmaterial, von dem sich ein großer Teil schon in Rio befand, wurde beschlag­nahmt und die Leute unter dem Verdacht der Gründung einer Guerilla verhaftet. 1981, also 17 Jahre später, drehten sie den Film zuende.
Dona Elisabeth, die die erste Tochter eines Großgrundbesitzers war, heiratete 1942 den Land­arbeiter Joâo Pedro Teixeira, was ihr ihr Vater nie verziehen hat. Ihr Mann gründete in den 50-er Jah­ren in Sapé die Landarbeitervereinigung Associa­çâo dos Trabalhadores Rurais, die, obwohl sie zu damaliger Zeit nicht als Gewerkschaft registriert werden konnte, nach kurzer Zeit rund 1700 Mit­glieder hatte. 1962 wurde Joâo Pedro Teixeira in einem Hinterhalt ermordet.
Wenn Dona Elisabeth sich gefügt hätte, hätte sie mit der Unterstützung ihrer Familie rechnen kön­nen, aber sie entschied sich, den Kampf ihres Ehemannes fortzuführen. Sie wurde kurz nach dem Militärputsch für vier Monate ins Gefängniss ge­sperrt und flüchtete nach ihrer Freilassung mit ih­rem jüngsten Sohn nach Rio Grande do Norte, wo sie 17 Jahre unter dem falschen Namen Marta Ma­ria da Costa lebte. Ihre anderen neun Kinder mußte sie zurücklassen und sah sie erst nach der Amne­stie Anfang der 80er Jahre wieder.
In den folgenden Jahren setzte sie sich uner­schrocken für die Landlosen ein und wurde 1988 Zeugin wie einer ihrer Söhne, der zusammen mit 30 Landarbeitern die Landarbeitervereinigung As­sociaçâo de Pequenos Produtores Rurais gegrün­det hatte, ermordet wurde. Ihr Mut und ihre Uner­schrockenheit brachten ihr sogar eine Einladung von Fidel Castro ein, der nach dem Tod ihres Mannes ein Beileidstelegramm schickte und einem ihrer Söhne ein Jurastudium in Kuba ermöglichte.
“Wenn ich heute so viele companheiras aus so verschiedenen Ländern hier sehe, dann weiß ich, daß sich all das Leiden gelohnt hat”, sagte Dona Elisabeth auf dem 1° Encontro Latino-Americano e do Caribe da Mulher Trabalhadora Rural.

Wer zahlt?

“Die Welt wird kleiner, La­teinamerika rückt näher. Es ist auch unsere Sache, die dort ver­handelt wird”, hieß es im Vor­wort der ersten Ausgabe von “Lateinamerika – Analysen und Berichte”. Der Anspruch, den die HerausgeberInnen 1977 an ihre gerade aus der Taufe gehobene Jahrbuch-Reihe stellten, war es, die wirtschaftliche und politische Entwicklung des Subkontinents darzustellen und kritisch zu dis­kutieren. Eine Entwicklung, die – so die AutorInnen – “in eine ein­deutige Richtung” ging: Hin zu einem Modell der Kapitalakku­mulation, das die Kombination von wirtschaftlichem Liberalis­mus mit extremer politischer Repression benötigte, um hohe Profite zu erzielen. Tatsächlich ergab der Blick auf Lateiname­rika in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre – nach Chile und Uruguay hatten sich nun auch in Argentinien die Militärs an die Macht geputscht – ein reichlich düsteres Bild. Hoffnungen auf revolutionäre Veränderungen hin zu einer gerechteren Gesell­schaft, sei es nach kubanischem oder chilenischem Vorbild, wur­den allmählich zu den Akten gelegt.
Zehn Jahre später stellten die unfreiwilligen “Chronisten von Niederlagen” zwar nicht ihre damaligen Einschätzungen in Frage, gingen aber dennoch mit sich ins Gericht: Skepsis sei an­gebracht gegenüber der in den ersten Bänden praktizierten Les­art der lateinamerikanischen Ak­tualität – basierend auf der Über­zeugung, anhand ökonomi­scher “Akkumulationsmodelle” ließen sich quasi automatisch Ten­denz­aussagen über die politi­sche Zu­kunft im “abhängigen Kapi­ta­lis­mus” treffen. Solcherlei “Ablei­tungen” hatten der kom­plexen Wirk­lichkeit der jeweili­gen Län­der nicht Rechnung ge­tragen und ließen umgekehrt auch nur man­gel­haft auf die Qualität der Ge­genkräfte zur herrschenden Ord­nung schlies­sen. Was die Beo­bachtung jener anbetraf, brauchte sich das Jahr­buch-Team freilich keine Vor­würfe gefallen zu las­sen. “Neue Organisations- und Kampffor­men” gegen wirtschaft­liche Mar­ginalisierung und poli­tische Un­terdrückung – Stadt­teil­bewegun­gen, Basisgemeinden, Indígena-Organisationen und lin­ke Par­teien jenseits leninistischer Kon­zeptionen – hatten von Be­ginn an das Augenmerk der Her­ausgebe­rInnen gefunden. Nur – vor­aus­sagbarer wurde die Zu­kunft La­teinamerikas damit auch nicht.

Verdrängung allerorten

Im zwanzigsten Jahr der “Analysen und Berichte” war es wieder einmal an der Zeit, sich anhand der Entwicklungen der vergangenen Jahre über die “Zukunftsfähigkeit” des Unter­suchungsobjektes Rechenschaft abzulegen. “Offene Rechnungen” heißt dementsprechend Band 20 der Reihe, denn – so die im Vor­wort geäußerte Ansicht – zu­kunftsfähig ist Lateinamerika nur, wenn nicht “Vergessen und Verdrängen” die Tagesordnung bestimmen. Vergessen und ver­drängt wird freilich überall, und in eigener Sache fehlt nicht der Hinweis auf die Gefahr, die “besseren Einsichten von ge­stern” – Solidarität mit den sozia­len Kämpfen und das Ziel einer befreiten Gesellschaft – der mo­dischen Anpassung an herr­schende Terminologie und The­mensetzung zu opfern.
Offensichtlich unbewältigte Schatten der Vergangenheit sprechen die ersten beiden Bei­träge an. Daß die Ökonomie in Chile “zur Staatsreligion erho­ben” worden ist, und die Regie­renden eine konsequente Aufar­beitung der unter der Diktatur begangenen Menschenrechts­verletzungen scheuen, schildert David Becker und liefert zudem eine überzeugende Analyse der psychischen Mechanismen bei den Opfern, aber auch der Be­völkerungsmehrheit. Die “inter­nalisierte Angst”, so Becker, ist das zentrale Element der neuen chilenischen Demokratie: Nach­dem die auf dem zuerst nur zäh­ne­knirschend akzeptierten Kon­sens­prinzip basierende tran­si­ción zumindest teilweise ge­lun­gen war, blieb die traumati­sche Er­innerung an Putsch und Repression der Garant für die “politisch wirksame Gleichung Konflikt = Zerstörung = Neuauf­la­ge der Diktatur”.
Unter diesem Vor­zeichen werden Mutlosigkeit und feh­len­der Wille der regie­renden Con­certación und ihrer christ­de­mo­kra­tischen Präsiden­ten ver­ständ­li­cher, wenn auch nicht le­gi­ti­mer. Tragischerweise deckt sich hier der Wunsch vieler Politiker nach schnellem Vergessen und weit­gehend fol­genlosen Sym­bol­hand­lungen mit dem Bedürfnis der nicht direkt von der dik­ta­to­riellen Repression betroffenen Chi­lenInnen, Kon­flik­ten aus dem Weg zu gehen. Folteropfer und An­gehörige von Ver­schwun­de­nen sehen sich in einem Umfeld man­gelnden Erin­nerungswillens neu­erlich diskri­miniert. Das, meint Becker, muß allerdings nicht so bleiben: Trotz aller Ver­su­che seitens Präsident Frei und sei­nem Technokraten­team, miß­lie­bige Erinnerungen an Ver­gangenes auszuklammern, mel­det sich dieses immer wieder zu Wort – und sei es durch das Sä­bel­rasseln der Militärs. “Das un­ver­mittelt Konflikthafte kann nicht mehr unter den Teppich ge­kehrt werden, es sucht sich sei­nen Weg an die Öffentlich­keit. Und das ist ein wesentlicher Be­stand­teil einer echten Demo­kra­ti­sierung.”

Linke Altlasten

Gedächtnislücken einer ganz an­deren Art beschreibt Ricarda Knabe in ihrem Bericht über die Studie, die eine salvadorianische Frauenorganisation unlängst der FMLN und der aus ihr hervorge­gangenen Partido Democrático vorgelegt hat. Das Thema ist bri­sant, geht es doch um die Rolle der Frauen im Guerillakampf, ge­nauer: um ihre Sexualität. Vie­le der guerrilleras – ent­stammten sie nun dem haupt­städtisch-intel­lek­tuellen Milieu oder den Dör­fern im Kriegsge­biet – litten nicht nur an der Brutalität der Kämpfe sondern ebenso an der se­xuellen Diskri­minierung durch ih­re eigenen com­pañeros und die Be­vormun­dung durch die FMLN-Hierar­chie. Diese, so die Au­torinnen der Studie, hatte in den ersten Kriegsjahren noch ei­ne rigide Kontrolle über das Pri­vat­leben der GenossInnen aus­ge­übt und qua selbst durch­ge­führ­ten Ehe­schließungen (revolutio­nä­re) Mo­ral praktiziert. Später, als Kampfbereitschaft Priorität vor ideologischer Festigkeit ge­wann und diese Einflußnahme nach­ließ, kamen etliche der in den Camps lebenden Frauen vom Re­gen in die Traufe. “Den Kör­per mit den Genossen solidarisch tei­len”, war ein häufig miß­brauch­tes Schlagwort. Den gue­rrilleras, die aus eigener Ent­scheidung ein promiskuitives Ver­halten praktizierten, schlug freilich nicht selten die geballte männliche Verachtung entgegen. Daß diese Problematik inzwi­schen offen thematisiert und dis­kutiert wird, hält Knabe freilich für eine hoffnungsvoll stim­men­de Errungenschaft.

Die “Multis”: unheilvolle Wohltäter

Der Frage “Was von den Multis noch zu erwarten ist” geht Urs Müller-Plantenberg in sei­nem Artikel nach. Dabei konsta­tiert er die bemerkenswerte Wandlung, die die Beurteilung trans­nationaler Unternehmen in Lateinamerika selbst in der Sichtweise einstiger Kritiker durchgemacht hat: Wurden die “Multis” zu Zeiten der “Import­substituierenden Indu­striali­sie­rung” mit Argwohn be­trachtet und nach Möglichkeit rigiden Kon­trollen unterworfen, hat spätestens seit den achtziger Jah­ren ein Wettlauf um die Gunst der ausländischen Wohl­täter ein­gesetzt.
Aufschlußreich ist Müller-Plan­tenbergs histori­sche Ana­ly­se, mit der er zu zei­gen ver­sucht, wie gering schon immer der tat­sächliche Beitrag transnationaler Un­ter­nehmen zum ersehnten Ka­pitalzufluß ge­wesen ist. Das ge­genwärtige, ge­rade von stei­genden Portfo­lio­investitionen ge­prägte Szena­rio ist noch be­denklicher: In dem Maße, in dem das global allge­genwärtige Kapi­tal dank moder­ner Technologie im­mer mobiler, ja “scheuer und flüch­tiger” ge­worden ist, über­wiegt das Risiko des unkon­trol­lierbaren Zusam­men­bruchs, ei­nes Kollaps, wie er Mexiko 1994 er­eilte.
Auch die Hoffnung auf Be­schäf­tigungsef­fekte und Tech­no­lo­gietransfer, die Direkt­in­ve­sti­tionen entge­gengebracht wird, hält einer ein­gehenderen Be­trach­tung nicht stand. Dennoch ist die Gier nach frischem Ka­pi­tal nicht einfach ein “frommer Selbst­betrug” wirt­schafts­li­be­ra­ler Regierung, fol­gert Müller-Plan­ten­berg. “Viel­mehr ent­sprechen massive Di­rekt­in­ve­sti­tio­nen auch den hand­festen In­te­res­sen derer, denen es darauf an­kommt, ein Wachs­tumsmodell zu fördern, das schnelle Be­rei­che­rung er­laubt und unter der Dro­hung von möglichen Ka­pi­tal­ab­flüssen im­mer weiter geführt werden muß.”
Handfeste Interessen weltweit agierender Konzerne stehen auch im Mittelpunkt der Debatte um “Biodiversität”, die Elmar Römpczyk nachzeichnet. Vor al­lem Pharmaunternehmen aus den USA versuchen, sich die Ver­fügungsgewalt über den ge­ne­tischen Reichtum des tropi­schen Lateinamerika zu sichern – sei es mittels Druck auf interna­tionale Gre­mien wie die Welt­han­delsorganisation WTO oder Lob­bying bei lateinamerikani­schen Regierungen. Sollte es diesen “Multis” gelingen, so Römpczyk, über die Schaffung eines ver­bind­lichen Patent­schutz­systems die Resultate ihrer Forschung zu mo­nopolisieren und dem­ent­spre­chend exklusiv zu verwerten, kä­me den Ländern des Südens einer ihrer größten Reichtümer – die Verfügung über ihre Artenvielfalt – abhanden. “Neben­effekt” der transnationa­len Offensive ist der skrupellose Eingriff in den Lebensraum der in­digenen Völker, die den Kapi­tal­interessen nur insofern von Nut­zen sind, als sie durch ihr tra­diertes Wissen eine Informa­tions­quelle über die Anwendung des “genetischen Materials” ab­ge­ben können.
Perspektiven für ei­ne gerech­tere Nutzung der Bio­diversität sieht Römpczyk in er­sten Ini­tia­ti­ven indigener Grup­pen, die sich ein Mitspra­cherecht erkämpft ha­ben, aber auch in einer Wei­ter­ent­wicklung der 1992 in Río ge­schaf­fenen Bio­di­ver­sitäts­kon­ven­tion.

