Die Wirtschaft hat die Zeichen der Zeit erkannt. Die westlichen DurchschnittskonsumentInnen verlangen immer häufiger nach “Öko-Qualität”. Man reagiert zunächst vor allem mit Etiketten – Ecolabeling. Auch in den großen Supermärkten wird immer mehr “biologisch Abbaubares” und “ökologisch Angebautes” angeboten. Selbst die Automobilunternehmen bieten “grüne” Fahrzeuge an oder den Öko-Golf. Schließlich glänzt die deutsche Chemieindustrie momentan mit ganzseitigen Anzeigen in Tageszeitungen, um den LeserInnen die “Nachhaltigkeit” ihrer Produktionsweise nahezubringen. Jenseits des vielfachen Etikettenschwindels ist jedoch tatsächlich etwas in Bewegung gekommen. Durch Produktnormen und gesetzliche Bestimmungen wie etwa die Gefahrstoffverordnung oder das Chemikaliengesetz, in neuester Zeit zudem durch die Etablierung eines Ökoaudits (interne Betriebskontrollen zur Erstellung von Ökobilanzen) werden die Produktionskreisläufe in Unternehmen stärker unter die Lupe genommen. Eine wachsende Zahl von Firmen geht inzwischen Selbstverpflichtungen ein und kann sich nach Umstellung ihrer Produktion berechtigte Hoffnungen auf wachsende Marktanteile machen. Unterstützt wird dieser Prozeß durch die Vergabepolitik öffentlicher Verwaltungen. Auf nationaler Ebene gibt es seit 1977 ein Umweltzeichen, das weitgehend unabhängigen, wissenschaftlichen Kriterien genügt. Auf internationaler Ebene strebt man eine einheitliche Produktnormierung an und die EU hat schließlich 1992 ebenfalls ein Umweltzeichen eingeführt. Die Anforderungen, die an europäische Produkte gestellt werden, sollen ebenso für außerhalb der EU erzeugte Waren Gültigkeit haben. Davon sind zum Beispiel auch Agrarprodukte aus lateinamerikanischen Ländern betroffen.
Rahmenbedingungen für Agrarexporte des Südens
Zwischen 1970 und 1992 ist der Anteil Lateinamerikas am Welthandel von 5,6 auf 3,3% zurückgegangen. Das internationale Handelsklima ist durch einen wachsenden Protektionismus des Nordens geprägt gewesen, der die Länder Lateinamerikas jährliche Exporteinnahmen von ca. 40 Mrd. US-Dollar gekostet hat. Dabei sind es vor allem die nichttarifären Handelshemmnisse, die dem Süden zu schaffen machen. Ende 1990 hatte der GATT 284 solcher Exportrestriktionen registriert, wovon allein 59 auf landwirtschaftliche Produkte entfielen. Gleichzeitig subventionieren die Industrieländer ihre Agrarproduktion mit jährlich ca. 300 Mrd. US-Dollar. Darüber hinaus leiden vor allem arbeitsintensive Branchen, die aufgrund niedriger Lohnkosten bestimmten Ländern überhaupt erst eine Wettbewerbschance einräumen, unter Handelsbeschränkungen. Dies trifft vor allem auf die Textilbranche zu. Der Verfall der Agrarpreise seit den 80er Jahren hat Lateinamerika wegen seiner hohen Abhängigkeit von diesen Exporterlösen, die zwei Drittel der Gesamterlöse ausmachen, schwer getroffen. Die FAO beziffert den Preisrückgang in den letzten Jahren auf 26%. Die Schuldenlast und die einseitige Ausrichtung auf den Export weniger Agrarprodukte hat viele Länder dazu gezwungen, die Produktion von Primärgütern noch zu verstärken. Dies führte jedoch zu einem Überangebot und beschleunigte damit den Preisverfall landwirtschaftlicher Produkte weiter. Der wachsende ökonomische Druck auf die Länder des Südens hat einer immer bedingungsloseren Ausbeutung von Rohstoffen und einem rücksichtsloseren Umgang mit Ressourcen weiter den Weg geebnet. Bisher stellt gerade die nahezu uneingeschränkte Umweltzerstörung einen komparativen Kostenvorteil der Länder des Südens dar. Der Berücksichtigung externer Kosten stehen mehr denn je die Sachzwänge des Weltmarktes entgegen. Gleichzeitig beginnt die auch für ihren Außenhandel relevanter werdende Umweltpolitik der Industrieländer, die Länder des Südens unter einen neuen Anpassungsdruck zu stellen. Ein wichtiges Instrument ist in diesem Zusammenhang die Vergabe von Gütesiegeln für Waren, die auch lateinamerikanische Exportproduzenten in Zukunft zwingen wird, Nachweis über ökologische Produktionsmethoden zu führen.
Ökologischere Holzprodukte aus Chile?
Chile ist eines der Länder, dem es – von vielen inzwischen gar als “Modellfall” gefeiert – gelungen ist, insbesondere durch die Diversifizierung seiner Agrarexporte ein erstaunliches Wachstum zu erzielen. Neben dem traditionellen Exportrohstoff Kupfer sorgen vor allem Holzwirtschaft und Fischerei für die hohen Exporterlöse. Die holzverarbeitende Industrie wird als eine der Branchen betrachtet, mit der Chile den Einstieg in die “zweite Phase der exportorientierten Industrialisierung” gelingen könnte.
Überwiegend auf ausgelaugten Flächen wurden, seit Mitte der 70er Jahre mit staatlicher Förderung Pinus radiata- und Eukalyptus-Plantagen angelegt. Die intensive Forstproduktion erfolgte überwiegend zur heimischen Zellstoffproduktion sowie zum Export von Holzchips. Weitere 10% des Holzverbrauchs werden durch die Waldnutzung gesichert. Auch hier macht die Holzchip-Produktion den größten Anteil aus, dazu kommt die Möbelproduktion sowohl für den heimischen als auch den nordamerikanischen und europäischen Markt. Ungefähr 80% der Wälder werden von der lokalen Bevölkerung zur Entnahme einzelner Bäume oder von Totholz als Brennholz genutzt. Die Ausdehnung der Plantagenbewirtschaftung hat zu einer Besitzkonzentration in den Händen weniger Unternehmen geführt, während Kleinbesitzer zur Aufgabe gezwungen waren und in die Städte migrierten. Die größten ökologischen Probleme bereiten ebenfalls die Plantagen. Ihre Anlage findet zwar auf überwiegend ausgelaugten Böden statt, womit die Forstunternehmer gerne ihre Tätigkeit rechtfertigen. Tatsächlich wurde sogar der Einsatz von Herbiziden reduziert. Es gibt jedoch in Chile bisher keine systematische und effektive Kontrolle über die tatsächliche Bewirtschaftungsweise und die Ausdehnung der Plantagenbewirtschaftung auf geschützte Waldgebiete.
Gütesiegel für den Forstsektor gibt es bisher nur von einzelnen Privatunternehmen oder Nicht-Regierungs-Organisationen. Seit November 1993 bearbeitet die EU einen Vorschlag für ein Gütesiegel für Papierprodukte, das u.a. den Nachweis erfordert, daß der Rohstoff Holz aus einer nachhaltigen Bewirtschaftung stammt. Die internationale Tropenholzkampagne der Umweltorganisationen könnte sich mittelfristig negativ auf den chilenischen Holzexport auswirken, da Chile im Ausland häufig fälschlicherweise für ein tropisches Land gehalten wird. Angesichts zunehmender Produktanforderungen und der Tatsache, daß man kaum auf den europäischen Markt wird verzichten können, wird die bisherige Strategie einzelner Forstunternehmen, sich Märkte in weniger umweltsensiblen Ländern vor allem in Asien zu suchen, längerfristig kein erfolgreicher Weg sein. Ob sich die chilenischen Unternehmen schließlich auf eine ökologischere Produktionsweise einlassen, wird jedoch auch von der Einigung über ein neues Forstgesetz und der Einführung einer Landnutzungsplanung abhängen.
Zellstoff ist das zweitwichtigste Exportprodukt
Von noch größerer Bedeutung für Chile ist die Produktion von Zellstoff zur Papierherstellung. Diese ist inzwischen nach Kupfer zum zweitgrößten Exportprodukt Chiles geworden. 70% der Gesamtproduktion wird exportiert, wobei Europa der wichtigste Markt für gebleichten Zellstoff ist. Die ökologischen Anforderungen auf dem europäischen Markt sind in den letzten Jahren gewachsen, gerade in Deutschland wird z.B. immer weniger chlorgebleichter Zellstoff nachgefragt. Schließlich ist in den letzten Jahren auch die Möbelproduktion expandiert, auch wenn ihr Anteil an den Exporterlösen für Chile noch nicht besonders relevant ist. Sollen gerade in diesem Bereich einer arbeitsintensiveren Produktion auf höherer Wertschöpfungsstufe Fortschritte erzielt werden, wird man sich jedoch verstärkt mit Produktauflagen auseinandersetzen müssen. Bereits bestehende ökologische Auflagen in mehreren europäischen Ländern beziehen sich auf Grenzwerte für das krebserzeugende Formaldehyd und Pentachlorphenol, dazu kommen die hochgiftigen Stoffe Lindan, Arsen, DDT und Schwermetalle, die beispielsweise in Deutschland nicht Bestandteil von Holzprodukten sein dürfen. In absehbarer Zeit wird dies wohl für die gesamte EU gelten. Schließlich wirkt sich sogar die deutsche Verpackungsverordnung auf diesen Bereich aus, da sie die Verwertung von Verpackungsmaterial festlegt. Dies betrifft beispielsweise Holzpaletten, die als Sondermüll entsorgt werden müssen, wenn sie mit Holzschutzmitteln behandelt wurden. Bisher gehen die chilenischen Möbelexporte zwar überwiegend in die USA, wo noch keine so hohen Anforderungen gestellt werden. Aner Chile setzt auch hier auf Exportsteigerungen in Richtung Europa.
In Chile scheint in einigen der angesprochenen Branchen ein ökologisches Problembewußtsein vorhanden zu sein. Dies ist im wesentlichen durch die öffentliche Diskussion über die gerade durch die Exportproduktion verursachten Umweltschäden, insbesondere die Waldschäden, entstanden. Bei manchen Unternehmen scheint zudem die Einsicht zu wachsen, daß eine bedingungslose Ausbeutung heimischer Ressourcen auch ökonomisch kontraproduktiv sein kann. Gerade ressourcenabhängige und exportorientierte Unternehmen, die die Anforderungen der internationalen Märkte kennen, können es deshalb sein, die sich auf nationaler Ebene für eine Umstellung der Produktionsmethoden stark machen. Unverändert stark scheint dagegen nach wie vor die Animosität gegen staatliche Eingriffe und Kontrollinstanzen zu sein. Hier vertrauen auch die chilenischen Unternehmer, die externe Produktauflagen per EU-Verordnung hinzunehmen gezwungen sind, lieber auf den freien Markt.
Ökologischere Nelken aus Kolumbien?
Einer der dynamischsten Sektoren der kolumbianischen Agrarexportwirtschaft ist in den letzten Jahrzehnten die Blumenproduktion. 1992 exportierte Kolumbien Blumen im Wert von mehr als 342 Millionen US-Dollar. Damit entwickelte sich der Blumensektor zur viertwichtigsten Exportbranche nach Erdöl, Kaffee und Bananen. Für die Weltbank verbirgt sich dahinter “eine der größten Entwicklungs-Erfolgsstories der letzten zwei Dekaden”.
Die ökologische Situation der Blumenproduktion ist jedoch durch einen extremen Gebrauch von Pestiziden, durch die Belastung von Böden und Gewässern durch toxische Stoffe und eine zunehmende Luftverschmutzung gekennzeichnet. Dies wirkt sich auf die nahegelegenen Ortschaften aus. Die absehbare Erschöpfung der einst üppigen Grundwasservorkommen, die zur Bewässerung verwendet wurden, ist ein weiteres Problem. Dazu kommt die extreme Ausbeutung der Arbeitskräfte, ursprünglich armer Bauern, inzwischen überwiegend Frauen aus den Armenvierteln Bogotas. Arbeitsschutzbestimmungen werden, wenn überhaupt vorhanden, kaum eingehalten. Vergiftungen durch toxische Stoffe sind an der Tagesordnung.