Die Kosten der (De)industrialisierung

Anhand der brasilianischen Aluminiumproduktion versucht Dieter Gawora, “offene Rech­nungen” im Amazonasgebiet auf­zuzeigen. In diesem Falle handelt es sich zwar weniger um den direkten Einfluß der allge­genwärtigen Transnationalen, wohl aber um die ökologische Zerstörung und ethnische Ver­drängung, die Großprojekte wie die extrem energieintensive Alu­miniumgewinnung und -ver­ar­beitung zu verantworten haben.
Detailliert schildert Gawora die Situation am Rio Trombetas, ei­ner Region mit reichen Bauxit­vorkommen, in der seit Ende der sechziger Jahre entstandene För­derstätten und Retortenstädte die Nachkommen der vor zwei Jahr­hunderten in dieses Gebiet ge­flohenen afrikanischen Sklaven, der quilombos, verdrängen. Im Zusammenhang mit einem Stau­dammkomplex, der den Energie­bedarf der Produktion sichert, treiben die Aluminiumkonzerne die Umweltzerstörung voran; kri­tische GewerkschafterInnen wer­den mit zum Teil kriminellen Me­thoden mundtot gemacht. Gaworas Fazit: “Großprojekte sind immer geprägt von einer Ignoranz gegenüber ‘den ande­ren’. Sie sind unvereinbar mit ethnischen Differenzen und tra­ditioneller Wirtschaftsweise”.
Mit Akribie und einer Fülle an Datenmaterial schildert Paul Singer eine andere Facette brasi­lianischer Realität: die fort­schreitende Deindustrialisierung, ja “ökonomische Aushöhlung” des Großraums Sâo Paulo, wo sich vor den Inflationskrisen der achtziger Jahre und der in den Neunzigern forcierten Welt­mark­töffnung mehr als ein Drit­tel der industriellen Arbeitsplätze Brasiliens konzentrierte. Sym­ptomatisch für die Folgen der Strukturanpassung ist auch die stetige Zunahme prekärer, da informeller Arbeitsverhältnisse und ein Anwachsen der ohnehin starken Einkommenskonzentra­tion.
Eine Option, sinnvoll auf die kurz­fristig kaum umkehrba­ren Rah­menbedingungen von Markt­öff­nung und Strukturkrise zu re­agieren, erkennt Singer in de­zen­tralen Kompensationspoli­tiken. Dar­über hinaus denkt er über die Mög­lichkeit nach, “ausgehend von Initiativen der Stadt­re­gie­run­gen gemeinsam mit Kräften der Zi­vilgesellschaft einen neuen Wachs­tumszyklus zu eröffnen”, in­dem das enorme brachliegende Ar­beitspotential der Ar­beitslosen, Informellen und Un­ter­beschäftigten in “an­gepaßten For­men der Organi­sierung der Pro­duzenten” akti­viert wird. “Al­le Organisations­formen sind mög­lich, von iso­lierten oder zusammengeschlos­senen Privat­un­ternehmen bis zu kollektiven Un­ternehmen wie Ko­operativen, Pro­duktionsge­mein­schaften oder was sonst noch ausgedacht und aus­probiert werden könnte”.

Revolutionäre Werte in Erosion

Inwiefern die kubanische Re­volution alte Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten nicht restlos hat beseitigen, sondern nur ver­drängen können, beschreibt ab­schließend Bert Hoffmann. Lan­ge nicht für möglich gehaltene “Come­backs” – von der Wieder­kehr des Weihnachtsfestes über die öffentliche Akzeptanz der santería bis hin zum Aufleben des latenten Rassismus – haben die Versuche von Partei und Re­gierung den KubanerInnen be­schert, Wege aus der wirtschaft­lichen Misere zu finden. Daß mit der faktischen Legalisierung des Dollarbesitzes, der beginnenden Liberalisierung der Arbeitsver­hältnisse und den Privilegien des devisenträchtigen Tourismusge­schäftes neu-alte soziale Un­gleichheit entstanden ist, er­scheint noch weniger erschrek­kend als die Renaissance einer rassistischen Mentalität, die von einem ebenso neuen wie alten sozialen Gefälle zwischen den Ethnien genährt wird. Das ideo­logisch verordnete Gleichheits­postulat erweist sich hier als we­nig tragfähig, galten doch auf Kuba zaghafte Ansätze ethni­scher Selbstartikulation etwa als “schwarzer Rassismus”. Für Hoffmann stellt gerade die von der kubanischen Führung betrie­bene Ineinssetzung von Revolu­tion und sozialistischem Staat in diesen Krisenzeiten eine Gefahr dar, denn “wenn diese Verknüp­fung nicht aufgebrochen werden kann, droht der Legitimitätsver­lust des politischen Systems auch die der Revolution zugrun­deliegenden Werte insgesamt in Frage zu stellen”.
Trotz der zum Teil ausgespro­chen lesenswerten Artikel krankt die Konzeption des Jubiläums­bandes an der zu weit formu­lierten und locker gehandhabten Themenvorgabe. Vorausgegan­ge­ne Ausgaben konnten deutlich stringenter der bewährten Schwer­punktsetzung folgen. Si­cher: “Offene Rechnungen” wer­den präsentiert. Bloß läßt sich diese Interpretationshilfe mit ein wenig Geschick auf nahezu alle sozialen, politischen und öko­no­mischen Problematiken an­wenden.
Daß die Herangehensweise der AutorInnen an ihr Thema stark variiert, hat weniger Aus­wirkungen auf den Gehalt ihrer Darstellungen als auf die Les­barkeit. Während die Herausge­berInnen Singers Beitrag im Vorwort zu Recht als “sperrig” bezeichnen, fällt Hoffmanns feuilletonistischer Stil wohltuend auf.
Lesenswert sind wie immer die Länderberichte, die im zweiten Teil die Ereignisse des vergangenen Jahres in Brasilien, El Salvador, Guatemala, Haiti, Kolumbien, Kuba, Mexiko und Ve­nezuela nachzeichnen. Be­dau­erlich ist allerdings die im vor­liegenden Band reduzierte An­zahl von Ländern: Während durch den Kuba-Artikel eine ge­wis­se Dopplung entsteht, wäre der Blick auf ein anderes der hier fehlenden Länder – Argenti­nien, Bolivien, Peru oder Ecuador – wünschenswert gewesen.

Nichts Neues in Sicht?

Die Zeiten großer gesell­schaftlicher Gegenentwürfe sind vorbei. Zwar ist dem Herausge­berInnenteam zuzustimmen, daß sich “zentrale Fragen internatio­nalisierter Ausbeutung und des Spielraums von Emanzipations­be­wegungen gerade in Latein­amerika in exemplarischer Weise stellen”. Die Texte dieses Jahr­buches sind durchaus in der Lage, dies zu zeigen. Mit Vor­schlägen für gangbare linke Al­ternativen – etwa wie der Glo­balmacht der “Multis” zu begeg­nen sei – halten sich allerdings die meisten AutorInnen vorsich­tig zurück oder bleiben vage. Das Vorwort vermerkt dies mit Selbstkritik und verweist nur auf Singers locker konzipierten Ent­wurf einer Basisökonomie jen­seits von Staatsunternehmen und Finanzkapital, da dieser “eine Diskussion über vorhandene und nicht vorhandene Alternativen der Linken zum Neoliberalismus eröffnen könnte”.
Eine revidierende Feststellung mußten die HerausgeberInnen – zwanzig Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes – allerdings treffen: Lateinamerika steht nach den weltweiten Veränderungen der letzten Jahre zweifelsohne nicht mehr im Mittelpunkt der Auf­merksamkeit. Daß dennoch auch im deutschen Sprachraum aktuelle und kritische Forschung weiterhin ein Sprachrohr hat, ist nicht zuletzt auch ein Verdienst der “Lateinamerika”-Reihe.

Lateinamerika – Analysen und Be­richte 20: Offene Rechnungen, hg. von Karin Gabbert u.a., Horlemann 1996.

Zweckehe im Isthmus?

Da gab es die kriegerischen Unternehmungen des Söldnerführers William Walker aus Tennessee, der in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von Nicaragua aus den ganzen Isthmus unterwerfen wollte, und die des liberalen Präsidenten von Guatemala, Justo Rufino Barrios, der eine Einheit unter guatemaltekischer Hegemonie anstrebte. Walker scheiterte weil sich alle fünf Republiken gegen ihn zusammentaten, Barrios dagegen scheiterte weil die fünf für eine gemeinsame Regierung doch zu individualistisch waren. In diesem Jahrhundert setzte man eher auf friedliche Mittel und wirtschaftliche Integration. Meist steckten hierbei Interessen der USA dahinter.
Wer Zentralamerika kennt, der weiß, wie schwierig es ist, den Isthmus auf dem Landweg zu durchqueren. Die bis vor kurzem bestehende Visapflicht, umständliche Amtswege für die Grenzüberschreitung mit Privatfahrzeugen, Willkür bei der Zollabfertigung und schlechte Straßen garantieren den Fluggesellschaften, die zwischen den Hauptstädten verkehren, ein sicheres Geschäft. Und das, obwohl die Tarife für die Anzahl der Flugkilometer deutlich überhöht ist. Der grenzüberschreitende Busverkehr – mit Ausnahme der Strecke Guatemala-El Salvador – ist mühsam und unbequem. Eine moderne Eisenbahnlinie von Guatemala bis Panama, die das Reisen und den Gütertransport innerhalb der Region dramatisch vereinfachen und verbilligen würde, ist bisher nicht einmal ernsthaft diskutiert worden. Es wird den Brüdern und Schwestern der Region also nicht leichtgemacht, einander näherzukommen. Deswegen gibt es auch mehr NicaraguanerInnen, die Miami kennen, als solche, die schon einen Urlaub in Guatemala verbracht haben und mehr Salvadorianer, die in Los Angeles aus- und eingehen als im nur zwanzig Flugminuten entfernten Tegucigalpa. Das Vorurteil blüht: so gelten die Ticos (Costa Rica) als hochnäsig, die Nicas als faul und gewalttatig, die Catrachos (Honduras) als doof, die Guanacos (El Salvador) als übertrieben strebsam und die Chapines (Guatemala) als verschlagen.
Eine Ausnahmeerscheinung ist das Volk der Miskitos am Río Coco, für die der Grenzfluß zwischen Nicaragua und Honduras nie eine maßgebliche Trennungslinie gewesen ist. Für sie war es bis zur Aufrüstung der Konterrevolution während der sandinistischen Jahre selbstverständlich, auf der einen Seite zu leben und auf der anderen das Feld zu bestellen. Und die Mobilität der Arbeitskraft war schon in den 70er Jahren eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Ohne die ArbeiterInnen aus Honduras und El Salvador wären die Expansion der Kaffeewirtschaft und der Baumwollboom in Nicaragua nicht denkbar gewesen. Und heute würden die Bananenplantagen in Costa Rica ohne die legal oder illegal eingereisten WanderarbeiterInnen aus Nicaragua nicht auskommen.