85% der kolumbianischen Blumenproduktion gehen heute in die USA, 13% in die EU. Gerade hier wachsen die ökologischen Anforderungen. In Holland ist man dabei, eine sogenannte “ökologische Blume”, das heißt, Kriterien für eine nachhaltigere Blumenproduktion zu entwickeln. Sie beziehen sich z.B. auf die Verwendung von Pestiziden und Dünger oder einen rationellen Energieverbrauch bei der Produktion. Dies könnte in absehbarer Zeit in ein Öko-Label für Blumen in der Europäischen Union münden.
In Deutschland hat die Menschenrechtsorganisation FIAN die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in der Blumenindustrie öffentlich gemacht und soziale Nachhaltigkeit sowie die Einhaltung von Arbeitsschutzmaßnahmen eingefordert (vgl. den Artikel “Alles paletti? Gütesiegel für kolumbianische Blumen” in diesem Heft). Die unmenschlichen sozialen Bedingungen bei der Blumenproduktion in Kolumbien und Kenia kamen schließlich im Juli 1993 im Europäischen Parlament zur Sprache. Es forderte die Europäische Kommission auf, die Produktionsbedingungen zu überprüfen und gegebenenfalls ein Importverbot auszusprechen. Dagegen setzt die kolumbianische Regierung den Vorwurf des Protektionismus. Inzwischen versucht man jedoch von kolumbianischer Seite außerdem, durch die Veröffentlichung einer “weißen Liste” von Unternehmen, die bestimmte soziale und ökologische Mindeststandards einhalten, dem externen Druck durch ein europäisches Öko-Label zuvorzukommen. Bisher müssen die tatsächlich eingeleiteten Schritte zur Verbesserung der Arbeitssituation jedoch als unangemessen bezeichnet werden.
Neuer Protektionismus oder mehr Nachhaltigkeit
“Das europäische Label ist ein Flop”, so die Süddeutsche Zeitung am 29.9.1994, nachdem sich die Europäische Kommission aufgrund unbefriedigender Ergebnisse bei der Vergabe entschlossen hatte, das Umweltgütezeichen für Industrieprodukte nun zu privatisieren. Was nach der Brüsseler Verordnung von 1992 bis zum Schluß strittig blieb, sind die entsprechenden Vergabekriterien für industrielle Produkte. Oftmals richten sich diese auch innerhalb der EU vor allem nach den Interessen der jeweiligen heimischen Industrie. Dies sagt einiges über den tatsächlichen Stand der Entwicklung in Europa aus. Unfähigkeit, nationale Produktion ökologisch umzustellen, und Protektionismustendenzen untereinander herrschen noch bei denen vor, die im internationalen Handel verstärkt Ökostandards setzen wollen.
Sind überhaupt Fortschritte in Richtung nachhaltiger Produktion durch Öko-Etikettierung zu erzielen? Am chilenischen Beispiel ist erkennbar, daß die öffentliche Diskussion über die Zerstörung der heimischen Wälder, sowie die wachsenden internationalen Produktanforderungen, Unternehmen der Holzbranche dazu zwingen, sich in einen Politikprozeß zur Durchsetzung ihrer Kriterien bei der Entwicklung von Gütesiegeln zu begeben. Teilweise hat dies auch schon zur Umstellung von Produktionsmethoden geführt. Exportunternehmen, das zeigt auch das kolumbianische Beispiel, werden sich in Zukunft einem zunehmenden Anpassungsdruck nicht entziehen können, wenn sie nicht auf den europäischen Markt verzichten wollen. Die Frage, ob ökologische Produktanforderungen einen Hebel zur Durchsetzung eines ökologischen Strukturwandels im Exportbereich der lateinamerikanischen Länder darstellen können, ist zwar nicht von vorne herein zu verneinen. Man muß jedoch erkennen, daß dieser umweltpolitische Hebel gerade in einem sehr sensiblen ökonomischen Bereich ansetzt, der in extremer Weise konjunkturellen Weltmarktentwicklungen ausgesetzt ist. Der Spielraum für lateinamerikanische Exportunternehmen, innovativ auf die neuen Anforderungen zu reagieren, ist sehr gering. Oft fehlt es dafür bereits an Information oder know how. Zugleich mangelt es oftmals am politischen Willen nationaler Regierungen, über die Unterzeichnung internationaler Abkommen und die Festlegung gesetzgeberischer Normen hinaus, die nationale Umweltpolitik mit Leben zu erfüllen, die Einhaltung von Verordnungen zu kontrollieren und tatsächlich durchzusetzen. Dies ist nicht zuletzt entscheidend, wenn es darum geht festzustellen, wie weitreichend die Produktionsumstellungen infolge der ökologischen Produktanforderungen tatsächlich sind. Für die arbeitsintensiven Branchen besteht schließlich die Gefahr, daß der ökologische Anpassungsdruck zu einer weiteren Verschlechterung der sozialen Sicherung und der Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten führen könnte. Der Begriff der “Nachhaltigkeit” beinhaltet jedoch neben der Zukunftssicherung kommender Generationen auch die Berücksichtigung sozialer Sicherung der heute Lebenden.
Inwieweit ist eine Agrarexportwirtschaft, die sich in erheblichem Maße auf Produkte konzentriert, die auch in Europa hergestellt werden können, überhaupt mit nachhaltigem Wirtschaften im globalen Maßstab vereinbar. Während in der EU subventionierte Nahrungsmittel vernichtet werden, erreichen nach langen Transportwegen Holz, Fisch, Blumen oder Früchte aus Lateinamerika den europäischen Verbraucher. Wie lange sich die vielgelobten, dynamischen Agroexportbranchen, die sich bisher vor allem durch die Ausbeutung billiger Arbeitskräfte und ihrer natürlichen Ressourcen ihre Nische im Weltmarkt sichern konnten, dort werden behaupten können, ist von zahlreichen Faktoren abhängig, die am wenigsten jedoch von den Exportnationen selbst beeinflußt werden. Der Preisverfall traditioneller lateinamerikanischer Agrarprodukte wie Kaffee, Kakao, Zucker oder Baumwolle in den 80er Jahren sollte Warnung genug sein, erneut zu sehr auf unbeständige Weltmarktkonjunkturen zu vertrauen. Wie nachhaltig negativ EU-Entscheidungen Dritt-Welt-Produktion betreffen können, haben kürzlich erst wieder zwei – in diesem Fall afrikanische – Länder betreffende Fälle gezeigt: Durch die in Kürze erfolgende Übernahme der in Großbritannien geltenden Schokoladen-Regelung in der EU wird es Herstellern erlaubt, die bisher zu verwendende Kakaobutter durch billige Pflanzenöle zu ersetzen. Dies bedeutet für die afrikanischen Kakaoproduzenten einen Einnahmeausfall von ca. 20%.
Im Senegal haben die meisten Landwirte den Anbau von Weizen und Reis aufgegeben, nachdem ihre Preise durch von Brüssel mit 6,4 Mrd. Mark jährlich subventioniertes Exportgetreide unter die Produktionskosten gedrückt worden waren. Dies sind die Rahmenbedingungen, die Schritte in Richtung zu mehr Nachhaltigkeit verhindern. Der Beitrag, den eine Öko-Etikettierung zu einem ökologischen Umstrukturierungsprozeß leisten könnte, muß dagegen eher als bescheiden angesehen werden.
Wirtschaftsreformen in Kuba – Konturen einer Debatte
Der Vizedirektor des Zentrums für Amerikastudien in Havanna, Julio Carranza Valdés, nimmt mit seinem einführenden Beitrag vom November 1992 eine Bestandsaufnahme der Krise der kubanischen Wirtschaft vor. Den Beginn der Krise datiert er auf Mitte der achtziger Jahre. Das Zusammenspiel von externen und internen Faktoren ließ die kubanische Wirtschaft in einen Abwärtsstrudel geraten, der bis dato noch nicht gebremst werden konnte.
Eine Verschlechterung der Wirtschaftsbeziehungen zum Westen, mit dem Kuba trotz der Einbindung in den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) in den siebziger Jahren noch ca. 40 Prozent seines Außenhandels abwickelte, stand dabei am Beginn dieser Entwicklung. Die Verschärfung der Blockade seitens der USA ist in diesem Zusammenhang nur eine von mehreren Ursachen. Besondere Erwähnung verdient dabei das von den USA verhängte Importverbot für mit kubanischem Nickel hergestellte Produkte, besitzt Kuba doch ca. 37 Prozent der weltweiten Nickelreserven. Auch der Fall der Ölpreise ab 1985 traf Kuba hart, denn mit dem Reexport von überschüssigem sowjetischen Erdöl erzielte das Land in den Jahren 1983-85 40 Prozent seiner Deviseneinnahmen. Beim wichtigsten Exportpodukt Zucker waren aufgrund ungünstiger klimatischer Verhältnisse ebenfalls beträchtliche Produktionsrückgänge zu verzeichnen. Diese externen Faktoren fanden in einer sinkenden internen wirtschaftlichen Effizienz ihre unheilvolle Ergänzung, die der Autor auf das von den sozialistischen Bruderländern übernommene Modell des extensiven Wachstums zurückführt.
Importabhängige Wirtschaft
Dieses Modell erfordert ein hohes Importniveau, trieb entsprechend die Auslandsverschuldung in die Höhe und in Verbindung mit der 1982 ausbrechenden Verschuldungskrise Kuba in die Zahlungskrise. Die Neuverhandlung der Schulden scheiterte, Konsequenz war die Einstellung des Schuldendienstes seitens Kuba und der Kreditvergabe seitens der Gläubiger. Die weitere Verlagerung der Handelsbeziehungen in Richtung Ostblock war damit durch die Devisenknappheit vorgezeichnet und wurde 1986 von Regierungsseite auch offiziell proklamiert. 1987 wickelte Kuba bereits 88,5 Prozent seines Handels mit sozialistischen Staaten ab, allein 70 Prozent mit der UdSSR.
Die starke Ausrichtung auf die sozialistischen Länder wurde durch die nicht absehbare Entwicklung in der UdSSR und den restlichen RGW-Staaten zum Schlag ins Kontor. Kuba verlor dadurch “nicht nur einen günstigen Handelsraum, sondern eine umfassende wirtschaftliche Einbindung.” Die von 8,139 Mrd. USD im Jahre 1989 auf 2,2 Mrd. USD im Jahre 1992 gesunkene Importkapazität beschreibt das Ausmaß dieser Entwicklung.
Neuorientierung der Wirtschaftsstrategie
Die erforderliche Neuorientierung hat nach Carranza Valdés drei Aufgaben zu bewältigen: Eine Anpassung der Wirtschaft an die neuen Bedingungen und die Eingliederung in den Weltmarkt auf neuen Grundlagen sowie eine effizienzsteigernde Reorganisierung der Wirtschaft.
Der Rückgang der Importkapazität ließ die Importe von ca. 8 Mrd. US Dollar im Jahre 1989 auf ca. 4 Mrd. US Dollar im Jahre 1991 sinken. Angesichts der importabhängigen Wirtschaftsstruktur war ein Einbruch der Produktion unvermeidlich. Der kleinere Kuchen wiederum macht Einschränkungen auf der Verteilungsebene unumgänglich. Die soziale Versorgung ist davon ebenso betroffen wie der private Konsum und die staatlichen Investitionen.
Eine Steigerung der Importkapazität kann angesichts der existierenden Kreditsperre nur über eine Ausweitung der Deviseneinnahmen erfolgen. Nichttraditionelle Exporte im Bereich der Pharmaindustrie und von medizinischer Ausrüstung auf mikroelektronischer Basis sowie der Ausbau des Tourismussektors gelten als Hoffnungsträger im Rahmen dieser Strategie. Dennoch macht Carranza deutlich, daß Kuba auch bei einer günstigen Entwicklung zumindest mittelfristig mit eingeschränkten Importmöglichkeiten leben muß. So hält er zusätzlich eine Neuverhandlung der Auslandsverschuldung und Effizienzsteigerungen im Bereich der Produktion und des Handels für “überlebensnotwendig”.
Ausländisches Kapital
als Notlösung
Das in Kuba vorhandene Potential an industrieller Infrastruktur mitsamt hochqualifizierten Arbeitskräften kann wegen Kapitalmangels, veralteter Technologie und fehlenden internationalen Absatzmärkten bisher nicht ausgeschöpft werden. Trotz der eingeräumten Risiken, die Carranza vor allem im Aufkommen einer dualen Struktur eines dynamischen, effizienten Sektors auf ausländischer Kapitalbasis einerseits und eines hinterherhinkenden inländischen Sektors andererseits sieht, gibt es keine Alternative zur Öffnung gegenüber dem ausländischen Kapital. Als Knackpunkt für die Verbindung der Auslandsinvestitionen mit dem internen Sektor und für eine integrale Wirtschaftsreform insgesamt sieht er denn auch die “Neuordnung der Wirtschaft unter einem neuen System der Wirtschaftslenkung”. Wie dieses System aussehen könnte, vermag der Autor allerdings nicht zu konkretisieren.
Über dieses neue System der Wirtschaftslenkung schweigt sich auch Fidel Castro in seiner Rede zur Legalisierung des US-Dollars zum vierzigsten Jahrestag des Revolutionsbeginns am 26. Juli 1993 aus. Er beschreibt all die widrigen Ereignisse, mit denen Kuba seit 1989 konfrontiert wurde, insbesondere den Verfall des sozialistischen Lagers, und ihre Auswirkungen in bemerkenswerter Offenheit. Offen bleibt aber auch, mit welcher Strategie damit umgegangen werden soll. Die kubanische Politik sei, so Castro, Sachzwängen ausgeliefert. An erster Stelle steht dabei die Notwendigkeit, die Deviseneinnahmen massiv zu steigern. Oberstes Ziel sei es, “das Vaterland, die Revolution und die Errungenschaften des Sozialismus zu retten.” Die Reformmaßnahmen stehen jedoch nicht in einem problemübergreifenden Gesamtkonzept. Ein solches ist schlicht nicht existent. Ob angesichts der Extremsituation, in der sich Kuba befindet, ein langfristiges Konzept im Moment implementiert werden könnte, steht indessen auf einem anderen Blatt. Wie die Sonderperiode in Friedenszeiten jedoch ein Ende finden soll, ohne daß ein Gesamtkonzept inklusive eines neuen Systems zur Wirtschaftslenkung entwickelt wird, darauf bleibt auch Castro die Antwort schuldig.
“Sommer der Reform”
Die Freigabe des Dollars leitete einen “Sommer der Reform” ein, der im Mittelpunkt des Beitrags des renommierten Kuba-Kenners Carmelo Mesa-Lago von der Universität Pittsburgh steht. Neben der Legalisierung des Devisenbesitzes wurde selbständige Arbeit auf eigene Rechnung grundsätzlich erlaubt. Dazu berechtigt sind Staatsangestellte in ihrer Freizeit, arbeitslos gewordene ArbeiterInnen aus Staatsbetrieben sowie RentnerInnen, Behinderte und Hausfrauen. Nicht nur der Personenkreis, sondern auch die Tätigkeiten sind eingeschränkt. Der Dienstleistungsbereich überwiegt bei den 117 zu selbständiger Arbeit zugelassenen Berufen. Mesa-Lago sieht darin eine Legalisierung von Tätigkeiten, die ohnehin ausgeübt wurden und werden, ob nun mit oder ohne Billigung des Staates. Bei einer geschätzten Zahl von inzwischen 1,5 bis 2 Millionen mit oder ohne Registrierung auf eigene Rechnung arbeitenden Personen scheint eine Überwachung kaum durchführbar. So bleibt für viele die Versuchung groß, sich nicht registrieren zu lassen. Zum einen büßen Arbeitslose bei Registrierung einen Teil ihrer staatlichen Zuwendungen ein, zum anderen könnte eine Registrierung bei einer veränderten Politik die Enteignung nach sich ziehen.
Mit einer seit September 1993 diskutierten Landwirtschaftsreform werden drei Ziele verfolgt: Die obligatorische Effizienzsteigerung, eine Schaffung von Arbeitsanreizen, um mit geringstmöglichem Ressourceneinsatz einen Produktionszuwachs zu erzielen sowie die Selbstfinanzierung und Selbstversorgung der landwirtschaftlichen Produktionseinheiten. Die Reform soll zwei Ebenen betreffen. Zum einen geht es um die Umwandlung der staatlichen Betriebe in Genossenschaften. Diese bleiben dabei unter Kontrolle des Staates und müssen ihre Überschüsse zu staatlich bestimmten Konditionen an denselbigen veräußern. Die zweite Ebene betrifft bisher ungenutzte Kleinflächen. Sie können künftig an RentnerInnen oder “Personen, die aus gerechtfertigten Gründen nicht in der Lage sind, in der Landwirtschaft zu arbeiten” zum Zwecke der Selbstversorgung vergeben werden. Wer unter die zweite Kategorie fällt, ist nicht klar, Mesa-Lago vermutet Staatsangestellte im Nichtagrarsektor.
Der Versuch der kubanischen Führung, mit marktorientierten Veränderungen die Errungenschaften des Sozialismus zu retten, ohne die Marktwirtschaft einführen zu wollen, hält Mesa-Lago indessen für zum Scheitern verurteilt. Er begründet dies mit dem fortgesetzten Verfall der kubanischen Wirtschaft trotz bisher eingeführter Reformmaßnahmen und mit ihren negativen Folgen für die Regierung, beispielsweise der wachsenden Ungleichheit in der Bevölkerung und der zunehmendem Bedeutung des informellen Sektors. An der Marktwirtschaft führt laut Mesa-Lago kein Weg vorbei – nur ob der Übergang weiterhin friedlich oder gewaltsam bis hin zum Bürgerkrieg verläuft, hält er für offen.
Joint-Ventures
als Hoffnungsträger
Joint-Ventures wird im Rahmen der aktuellen wirtschaftspolitischen Maßnahmen ein großer Stellenwert eingeräumt. Zwei AutorInnen beschäftigen sich mit dieser Thematik, so zunächst Robert Lessmann von der Universtät Wien. Aufgrund der Unklarheit, welche Kooperationsformen unter den Begriff Joint-Venture gefaßt werden, bezieht er sich vorwiegend auf Unternehmen mit ausländischer Kapitalbeteiligung, die sogenannten empresas mixtas. Diese Mischunternehmen führen ihre Transaktionen ausschließlich in frei konvertierbarer Währung durch. Da somit auch die Ausgaben in frei konvertierbarer Währung anfallen, macht eine Produktion für den Binnenmarkt wenig Sinn. So produzieren die meisten denn auch für den Exportsektor oder für den Dollarsektor des Binnenmarktes. Steuerrechtliche und arbeitsrechtliche Sonderkonditionen räumen den Mischunternehmen nach Lessmann selbst im internationalen Vergleich hervorragende Bedingungen ein. Die meisten Joint-Ventures befinden sich im handwerklichen und kleinindustriellen Bereich. Von größerer Bedeutung sind jedoch die Joint-Ventures im Bereich der Grundstoffindustrie und des Tourismus. Bei ersterer sind Joint-Ventures vor allem bei der Suche nach Erdölvorkommen und der Modernisierung der Nickelindustrie gefragt. Auch ist angedacht, im Tausch gegen Rohöl Mexiko und Kolumbien die Nutzung von überschüssigen Raffineriekapazitäten in Kuba anzubieten. Am erfolgreichsten und dynamischsten verlief die Entwicklung bisher im Tourismussektor. 20 Joint-Ventures trugen dazu bei, dßaß der Tourismussektor zur zweitgrößten Devisenquelle heranwuchs. Da die Joint-Ventures erst in den neunziger Jahren verstärkt auftauchten, hält der Autor eine Erfolgsprognose für verfrüht, sieht in ihnen aber einen potentiell wichtigen Beitrag zur Dynamisierung der Volkswirtschaft.
Gesellschaftliche Auswirkungen von Joint-Ventures
Die sozialen Folgen der Joint-Ventures thematisiert Gillian Gunndie (Professorin an der Georgetown-University) anhand mehrerer Fallstudien und Interviews. Die Interviews mit kubanischen Parteiführern, einschließlich Fidel Castros, machen deutlich, daß die kubanische Führung sich der Problematik der Folgen steigender Auslandsinvestitionen bewußt ist. Dennoch gibt es laut Castro “keine andere Wahl, als (…) die Verbindung mit jenen ausländischen Unternehmen zu suchen, die Kapital, Technologie und Märkte anbieten können.” Die Konsequenzen bleiben laut Castro spekulativ.
Die Fallstudien spielen mit der Ausnahme der “Curaçao Drydock Company” (CDM)-Werft in Havanna im Tourismusbereich. Positiven Effekten wie steigenden Deviseneinnahmen und der Schaffung von Arbeitsplätzen stehen eine Aushöhlung des kubanischen Gleichheitsethos durch das Entstehen einer neuen ArbeiterInnenelite und das Aufkommen von nationalistischen Ressentiments wegen des Zugangsverbots zu Joint-Venture Hotels gegenüber. Das zum September 1992 gezogenen Fazit der Autorin fällt knapp positiv aus: “Untergraben ausländische Investitionen das kubanische System? Noch nicht.”
Kubas Transition
Die Öffnung und Reform (apertura) der kubanischen Wirtschaft analysieren Pedro Monreal und Manuel Rúa del Llano, Mitarbeiter des Zentrums für Amerikastudien in Havanna. Die institutionellen Veränderungen in Kuba stehen im Zentrum ihrer Überlegungen. Diese Veränderungen könnten aus sich heraus den derzeitigen Dualismus im kubanischen Wirtschaftssystem mit dem “System der Wirtschaftslenkung und Planung” einerseits und der Marktorientierung im Außenhandel, beim Tourismus und hinsichtlich der Auslandsinvestitionen andererseits, überwinden.
Zwei Variablen weisen sie eine Schlüsselrolle zu. Neben Wachstum und Exportdiversifizierung wird der Erschließung neuer, externer Finanzierungsquellen Priorität eingeräumt. Die institutionellen Transformationen innerhalb der Wirtschaftsreform verlaufen zweigleisig. Unter die organisatorischen Transformationen fallen Veränderungen in der Form und der Funktionsweise der Wirtschaftsakteure sowie Änderungen in der staatlichen Struktur. Damit ist die Gründung von Aktiengesellschaften ebenso gemeint, wie der Aufbau einer Infrastruktur für Handel und Finanzgewerbe, Preisreformen oder der wachsende Einfluß von Nicht-Regierungs-Organisationen. Die normativen Transformationen umfassen die Veränderungen in der Gesetzgebung und in den administrativen Normen. Die Verfassungsreform vom Juli 1992 und zahlreiche Gesetzesdekrete, Resolutionen und ergänzende Regelungen sind Beispiele hierfür. Mit der erwähnten Verfassungsreform sehen die Autoren den Beginn einer neuen Phase bei den normativen Transformationen, denn erstmals wurde die Öffnung über den Exportsektor hinaus auf den Binnensektor ausgeweitet. Neue Konzepte in den Bereichen des Eigentums und seiner Übertragung und bei der Rolle des Staates in der Wirtschaftsplanung und -ausführung sind beispielgebend. Die Legalisierung des Devisenbesitzes ein Jahr später stellt einen weiteren Schritt dar. Aus den bisherigen Erfahrungen mit der apertura ziehen sie überraschend optimistische Schlußfolgerungen. Die Notwendigkeit einer umfassenden Wirtschaftsreform bleibt unbestritten, aber durch die apertura seien günstigere politische Voraussetzungen für diese geschaffen worden: “Zum einen das notwendige Vertrauen der politischen Entscheidungsträger in ihre Fähigkeit, einen Prozeß institutioneller Reformen durchführen und unter Kontrolle halten zu können – und zum anderen die Idee, daß die Konzentration der politischen Macht einhergehen kann mit marktorientierten Wirtschaftsreformen.”
Dieser Optimismus fehlt bei den kulturellen Einschüben indes völlig. Das Gedicht eines anonymen Autors, Liedtexte der beiden populären Sänger Carlos Varela und Pedro Luis Ferrer haben ebenfalls die ökonomische Situation zum Thema. Drastisch werden darin die Auswirkungen der Krise auf die soziale und moralische Substanz der Gesellschaft geschildert. Sie sind auch nicht als Auflockerung gedacht, sondern sollen als Beispiele gesellschaftliche Gegenreaktionen anschaulich machen. Der letzte Song “Hay mucha gente huyendo” (Es gibt viele Leute, die fliehen) von Pedro Luis Ferrer verleiht dem Band zusätzliche Aktualität. Eine Aktualität, die mit einem bis Mai 1994 reichenden Informationsstand für ein Buch ohnehin schon bemerkenswert ist.