Versuche der Kooperation

Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua und Costa Rica, mit einer Gesamtfläche von 432.000 Quadratkilometern und 27 Millionen EinwohnerInnen, sind nicht nur Länder mit einem guten Stück gemeinsamer Geschichte, sie sind auch Konkurrenten, die ihre traditionellen Produkte wie Kaffee, Bananen, Zucker und Baumwolle auf denselben Märkten placieren wollen. Bis in die 60er Jahre waren es fast reine Agrargesellschaften, die ausreichend Nahrungsmittel für den Eigenbedarf produzierten, aber gleichzeitig mit Exportmonokulturen einem zunehmenden Bedarf in den USA entgegenkamen. Erst nach 1960, als die Kennedy-Regierung mit der Allianz für den Fortschritt in Lateinamerika ein Bollwerk gegen das castristische Kuba schaffen wollte, wurden politische Reformen und Industrialisierung gefördert. In diesem Rahmen wurden in Zentralamerika drei Organisationen geschaffen: auf der politischen Ebene die Organisation Zentralamerikanischer Staaten (ODECA), auf der militärischen der Zentralamerikanische Verteidigungsrat (CONDECA) und auf der wirtschaftlichen der Zentralamerikanische Gemeinsame Markt (MCCA). Dem letzteren lag die Idee zugrunde, daß nur der gemeinsame Markt die Industrieproduktion lohnend mache. In jedem Land sollte ein Zweig für die Versorgung der gesamten Region angesiedelt werden, um größere Mengen zu vertretbaren Stückkosten herzustellen: etwa Zahnpasta in Guatemala, Schuhe in El Salvador und Seife in Nicaragua. Die Anfänge waren vielversprechend, zumal die wirtschaftliche Konjunktur die Kaufkraft der Konsumenten steigerte. Doch MCCA und CONDECA scheiterten mit dem Ausbruch des sogenannten Fußball-Krieges zwischen Honduras und El Salvador. Nicht an primitivem Sportchauvinismus, wie der Name der dreitägigen bewaffneten Auseinandersetzung suggeriert, sondern an der unterschiedlichen demographischen Struktur der Länder. Aus dem überbevölkerten El Salvador hatten sich tausende BäuerInnen auf honduranischem Boden angesiedelt, von wo sie im Zuge einer demagogischen Agrarreform des honduranischen Militärdiktators vertrieben wurden.

Der Wunsch der USA: gegen Nicaragua vereint

Diese Wunden waren noch nicht verheilt, als in Nicaragua die sandinistische Revolution ausbrach. Die Solidarität, die die honduranische Bevölkerung während des Volksaufstandes den Flüchtlingen vor Somozas Nationalgarde entgegengebracht hatte und die Sympathien der Nachbarvölker für das neue Gesellschaftsmodell waren bald gebremst. Als Flüchtlinge kamen jetzt Soldaten der aufgelösten Nationalgarde, und das Grenzgebiet wurde in eine Aufmarschbasis für die Konterrevolution verwandelt. Auch an der Südgrenze zu Costa Rica wurde Nicaragua zunehmend isoliert. Während Nicaragua mit einem Wirtschaftsembargo bestraft wurde, bekamen die loyalen Länder Vorzugsquoten für den Export von Zucker und anderen Rohstoffen in die Vereinigten Staaten zugebilligt. Die USA förderten aber auch eine Integration Zentralamerikas gegen Nicaragua, vor allem auf der Ebene der Streit- und Sicherheitskräfte. Bleibendster Effekt dieser Vernetzung sind die Autoschieberringe und Drogenbanden, die in den Polizeiapparaten von El Salvador, Honduras und Guatemala aufgebaut wurden.
Von der Europäischen Gemeinschaft wurde die diskriminierende Wirtschaftspolitik nicht geteilt. Im Gegenteil: die EuropäerInnen setzten auf Integration statt Isolation Nicaraguas und machten seit Mitte der 80er Jahre ihre multilaterale Wirtschaftshilfe von einer regionalen Einigung abhängig, die jedes Jahr bei den San-José-Nachfolgetreffen erneuert wird. Doch die Programme waren zu dürftig, um gegen die Machtpolitik der USA eine echte Annäherung der verfeindeten Regierungen durchsetzen zu können.

Die neunziger Jahre: Ära des Freihandels

Erst im Jahre 1990, als die Sandinisten in Nicaragua abgewählt wurden, konnte die regionale Integration aller wieder versucht werden. Seit sich in den USA unter Präsident George Bush die Überzeugung durchsetzte, daß die größte Wirtschaftsnation der Welt auf Dauer gegenüber einem geeinten Europa und einem boomenden Ostasien nur bestehen kann, wenn sich der ganze Kontinent in einen gemeinsamen Wirtschaftsraum verwandelt, ist von Labrador bis Feuerland Integration angesagt. Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen zwischen Kanada, Mexiko und den USA (NAFTA) sprengte die Grenzen zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern – für den Kapitaltransfer, nicht für den Verkehr menschlicher Arbeitskraft. Freihandel heißt die Devise, die in ganz Lateinamerika aufgegriffen wurde. Plötzlich wurde dem Mercosur, zu dem sich Argentinien, Brasilien, Uruguay und Chile schon lange zusammengeschlossen hatten, neues Leben eingehaucht. Mexiko, Venezuela und Kolumbien schlossen ein Freihandelsabkommen und auch der Andenpakt wurde wiederbelebt.
Da konnte Zentralamerika nicht nachstehen. Die Region hat nur eine Chance ernstgenommen zu werden, wenn sie ihre traditionelle Zersplitterung überwindet. Deswegen nehmen seit einigen Jahren auch Panama und Belize, die zwar geographisch, aber nicht historisch zu Mittelamerika gerechnet werden, seit einigen Jahren an den Gipfeltreffen der zentralamerikanischen Präsidenten teil. Für Guatemala bedeutet diese Erweiterung einen stillschweigenden Verzicht auf die offiziell noch immer aufrechten Ansprüche auf das Territorium von Belize, das 1981 von Großbritannien in die Unabhängigkeit entlassen wurde.
Die Integration schreitet jetzt in Riesenschritten voran. Zumindest auf dem Papier. Im Dezember 1991 wurde in Tegucigalpa das Zentralamerikanische Integrationssystem (SICA) als Folgeorganisation der ODECA gegründet. Dies ist für die ZentralamerikanerInnen weniger ein neuer Versuch echter regionaler Integration, sondern eine Voraussetzung, um sich irgendwann in den NAFTA einzuklinken und ihre Exporte ohne Handelshemmnisse in diesen gigantischen Wirtschaftsraum liefern zu können.

Sozialpolitik und Umwelt haben das Nachsehen

Die im Interesse der Globalisierung gefaßten Beschlüsse der Gipfeltreffen dienen den einzelnen Regierungen dazu, unpopuläre Maßnahmen innenpolitisch zu rechtfertigen. Zum Beispiel den Sozialabbau und die Beschneidung von Gewerkschaftsrechten, mit dem Hinweis, der Wirtschaftsstandort müsse verteidigt werden.
Freihandel und Sozialabbau können die strukturellen Probleme der Region gewiß nicht lösen. Für die 68 Prozent der ZentralamerikanerInnen, die laut United Nations Development Programm (UNDP) in “kritischer” Situation leben oder überleben, sind dringende Programme gefordert. So hat zuletzt der Sozialgipfel von Tegucigalpa die extreme Armut weder national noch regional eingedämmt.
Auch bei der Umweltzerstörung liegt Zentralamerika mit sechs Prozent Entwaldung jährlich weltweit im Spitzenfeld. Trotzdem hat der Umweltgipfel von Managua außer vielen schönen Worten nicht viel Konkretes gebracht.

NGOs haben es schwer: Integration als Chefsache

Deswegen sind die zentralamerikanischen NGOs immer weniger bereit, die Integration allein den Regierungen zu überlassen. Der Globalisierung widersetzt sich heute keiner mehr ernsthaft. Doch: “Damit die nachhaltige Entwicklung der Menschheit möglich wird, müssen drei Aktoren zusammenwirken: Staat, Markt und Zivilgesellschaft”. Mit diesem Vorstoß brachte sich die Concertación Centroamericana auf der UNO-Sozialkonferenz von Kopenhagen ein. Unter diesem Namen haben sich nichtregierungsgebundene Organisationen der Region zusammengeschlossen, um mit einer gemeinsamen Stimme gegen die Regierungen – die Integration als Chefsache betrachten – auftreten zu können. Kurz darauf, im Oktober 1994, schufen die regierungsunabhängigen Organisationen die “Zivile Initiative der Zentralamerikanischen Integration” (ICIC), die alle Themen der folgenden Gipfeltreffen aufgriff und sich als ständiges Konsultativorgan einzubringen versucht. Mit bisher wechselhaftem Erfolg.
Zwar sind ICIC-Mitglieder inzwischen als ständige Beobachter beim SIECA, SICA und im Zentralamerikanischen Parlament anerkannt, doch ist ihr Einfluß gering. Die Präsidentengipfel, so heißt es in einem Papier der ICIC, benützten einen “scheinbaren Dialog” mit der Zivilgesellschaft, um bei der internationalen Gebergemeinschaft an zusätzliche Mittel zu kommen, “die in der Praxis weit entfernt sind, den Bedürftigen zu nützen.”
Konkrete Vorschläge der Zivilgesellschaft sind bisher von den Staatschefs ignoriert worden, so zum Beispiel die Vorlage für einen regionalen Sozialpakt. Dennoch unterbreiteten die Regierungen Zentralamerikas beim Sozialgipfel in Kopenhagen eine Konvention der Sozialen Integration, die sie als Produkt einer breiten Diskussion mit allen betroffenen Gruppen präsentierten.

Eigener Weg nur mit Druck von unten

Von einer gemeinsamen Sozialpolitik ist Zentralamerika aber noch genauso weit entfernt wie vom gemeinsamen Wirtschaftsraum. Zwar gibt es schon seit vielen Jahren einen Energieverbund, der auch während der Revolutionsjahre funktionierte und verhinderte, daß die Stromversorgung noch häufiger als ohnehin schon zusammenbrach. Doch wenn es um partikuläre Handelsinteressen geht, kehren die Regierungen schnell wieder zu protektionistischen Maßnahmen zurück. So läßt Costa Rica unter dem Vorwand der Lebensmittelhygiene nicaraguanische Bohnen an der Grenze verschimmeln, um die eigenen Produzenten zu schützen. Auch beim Aushandeln von Bananenquoten mit der EU stieg Costa Rica aus dem gemeinsamen Verhandlungsforum aus und suchte seine Exportquote im Alleingang zu erhöhen. Und bei der Verhandlung der Staatsverschuldung ziehen die Regierungen gesonderte Verhandlungen mit den Gläubigern vor, statt gemeinsam aufzutreten.
Investoren nützen die Konkurrenzsituation aus, um günstigere Bedingungen zu erpressen. Warum sollten sie sich Gewerkschaften in den Fertigungsbetrieben gefallen lassen, wenn im Nachbarland die Organisationsfreiheit eingeschränkt ist? Warum eine Erhöhung des Mindestlohnes hinnehmen, wenn nur 200 Kilometer entfernt für weniger Geld mehr gearbeitet wird? So gesehen ist die Unterzeichnung einer zentralamerikanischen Sozialcharta nicht nur eine legitime Forderung der Arbeitnehmer sondern muß auch im Interesse der Regierungen liegen. Die Integration “von unten” unter Mitwirkung der verschiedenen sozialen Akteure ist heute eine Notwendigkeit. Solange aber der Druck von unten fehlt, werden sich die Staatschefs der Region ihre Politik weiterhin “von oben”, also von den USA und dem Weltwährungsfonds, diktieren lassen.

Singapur als Vorbild

Der Dienstleistungsstandort Panama ist gekennzeichnet durch: den Kanal, die Freihandelszone in Colón (ein Umschlagplatz für Waren, die nach ganz Lateinamerika reexportiert werden), das internationale Bankzentrum (mit dem zusätzlich zu Menschen und Waren Kapital in und über Panama bewegt wird) sowie die Ölpipeline vom Atlantik zum Pazifik, Briefkastenfirmen und Billigflaggen.
Heute versuchen die führenden Kräfte des Landes, an der im Zuge der Globalisierung zunehmenden Bewegung von Waren und Kapital teilzuhaben und verstärkt von ihr zu profitieren. Sie glauben, daß der Welthandel weiter expandieren wird, vor allem als Folge des Exportwachstums asiatischer Länder wie China und Indien. Das dürfte den Transport durch den Kanal erhöhen. Panama würde davon auch als Warenumschlagplatz profitieren. Dem Bankenzentrum soll die Intensivierung der Kapitalströme zugute kommen. Zusätzlich wird eine Strategie propagiert, die den Nutzen speziell des Kanals und der Kanalzone für das Land verstärken soll, indem ihr Enklavencharakter begrenzt wird.
Der Kontext ist in der Tat historisch: Wie in den Torrijos-Carter-Verträgen vorgesehen, wird der Kanal und die sich auf beiden Seiten anschließende etwa acht Kilometer breite Kanalzone, die ebenfalls Hoheitsgebiet der USA ist, am 31. Dezember 1999 um 12 Uhr mittags von Panama übernommen. Gleichzeitig soll vertragsgemäß die Übergabe der US-Militärbasen in der Kanalzone abgeschlossen sein.