Der Wutausbruch des Juan Tama
Vieles erinnert an den Vulkanausbruch des Nevado del Ruiz 1985, als über 20 000 Menschen von einer Schlammlawine getötet wurden. Auch diesmal war ein schneebedeckter Vulkan beteiligt: Durch ein Erdbeben der Stärke sechs lösten sich Eisplatten des 5750 Meter hohen Nevado del Huila und vermischten sich mit riesigen Erd- und Schlammassen zu einer tödlichen Lawine, die das Flußtal herunterdonnerte. Im Gegensatz zu damals ereignete sich die Katastrophe nachmittags, so daß sich die meisten Menschen retten konnten. Trotzdem gehen die vorsichtigsten Schätzungen von über 600 Toten und 400 Schwerverletzten aus, über 1000 bleiben vermißt, und weitere 18 000 Menschen sind direkt Betroffene, die oft nur ihr nacktes Leben retten konnten und noch heute in Notunterkünften leben.
Im Notlager Escalereta
Escalereta ist eines dieser Camps. In knapp 3000 Meter Höhe und bei Temperaturen zwischen fünf und zehn Grad hausen hier 2000 Menschen in teils gespendeten, teils selbstgebauten Zelten. Die feuchte Kälte und das ungewohnte Essen haben viele Indianer, besonders Kinder, erkranken lassen. Ein kleines Team von Ärzten und Krankenpflegern, zuweilen auch ein Páez-Medizinmann, sichern die nötigste Versorgung. Immer wieder hört man, daß Hilfsgüter auf dem Landweg von der Provinzhauptstadt Popayán oder in den Depots des Heeres oder des Roten Kreuzes verschwunden sind. Viele CampbewohnerInnen stammen aus Moscoco, einem Dorf, das das Erdbeben völlig zerstört hat. Zu Fuß ist es eine halbe Stunde zum Fluß Moras, wo eine kleinere Lawine 30 Menschen und die Brücke fortgerissen hat. Nach Moscoco, wo ein Teil der EinwohnerInnen unter Plastikplanen lebt, kommt man nur, wenn man sich traut, den Fluß mit einer halsbrecherischen Seilbahn zu überqueren, die jeden Moment reißen kann. Rotbraune Narben verunstalten die sonst grünen Steilhänge, dort, wo das Beben Erdrutsche auslöste.
80 Soldaten sollen Escalereta vor der Guerilla schützen, einer eher hypothetischen Gefahr. Umberto Rocha aus Moscoco berichtet, dort hätten Soldaten einen Gesundheitsposten demoliert und nach Waffen durchsucht. Die Lebensmittelverteilung wurde den Einheimischen entrissen und willkürlich gehandhabt. In Escalereta hingegen gelingt die Zusammenarbeit zwischen Heer, den Freiwilligen des Roten Kreuzes und des Zivilschutzes sowie den Führern der hier vertretenen Dorfgemeinschaften, die in enger Verbindung mit der Indianerbewegung CRIC (Regionaler Indianerrat der Provinz Cauca) stehen.
Wohin mit der Bevölkerung?
Im Katastrophengebiet wurden alle Straßen und Brücken zerstört. Man konnte sich Anfang August nur per Hubschrauber fortbewegen. Daher war in den ersten Wochen das dringendste Problem vieler BewohnerInnen die Zusammenführung ihrer Familien. In den nächsten Monaten soll die Um- und Rücksiedlung geklärt werden. Etwa 3000 Menschen haben das Páeztal bereits endgültig verlassen. Auch die Regierung favorisierte anfangs diese Variante. Dagegen besteht der CRIC, in dem die meisten Páez organisiert sind, auf einer Neuordnung der Gemeinschaften, die den weitverbreiteten Wunsch nach Zusammenhalt und Verbleib in Tierradentro berücksichtet. Diese Position scheint sich durchzusetzen.
Wie dies bewerkstelligt werden kann, ist aber noch unklar. Der nicht-indianische Teil der Betroffenen, vor allem schwarze und mestizische Campesinos, hat eine weniger intensive Bindung an die Region und läßt sich leichter in andere Gegenden der Provinz Cauca umsiedeln. Das wird auch auf einen Teil der indianischen Dorfgemeinschaften zukommen, denn vordem fruchtbare Teile des Páeztals wurden zur Hochrisikozone erklärt und können wohl auf Jahrzehnte nicht mehr besiedelt werden. Andere Ländereien in Tierradentro müßte die Regierung Privatbesitzern abkaufen, zu denen auch Drogenhändler gehören.
Mohnfelder vernichtet
Der Anbau von Mohn stellte in den letzten Jahren eine der bedeutensten Nebenerwerbsquellen vieler Bauern dar. Die Naturkatastrophe vernichtete nahezu alle – meist kleinere – Pflanzungen, die in diesem Jahr wieder verstärkt angelegt worden waren. Die desolate ökonomische Situation – Tierradentro zählt zu den ärmsten Gegenden Kolumbiens – brachte viele dazu, das zur Heroinherstellung notwendige Mohnlatex an Zwischenhändler zu verkaufen. Im vergangenen Jahr schloß die Regierung mit den Einheimischen ein Abkommen über die Ersetzung des Mohnanbaus durch alternative Produkte. Das nun von der Lawine begrabene Ausbildungszentrum in Tóez gehörte zu diesem Programm. Der Substitutionsprozeß war jedoch bereits vorher ins Stocken geraten, da die versprochenen Mittel nur spärlich flossen. Allgemein herrschte der Eindruck vor, daß das Interesse der Regierung an der erfolgreichen Durchführung des Projekts rasch nachließ.
Staatliche Inkompetenz
Inwieweit der Mohnanbau zur Abholzung und diese wiederum zum Ausmaß der Katastrophe beigetragen haben, ist umstritten. Fest steht, daß WissenschaftlerInnen bereits 1986 eine Landkarte der Region mit den jetzt verwüsteten Risikogebieten erstellt hatten: Auch eine Studie der staatlichen Umweltorganisation Inderena vom vergangenen Jahr nahm in einem Krisenszenario (Vulkanausbruch oder Erdbeben) die jetzige Katastrophe ziemlich genau vorweg. Diese Studie mit den darin vorgeschlagenen Maßnahmen zur Vorbeugung verschwand unbeachtet in den Schubladen der politisch Verantwortlichen.
Ein Trauerspiel war auch die dilettantische Reaktion staatlicher Instanzen in den ersten Tagen. Die Hubschrauber der Medien waren denen der Regierung weit voraus. Erst nach 48 Stunden trafen die ersten staatlichen Hilfsleistungen ein. Noch heute gibt es Menschen in abgelegenen Winkeln des Páeztals, die keinerlei Hilfe erhalten haben.
Die Indianer mußten ihre angemessene Beteiligung in der Kommission zum Wiederaufbau erst einklagen. Der von der Regierung eingesetzte Ausschuß “Nasan Kiwb” (Land der Menschen) muß nicht nur mit der Neuordnung des Lebens in Tierradentro fertigwerden, sondern auch mit internen Streitigkeiten, die wiederum die Interessenskonflikte in der Region widerspiegeln.
Die Strafe der Götter
So stellen in der Kommission VertreterInnen regierungsnaher Positionen die Mehrheit. Dazu gehört auch der Bogotaner Archäologe und Astrologe Mauricio Puerta, eine schillernde und in Tierradentro höchst umstrittene Persönlichkeit. Er lebt seit über zwanzig Jahren dort und hat mit seinen Ausgrabungen dafür gesorgt, daß die Regierung einen archäologischen Park mit indianischen Grabstätten einrichten konnte, der zu den touristischen Hauptattraktionen Kolumbiens zählt. Puerta, Schulfreund des neuen Präsidenten Ernesto Samper und astrologischer Berater mehrerer Minister, wird beschuldigt, vor dem Beben eine wertvolle Urne mitgenommen zu haben, ohne die vorgeschriebenen indianischen Riten vollziehen zu lassen. Deswegen, so ein weitverbreiteter Glaube, seien die Götter zornig geworden und hätten das Erdbeben geschickt. Andere sehen in der Katastrophe allgemein eine Antwort der Götter auf die Tatsache, daß die Natur durch den Einfluß der Weißen aus dem Gleichgewicht gebracht worden sei. Der legendäre Indianerführer Juan Tama, der im 18. Jahrhundert den Widerstand gegen die Spanier organisierte, habe – ebenso wie Kiwe, die Mutter Erde – die Menschen strafen wollen.
Jesús Piñacué, der bekannteste Aktivist der Indianerbewegung in Cauca (siehe Interview) nimmt die erste Version ernst. Puerta bestreitet sie vehement und behauptet, der CRIC habe sie selbst lanciert, um die IndianerInnen gegen ihn aufzubringen. Tatsache bleibt, daß beide Seiten um den Erhalt von Hilfsgeldern und den Einfluß in der Region konkurrieren. Daneben gibt es Parteipolitiker, Kirchenobere und VertreterInnen der anderen ethnischen Gruppen, die ebenfalls Sitz und Stimme im Führungsgremium von “Nasan Kiwb” erhalten haben.
Die – neben den RegierungsvertreterInnen – gesicherte Beteiligung der Betroffenen am jetzt beginnenden Neuanfang in Tierradentro stellt zweifellos einen Fortschritt gegenüber der Bewältigung des Vulkanausbruchs von 1985 dar. Gustavo Wilches: “Die Krise ist eine Zeit der Gefahr, aber auch der Chancen. Deswegen müssen wir sie nutzen, um diese Region nach vorne zu bringen. Wir werden mit allen zusammenarbeiten, mit Schwarzen, Mestizen und Indianern.” In den kommenden Monaten wird sich zeigen, ob die Kommission diesem Anspruch gerecht wird, was vielleicht noch schwieriger sein wird als die technische Seite des Wiederaufbaus.
“Mit Unterstützung von außen werden wir uns erholen”
Der Páez Jesús Enrique Piñacué (30) vom CRIC ist einer der profiliertesten Aktivisten der kolumbianischen Indianerbewegung. Vor kurzem war er im Team mit Antonio Navarro Wolff (Demokratische Allianz M-19) Kandidat für die Vizepräsidentschaft des Landes.
Wie wirkt sich die Katastophe auf die Páez aus?
Unser Volk hat viele harte Proben hinter sich: den Kampf gegen die Spanier, die politische Gewalt nach der Unabhängigkeit Kolumbiens, den Bürgerkrieg der Parteien, die Gewalt von seiten der Guerilla und der Drogenhändler – all dies in einem Staat, der sich der Straffreiheit beugt.
Wie beurteilen Sie das Verhalten der Regierung?
In den ersten Tagen wurden wir auseinandergerissen, weil die Rettungsdienste die Leute überstürzt herausholten, ohne die lokalen Führer zu konsultieren. Allmählich kommen wir aber wieder auf den richtigen Weg zurück.
Glauben Sie, daß die Leute nach der Katastrophe wieder mehr Mohn anpflanzen werden?
Nein, denn viele einflußreiche Indianerführer sind mit diesem Lösungsversuch für die wirtschaftliche Notlage nicht einverstanden. Jetzt herrscht große Trauer, Verzweiflung und Angst, aber wenn die kolumbianische und die internationale Gemeinschaft uns unterstützen, werden wir uns erholen.
Welche Probleme sehen Sie beim Wiederaufbau?
Die Arbeit der Kommission “Nasan Kiwb” könnte von politischen Interessen behindert werden, besonders wegen der bevorstehenden Kommunalwahlen.
Wer soll die Hilfsgelder verwalten?
Präsident Gaviria hat darauf bestanden, daß alle Gelder von der Kommission kanalisiert werden. Der CRIC hat dies bereits auf seiner letzten Sitzung beschlossen.
Interview: Gerhald Dilger
und Harry Clegg
Von Deutschland aus leitet “Brot für die Welt” Spenden an den CRIC weiter. Konto 500 500 500 bei der Postbank Köln (BLZ 370 100 50), Stichwort: Erdbeben Kolumbien.
Jenseits des Staates?
Im Editorial weist Albrecht Koschützke darauf hin, daß die Autonomie der lateinamerikanischen Staaten (politisch und ökonomisch) seit jeher begrenzt war, die “Durchsetzung des neoliberalen Paradigmas (…) jedoch eine extreme Form von außen induzierter Transformation der nationalen Gesellschaften mit einer offenbar weiterreichenden Eingriffstiefe” darstellt. Bietet der neoliberale Staat neue Freiräume für die multinationalen Kapitale, ist seine nationale Autonomie nach dem Umbauprozeß der achtziger Jahre noch stärker reduziert. Auch die Binnenreichweite des lateinamerikanischen Staates war traditionell begrenzt. Er garantierte zumeist weder ein fächendeckendes Bildungs- und Gesundheitssystem, noch kümmerte er sich beispielsweise um die indianische Bevölkerung und die verarmten Massen.
Der Unterschied zu früher liegt darin, “daß die strukturellen Schwächen des Staates nunmehr zu Tugenden erklärt werden, daß die Vernachlässigung seiner sozialen Funktionen nicht mehr vorwerfbar, sondern lobenswert, weil freiheitsstiftend ist, daß nur rudimentäre staatliche Dienstleistungsangebote statt als Defizit jetzt zum Ziel deklariert werden, kurz, bestehende Not wird in eine Chance zur Entwicklung umgelogen. Praktisch heißt das: Der immer schon miserable Staat wird noch miserabler; er liquidiert Hoffnung, Erwartungen, Rechte und Ansprüche auf Zukunft und Entwicklung gerade für jene, deren eigene materielle Kraft schon bisher nicht ausgereicht hat, individuell Armut, soziale Ungerechtigkeit und Unterentwicklung erfolgreich anzugehen und die jetzt auf die Chancen des Wettbewerbs und des Marktes reduziert werden.”
Die negativen Auswirkungen der Privatisierung staatlicher Funktionen beschreibt Thomas Fatheuer in seiner Analyse der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro: Ganze Stadtviertel werden von Drogenbanden, Glücksspielkartellen und Todesschwadronen kontrolliert. Das Problem ist hierbei, wie so oft, jedoch weniger die Aufgabe des staatlichen Gewaltmonopols – die Polizei wird von den BewohnerInnen der Favelas eher als Bedrohung denn als Schutz gesehen und ist zudem mit den Strukturen privater Gewalt “symbiotisch verwachsen” -, sondern ganz allgemein die Macht der Gewalt über die Gesellschaft. Auch jenseits des Gewaltmonopols werden die staatlichen Aufgaben wie Bildungs- und Gesundheitssystem zunehmend privatisiert und von Drogen- und Glücksspielbossen übernommen. In der tiefgreifenden sozialen Krise bilden sich laut Fatheuer “neue Formen einer sich barbarisierenden gesellschaftlichen Vermittlung, die vielleicht, und das ist das Bestürzende, gar nicht so schlecht funktionieren.” Vor allem aber wirken sie systemstabilisierend, begünstigen “autoritäre und faschistische Antworten” und erschweren den Aufbau basisorientierter Alternativen innerhalb der Favelas.
Daß der Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung und der Abbau der staatlichen Regulierungsfunktionen auch Chancen bietet und die politische Organisierung der Betroffenen fördern kann, zeigt Juliana Ströbele-Gregor anhand des Hoch- und Tieflands Boliviens. Der (Wieder-)Aufbau basisorientierter Entscheidungsstrukturen und Organisationen der indianischen Landbevölkerung in den achtziger Jahren resultierte aus der Notwendigkeit, der Austeritätspolitik der bolivianischen Regierungen zu begegnen, wurde aber auch durch die neuen Freiräume erleichtert, die der Rückzug von “Stiefvater Staat” schuf. Der unabhängige Organisierungsprozeß beförderte gleichzeitig ein neues Selbstbewußtsein und die Besinnung auf die eigenständige kulturelle Identität und Tradition der indianischen Bevölkerung. Zwei Faktoren spielten in diesem Prozeß eine bedeutsame Rolle: die Führungspersönlichkeiten und die Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Hatten erstere als “soziale Grenzgänger” eine wichtige Funktion als “Mittler von Ideen, Werten, politischen Vorstellungen und Kontakten” nutzten die Basisorganisationen die NGOs insbesondere zur Finanzierung notwendiger Projekte und Hilfsmaßnahmen. Dabei erwies sich die massive Ausbreitung der NGOs nicht nur als positiv: mit der Macht des Geldes korrumpierten sie Führungspersönlichkeiten und zerstörten gewachsene Dorfstrukturen.
Diese Ambivalenz der NGOs in ganz Lateinamerika diskutiert Albrecht Koschützke in seinem Artikel über “Die Lösung auf der Suche nach dem Problem: NGOs diesseits und jenseits des Staates”. Waren diese in den Jahren der Diktatur in vielen lateinamerikansichen Ländern oft dem antidiktatorialen Kampf verpflichtet und nicht selten ein Refugium für Oppositionelle, veränderten sie sich mit dem Redemokratisierungsprozeß der frühen achtziger Jahre und übernahmen oft die Aufgaben, die der neoliberale Staat nicht mehr zu erfüllen bereit war – während der Staat “immer weniger Staat wird und sich qua Privatisierung schrittweise auf reine Vermittlerfunktionen reduziert, also tendenziell einer NGO ähnlich wird”. Ohne die Bedeutung der NGOs, die seit den achtziger Jahren einen riesigen Boom erleben, in vielen Teilbereichen in Frage zu stellen, kritisiert Koschützke die verbreitete Meinung, daß diese per se effizient, kostengünstig, uneigennützig, demokratisch und basisnah seien. In der Realität bilden sich durch den expandierenden Hilfemarkt vielmehr neue Abhängigkeiten. Zudem bestehe die Gefahr, daß die NGOs, statt demokratisches Bewußtsein, Erfahrung und Organisierung zu fördern, in der Praxis insitutionelle und soziale Prozesse demokratischer Teilhabe untergraben.
Aus einer ganz anderen Perspektive untersucht Lothar Witte den Privatisierungsprozeß der letzten Jahre: Anhand der Reform der Sozialversicherung in Chile, Peru und Kolumbien macht Witte deutlich, daß die Ausformung der notwendigen Veränderungen in hohem Maße von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhängt. Das “chilenische Modell”, das während der Diktatur realisiert wurde, trägt vor allem den Interessen des Privatkapitals Rechnung. Die kolumbianische Reform berücksichtigt zumindest zum Teil auch die sozialen Interessen der einkommensschwachen Versicherten. Vor allem aber zeigt Witte – dem das Verdienst gebührt, ein so trockenes Thema wie eine Versicherungsreform anregend und anschaulich dargestellt zu haben -, daß weder ein staatliches System automatisch sozial gerechter, noch ein privates effizienter ist.
Hans Petter Buvollen und Robert Große zeichnen den schwierigen und widersprüchlichen Autonomieprozeß an der nicaraguanischen Atlantikküste nach. Historisch von der Zentralregierung in Managua kaum beachtet, begann erst die sandinistische Regierung Anfang der achtziger mit dem verstärkten Aufbau staatlicher Institutionen und Entwicklungsprogramme – und machte vieles falsch. Nachdem sich insbesondere die Miskito dem bewaffneten Widerstand gegen die Revolutionsregierung angeschlossen hatten, initiierte die FSLN einen Verhandlungsprozeß, der 1987 in die Verabschiedung eines Autonomiegesetzes mündete. Der Widerspruch zwischen den wirtschaftlichen und politischen Interessen der Zentralregierung und den BewohnerInnen der Atlantikküste, zwischen Staat und Gesellschaft, wurde allerdings bis heute nicht gelöst. Die Atlantikküste ist noch immer “Spielball von Kräften, die außerhalb der Region liegen”.
Den Schwerpunkt des Jahrbuchs beschließt eine – bereits in den Lateinamerika Nachrichten Nr. 241/242 vorabgedruckte – sehr persönliche Einschätzung von Ingrid Kummels über die Gleichzeitigkeit von Sozialismus, Kapitalismus und Santería für die Menschen in Kuba. In Gesprächen mit FreundInnen und Familienmitgliedern hat Kummels festgestellt, wie in den letzten Jahren der ökonomischen Krise die Santería für die Menschen zu einem wichtigen Bezugspunkt ihrer Alltagskultur “jenseits des sozialistischen Staates” wurde. Auch die Regierung hat ihre rigide Haltung gegen diese Volksreligion in den achtziger Jahren gelockert: “Ihre Strategie war, die Musik und die Rituale der Santería durch ihre Folklorisierung für den Tourismus zu nutzen und zugleich deren religiöse Bedeutungen auszuhöhlen.” Doch die AnhängerInnen der Santería entzogen sich auf ihre eigene Art dieser Funktionalisierung.
Insgesamt bietet der Schwerpunkt des diesjährigen Jahrbuchs einen interessanten Einblick in die Prozesse, die jenseits des (neoliberalen) Staates vor sich gehen. Erfreulicherweise werden nicht nur die negativen Auswirkungen der neoliberalen Restrukturierung analysiert, sondern auch die Chancen berücksichtigt, die der Rückzug des Staates bietet. Dies hätte allerdings noch vertieft werden müssen: Wie in dem Beitrag von Juliana Ströbele-Gregor über die Bauernorganisationen in Bolivien deutlich wurde, sind die sozialen Bewegungen entscheidende Akteure, um der neoliberalen Transformation Widerstand entgegenzusetzen. Auf sie wird allerdings kaum eingegangen. Hier hätte sich – ähnlich dem Beitrag über die NGOs – ein Überblick über die sozialen Bewegungen in Lateinamerika angeboten.
Abgerundet wird das Jahrbuch wie in jedem Jahr durch Länderberichte: Diesmal über Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Kuba, Mexiko und Peru. Wer keine brandaktuellen Informationen erwartet – Redaktionsschluß war bereits im April -, wird auch diese Berichte mit Gewinn lesen.
Jenseits des Staates?. Lateinamerika – Analysen und Berichte 18, hrsg. von Dietmar Dirmoser u.a., Horlemann Verlag (Bad Honnef), 278 Seiten, 29,80 DM, ISBN 3-89502-008-7
Editorial Ausgabe 241/242 – Juli/August 1994
Nur eineinhalb Tage nach seiner Rückkehr ins heimatliche kolumbianische Medellín war er tot: Andrés Escobar, Fußball-Nationalspieler, Schütze des Eigentores zum 0:1 im Spiel gegen die USA, starb auf dem Weg ins Krankenhaus, von 12 Kugeln tödlich getroffen. Sein Treffer, unhaltbar für den eigenen Torhüter ins Netz gegrätscht, war wohl die Schlüsselszene, an der Kolumbien im WM-Turnier zerbrach. Danach lief nichts mehr, Kolumbien verlor mit 1:2 und mußte trotz eines Erfolges gegen die Schweiz nach Hause fliegen.
Das hätten die Spieler besser nicht tun sollen. Denn schon vor dem Spiel gegen die USA hatten sowohl der Trainer Francisco Maturana als auch der Mittelfeldspieler Gabriel Jaime Gómez via Telefax Drohungen ins Hotel erhalten. Für den Fall, daß Gómez nicht durch Herman Gaviria ersetzt würde, wurden Bombenattentate auf die Häuser ihrer Familien in Kolumbien angekündigt. Prompt spielte Gaviria, Gómez flog mit mulmigen Gefühlen nach Hause. Vielleicht hat ihm die Entscheidung des Trainers das Leben gerettet.
Gewalt zieht sich indes wie ein roter Faden durch die Geschichte Kolumbiens. Hunderttausend fielen dem Bürgerkrieg von 1899 bis 1903 zum Opfer. Zweihunderttausend starben bei der violencia, dem zehnjährigen Bürgerkrieg von 1948 bis 1958. Seit den 60er Jahren herrscht Krieg zwischen dem Militär und verschiedenen Guerillabewegungen. In die Tausende gehen die Morde an Bauern und GewerkschafterInnen durch von Großgrundbesitzern angeheuerte Todesschwadronen. In den letzten Jahren spielte sich die Mafia in den Vordergrund.