Der Kanal geht in die Hände Panamas über

Gegenwärtig bringt der Kanal Panama jährlich etwa 100 Millionen US-Dollar in Form der der Royalties ein, die an die Kanalkommission gezahlt werden müssen. Außerdem kommen noch die Löhne für die etwa 8000 panamaischen Beschäftigten hinzu. Im Mai und August dieses Jahres fanden unter Schirmherrschaft der UNO zwei nationale Konferenzen mit RepräsentantInnen von Regierung, Parteien und der Zivilgesellschaft statt – Titel: “Panamá 2000” -, auf denen die Übernahme des Kanals als nationale Aufgabe definiert und die Erfordernisse bezüglich der gesellschaftlichen Entwicklung diskutiert wurden. Damit sollte ein gesellschaftlicher Konsens erzielt werden, unter anderem, um den Kanal aus den politischen und sozialen Konflikten herauszuhalten.
Für 1997 ist eine hochrangige internationale Konferenz über die zukünftige Nutzung des Kanals geplant. Mit ihr will die panamaische Regierung auch möglichen Befürchtungen über eine ineffiziente Verwaltung nach dem Jahre 1999 entgegentreten; diese waren aufgrund des heruntergekommenen Zustandes vieler bereits von Panama übernommener Gebäude entstanden.
Zwischenzeitlich soll der Transit durch den Kanal mittels der gegenwärtig stattfindenden Erweiterung der schmalsten Stelle, Gaillard Cut oder Corte de Culebra genannt, beschleunigt werden. Da Schiffe, deren Ausmaße die für eine Kanaldurchquerung mögliche Maximalgröße überschreiten, zahlenmäßig im Seeverkehr immer mehr zunehmen, wird jetzt der Bau einer größeren, dritten Schleusenstufe befürwortet. Als Baubeginn werden die Jahre 2000, 2005 oder 2010 gehandelt.
Außerdem werden andere Transitwege ausgebaut, so eine neue Autobahn zwischen Panama-Stadt und Colón und die aus dem 19. Jahrhundert stammende transisthmische Bahnlinie, die reaktiviert werden soll. Schließlich sollen bestehende Häfen modernisiert und neue für Containerfrachtschiffe gebaut werden.

Was wird aus den US-Militärbasen?

Nach einer Studie panamaischer Wirtschaftswissenschaftler bringen die noch bestehenden US-Militärbasen Panama jährlich etwa 180 Mio. US-Dollar ein – vor allem über den Ankauf von Waren und Dienstleistungen (154 Millionen US Dollar) und die Lohn- und Gehaltszahlungen an die etwa 3500 panamaischen Zivilbeschäftigten (25 Millionen US Dollar). Aus diesem Grunde werden in Panama die Stimmen immer lauter, die einen Verbleib der Basen befürworten. Nach einigen Umfragen ist es sogar die Mehrheit.
Wie nicht anders zu erwarten, gibt es auch in den USA Stimmen, die sich gegen einen vollständigen Rückzug wenden. Auf Initiative des Senators Helms forderte der Senat die Regierung auf, den Torrijos-Carter-Verträge neu zu verhandeln. Zur Begründung wird die strategische Bedeutung der Basen bei der Kontrolle des Drogenhandels genannt. Um zunächst eine einheitliche Position der verschiedenen US-Behörden zu formulieren und damit in spätere Verhandlungen zu gehen, wurde eine Arbeitsgruppe gebildet. Ihr Vorsitzender ist John Negroponte, der als US-Botschafter in Honduras während der Reagan-Administration eine wichtige Rolle bei der Organisation des Contra-Krieges gegen Nicaragua spielte. Später, als Botschafter auf den Philippinen, war er an den Verhandlungen um die Schließung der dortigen US-Basen beteiligt.
Der offizielle panamaische Standpunkt ist, daß der Torrijos-Carter-Vertrag erfüllt werden müsse. Allerdings wäre es denkbar, daß einige Basen unter neuen Konditionen erhalten bleiben. Dazu zählt vor allem die Zahlung von Miete für ihre Nutzung, welche die US-Regierung allerdings ablehnt. Außerdem hat Präsident Pérez Balladares den Ländern der Rio-Gruppe vorgeschlagen, nach der Übergabe der Luftwaffenbasis Fort Howard dort ein multinationales Anti-Drogenzentrum einzurichten. Bereits seit 1992 entfaltet das US-Militär dort Anti-Drogenaktivitäten, zum Beispiel kontrollieren AWACS-Flugzeuge den Flugverkehr in der Region.
Verbindungsoffiziere aus Kolumbien, Peru und Venezuela sorgen dafür, daß die Anti-Drogenpolitik schon heute international bestückt ist. Die Fortführung des Anti-Drogenzentrums wäre ein Erfolg der umstrittenen US-Strategie, den lateinamerikanischen Militärs die Drogenbekämpfung als neue zentrale Aufgabe schmackhaft zu machen. Eine wichtige Rolle spielt dabei der ehemalige Befehlshaber des Südkommandos in Panama, Barry McCaffrey, jetzt oberster Drogenbekämpfer unter der Regierung Clinton. Noch sträuben sich allerdings viele lateinamerikanische Militärs gegen diese neue Funktion.
Die wirtschaftlichen Motive machen die panamaische Regierung verhandlungsbereit. Informelle Gespräche sollen bereits stattgefunden haben. Mit der Ernennung eines Unterhändlers auf panamaischer Seite ist in nächster Zeit zu rechnen. Vermutlich wird es darauf hinauslaufen, daß zwei bis drei Basen mit Kommunikations- und Überwachungsfunktionen erhalten bleiben.
Der Wert des vom US-Militär zu übergebenden Bodens samt Liegenschaften wird auf 4,6 Millarden US-Dollar geschätzt, eine angemessene Nutzung vorausgesetzt. Um die Verwertung der ehemaligen Kanalzone zu organisieren, wurde die Autoridad de la Región Interoceánica (ARI) gegründet, an deren Spitze der panamaische Ex-Präsident Nicolás Ardito Barletta steht. Ihre Strategie stützt sich zunächst auf Verbesserung der Transitwege und stärkere Verflechtung der panamaischen Wirtschaft mit der internationalen Schiffahrt, zum Beispiel durch den Verkauf von Treibstoff und Lebensmitteln sowie Reparaturleistungen. Außerdem sind drei weitere Pfeiler vorgesehen.

Pläne für ein Singapur am Kanal

Pfeiler eins: In freien Produktionszonen an den Kanalausgängen sollen maquila-Betriebe angesiedelt werden, deren Standortvorteil die verkehrsgünstige Lage ist. In der ehemaligen Militärbasis Fort Davis wurde – mit taiwanesischen Geldern – bereits mit dem Bau eines Industrieparks begonnen.
Pfeiler zwei: Die “feineren” Gegenden der Militärbasen, wie Viertel der Offiziersfamilien, sollen einem “gehobenen” Tourismus dienen, etwa als Anlaufpunkt für Kreuzfahrten. Es wird auch an “Öko-Tourismus” in den Nationalparks gedacht, die zur Stabilisierung des Wasserhaushalts um den Kanal liegen.
Pfeiler drei: Nach dem Vorbild des seit langem in Panama ansässigen Smithsonian-Instituts sollen Forschungseinrichtungen und eine internationale Universität Tropenforschung betreiben. Unternehmen sollen sich in Panama mit der Erfassung des genetischen Reichtums der Region beschäftigen.
Als Vorbild für die angestrebte wachstumsintensive Integration gilt der Stadtstaat Singapur. Ganz im Zuge der globalen Tendenzen wird in der Privatwirtschaft der treibende Akteur gesehen. Nachdem die “Post-Invasions-Regierung” Endara mit ihren Liberalisierungs- und Privatisierungsplänen nicht sehr weit kam, ist es ironischerweise die vom General Torrijos gegründete PRD unter dem Präsidenten Ernesto Pérez Balladares, die die gleiche Strategie offensichtlich erfolgreicher verfolgt. Die Hauptkandidaten für die Privatisierung sind die Häfen und die staatlichen Telekommunikations- und Strommonopole.
Mit dem Beitritt zur Welthandelsorganisation und einem, wenn auch graduellen, Zollabbau sollen auch die Landwirtschaft und die Industrie verstärkt in den Weltmarkt eingebunden werden. Sie sollen sich auf den Export orientieren, am besten in Verbindung mit ausländischem Kapital. Beide Sektoren erwirtschaften einschließlich der Bauwirtschaft lediglich etwa ein Viertel des Bruttosozialprodukts, stellen jedoch knapp 40 Prozent der Arbeitsplätze.
Die Globalisierung und der Vormarsch der Dienstleistungen in der Weltwirtschaft bieten der Wirtschaft Panamas neue Chancen. Mit dem Ausbau und der Diversifizierung der Transitfunktion wird Panama wohl auch gegenüber möglichen Konkurrenten (zumindest in Mexiko, Honduras, Nicaragua und Costa Rica wird hin und wieder vom Bau transisthmischer Bahn- oder Straßenverbindungen gesprochen, die einen Teil der über Panama laufenden Transporte abschöpfen sollen) seine Position behaupten können. Eine stärkere Verflechtung mit den Transitaktivitäten würde die nationale Wertschöpfung steigern.
Die aktuelle Strategie zur Wahrnehmung dieser Chancen trifft allerdings auch auf Unwägbarkeiten. So stagnierten in den letzten Jahren trotz wachsenden Verkehrs die Investitionen zur Instandhaltung des Kanals. Dies könnte bedeuten, daß die Investitionen, die nach der Übergabe des Kanals fällig sind, deutlich höher sein müssen als erwartet. Außerdem erhöht der Ausbau des Kanals seinen Wasserbedarf drastisch. Schon bei den alten Schleusen “kostet” eine Kanaldurchquerung etwa 200 Millionen Liter Süßwasser. Der Kanals ist jetzt schon sehr sensibel gegenüber Klimaschwankungen, die kaum allein durch die Wiederaufforstungsprojekte und die Verhinderung der Abholzung in seiner unmittelbaren Umgebung kontrolliert werden können.
Andere bereits bestehende Pfeiler des Dienstleistungszentrums Panama, wie die Freihandelszone in Colón und das internationale Bankenzentrum, sind von den Globalisierungstendenzen eher negativ betroffen. Das Gewicht der Freihandelszone, in der etwa 13.000 Menschen arbeiten, wird wohl trotz expandierenden regionalen Handels eher abnehmen. Gründe sind die generellen Liberalisierung des Aussenhandels, die Verbilligung des Transportes, die Umstellung von Firmenstrategien (“just-in-time”) und die wachsenden Konkurrenz durch ähnliche Einrichtungen in anderen Ländern. Auch das Bankenzentrum unterliegt verschärfter Konkurrenz und hat – von der Krise 1988/89 schwer getroffen – bis 1995 nicht wieder das Aktivitätsniveau von Mitte der achtziger Jahre erreicht.
Wichtiger ist jedoch die Frage, welches die sozialen Folgen des “Modells Singapur” sind. Panama liegt in der Ungleichheit der Einkommensverteilung in Lateinamerika mit an der Spitze, was zum Teil am Nebeneinander von lukrativen, aber wenig arbeitsintensiven Tätigkeiten und solchen mit niedriger Produktivität und niedrigem Arbeitseinkommen liegt. Die offizielle Strategie hat kein Rezept für die Teile Panamas, die in der den Kanal umschließenden Zentralregion (Provinzen Panamá und Colón) liegen. Das Original-Singapur hatte auch keines, hatte es allerdings auch nicht nötig. In Panama leben jedoch etwa 40 Prozent der Bevölkerung in diesen Regionen.
Aber auch für die Bevölkerung der Zentralregion sind die Aussichten nicht uneingeschränkt rosig. Die Zollsenkungen dürften zumindest kurzfristig Produktionsrückgänge und Arbeitsplatzverluste in der Industrie bewirken. Es bleibt abzuwarten, ob die maquila-Industrie die versprochenen Arbeitsplätze schafft. Bei dem in regionalem Vergleich relativ hohen Lohnniveau müßte die Konkurrenzfähigkeit über die Qualifizierung der Beschäftigten und eine effiziente Infrastruktur gesucht werden.
Bislang ist jedenfalls ein Großteil der Bevölkerung auch der Región Metropolitana von den Segnungen der Dienstleistungswirtschaft ausgeschlossen, was sich in einer Arbeitslosenrate von rund 16 Prozent und einem großen informellen Sektor ausdrückt. So ist es kaum verwunderlich, daß es in der Hafenstadt Colón am Atlantikausgang des Kanals wie schon häufiger in den Jahren zuvor im Juli 1996 erneut zu massiven Protesten gegen die herrschende Arbeitslosigkeit kam.
Während es bei den Auseinandersetzungen in Colón darum geht, an den globalen Integrationsprozessen teilzuhaben – und sei es über einen Arbeitsplatz -, entwickelt sich ein anderer sozialer Konflikt zwischen lokalen und globalen Interessen. Im seinem Mittelpunkt stehen die wieder ausgegrabenen Pläne zur Ausbeutung der Kupfervorkommen des Cerro Colorado im Westen des Landes. Er gilt als eine der größten Kupferreserven der Welt und liegt in einem Gebiet, das die Ngobe-Buglé (oder Guaymies), das größte indianische Volk Panamas, für ihre teilautonome Region (Comarca) beanspruchen. Mit einem Marsch nach Panama-Stadt demonstrierten sie Ende Oktober ihren Widerstand gegen das Projekt.
Neben der Schwächung der nationalen Integration – sowohl sozial als auch geographisch – steht durch das “Modell Singapur” auch die Zukunft der regionalen Integration in Frage. Seit Anfang der neunziger Jahre nimmt Panama an den zentralamerikanischen Gipfeltreffen teil, 1996 beteiligte sich Pérez Balladeres auch am Gipfel der Länder des Andenpakts. Wie die verstärkte Kooperation mit den lateinamerikanischen Nachbarn mit der globalen Orientierung des “Modells Singapur” vereint werden soll, bleibt allerdings noch ein Geheimnis.

Militarisierung der Gesellschaft

Seit 1995, aber vor allem seit Beginn diesen Jahres hat sich die Achtung der Menschenrechte auf verschiedene Weise verschlechtert. Dreierlei läßt sich unterscheiden. Zum einen wird versucht, die politischen, ökonomischen und kulturellen Menschenrechte den sogenannten “höheren” Interessen der Nation unterzuordnen. Zweitens polemisiert die Regierungsseite gegen die unabhängige Menschenrechtsarbeit. AktivistInnen werden verleumdet und diskreditiert. Zum dritten hat sich gezeigt, daß die venezolanische Regierung mit ihrer öffentlichkeitswirksamen Rhetorik, die Strukturanpassungsprogramme des IWF nur mit “menschlichem Antlitz” durchzusetzen, vor allem Schaumschlägerei betrieben hat und die soziale Abfederung der Strukturanpassung üblicherweise dem wirtschaftlichen Erfolg hintangestellt wird. Zusammen haben diese drei Tendenzen in den letzten Monaten zu einem gesellschaftlichen Klima beigetragen, indem die Verletzung von Menschenrechten auf breiter Basis geduldet wird.
Von den Menschenrechtsverletzungen, die 1995 verschiedene NGOs registriert haben, wurde ein großer Teil staatlich legitimiert, indem auf die Aufhebung konstitutioneller Rechte verwiesen wurde. Leitlinie für die Regierungspolitik bildet das Decreto No. 285 vom 22. Juli 1994, indem es heißt, daß “die Aufrechterhaltung des Friedens der Republik … essentielle Pflicht des Staates ist.” Der Erlaß diente zur Rechtfertigung der Suspendierung verfassungsmäßiger Garantien bis zum Juli 1995. In den konfliktbeladenen Grenzregionen zu Kolumbien herrscht der Ausnahmezustand jedoch weiterhin. Von staatlicher Seite wurde und wird davon ausgegangen, daß die venezolanischen BürgerInnen inzwischen an die zunehmenden Menschenrechtsverletzungen gewöhnt sind. Mit einem massiven Protest gegen ein Außerkraftsetzen verfassungsmäßiger Rechte wird deshalb nicht gerechnet.

Höhere und niedere Interessen

Der Schutz der Menschenrechte ist in den vergangenen Jahren von der Regierung zu einem sekundären politischen Ziel degradiert worden. Dabei fügen die “höheren”, “nationalen” Interessen der Bevölkerung eher Schaden zu, als daß sie ihr nützen.
Eines dieser “höheren” Interessen ist die nationale Souveränität. Nach einem Zusammenstoß zwischen kolumbianischen Guerillakämpfern und venezolanischen Marine-Streitkräften im Februar 1995, bei dem acht Soldaten ums Leben kamen, wurde an der Zivilbevölkerung Vergeltung geübt. In Cararabo, einem Ort nahe der kolumbianischen Grenze, wurden dreiundzwanzig Bauern verhaftet und gefoltert – unter dem Verdacht, daß sie die kolumbianische Guerilla unterstützen. Nach Auskunft der militärischen Befehlshaber der Zone handelte es sich um die legitime Verteidigung der nationalen Souveränität. Damit hatte es jedoch nicht sein Bewenden. Die gegen KolumbianerInnen gerichtete Fremdenfeindlichkeit und das permanente Mißtrauen gegenüber den in der Grenzregion lebenden VenezolanerInnen, gipfelte darin, daß hunderte Personen ausgewiesen wurden, und dies ohne vorherige Ankündigung und ohne Rücksicht auf die venezolanische Staatsbürgerschaft vieler Betroffener. Auch hier argumentierte mensch von offizieller Seite mit der Verteidigung der nationalen Souveränität, um die Aussetzung verfassungsmäßiger Rechte, zum Beispiel auf persönliche Freiheit, auf Freizügigkeit und die Unverletzlichkeit der Wohnung, zu begründen. Diese Rechte sind in den sechzehn Verwaltungseinheiten im Grenzgebiet für unbegrenzte Zeit aufgehoben. Nicht ohne Grund erscheint diese Politik großangelegter militärischer Operationen und der Restrukturierung militärischer Gerichtsbarkeit wie eine Neuauflage diktatorischer Willkür.
Die zunehmende Militarisierung der Grenzregionen wird begleitet von zahlreichen Meldungen über Menschenrechtsverletzungen an Zivilisten, die zumeist von Angehörigen irregulärer Einheiten der venezolanischen Streitkräfte begangen werden. Die militärische “Lösung” der vielfältigen Entwicklungsprobleme in den marginalisierten Grenzregionen Venezuelas ist bei deren EinwohnerInnen mehrere Male auf erbitterten Protest gestoßen. Der Bau von Militärbasen an Orten, wo nicht einmal die überlebensnotwendigen Grundbedürfnisse der Bevölkerung befriedigt werden, stößt zunehmend auf Unverständnis und Widerstand.
Die Gewährung “bürgerlicher Sicherheit” dient paradoxerweise als weiteres Argument, die Interessen der Nation den Interessen des einzelnen Bürgers vorzuziehen. Um der steigenden Gewaltkriminalität zu begegnen, wird in jüngster Zeit insbesondere das aus der Diktatur von Marcos Pérez Jiménez stammemde Gesetz von 1956 über “Landstreicher und Gauner” (Ley sobre vagos y maleantes; siehe LN 259) angewendet. Dieses Gesetz erlaubt eine willkürliche Verhaftung ohne festgelegte Haftzeit bei geringfügigen Delikten. Der Justizminister, der Innenminister und der Regierungschef des Zentraldistrikts (Caracas und Umgebung) äußerten Kritik an dem offensichtlich verfassungswidrigen Gesetz – was konsequent überhört wurde.
Natürlich begrenzt sich die platte Logik der Regierung unter dem Motto “Gewalt gegen Gewalt” nicht auf das eine Gesetz. Die Einführung der Todesstrafe, der Bau von Isolationshaftzentren und die Herabsetzung des straffähigen Alters sind in der Diskussion und besitzen für die politische Elite, aber auch für die Öffentlichkeit einige Attraktivität. In den Elendsvierteln von Caracas sind Selbstverteidigung und der Lynchmord an Kleinkriminellen durch die eigenen Nachbarn durchaus gängig. “Schnelle Justiz” wird das genannt.
Auch der Innenminister setzt im Regierungsplan über “integrierte Sicherheit” von Mitte 1995 auf die Repression als Lösung des Kriminalitätsproblems. Es ist symptomatisch, daß sich der Plan nicht mit den Wurzeln und der Vorbeugung von Gewaltkriminalität beschäftigt. Die heftige Kritik, die verschiedene Gruppen deswegen an dem Plan geäußert haben, ist ohne Einfluß geblieben.
Die Tendenz zur Militarisierung und die Anwendung massiver Gewalt hat nicht nur für die individuellen Rechte negative Folgen, sie greift auch in soziale und Arbeitskonflikte ein. Streiks, Landkonflikte und Konflikte mit kleinen Bergbauunternehmen werden immer öfter durch das Militär “befriedet”.
Die Regierung lehnte die Forderungen der venezolanischen ArbeiterInnen nach Lohnerhöhungen, Arbeitsplatzsicherheit und Gewerkschaftsfreiheit in den letzten Jahren mit dem Argument ab, daß das angesichts der komplizierten wirtschaftlichen Lage ungerechtfertigt und nicht durchsetzbar sei. Siehe oben: Grundrechte, die zur Essenz einer Demokratie gehören, werden ausgehebelt, betreffen sie nun das Individuum oder die Arbeitnehmerschaft eines Betriebes. Die Regierung entscheidet, wann die venezolanische Bevölkerung ihre in der Verfassung verankerten Rechte einfordern darf und wann nicht.

Diskreditierung von Menschenrechtsaktivisten

Die Kehrseite der unbekümmerten Repressionspolitik ist, daß die Regierung gegen alle diejenigen polemisiert, die sich dennoch für demokratische Grundrechte einsetzen. Die Tatsache, daß der Regierungschef des Zentraldistrikts, der Innenminister und der Justizminister in der Vergangenheit Posten als Richter des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes bekleideten, schien in den letzten Jahren zunächst eine positive Perspektive für die Zusammenarbeit zwischen NGOs und staatlichen Institutionen zu bieten. Dennoch schaffte es der Generalstaatsanwalt, zugleich Dekan der juristischen Fakultät der katholischen Universität, ein in Ansätzen vorhandenes Klima der Dialogbereitschaft und der Annäherung zwischen staatlichen Stellen und NGO-VertreterInnen zu zerstören. Er hat dazu beigetragen, daß sich in den Regierungsinstitutionen die Ansicht breitmachte, die VertreterInnen der Menschenrechtsorganisationen seien verantwortlich für Situationen, die den “öffentlichen Frieden” gefährden.
Manche Methoden, Menschenrechtsarbeit ins Leere laufen zu lassen, sind altbekannt, auch in Venezuela: Anzeigen werden formal nicht anerkannt – oder schlicht ignoriert. In letzter Zeit wurden nun neue Geschütze aufgefahren: Es werden Hetzkampagnen gegen VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen losgetreten. Dabei ist immer öfter die Beschuldigung zu hören, die AktivistInnen würden die kolumbianische Guerilla protegieren und überhaupt Landesverräter sein, die dem internationalen Ansehen Venezuelas schaden. Selbst die katholische Kirche blieb davon nicht verschont, als VertreterInnen des bischöflichen Menschenrechtsbüros in Puerto Ayacucho, der Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas, die Folterung von Zivilisten durch Angehörige des Militärs anzeigten. Im Venezuela von 1996 ist es gefährlicher denn je, Soldaten oder Polizisten für Folterungen und Tötungen anzuzeigen. Wer dies wagt, muß mit Rufmord rechnen – und mit der Straffreiheit der Verantwortlichen sowieso.
Eine weitere Form der Propaganda gegen die Menschenrechtsarbeit richtet sich gegen die Beobachtung und das Recherchieren von Polizeieinsätzen. Offizielle Stellen vertreten immer wieder die Meinung, daß diese Überwachungsarbeit kontraproduktiv auf die Verbrechensbekämpfung wirke. Ein Parlamentsabgeordneter der Partei Acción Democrática wiegelte die Kritik von Menschenrechtsorganisationen an den repressiven Polizeieinsätzen mit den folgenden Worten ab: “Der Staat kann nicht rücksichtsvoll vorgehen und warten, bis ein Verbrecher aus eigenem Willen entscheidet, ob er weiterhin Verbrechen begeht oder nicht…”
Die schwerwiegendste Konsequenz dieser Auffassung der venezolanischen Regierung ist die Hierarchisierung der Menschenrechte, derzufolge das Leben eines Verbrechers in den Augen einiger RegierungsvertreterInnen nichts zählt.
Auch die Arbeit in internationalen Menschenrechtsforen bleibt von der Mißbilligung der Regierung nicht verschont. Der Juristenkommission der Anden (Comisión Andina de Juristas) beispielsweise wurde vorgeworfen, sie schade dem Ansehen Venezuelas vor den Vereinten Nationen und stelle die Regierung Rafael Calderas in eine Reihe mit blutrünstigen Despoten.
Gerne vergleichen venezolanische Diplomaten die Menschenrechtssituation im Land mit der in anderen Staaten, um zu unterstreichen, daß Venezuela ihrer Meinung nach ein Rechtsstaat ist, in dem gefahrlos die Möglichkeit bestehe, Menschenrechtsverletzungen anzuzeigen. Dabei sind sie aber der Ansicht, daß heutzutage eigentlich gar nichts mehr anzuzeigen sei, denn schließlich sei unter der Diktatur alles viel, viel schlimmer gewesen, und davon hätten die heutigen KritikerInnen keine Ahnung. Sie seien jedenfalls nicht ernst zu nehmen.