Gerade wird dem scheidenden Präsidenten Gaviria, der sich auf seinen Amtsantritt als frisch gebackener OAS-Vorsitzender vorbereitet, die Mitschuld an Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen, da gerät auch der neue Präsident Samper in den Verdacht einer direkten Verbindung zum Drogenkartell von Cali. Niemand der herrschenden Politikerkaste, so scheint es, ist frei von Verbindungen zur Kriminalität.
Organisierte Kriminalität scheint auch den Hintergrund für das Attentat abzugeben. So mehren sich die Zeichen, daß der Mord an Andrés Escobar eine gezielte Racheaktion des Medellíner Drogenkartells ist. Dieses hat Unsummen an Wettgeldern auf einen Sieg der kolumbianischen Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft gesetzt. Das verfeindete Kartell in Cali ob der günstigen Quoten dagegen. Andrés Escobar war der Lieblingsspieler des Nationaltrainers Maturana. Ehemals Trainer von Nacional Medellín, war er nach einem Abstecher nach Europa, zum verfeindeten America Cali gewechselt und für das Medellín Kartell zum Verräter geworden. Ihm und dem Cali-Kartell war das Attentat laut Bekenneranrufen gewidmet.
Andrés Escobar also doch nur ein alltägliches Opfer der Drogenmafia, und nicht eines enttäuschten Fußballfanatikers? Es wäre weit weniger spektakulär und nicht mehr als eine Nachricht wert, oder wer kennt schon Omar Canas, hoffnungsvolles Stürmertalent, der 1993 seine öffentliche Kritik an der Drogenmafia mit dem Leben bezahlte.
Nichts als Ärger mit den Drogen
Die Entscheidung des Obersten Verfassungsgerichtes sei für die Entwicklung Kolumbiens “schwerwiegend und höchst gefährlich”, malte Gaviria in einer beispiellos scharfen Kritik den Teufel an die Wand. Orchestriert wurde der Präsident von einem vielstimmigen Aufschrei der öffentlichen Meinung, der Kirche, der Präsidentschaftskandidaten, vieler Medien – bis hin zu kleinen Schulkindern, die an Protestdemonstrationen teilnahmen.
Inzwischen suchen Regierung und private Organisationen fieberhaft nach Wegen, die Entscheidung durch gesetzliche Maßnahmen oder eine Volksbefragung, die seit der Verfassungsreform 1991 möglich ist, auszuhebeln.
Drogenkonsum – ein individuelles Grundrecht?
Das Oberste Verfassungsgericht begründet seine umstrittene Entscheidung wie folgt: Der Staat habe in der Verfassung die persönliche Freiheit jedes einzelnen seiner BürgerInnen garantiert. Jedem sei es selbst überlassen, ob er seine Gesundheit und sein Leben durch den Konsum von Drogen gefährde. Das Verfassungsgericht stellt damit den Einzelnen mit seinen Bedürfnissen und Entscheidungsmöglichkeiten über die Gesellschaft und ihre von der Mehrheit definierten Interessen. In seiner Begründung erwähnt das Gericht unter anderem die widersprüchliche Praxis des Staates, den Konsum von Alkohol oder Zigaretten mit ihren erheblichen gesundheitlichen und sozialen Folgeschäden zu erlauben, und gleichzeitig den Konsum anderer Drogen zu verbieten.
Schon Monate zuvor nahm der Konflikt zwischen Präsident Gaviria und dem obersten Ankläger heftige Dimensionen an. Gustavo de Greiff hatte öffentlich erklärt, daß der bisherige Kampf gegen den Drogenhandel gescheitert sei. Dabei berief er sich auch auf Aussagen führender US-PolitikerInnen und FunktionärInnen der dortigen Drogen-Bekämpfungs-Behörden. Als Konsequenz müsse über die Legalisierung von Drogen nachgedacht werden.
Gustavo de Greiff bezog sich dabei vor allem auf die Tatsache, daß Kolumbien in diesem Krieg Tausende von Opfern zu verzeichnen habe, während der steigende Konsum in den Industriestaaten dort von offizieller Seite nur halbherzig bekämpft werde. Man könne nicht den Anbauländern die ganze Last des Kampfes aufbürden.
Mit den Drogenbossen verhandeln?
Vor einigen Jahren wurde in Kolumbien, ähnlich wie in den Vereinigten Staaten, eine Kronzeugenregelung für Kriminelle geschaffen. Nach dem Tod von Pablo Escobar, dem Chef des Medellín-Kartells, war zu erwarten, daß sich der Einsatz von Fahndungsbehörden, Polizei und Militärs nun auf die Drogenbosse in Cali konzentrieren würde. Daher hatten einige capos ihre Rechtsanwälte vorgeschickt, um mit der Staatsanwaltschaft über eine mögliche “Übergabe” zu verhandeln.
In diesem Zusammenhang kam es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Gaviria und de Greiff, die sich besonders an der Höhe der Gefängnisstrafen und den Haftbedingungen der capos des Cali-Kartells entzündeten. Der Generalstaatsanwalt argumentierte unter anderem damit, daß häufig nicht ausreichend Beweise zur Verfügung stünden, um eine reguläre Verurteilung der Drogenhändler zu garantieren.
Als Gustavo de Greiff sich dann erlaubte, US-Kollegen mitzuteilen, daß gegen einen dort wegen eines Flugzeuganschlags angeklagten kolumbianischen Drogenhändler in seinem Heimatland keine Beweise vorlägen und daher von seiner Seite nicht ermittelt würde, kam es zum Eklat: Der US-Senator John F. Kerry titulierte Kolumbien als “Drogen-Demokratie”. Die dortige Staatsanwaltschaft sei von narcos unterwandert. Ähnlich äußerte sich auch Janet Reno, die Generalstaatsanwältin der Vereinigten Staaten. Die USA stellten daraufhin die Weitergabe von Beweismaterial gegen in Kolumbien angeklagte Drogenhändler ein.
Die heftigen Attacken aus dem Ausland veranlaßten nun Gaviria, sich hinter seinen Generalstaatsanwalt zu stellen und ihn zu verteidigen – allerdings nicht, ohne nochmals auf die Meinungsunterscheide hinzuweisen.
Die Kokain-Mafia als Wahlkampfsponsor?
Nachdem sich die Wogen ein bißchen geglättet hatten, ging am 21. Juni, zwei Tage nach der Präsidentschaftswahl, die nächste Tretmine hoch. Der Mitschnitt eines Telefongespäches soll beweisen, daß sowohl der unterlegene konservative Kandidat Andres Pastrana als auch der neugewählte liberale Präsident Ernesto Samper auf den Gehaltslisten der Drogenbosse stehen.
Bewiesen ist bisher nichts. Fest steht nur, daß das internationale Ansehen Kolumbiens durch diesen Skandal weiter lädiert wird. Für das Land steht viel auf dem Spiel, insbesondere, was die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten angeht. So wäre es wirtschaftlich ein herber Schlag, wenn Kolumbien die wirtschaftliche Vorzugsbehandlung verlöre, die den zollfreien Export bestimmter Waren in die USA erlaubt. Eine Drohung, mit der die Vereinigten Staaten alle diejenigen Länder zur Räson zwingt, die – in ihren Augen – nicht genug im Kampf gegen die Drogen tun.
Pablo Escobars verwaiste Kindersoldaten
Der neunzehnjährige Chucho redet sehr angeregt über das Begräbnis von Pablo Escobar, dem Chef des Drogenimperiums von Medellín. El Patrón, wie Chucho ihn nennt, wurde am 3. Dezember 1993 von staatlichen Sicherheitskräften getötet. “Ich mußte es sehen, um es zu glauben”, sagt er. “Ich hätte nie gelglaubt, daß die Regierung in der Lage wäre, Pablo zu töten. Ich glaubte, dieser Mann sei unbesiegbar.”
Chucho war einer der 5.000 – überwiegend jungen und armen – EinwohnerInnen von Medellín, die zu der Beerdigung des Drogenbosses kamen. Die aufgewühlte Menge der Trauernden zerbrach die Fenster der Beerdigungshalle und trug den Sarg von Escobar spontan auf ihren Schultern. Schließlich mußte die Armee eingreifen, um die Ordnung wiederherzustellen und die Beerdigung zu beenden.
Selbstverständlich waren die meisten KolumbianerInnen über den Tod von Escobar erfreut. Sie sahen in ihm den gewalttätigen Protagonisten eines Jahrzehntes voller Drogenhandel, Terrorismus, Morde und politischer Attentate. Zum ersten Mal nach vielen Jahren fühlten sie den Triumph, den Staat wieder als ihren eigenen anzusehen. Es entstand die Hoffnung, daß sie endlich beginnen könnten, die lange Phase der Gewalt und des Leidens zu überwinden.
Chucho dagegen glaubt, daß alles beim alten bleiben wird. Wenn er dies bekräftigt, denkt er an sein eigenes Schicksal. “Schau Bruder”, sagt er, “Pablo starb, aber wir haben immer noch die gleiche Armut, die gleiche Arbeitslosigkeit, die gleichen korrupten Autoritäten. Welcher Weg soll uns also offen stehen?”
Der junge Mann lebt im nordöstlichen Distrikt der Stadt Medellín, einem dicht besiedelten Gebiet, das bis an steile Berghänge heranreicht. Dort schloß Chucho sich mit vierzehn Jahren einer Bande an. Wie bei den meisten aus der Gruppe begann mit einfachen Aktivitäten wie dem Transport von Waffen. Eines Tages wurde ihm während einer Aktion der Bande befohlen zu schießen.
Aus Chucho wurde ein sicario, ein bezahlter Killer im Dienste der Drogenhändler. Obwohl er viel von dem Geld, was ihm zwischen die Finger geriet, verschwendete, vergaß er nicht das Versprechen, das er ablegte, als er sich entschloß, in die Welt der Kriminalität einzutreten: seiner Mutter ein Haus zu bauen.
Von ihrem Ehemann verlassen, arbeitet Chuchos Mutter als Hausangestellte für eine wohlhabende Familie. Obwohl sie Angst hat, daß ihr Sohn wie so viele seiner Freunde einen tragischen frühen Tod stirbt, ist sie dankbar, daß er ihr ein Dach überm Kopf verschafft hat. “Armut ist besser als das Risiko des Todes”, sagt sie Chucho, und hakt die Namen all seiner Freunde ab, die ein gewalttätiges Ende gefunden haben. Chucho zuckt nur mit den Schultern und wiederholt den gleichen Satz: “Nur Gott weiß, wann du sterben sollst”.
Von Hungerleidern
zu Kanonenfutter
Die ersten mit dem Kartell verbündeten Jugendgangs entstanden Ende der siebziger Jahre. Für die Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Drogenbanden wurden Heranwachsende aus den Armenvierteln als sicarios rekrutiert. Später, als der Staat versuchte, diese Banden unter Kontrolle zu bringen, begannen die gleichen Jungen Polizisten und Richter zu ermorden. 1983 feuerte ein Sechzehnjähriger die Maschinengewehrkugel ab, die den Justizminister Rodrigo Lara Bonilla tötete. Präsident Belisario Betancur setzte unverzüglich einen Auslieferungsvertrag mit den Vereinigten Staaten in Kraft, nach dem Drogenhändler schärfer verfolgt werden. So begann eine Schlacht, bei der die jungen sicarios in der vordersten Frontlinie der Drogenkartelle standen.
Morde an hohen Staatsvertretern bildeten die Höhepunkte der Beteiligung junger Berufskiller an diesem Krieg. Viele von ihnen haben Ähnlichkeiten mit Chucho: Sie stammen aus Armenvierteln, wurden von ihren Eltern fallengelassen, besuchten nicht regelmäßig die Schule, waren arbeitslos. Junge Männer mit ähnlichen sozialen Profilen ermordeten Zeitungsverleger, linke Politiker und staatliche Funktionäre.
Eine der für die KolumbianerInnen erschreckendsten Episoden war der Mord an Carlos Pizarro León Gómez, dem Präsidentschaftskandidaten der M-19. Die frühere Guerilla hatte sich gerade als Partei formiert und angefangen, sich am parlamentarischen System zu beteiligen. Am 26. April 1990 bestieg Pizarro in Bogotá ein Linienflugzeug, um in den Nordosten des Landes zu fliegen. Wenige Minuten nach dem Start zog ein junger Passagier eine Schußwaffe, richtete sie auf den Kandidaten und tötete ihn. Pizarros Leibwächter erwiderten das Feuer und töteten den Mörder.
Nach diesem Vorfall bezeichneten die Medien diese jungen Killer als kamikazes. Die jungen Männer führten ihre Aktionen auf eine so überraschende und furchtlose Weise durch, daß es für die Regierung quasi unmöglich wurde, die Sicherheit von Personen zu garantieren. Gepanzerte Fahrzeuge und Leibwächter wurden Teil des alltäglichen Lebens im Lande.
Drogenhandel und Brutalisierung des Alltags
Zu Beginn der siebziger Jahre begann der Drogenhandel, sich in Medellín und der umliegenden Region auszubreiten. Die Zahl der Jugendbanden wurde Mitte dieses Jahrzehnts von der Polizei auf 200 Gruppen mit ca. 5.000 Mitgliedern geschätzt. Die meisten davon hatten nichts mit den Drogenhändlern zu tun, aber alle versuchten, deren Stil zu imitieren. Schon bald wurden die Jugendgangs in die blutigen territorialen Auseinandersetzungen verwickelt, die sich in den Armenvierteln Medellíns abspielten. Während der achtziger Jahre stieg in der Stadt die Zahl der Morde drastisch an. 1980 starben in Medellín 730 Personen eines gewalttätigen Todes. 1985 war Mord mit 1.684 Opfern zur Haupttodesursache geworden. 1990 wurden in der 1,7 Millionen Einwohner-Stadt 5.500 Morde registiert.
Was veranlaßte viele Jungen zu solch selbstmörderischem Verhalten? Warum beteiligten sich sicarios an Aktionen, bei denen sie wahrscheinlich sterben würden? Das Problem liegt selbstverständlich nicht nur bei diesen jungen Delinquenten, sondern auch in der Gesellschaft, die diese hervorbringt. Bevor Jugendkriminalität sich so weit verbreitete, hatten sich in Kolumbien viele dramatische Veränderungen vollzogen. Die Banden entstanden in Gegenden, die von massiver Landflucht geprägt sind und während der siebziger Jahre vom Staat fast vollständig vergessen worden waren. Die BewohnerInnen wurden in die “informelle” Welt verbannt – eine Welt, in der bürgerliche Rechte und Pflichten kaum existierten. Die Söhne dieser MigrantInnen wuchsen am äußersten Rand der Legalität auf. Sie wurden als BürgerInnen zweiter Klasse behandelt, mit denen von staatlicher Seite aus lediglich die Polizei zu tun hatte. Als die Bevölkerung sich selbst organisiserte, um gegen ihre Lebensbedingungen zu protestieren, antwortete das politische System mit Kriminalisierung und Unterdrückung und verschloß die legalen Kanäle politischer Beteiligung. Die Migrantenfamilien verblieben unter der Kontrolle der korrupten traditionellen liberalen und konservativen Parteien. Gleichzeitig zersetzten sich ihre traditionellen Formen des Zusammenhalts.
Als in diesen Gemeinden Mitte der siebziger Jahre eine verstärkte Kriminalität zu verzeichnen war, bestand die Antwort anderer gesellschaftlicher Bereiche und der staatlichen Sicherheitsorgane in Ausrottungskommandos zur sogenannnten “sozialen Säuberung”. Anstatt sich um die Resozialisierung der jungen Leute zu bemühen, wurden viele in den Straßen und Außenbezirken der Städte einfach niedergeschossen. Nach Berichten der Generalstaatsanwaltschaft beteiligten sich auch Mitglieder der Streitkräfte an diesen Todesschwadronen. Auf diese Weise begann der Staat seine grundlegendsten öffentlichen Funktionen zu verlieren: die Verteidigung der BürgerInnen, die Schlichtung von Konflikten und die Verwaltung der Justiz.
Narcos als Jugendidole
Der Tod wurde zur Routine – zunächst für Staat und Gesellschaft, dann für die Gruppen von Jugendlichen, die in diesem Kreuzfeuer aufwuchsen, inmitten der Gleichgültigkeit gegenüber den Leichen auf den Straßen. Die jungen sicarios wurden in eine Welt hineingeboren in der keine verbindlichen Prinzipien existierten, die ihnen gegenseitigen Respekt und Achtung vor dem Leben selbst hätten vermitteln können. Hinzu kamen die vielfältigen Einflüsse neuer sozialer Akteure wie etwa der Drogenhändler, die brutale Gewalt und die Liebe zum Luxus zur Grundlage sozialer Beziehungen machten. Die Jugendgangs waren das Resultat nicht nur einer sozialen und wirtschaftlichen Krise, sondern auch einer Legitimitätskrise der sozialen Institutionen. Die Aktionen dieser jungen Leute stellten die Bedeutung von Leben und Tod in Frage. Wir reden von einer Generation, die ihre Stärke in einem Bereich fand, wo sämtliche Grenzen aufgelöst waren.
Pablo Escobar selbst stieg durch brachiale Gewalt zum Chef des Medellín-Kartells auf. Während eines Jahrzehntes erlangten sein Leben und seine Aktivitäten mythische Dimensionen. Für die armen Leute wurde er zum Idol, zum Symbol der Rebellion gegen das Establishment. Unter seiner Führung brachten sogenannte “Büros” die Aktivitäten der Jugendgangs unter den Einfluß des Medellín-Kartells. Es handelte sich hierbei um Tarnfirmen in Form von Autowerkstätten oder Immobilienbüros, wo Männer des Kartells die Bosse der städtischen Jugendbanden für sich rekrutierten. Nach wie vor kontrollieren diese Anführer den Stadtteil, in dem sie leben. Ihre Macht ist so groß, daß kein Krimineller ohne ihr Einverständnis operieren kann.
Die meisten Gangs identifizieren sich mit den Namen ihrer Anführer: Nachos Bande, Crazy Uribes Bande etcetera. Der Boß hält die Bande zusammen und agiert mit absoluter Autorität. Er entscheidet über Fragen von Leben und Tod. Logischerweise ist er großzügig mit seinen loyalen Anhängern und und unerbittlich gegenüber denen, die ihn betrügen oder sich gegen ihn stellen.
Die meisten Jugendlichen in der “Armee” der Drogenhändler sterben in einem der vielen Kriege, für die sie rekrutiert worden sind. Einigen ist es gelungen, eine gewisse Machtstellung zu erreichen, selbst zu Westentaschen-Capos zu werden und einen gewissen Wohlstand anzuhäufen.
Die Bande als Ersatzfamilie
Während der achtziger Jahre stieg die Kriminalitätsrate bei den Jungen zwischen 12 und 18 Jahren. Dies hat mehrere Gründe: Die traditionellen Institutionen, die für die Vermittlung zwischen dem Individuum und der sozialen Ordnung verantwortlich waren, hatten ihre Wirkung verloren. Bei der Entstehung von Lebensstilen spielten jetzt neue Akteure eine entscheidene Rolle. Blutrachen wurden immer häufiger, ebenso die Aktionen paramilitärischer Gruppen, Guerillas und Gruppen zur “sozialen Säuberung”. Die Gesellschaft begann, sich aufzulösen.
Weder in der Schule noch in der Familie oder in der Kirche fanden sich moralische, soziale oder kulturelle Vorbilder, die die neuen städtischen Generationen ansprachen. Die Banden wurden zum alternativen Sozialisationsmittel. Sie wurden zu dem Weg, auf dem sich viele junge Leute in die symbolische und “normative” Welt einfügten.
Gleichzeitig machte die Familie in allen gesellschaftlichen Schichten eine grundlegende Krise durch. Bei den armen Leuten kamen noch besondere Faktoren hinzu. So erziehen immer mehr Frauen ihre Kinder alleine. Gleichzeitig sind immer mehr von ihnen berufstätig. Alkoholismus und Drogenabhängigkeit, der Mangel an Verantwortungsbewußtsein bei den Vätern und die hohe Arbeitslosenrate tragen dazu bei, daß der Vater aus vielen Haushalten verschwunden ist.
Hinzu kommt eine wachsende Gewalt gegen Frauen und Kinder. Statistiken des Kolumbianischen Instituts für Familienwohlfahrt zufolge hat es seit 1980 in jedem Jahr einen Anstieg der registrierten Fälle von Kindesmißbrauch gegeben. Das Institut schätzt, daß es pro Jahr zwischen 50.000 und 100.000 Fälle von körperlicher und seelischer Mißhandlung oder sexuellem Mißbrauch im Lande gibt. Allein in der ersten Hälfte des Jahres 1986 wurden in den verschiedenen Sozialstationen in Medellín 7.500 Fälle von Gewalt gegen Minderjährige behandelt. Im größten Krankenhaus der Stadt wurden in diesem Jahr 3.073 Kinder wegen Verletzungen behandelt, 74 davon hatten Schußwunden. Die Statistiken beleuchten die Auswirkungen von Gewalt auf Kinder und die Effekte eines autoritären und intoleranten Familienmodells.
In vielen Familien mangelt es nicht nur an Liebe, sondern auch an positiven Modellen von Autorität. Dies ist besonders offenkundig, wenn der Vater seiner Rolle in der Familie nicht gerecht wird. Wenn sich ein Junge einer Bande anschließt, findet er in dem Anführer eine Identifikationsperson, wie er sie in der Familie nicht hatte. Die Mütter verhalten sich gegenüber ihren delinquenten Söhnen oft zwiespältig. Oft mißbilligen sie zwar das, was ihre Kinder tun. Gleichzeitig beschützen sie sie und halten bis zum Ende zu ihnen. Wenn es den Kindern gelingt, einen höheren Lebensstandard zu erreichen, erhöht sich der Toleranzlevel.
Pablo Escobar – ein verkannter Wohltäter?
Die Jugendgangs werden zum Ausdruck der Subkultur der Drogendealer, wo Ideale und Helden gefunden werden können. Entsprechend werden narcos, in einigen Regionen auch sicarios, idealisiert. Dazu gehört in manchen Fällen auch das Image als “Wohltäter” der Gesellschaft. Pablo Escobar wurde zum Beispiel zum gleichen Zeitpunkt, als er vom Staat und den Medien geächtet wurde, von vielen, insbesondere armen KolumbianerInnen mythologisiert. Sie hielten ihn für einen guten und mächtigen Mann, dem die traditionell Herrschenden im Lande unfairerweise alles Übel anhängen wollten.
In einer Umfrage, die letztes Jahr in den Schulen des nordöstlichen Distriktes durchgeführt wurde, wurden Schüler gefragt, wen sie für die wichtigste Person des Landes hielten. 21 Prozent der Befragten nannten Pablo Escobar, 19,6 Prozent den Präsidenten César Gaviria, 12,6 Prozent René Higuita, den Torwart der Nationalmannschaft. Von allen befragten Kindern hatten 56,5 Prozent eine positive Meinung über Escobar.
In weiten Kreisen der Gesellschaft hält sich immer noch die Einstellung, daß Escobar eigentlich Gutes bewirken wollte. Der Krieg der Regierung habe ihn gezwungen, Dinge gegen seinen Willen zu tun. In geringerem Ausmaß werden auch die mittleren capos und die sicarios aus den Vierteln als Wohltäter angesehen – als Verteidiger des Wohlstandes der Gemeinschaften.
Die Jungen aus den Hüttenstädten wachsen mit dem Bedürfnis auf, intensiv zu leben, ihren eigenen Willen durchzusetzen, zu sagen: “So sind wir: Wir existieren!”. Die Gewaltausübung ist zu einem Weg geworden, die Gesellschaft zur Anerkennung ihrer Existenz zu zwingen. In den Banden haben sie etwas gefunden, was die Gesellschaft nicht bieten kann: Freunde und Verbündete, mit denen sie grundlegende Lebensbereiche teilen. Es gibt keine Unterordnung unter eine äußere Autorität. Dies verleiht den Banden eine große Portion Vitalität.