Unangenehme Kritik

Daß an dieser Theorie etwas faul ist, bestätigte zu allerletzt ein Menschenrechtsbericht des US-State Department vom März 1996. Darin wird Venezuela in die Reihe der Staaten des amerikanischen Kontinents eingeordnet, in denen die schwersten Menschenrechtsverletzungen registriert wurden. Das Kapitel über Venezuela basiert auf offiziellen wie NGO-Quellen und beruft sich besonders auf Informationen der NGO Provea (Programa Venezolano de Educación – Acción en Derechos Humanos). Die Reaktion der venezolanischen Regierung ließ nicht lange auf sich warten: Provea wurde zur LandesverräterIn abgestempelt. Hinzu kam, daß Provea Erfolg mit einer Klage gegen die venezolanische Regierung vor dem Interamerikanischen Gerichtshof hatte und ein Schuldeingeständnis der Regierung am El Amparo-Massaker sowie die Entschädigung der Angehörigen der Opfer erreichte. (1988 wurden bei einem Massaker in El Amparo an der kolumbianischen Grenze durch Spezialeinheiten der Armee 14 Bauern und Fischer hingerichtet. Die Öffentlichkeit erfuhr davon nur durch den Bericht zweier Überlebender; die Red.) Obwohl zu diesem Zeitpunkt noch keine Einigung über die Höhe der Entschädigungssumme erzielt worden war, setzten venezolanische RegierungsvertreterInnen Gerüchte in Umlauf, Organisationen wie Provea nutzten internationale Gerichtsverfahren zum Ausbau ihrer finanziellen Kontakte und zur eigenen Bereicherung. Es wurde in der venezolanischen Presse darüber spekuliert, ob ein Teil der Entschädigungssumme für die Angehörigen der Opfer in die Tasche Proveas wandern werde und ob eine mögliche andere Dollarquelle nicht vielleicht sogar der Drogenhandel mit der kolumbianischen Guerilla sei. Derartige Verleumdungskampagnen gegen VertreterInnen von Provea und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen gehören heute in Venezuela zur Tagesordnung.
Die aggressive Haltung gegenüber MenschenrechtsaktivistInnen beschränkt sich nicht auf den Nichtregierungssektor. Internationale ExpertInnen der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (Comisión Interamericana de Derechos Humanos) mußten dies erfahren, als sie den Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) um die Entlassung der venezolanischen Kommissionsvorsitzenden baten, weil sie das Verantwortungsgefühl der Vorsitzenden und die Zusammenarbeit mit ihr als ausgesprochen schlecht beurteilten. Die venezolanische Regierung interpretierte dies als feindselige Strategie, ohne zu berücksichtigen, daß es in dem Fall um einen internationalen Posten ging, bei dem Kompetenz und nicht Nationalität zählt.
Die nationale Debatte über Menschenrechte wurde auch durch den Meinungsumschwung einiger Parlamentarier beeinflußt, die sich lange Zeit auf Regierungsebene als exponierte Verteidiger der Menschenrechtsidee verstanden wissen wollten. Sie sprachen sich beispielsweise dafür aus, die kolumbianische Guerilla wegen dem Tod der acht Armeeangehörigen bei dem Zusammenstoß von Cararabo beim Interamerikanischen Gerichtshof anzuzeigen. Dieser Meinungsumschwung reflektiert eine Haltung, die die Bedeutung internationaler Menschenrechtsstandards verneint und die staatliche Verantwortlichkeit für Menschenrechtsverletzungen relativiert.

Strukturanpassung mit “menschlichem Antlitz”

In der venezolanischen Gesellschaft ist die Debatte um die Durchführbarkeit eines Strukturanpassungsprogrammes eng verbunden mit der Problematik ökonomischer, sozialer und kultureller Menschenrechte. Im Wahlkampf 1993 auf Stimmenfang ging, versprach der heutige Präsident Rafael Caldera ein Programm des ökonomischen Ausgleichs, jenseits der bekannten Schocktherapie des Internationalen Währungsfonds. Von der einstigen Betonung sozial verträglicher Entwicklungsprogramme ist die Regierung Calderas inzwischen dazu übergangen, es vor allem den potentiellen Investoren in der Opposition recht zu machen, ohne die Linie der sozial verträglichen Wirtschaftsreform aufgeben zu wollen.
Seit der Präsentation des ersten Reformplanes (Plan Sosa I) von 1994 über die Venezuela-Agenda von 1995 nimmt der Druck von Seiten der Unternehmer und der internationalen Finanzinstitutionen kontinuierlich zu. Aus der ursprünglichen Distanz zu den “Rezepten” des Internationalen Währungsfonds, Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank wurde eine offensichtliche Annäherung. Die internationalen Finanzinstitutionen empfehlen eine kontinuierliche Steigerung der Brennstoffpreise sowie eine Freigabe der Wechselkurse, vor allem aber eine institutionelle und strukturelle Reform derjenigen Wirtschaftsbereiche, die nicht zur Ölindustrie gehören.
Der Einfluß solcher Empfehlungen offenbarte sich zuletzt vor den Kommunalwahlen im Dezember 1995. Angekündigt und inzwischen verwirklicht wurde die Einführung einer Mehrwertsteuer, die Förderung von Privatinvestitionen, die Integration strategischer Zusammenschlüsse in der Ölindustrie, die Erhöhung der Brennstoffpreise und die zehnprozentige Kürzung der öffentlichen Ausgaben.
Maßnahmen, die sich auf eine Strukturanpassung mit “menschlichem Antlitz” beziehen und in erster Linie der Unterstützung des Agrarsektors und der mittelständischen Unternehmen dienen würden, sind bis heute nicht in Angriff genommen worden. Von der Wirtschaftsreform im Stile Calderas profitieren nur größere Unternehmer und Financiers, während es der Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung eher schlechter als besser geht.
Nicht zuletzt ist ein großer Teil der internationalen Kredite, die für Sozialprogramme vorgesehen waren, nicht zum Tragen gekommen, weil Venezuela seinen Anteil an der Finanzierung solcher Projekte nicht erbrachte. Die Bereitstellung eigener Ressourcen ist jedoch Voraussetzung für die Auszahlung internationaler Kredite.
Unter diesen Umständen rückt die Regierung Caldera von der Verwirklichung des Anpassungsprogrammes mit “menschlichem Antlitz” jedesmal ein Stück weiter ab, wenn die internationalen Finanzinstitutionen sowie die venezolanischen Unternehmer und Finanziers ihre Forderungen erneuern oder ihren Druck erhöhen. Die wirtschaftliche Entwicklung genießt auf unabsehbare Zeit gegenüber der sozialen Gerechtigkeit Vorrang, und die Kompensationsprogramme sind weit davon entfernt, die Last der sozialen Folgekosten einer fehlgeleiteten Strukturanpassung aufzufangen. Die Masse der Menschen, die im heutigen Venezuela in Armut leben, erstreckt sich bereits auf achtzig Prozent der Gesamtbevölkerung.

Deutsches Exil in Lateinamerika

Lateinamerika stand bei der Aufnahme von Flüchtlin­gen aus Deutschland an führender Stelle. Etwa 20 Prozent aller Emi­grantInnen fanden dort zumin­dest für eine gewisse Zeit Zu­flucht vor der Verfolgung durch das NS-Regime. Für viele war Latein­amerika anfangs jedoch nur ein Exil zweiter Wahl, was sich deutlich an der Chrono­logie der Emigration in die mittel- und südamerikani­schen Staaten zeigt. In den Jahren 1933-1937 sind wohl höchstens ein Viertel aller Lateinamerika-Flüchtlinge aus Deutsch­land eingewandert. Vor al-lem die auch früher als Ein­wan­derungsländer bevorzugten Staa­ten des “Süd­gürtels”, also Argen­tinien, Chile, Uruguay und das südliche Bra­silien, waren bis etwa 1937 eine Art Ge­heimtip für Emi­grantInnen, während in die übri­gen Län­der nur verein­zelte Personen­kreise sickerten. Auch die meisten in diesem Zeit­raum von einigen Staaten unter­nommenen Aktionen zur Auf­nahme von EmigrantInnengrup­pen betrafen in der Regel nur kleine Zahlen, die nur in Einzel­fällen die 100 überschrit­ten, – so die An­siedlung saarländi­scher Emi­grantInnen in Para­guay.
Die Erklärung für dieses Phä­nomen liegt darin, daß Latein­amerika kaum im Motivations­spek­trum von Hitler-Flücht­lin­gen angesiedelt werden konn­te. Wer nach dem erhofften Sturz der NS-Herr­schaft nach Deutsch­land zurückkehren woll­te, blieb nach Möglichkeit in einem Nach­barland, jedenfalls in Eu­ro­pa. Wer als Jude Deutsch­land den Rücken kehrte und end­gültig mit der angestammten Heimat brach, bemühte sich um die Aus­reise nach Palästina. Auch Emi­grationsbewegungen in die USA oder UdSSR waren in jener Zeit spärlich. Wer vor 1939 nach La­teinamerika emigrierte, war trotz des poli­tischen Hinter­grundes seiner Motive meistens auch eine Art Auswanderer, der sich in der Ferne eine von Be­drohungen und Repressalien freie Existenz auf­bauen wollte. Die bevorzugte Wahl der typi­schen Einwande­rungsländer des Süd­gürtels be­stätigt diese Beob­ach­tung.
Mit der weiteren Expansion des Dritten Reiches im Jahre 1938 und mit Restrik­tionen der europäischen Asylländer, welche die Flüchtlingsströme nicht mehr auf­nehmen konnten oder woll­ten, begann die Massen­emigra­tion in überseeische Länder, vor­zugsweise nach Lateinamerika. Sie hielt mit kriegs­bedingten Un­terbrechungen bis etwa 1942 an. Da die meisten lateinamerikani­schen Staaten daraufhin die Ein­wanderung bremsten und zeit­wei­lig die Grenzen völlig sperr­ten oder nur unter besonderen Be­dingungen öffneten, richtete sich der Flüchtlings­strom auch in “we­niger at­traktive” Länder. Wer unter größter Gefahr sein Leben retten wollte, ging auch nach Hon­duras oder Bolivien, ob­wohl er eigentlich nach Palä­stina oder Nordamerika emigrieren wol­lte. Man­che Länder nahmen den Cha­rakter von Wartesälen an, in de­nen Flüchtlinge bis zu ihrer mög­lichen Weiterreise vor­über­ge­hend Zuflucht nahmen. Wer in Ku­ba oder in der Domini­kanischen Republik Asyl ge­funden hatte, wartete meist auf die Weiterreise in die USA, wer nach Para­guay oder Bolivien ver­schla­gen worden war, zog oft nach Argentinien, Chile oder Uru­guay.
Fluchtwege und Fluchthelfer
Die Wege, auf denen deut­sche Flüchtlinge nach Lateinamerika ge­langten, wurden im wesentli­chen vom Zeitpunkt der Emigra­tion und von den Emigrations­motiven bestimmt. Es gab vom Feb­ruar 1933 bis zum Oktober 1941 eine vom NS-Regime ge­dul­dete legale Auswanderung aus Deutschland. Ihr Zahlenver­hält­nis zur fluchtartigen Emi­gration schwankte erheblich und stand 1939 zu dieser im Verhält­nis von 7:1. Von den rund 78.000 jüdischen Emi­grantInnen dieses Jahres gin­gen etwa 13.000 nach Latein­amerika, in der Regel von Hamburg aus. EmigrantIn­nen, die von einem europäischen Exil-Land aus weiterfuhren, schifften sich gewöhnlich in den Niederlanden, in den französi­schen Atlantik-Häfen und in Marseille oder aber in Genua ein. Nach Ausbruch des Krieges än­derten sich die Routen, zumal Belgien, die Niederlande und die französi­sche Atlantik-Küste be­setzt wurden. Marseille wurde zeitweilig der wichtigste Aus­reisehafen, gefolgt von Lissa­bon, das aber nur über Spa­nien er­reicht werden konnte. 1940-42 waren Spanien und Portugal wichtige Transitländer. In der Zeit vom Herbst 1939 bis Juni 1941 emigrierten zahlreiche Flüchtlinge über Sibirien nach Wladiwostok und von dort wei­ter nach Shanghai in die USA und nach Lateiname­rika. Ab No­vem­ber 1941 durften Juden aus dem deutschen Macht­bereich nicht mehr ausreisen – die Ent­scheidung über die so­genannte “End­lösung” war ge­fallen. Mit der Besetzung Süd­frankreichs durch deutsche Trup­pen im No­vem­ber 1942 wurden die letzten Aus­reisemöglich­kei­ten blockiert. Die Emigra­tions­be­wegung kam fast voll­ständig zum Stillstand.
Besonderes Interesse ver­dienen in diesem Zusammen­hang die Organisatio­nen, durch deren Aktivitäten die in der Re­gel mittellosen Flüchtlinge über­haupt nach Lateinamerika gelan­gen konnten. Der Erwerb von Visa und anderen Doku­menten, die Bezahlung der Schiffspassa­gen und sonstigen Reiseko­sten, Quartiere und Klei­dung, Kurse zur beruflichen Um­schulung so­wie die Ausrü­stung mit Werk­zeug – alles dies waren Pro­ble­me, die die EmigrantInnen ge­wöhn­lich aus eigener Kraft nicht be­wältigen konnten. Eine Reihe von Vereinigungen hat hier be­trächtliche Summen auf­gebracht, die selbst wiederum größtenteils aus Spenden stamm­ten. Zu nen­nen sind vor allem die jüdische Hilfs­organisation HICEM, die selbst wiederum ein Dachver­band an­derer Verbände war, und das “American Jewish Joint Distri­bution Commit­tee”. Diese beiden Organisa­tionen hat­ten für die Flucht­hilfe und für die Start­hilfe in den Exilländern eine große Bedeutung. Da­gegen rich­te­ten sich die Unter­stüt­zungen an­derer Hilfsorga­ni­sa­tio­nen nur auf einen kleinen und spe­ziel­len Teil der Emi­gra­tion. An­dere wich­tige Ver­ei­ni­gun­gen wa­ren die so­zial­de­mo­kra­tische Flücht­lingshilfe, so­wie die von der Liga für Men­schen­rech­te ge­tra­ge­ne Demo­kra­ti­sche Flücht­lings­fürsorge (beide wa­ren bis 1938 in Prag, da­nach in Lon­don).
Unter den Umständen der NS-Diktatur nahmen gele­gentlich auch solche Organi­sationen den Charakter von Fluchthelfern an, deren ei­gentliche Zielsetzung nichts oder wenig mit Emigra­tion zu tun gehabt hatte. Die JCA (Jewish Colonisation Associ­ation) verfolgte ursprünglich den Ge­danken jüdischer landwirt­schaftlicher Siedlungen in Ar­gentinien und Brasi­lien, ver­mittelte aber – teil­weise im Rah­men der HICEM – zahlreichen be­drohten Juden eine Zuflucht in Lateiname­rika. Der St. Rapha­elsverein unterstützte seit den 1890er Jahren katholische Aus­wanderInnen durch soziale und seel­sorgerische Betreuung, kon­zentrierte sich aber in den 1930er Jahren immer mehr auf bedrohte Personen aus Deutsch­land, ins­besondere auf die soge­nannten “ge­tauften Nicht-Arier”. Auch die ihm nahestehende “Gesell­schaft für Siedlung im Ausland” er­möglichte vielen katholischen Hitler-GegnernIn­nen eine Aus­wanderung und Ansiedlung in Brasilien, wobei hier die Gren­zen zwischen Emigration und Auswanderung verschwimmen. Die Zahl der ge­nannten Orga­nisationen muß noch ergänzt werden um weitere jüdische, christliche, politische und huma­nitäre Vereinigungen, die inner­halb und außerhalb Deutschlands Fluchthilfe leiste­ten; der Hilfs­verein der Juden in Deutschland, die Quäker und an­dere. Dagegen war die Hilfstä­tigkeit ein­zelner Staaten, zwischen­staatlichen und in­ternationalen Ein­rich­tungen wie dem Völker­bund erbärmlich ge­ring. Emi­gran­tInnen, die sich nach Über­see retten konnten, ver­dankten dies fast ausschließ­lich pri­vater Initiative.
Die Anzahl der deutschen be­ziehungsweise deutsch­sprachi­ge Emigrant­Innen in Lateiname­rika schwankt zwischen 90.000 und 120.000; man darf also von einer Grob­schätzung von rund 100.000 aus­gehen. Es besteht allenfalls weit­gehend Klarheit in der quan­titativen Reihenfolge der Auf­nahmeländer:

Argentinien 45.000
Brasilien 25.000
Chile 2.000
Uruguay 7.000
Bolivien 6.000
Kuba 5.000
Kolumbien 2.700
Ecuador 2.500
Dom. Rep. 2.000
Mexiko 1.200

Die übrigen Länder, ange­führt von Paraguay nahmen Emigran­tInnen nur in drei­stelliger, einige karibische und mittelamerikani­sche Staaten nur in zweistelliger Höhe auf. Über 90 Prozent aller Flüchtlinge fanden Zu­flucht in jenem Südgürtel, der sich von Rio de Janeiro über Montevideo und Buenos Aires bis nach San­tiago de Chile er­streckt. Dort la­gen daher auch die wichtigen Emi­grantInnenzentren. Einen Son­derfall bil­dete Mexiko, das zwar hin­sichtlich der Auf­nah­mezahl eines der Schluß­lichter bil­dete, aber wegen der hoch­karätigen politischen und lite­rarischen EmigrantInnen so­wie wegen der von ihnen ge­tragenen Ver­lage, Zeitschrif­ten und Ver­einigungen ein Exil­zentrum von be­sonderer Bedeu­tung war.
Soziale und kulturelle Integration
Die berufliche Qualifika­tion der EmigrantInnen in Lateiname­rika war nicht auf die Gesell­schaften der Asyl­länder zuge­schnitten, so daß die berufliche Eingliederung meistens große Pro­bleme ver­ursachte. Exakte Zah­len lie­gen nur für einzelne Länder und Städte vor, aber sämtliche Indizien verweisen da­rauf, daß kaufmännische und an­dere mittelständische Berufe, Selbständige und Angestellte, sehr stark vertreten, Hand­wer­ker­Innen, ArbeiterInnen und Land­wirte unterrepräsen­tiert wa­ren. Aber gerade sie, insbeson­dere die Landwirte, waren be­son­ders gefragt. Viele Exilländer hatten die Einreiseerlaubnis nur mit der Verpflichtung zu land­wirt­schaftlicher Siedlung er­teilt, worauf aber die wenig­sten vor­be­reitet waren. Von den etwa 1.000 Emigranten, die in Ar­gen­ti­nien, Brasilien, Paraguay, Bo­li­vien, Ecuador und Santo Do­min­go kleine Bauernhöfe grün­de­ten, sind die meisten gescheitert.
Die mittelständischen Be­rufe stießen deswegen auf be­sondere Schwierigkeiten, weil für sie zunächst kein Bedarf bestand. Wegen der für lateinameri­ka­ni­sche Gesellschaften seit lan­gem no­torischen Unterbeschäf­tigung in Handel und Dienst­leistung bil­de­ten die Emi­grant­Innen eher ei­nen Störfaktor und stießen oft auf Konkurrenz­neid und Frem­den­feindlichkeit, nicht selten mit an­tisemitischem Ak­zent. Einige Län­der verboten oder behin­der­ten die Ausübung be­stimmter Be­ru­fe. Leichter hat­ten es Fach­ar­beiterInnen und Hand­werker­In­nen, die wegen ih­rer im all­ge­mei­nen beträchtli­chen Überle­gen­heit an Berufs- und Allge­mein­bil­dung gefragt waren. Da­ge­gen standen Vertre­terInnen künst­lerischer und geisteswis­sen­schaftlicher Berufe vor be­son­deren Schwierigkeiten, weil ih­re Tätigkeiten nicht ge­fragt und teilweise engstens auf die deut­sche Sprache fi­xiert wa­ren.
Die soziale Integration aus ei­nem Abstand von 50 Jahren be­trachtet zeigt, daß nach ei­ner mehrjährigen Durststrecke die meisten EmigrantInnen und ihre Nachfahren wirt­schaftlich heute nicht schlecht gestellt und in der Regel in relativ wohlhabende Mittel- und Oberschichten auf­gerückt sind.
Die Gründe für diese über­wiegend gelungene so­ziale Inte­gration liegen in dem beruflichen und allgemeinen Bildungsvor­sprung der meisten EmigrantIn­nen vor ein­heimischen Arbeits­kräften. Aber wesentlich war wohl der Zusammenhalt der Emi­gran­tInnen über gemeinsame Zeit­schriften, Clubs, Vereinigun­gen und Einrichtungen, der trotz ideologischer, politischer und anderer Differenzen zumindest in den Zentren des Exils eine wechselseitige Kommunikation er­mög­lichte. Vor allem müssen hier die deutsch-jüdischen Ge­meinden, Verbände und Ins­ti­tu­tio­nen erwähnt werden, die – so­weit Informationen vorlie­gen – oft einen hohen Organi­sa­tions­grad hatten. Ihre Arbeit dürf­te in hohem Maße soziale Not­fäl­le aufgefan­gen und eine Mar­gi­na­lisierung und Verelen­dung von EmigrantInnen verhin­dert haben.
Politische Organisationen im Exil
Die politischen Organisa­tio­nen deutscher EmigrantInnen wa­ren, gemessen an der Zahl ih­rer aktiven Mit­glieder, recht klein. Aber sie standen stärker im öffentli­chen Rampen­licht und bean­spruchten einen höheren Re­präsentationsgrad als etwa deutsch-jüdische Sportver­eine. Aus der Perspektive der deut­schen Geschichte sind sie frei­lich interessanter, weil sie gewis­ser­ma­ßen “mit dem Blick nach Deutsch­land” ar­beiteten, wäh­rend ein großer Teil der jüdi­schen Emigran­tInnen mit ihrer al­ten Heimat innerlich gebrochen hatte und vielfach kein Interesse mehr an Deutschland zeigte. An­de­rerseits wurden rund 50 von den Organisationen herausge­ge­be­nen Blätter und Zeit­schriften, von denen aller­dings einige nur ein­mal oder nur sehr selten er­schienen oder aber über das For­mat hektographierter Rund­brie­fe nie hinausgelangten, doch auch von einem breiteren Spek­trum innerhalb der Emi­gration gele­sen; sie bezogen so­mit auch po­litisch weniger enga­gierte Per­sonen in die Diskussio­nen und Kontrover­sen ein. Wie in der ge­samten Exilszenerie wa­ren die Emi­grantInnen in Latein­amerika untereinander heillos zerstrit­ten und befehdeten sich aufs heftig­ste. Die Bedingungen für politi­sche Aktivitäten va­riierten von Land zu Land und waren stark von den inneren Verhält­nissen ab­hängig. So wa­ren ir­gend­welche Aktivi­täten un­ter der blut­rünstigen Herr­schaft des do­mi­nikani­schen Diktators Rafael Tru­jillo über­haupt nicht und in dem von Ge­tulio Vargas auto­ri­tär regierten Brasilien nur ein­ge­schränkt möglich. Dage­gen bo­ten demo­kratische Länder wie Chi­le und Uru­guay, das ge­mä­ßigt autoritäre Argentinien so­wie das nachrevolutionäre Mexi­ko gün­stige Voraussetzungen. Wäh­rend aber in Chile auf amtli­chen Druck die politischen Emigran­tIn­nenverei­nigungen fu­sionieren muß­ten, blühte in Bo­livien ein Chaos der Ver­bände, Clubs und Organisa­tionen.
Das politische Spektrum der EmigrantInnenorganisationen läßt sich grob in drei Richtungen ein­teilen. Die älte­ste von ih­nen war auch zugleich die kleinste, die aber zeitweilig lautstark auf­trat: die Stras­ser-Bewegung. Be­reits 1934 war ein Netz von Or­ganisationen in fast allen latein­amerikani­schen Staaten nach­weisbar, geführt von einem “Kampfleiter” mit Sitz in Pa­raguay. In Buenos Aires er­schien ab 1935 das Zentralorgan der Be­wegung “Die Schwarze Front”. Leser des Blattes und Mit­glieder der gleichnamigen Or­ganisation waren größtenteils dis­sidente Nazis sowie antinazi­stische, aber gleichwohl rechts­extreme Kreise – Auslandsdeut­sche wie auch EmigrantIn­nen.
Zu den bedeutenden politi­schen Stimmen des deutschen Exils in Lateinamerika ge­hörten Zeitschrift und Bewe­gung “Das An­dere Deutsch­land”. 1938 aus ei­nem gleich­namigen Hilfsko­mi­tee in Bu­enos Aires hervorge­gan­gen, wurde die Zeitung bald das führende Organ einer zu­nächst breiten linken und de­mokratischen Leserschaft. Erst infolge der Kontroversen um den Hitler-Stalin-Pakt schieden die KPD-Anhänger aus und gründe­ten ihre eigene Zeitschrift “Das Volksblatt”. Unter der Schrift­leitung des Gründers und Her­ausgebers August Siemsen ver­einigten sich im “Anderen Deutsch­land” in immer stärke­rem Maße SozialdemokratInnen und VertreterInnen anderer nicht-kommunistischer linker Grup­pen. Aus Lesezirkeln ent­stan­den in mehreren Län­dern La­tein­amerikas kleinere Grup­pie­rungen und Vereini­gungen, die in loser organi­satorischer Ver­bin­dung zur Zentrale in Bue­nos Ai­res standen und im we­sent­lichen nur durch die Zeit­schrift zu­sammengehalten wur­den. Die­se lockere Orga­nisations­form hat­te den Nachteil, daß die Be­we­gung “Das Andere Deutsch­land” in nur einge­schränktem Maße eine regel­mäßige Ver­bands­arbeit lei­sten konnte; sie hat­te den Vor­teil, daß sie nicht von politisch dissi­denten Emi­gran­tInnengrup­pen un­ter­wandert und um­funktioniert werden konn­te. Ihre Schwer­punkte hatte die Bewegung im südlichen La­tein­amerika, also in Argenti­nien, Uru­guay, Chile, Brasi­lien, Para­guay und Boli­vien. Doch gelang dem “Anderen Deutschland” nicht, über einen längeren Zeit­raum eine Mehrheit der politisch den­kenden deut­schen Emigran­tIn­nen zu verei­nen.

Der große Konkurrent der Bewegung “Das Andere Deutschland” war die Bewe­gung “Freies Deutschland”, die mit Blick auf die Namensähnlichkeit nicht mit Stras­sers “Frei-Deutschland-Be­wegung” ver­wech­selt werden darf. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt hatten sich in mehreren lateinamerikanischen Staaten die politischen Emi­grantInnengruppen gespalten, wo­bei die der KPD angehö­renden oder nahestehenden Mit­glieder in der Regel eigene Gruppierun­gen bildeten. Diese Spaltun­gen blieben, auch als mit dem Überfall auf die So­wjetunion ihr äußerer Grund ent­fallen war. Die Gruppierungen wa­ren auf die Sammlung eines möglichst breiten politischen Spektrums angelegt und ver­einigten in sich auch bürgerli­che, christliche, konservative, ja so­gar monarchistische EmigrantIn­nen. Ihre Pro­grammatik und Phraseologie war verschwom­men antifa­schistisch und ließ zahllose Interpretationen zu, je­doch blieben die Schlüssel­positio­nen fest in den Händen von KPD-FunktionärIn­nen. In Mexiko, wo sich 1941/42 eine meist aus dem besetzten Frank­reich geflüchtete relativ starke Gruppe kommunistischer Schrift­stellerInnen und Funktio­närInnen niedergelas­sen hatte und wo sich mit ei­ner kleinen Ausnahme keine anderen deut­schen Exil-Orga­nisationen bil­deten, wurde im November 1941 die Zeit­schrift “Freies Deutsch­land” gegründet. Um dieses poli­tisch-literarische Blatt scharte sich bald eine gleichna­mige Ver­einigung mit Ablegern in ande­ren Ländern. Im Mai 1943, vier Monate nach dem Kongreß des “Anderen Deutschland” in Mon­tevideo, wurde unter Führ­ung der mexikanischen Emi­grant­Innen­organisation das KPD-ge­lenkte “Latein­ameri­ka­ni­sche Komitee Freies Deutsch­land” gegründet, dem in der Folge­zeit kleinere Organisatio­nen beitra­ten. Man hatte Hein­rich Mann für das Amt des Ehren­präsidenten und für den Vor­stand Hubertus Prinzen zu Löwenstein und den konser­vativen böh­misch-österreichi­schen Schrift­steller Karl v. Lu­stig-Prean ge­wonnen, aber die tatsächliche Leitung hatte Lud­wig Renn als amtie­render Präsi­dent, Anna Seg­hers sowie der KPD-Funktio­när Paul Mer­ker als General­sekretär. Der Name des Ko­mitees und andere Indizien ver­weisen auf die Be­wegung “Freies Deutschland” in euro­päischen Exil­ländern sowie auf das gleich­na­mige Natio­nalkomitee in Mos­kau und lassen es als In­strument der damaligen sowjeti­schen Deutsch­land-Poli­tik erschei­nen.

In Kuba, Ecuador und den kleineren mittelamerikani­schen und karibischen Repu­bliken nahm die Bewegung “Freies Deutschland” bald eine dominie­rende Stellung ein, in Brasilien, Argentinien, Bolivien, Uruguay und Chile machte sie dem “Anderen Deutschland” Konkur­renz. In Uruguay und Chile fusionier­ten die beiden Bewe­gungen, in Chile aufgrund staat­lichen Drucks, in Uruguay auf frei­williger Basis. Insgesamt wa­ren die “Freien Deutschen” er­folgreicher in der Ausdehnung ihrer Bewegung, allerdings dür­fen Vereinsattrappen und Brief­kastenorganisationen vor allem in einigen mittelameri­kanischen Staaten nicht über ihre tatsächli­che Stärke hin­wegtäuschen. Die Bewegung verlor an Einfluß, als sie ge­gen Kriegsende kritiklos die sowjetischen Konzeptionen für Nachkriegsdeutschland über­nahm und beispielsweise die Abtretung der deutschen Ostge­biete befürwortete, was bei allen anderen EmigrantInnenorga­nisa­tionen auf heftig­sten Wider­spruch stieß. 1946 lößte sich das lateinamerika­nische Komitee “Freies Deutschland” auf. Neben die­sen überregiona­len po­litischen Bewegungen gab es noch Zusammenschlüsse von Emi­grantInnen, die sich auf ein­zelne Länder oder Städte be­schränkten und sich auch nicht einer der genannten Or­ganisationen zuordnen ließen.
Politische Aktivitäten im Exil
Neben den Aktivitäten in den politischen Organisatio­nen deut­scher EmigrantInnen gab es noch weitere Betäti­gungsfelder, die sich mit den Vereinigungen nicht völlig deckten und in denen auch nicht organisierte Hitler-Geg­nerInnen aktiv werden konn­ten. Dazu gehörte der Kampf gegen die sogenannte Fünfte Kolonne. Das Dritte Reich hatte mit gerin­gem propagan­distischem Auf­wand einen großen Teil der in Lateiname­rika ansässigen Volks- und Auslandsdeutschen gleich­ge­schaltet. Fast überall gab es NS-Organisationen, die das aus­landsdeutsche Vereinsleben so­wie Schulen und Presse be­herrschten und durch Hetz­propaganda und teilweise auch durch Gewaltakte die Emigran­tInnen drangsalierten. Hinzu kam, daß die diploma­tischen und konsularischen Missionen die EmigrantInnen ob­servierten und zu diesem Zweck meistens ortskun­dige auslandsdeutsche Spitzel mo­bilisierten. In einigen Län­dern, so etwa in Argentinien und Bolivien, verfügten sie durch Unterstützung einhei­mischer Nazi-SympathisantInnen in Poli­zei, Militär und Wirtschaft über einigen Ein­fluß. Es lag da­her im ureige­nen Interesse der EmigrantIn­nen, sich gegen diese Bedro­hung zur Wehr zu setzen und die einheimischen Regie­rung durch Sprach- und Sach­kenntnisse und andere Mittel zu unterstützen. Nach Ab­bruch der diplomatischen Beziehungen zwi­schen dem Dritten Reich und den meisten lateinamerikani­schen Staaten wurden die mei­sten NS-Organisatio­nen ver­bo­ten. In einigen Ländern al­ler­dings hatte es nie eine nen­nens­werte Fünfte Kolonne ge­geben.
Ein weiteres Aufgabenge­biet, an dem sich auch nicht­organisierte EmigrantInnen be­teiligten, waren Nach­kriegs­kon­zeptionen für Deutsch­land. Ei­ni­ge der inter­essantesten Über­le­gun­gen stam­men vom früheren li­be­ralen Reichsinnen- und -ju­stiz­minister Erich Koch-We­ser, der im brasi­lianischen Bundes­staat Paraná sein Asyl gefunden hat­te. Die der Be­wegung “Freies Deutschland” nahestehenden Emi­grant­Innen äußerten sich nur sehr allge­mein über Ver­fas­sungs­fragen und wollten ne­ben recht ver­schwommenen For­de­run­gen nach Ausrottung von Na­zis­mus und Antisemitismus die kon­krete Gestaltung Deutsch­lands den Alliierten überlassen. Ver­breitet war eine anti­ka­pi­ta­li­sti­sche Grundstim­mung und die Ab­sicht, mit einer weitgehenden So­zia­li­sierung auch die ge­sell­schaft­lichen Ursa­chen an­tidemo­kra­tischer Ent­wicklung zu besei­ti­gen. Die mei­sten Konzep­tionen hiel­ten am Na­tionalstaat fest, plä­dierten aber für eine Aus­söh­nung der ehemaligen Kriegs­gegner und für einen losen Ver­bund der eu­ropäischen Staa­ten. In den Be­reich der politi­schen Akti­vitäten gehören auch größ­tenteils die kulturellen Lei­stungen der deut­schen Emi­grantInnen, da sie auch dort, wo sie inhaltlich nicht unmit­telbar politische Fragen an­sprachen, indirekt darauf eingin­gen. Das war deutlich in der Presse und in den von ei­nigen Emigrant­Innen­or­ganisationen regelmäßig ge­stal­teten Rund­funksendungen der Fall, vor al­lem aber in den von Or­ga­ni­satio­nen unabhän­gi­gen Zeit­schriften und Ver­lagen. Zu er­wähnen ist hier vor allem die in Santiago de Chile heraus­ge­ge­be­ne, auch in Nord­amerika und Eu­ropa ge­lesene Monatsschrift Deut­sche Blätter, deren hohes Ni­veau und solide Aufmachung von allen po­litischen Richtun­gen res­pek­tiert wurde.
Emigration nach 1945
Mit der Niederlage des Drit­ten Reiches endeten we­der Exil noch Folgeprobleme der Emi­gration, vielmehr tauchten neue Probleme auf. Die Frage nach der Rückkehr ließ sich von Emi­grantInnen in keinem einzigen Falle leicht beantworten. Viele jü­dische EmigrantInnen hatten mit Deutschland gebrochen und somit kein Interesse mehr an ei­ner Rückkehr. Sie hatten in La­tein­amerika Wurzeln ge­schlagen oder aber bemühten sich um eine Wei­terwande­rung nach Palä­stina/Israel oder in die USA. Die Faustre­gel, derzufolge politische EmigrantInnen im allgemeinen zu­rückkehren wollten, die jüdi­schen EmigrantInnen aber nicht, gilt tendenziell auch für Latein­ame­rika, wenngleich hier stark differenziert werden muß. Aus den Jahren 1945-1949 sind etli­che Anfragen an den SPD-Vor­sitzenden Kurt Schumacher er­halten, ob man als Jude inzwi­schen wieder nach Deutsch­land zu­rückkeh­ren dürfe. Und umge­kehrt ent­schlossen sich manche der politischen EmigrantInnen, dort wo ihre Kin­der und teil­weise auch sie selbst heimisch geworden waren, zu bleiben. Hinzu kamen objek­tive Schwie­rigkeiten, zu denen einmal die Reisekosten und zum andern Einreisesperren der Alli­ierten gehörten. Am leichtesten hatten es Kommu­nisten, die – so­fern sie ge­braucht wurden – mit sowjeti­scher Hilfe in die Sowje­tische Besatzungszone zurück­kehren konnten. Andere betraten erst 1948/49 wieder deutschen Boden oder kehrten sogar erst in den 60er Jahren aufgrund be­stimmter politischer Ereig­nisse zurück – so Boris Gol­denberg aus dem in­zwischen kommuni­stisch gewor­denen Kuba. Für viele, die sich zum Bleiben ent­schlossen, war es aber eine un­angenehme ワber­raschung, daß nach 1945 eine gewisse “Emi­gration” ehema­liger NS-Funk­tionäre nach La­teinamerika einsetzte. De­ren Vertreter – wie beispiels­weise Eichmann oder Men­gele – woll­ten unter anderem Namen unter­tauchen und teil­weise aber auch mit Hilfe ein­heimischer Ge­sin­nungs­freunde ih­re un­rühmlichen Ak­tivitäten fortset­zen.
In den Jahren 1946-1949 lö­sten sich aber die meisten der po­li­tischen Organisatio­nen auf. Un­ter­schiedliche Auffassungen über die Zu­kunft Deutschlands und voll­ends der Kalte Krieg ent­zo­gen ihnen die gemeinsame Platt­form. Bemerkenswert ist, daß sich in drei Ländern – Me­xiko, Bra­silien und Bolivien – Nach­fol­georganisationen als so­zi­al­de­mo­kratische Landesver­bän­de konstituierten, nach­dem während der NS-Zeit die SPD als Par­tei oder als parteina­her Ver­band im lateinamerikani­schen Exil über­haupt nicht existiert hatte. Diese Organisa­tionen be­mühten sich einerseits um mate­rielle Hilfe für ihre aus­geblutete frühere Heimat, und veranstal­teten – wenigstens im Falle Bra­siliens – Sammlun­gen. Sie be­kämpften nach wie vor re­aktionäre Strömungen un­ter den Auslandsdeutschen und attackierten teilweise heftig die jun­ge Bundesrepu­blik, weil sie die diplomati­schen und kon­su­la­ri­schen Missionen in Lateiname­rika hauptsächlich mit erzkonser­vativem Personal be­setzte.
Lateinamerika hat die deut­sche Literatur in vielfältiger Weise beeinflußt. Ludwig Renn und Hilde Domin haben in ihren Memoiren ihr mexi­kanisches bzw. dominikani­sches Exil aus­führlich be­schrieben; Anna Seg­hers griff gelegentlich latein­amerikani­sche Motive auf; Egon Erwin Kisch veröffent­lichte noch in Mexiko eine bril­lant geschrie­bene Sammlung mit Episoden aus der mexikanischen Ge­schich­te und Paul Zech gab In­dianermärchen aus dem Chaco heraus, die sich aber nachträglich offensichtlich als seine Erfin­dung herausstell­ten. Manche EmigrantInnen vermittelten auf andere Weise den Deutschen ein differen­ziertes Lateinamerika-Bild, entweder durch Sachbücher über ihr jeweiliges Exilland oder durch Presseberichte. Erwähnt sei hier der langjäh­rige Süd­amerikakorrespon­dent der Frank­furter Rund­schau in Mon­tevideo, Her­mann P. Gebhardt. Aus den Reihen ehemaliger EmigrantIn­nen sind aber auch be­deutende Wis­sen­schaftlerInnen und Ver­tre­terInnen des öffentli­chen Le­bens in ihren Exilländern her­vor­ge­gangen. Der gegensei­tige Kul­tur­trans­fer bildet viel­leicht den er­freulichsten Aspekt des Exils, das mit Verfolgung und Flucht so leidvoll begonnen hatte.

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