Die größeren Gangs haben ein System von Codes und Beziehungen, auf denen ihr Zusammenhalt beruht. Hier werden Autoritätsbeziehungen mit Loyalität und Solidarität kombiniert. Innerhalb einer Subkultur werden Verbrechen und Gewalt nicht notwendigerweise als illegitim angesehen. Die Subkultur bezieht die Jugendlichen in ein Wertesystem ein, daß sich bei weitem von den formalen Maßstäben der Gesellschaft unterscheidet. Die Bande funktioniert als eine isolierte Umgebung, in welcher die Mitglieder von Angriffen auf ihre Selbstachtung geschützt sind. Den Jungen fehlen die gesellschaftlichen Konzeptionen von “gut” und “schlecht”. Viele werden zu Delinquenten, ohne sich selbst als “anders” anzusehen. Sie haben ihr eigenes positives Selbstbild.
Die Jungen werden Linie von der Aussicht auf Abwechslung, Vergnügen und Abenteuer wie von einem Magneten angezogen. In dieser maskulinen Welt werden Status und Führerschaft durch Tapferkeit und Machtausübung bestimmt. Dies beinhaltet das Wissen über den Gebrauch von Waffen. Alle kolumbianischen Bandenanführer sind perfekte Schützen und wissen, wie man glatt und effizient vorgeht.
Wenn wir Städte wie Caracas und Rio de Janeiro betrachten, finden wir eine ähnliche Situation wie in Medellín. Dort haben größere Drogendealer Armeen von Heranwachsenden aufgestellt, um ihr Territorium in den Armenvierteln zu sichern. Sie benutzen diese Jugendlichen als Kanonenfutter in ihren Konfrontationen untereinander und mit staatlichen Autoritäten. Wenn die narcos nicht so immense Gewinnspannen hätten, wäre es praktisch unmöglich, so viele Heranwachsende zu rekutieren und modernste Waffen zu beschaffen.
Der staatliche Drogenkrieg – ein Schuß nach hinten
Nach dem Mord am liberalen Präsidentschaftskandidaten Luís Carlos Galán startete die Regierung 1990 eine frontale Attacke gegen das Medellín-Kartell. Die Sicherheitskräfte begannen mit Angriffen auf die Jugendbanden, die sie für die Reservearmee der Drogenhändler hielten. Diese Offensive fand ohne den geringsten Respekt für Menschenrechte statt. Sie bediente sich derselben Logik wie der Krieg zur Aufstandsbekämpfung: Ganze Gemeinden wurden zu Feinden der Gesellschaft erklärt. Heranwachsender in einem Armenviertel zu sein bedeutete, als sicario klassifiziert zu werden. Die staatliche Offensive, bei der Tausende von Menschen illegal verhaftet wurden, verstärkte die Abneigung gegen die Sicherheitsorgane und den Staat.
In diesem Sinne war die Strategie ein Schuß nach hinten. Viele junge Leute identifizierten sich mit den Drogenhändlern und radikalisierten sich gegen die Regierung. Zu spät wurden sich die nationalen und regionalen Regierungen darüber bewußt, daß die Anwendung von counterinsurgency-Methoden ein Fehler war, und gingen weniger brachial vor.
Nach wie vor sind weder eine grundlegende Umstrukturierung des Justiz- und Polizeisystems noch eine substantielle Umverteilung des Wohlstandes zu erwarten. Trotzdem gibt es einige “soziale Aktions-Programme” zur Resozialisierung von Jugendlichen, die zu begrenzter Hoffnung Anlaß geben. Einige öffentliche und private Organisationen bieten mittlerweile Beschäftigungsprogramme an.
Die Jugendbande als Mittel zur Resozialisierung?
Gleichzeitig wird versucht, Mechanismen zu entwickeln, mit denen der negative Charakter der Banden unter Berücksichtigung ihrer Gruppenstrukturen verändert werden kann. Letzteres bedeutet, mit dem gesellschaftlichen und persönlichen Selbstbild der Jungen zu arbeiten. Von der Erkenntnis ausgehend, daß in der Gewaltausübung ein Bedürfnis liegt, sich selbst zu erkennen und auszudrücken, versuchen die Resozialisierungsprojekte, neue Formen der gesellschaftlichen Darstellung zu finden, die für diese Jungen von Bedeutung sind.
Einige dieser Vorgehensweisen sind offen politisch. Durch die Bemühungen um eine lokale Entwicklung sind aus einigen Jungen, die vorher gefürchtete Kriminelle waren, herausragende kommunale Führer geworden. Gruppen, die sich vorher bis aufs Messer bekämpften, haben Friedensabkommen unterzeichnet und sich zusammengetan, um für soziale Entwicklungsprogramme auf kommunaler Ebene zu kämpfen.
Medellín vollzieht heute eine Anzahl interessanter Versuche, sich als Gesellschaft neuzukonstituieren. Dies geschieht jedoch im vollen Bewußtsein, daß jede Lösung für eine so tiefgreifende Krise eine lange Entwicklung erfordert.
Pablo Escobar ist gestorben. Dies bedeutet allerdings nicht das Ende des Drogenhandels. Jeder weiß, daß sich, solange der Markt für Drogen weiter wächst, immer wieder neue Organisationen bilden werden, um von diesem lukrativen Geschäft zu profitieren. Die Indudtriestaaten verlangen von den Anbauländern, diesen Krieg fortzusetzen, obwohl wir alle wissen, daß dieser hart und nutzlos ist. Die Logik des illegalen Drogenmarktes ist unerbittlich. Jungen aus Medellín wie Chucho hat der Drogenhandel für ihr Leben geprägt. Er brachte ihnen den Traum vom Reichtum und die Realität des Todes. Zunächst wurde es normal, Zeuge des Tötens und Sterbens zu sein, dann, selbst zu töten und zu sterben.
Gewalt wurde zu einem Mittel, mit dem traditionell ausgegrenzte Gruppen von Jugendlichen die Anerkennung des Staates und der “anderen” Gesellschaft suchten. Mit ihrem abweichenden Verhalten stellten die jungen Bandenmitglieder die soziale Ordnung, die auf Diskriminierung beruhte, grundlegend in Frage. Die Gewalt ermöglichte es der “vergessenen Stadt”, auf der Landkarte des öffentlichen Bewußtseins zu erscheinen. Sie brachte soziale und wirtschaftliche Ungleichheit stärker ans Licht. Das Drama der Ärmsten wurde publik. Jugendgewalt veranlaßte den Staat, der die Armenviertel jahrelang der Polizei überlassen hatte, über seine Legitimität und sein Verhältnis zu deren BürgerInnen nachzudenken.
Der Autor ist kolumbianischer Journalist und Sozialarbeiter; Verfasser des Buches “Born to die in Medellín”, Latin American Bureau, 1990; deutsch: “Totgeboren in Medellín”, Wuppertal: Peter Hammer Verlag 1991, 174 S., 16,80 DM
Vorwärts, aber nicht vergessen!
Der Polyp und die Demokratie in Guatemala
Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sich Guatemala endlich von der häßlichen Diktatur Jorge Ubicos befreit, der als der “Napoleon der Tropen” in die Geschichte eingehen wollte. Seine wichtigste Tat hatte 1936 darin bestanden, die einseitigen Verträge mit der US-amerikanischen Bananengesellschaft United Fruit Company für weitere 45 Jahre zu verlängern. Diese Gesellschaft, “El Pulpo” – der Polyp – genannt, hatte zehn Prozent der Böden des Landes unter seine Kontrolle gebracht, eigene Straßen, Eisenbahnen, Telephonnetze und Hafenanlagen aufgebaut, brauchte keine Steuern zu zahlen und keine Gewerkschaften zu fürchten.
Die guatemaltekischen Demokraten, die das Erbe Ubicos antraten, wollten das Land ganz sachte und vorsichtig aus seinem halb feudalen, halb kolonialen Zustand in die Neuzeit führen und zimmerten dafür erst mal eine liberale Verfassung, die einige eher zaghafte Reformen erlauben sollte. Der erste Präsident, der Universitätsprofessor Juan José Arévalo, baute Schulen und setzte durch, daß auch die United Fruit Company Gewerkschaften und das Streikrecht anerkennen mußte. Schon das war dem Polypen zuviel. Umso heftiger war die Reaktion, als Arévalo – ganz im Rahmen der Verfassung – nach sechs Jahren das Amt an seinen demokratisch gewählten Nachfolger Jacobo Arbenz abgab. Arbenz war Sohn eines Schweizer Apothekers und als Hauptmann der Armee maßgeblich am Sturz Ubicos beteiligt gewesen. 1952 verkündete er eine äußerst bescheidene Landreform, wie sie auch in der Verfassung vorgesehen war: Die Kaffeeplantagen der während des Weltkrieges ausgewiesenen Deutschen wurden verstaatlicht, und brachliegender Grundbesitz – auch von der United Fruit – wurde an landlose Indios verteilt. Natürlich wurde Entschädigung gezahlt, aber nur gemäß dem Buchwert, den die enteigneten Unternehmen dem guatemaltekischen Fiskus für die betroffenen Ländereien selbst gemeldet hatten. Für die United Fruit ergab das eine Summe von 600.000 Dollar, was US-Präsident Eisenhower “traurig unangemessen” fand.
Eisenhower kannte sich gut aus, weil er sich mit Leuten umgeben hatte, die in den Diensten des Polypen gestanden hatten oder noch standen oder gar selbst beteiligt waren. Außenminister John Foster Dulles hatte 1936 als Mitglied des New Yorker Anwaltsbüros Sullivan und Cromwell die Verträge mit Ubico selbst ausgehandelt. Sein Bruder Allen Dulles war Chef des Geheimdienstes CIA. John Moors Cabot, Staatssekretär für interamerikanische Angelegenheiten, war ein Bruder des Präsidenten der United Fruit. Henry Cabot Lodge, Botschafter bei den Vereinten Nationen, war Großaktionär des Unternehmens. Anne Whitman, Privatsekretärin von Eisenhower, war mit dem Leiter der Public-Relations-Abteilung von United Fruit verheiratet. Eisenhower und Dulles kannten sich also aus und forderten das Fünfundzwanzigfache an Entschädigung.
1954: Das Ende der Hoffnung
Präsident Arbenz wollte mit seiner Landreform etwas mehr gemäßigten Kapitalismus nach Guatemala bringen, aber das bringt ihm nun den Vorwurf des Kommunismus ein.
Die kleine Kommunistische Partei unterstützt ihn, und er muß sich bei der wachsenden Opposition der konservativen Oligarchie auf alle Kräfte stützen, die ihm helfen. Während CIA, United Fruit und die Reaktionäre Guatemalas längst die Invasion planen, wird Arbenz selbst beschuldigt, die Nachbarländer zu bedrohen: “Die Krakenarme des Kreml sind unübersehbar”, warnt John Moors Cabot aus dem Weißen Haus in Washington.
Am Fronleichnamstag 1954 hat Oberst Castillo Armas, an der US-Generalstabsakademie geschult, mit der Unterstützung von CIA-Offizieren in Honduras genügend Kräfte beisammen, um mit etwa 1000 Söldnern, Flugzeugen und Torpedobooten das schlecht gerüstete und kaum verteidigte Land zu überfallen und in zehn Tagen zu erobern. Vorwand war die Nachricht, daß der schwedische Frachter “Afhelm” im Hafen Puerto Barrios 2000 Tonnen Waffen und Munition aus den tschechischen Skoda-Werken gelöscht hatte.
Diktatoren wie Somoza von Nicaragua, Pérez Jiménez von Venezuela, Rojas Pinilla von Kolumbien oder Trujillo von der Dominikanischen Republik preisen beseligt den Sieg der Demokratie in Guatemala. Der Erzbischof von Guatemala, Mariano Rossell Arellano, feiert den Sieg über den “gott- und vaterlandsfeindlichen Kommunismus”.
Jacobo Arbenz muß in der mexikanischen Botschaft um Asyl nachsuchen. Ein junger argentinischer Medizinstudent verbringt diese Tage in Guatemala und versucht, trotz heftiger Asthma-Anfälle, an der Organisation des Widerstands teilzunehmen: Ernesto Guevara, der Che. Er hat diese Erfahrung nie vergessen: die Macht des Imperiums, den Einfluß des Großunternehmens, den Verrat der Oberschicht, den Kleinmut der offiziellen Armee und die Ohnmacht der Indios, die nun wieder enteignet wurden.
Demokratische Reformen waren offenbar auf friedliche Weise nicht durchzusetzen, diese Lehre hatten CIA und United Fruit den lateinamerikanischen Reformern erteilt. Der Che und Fidel Castro haben es dann in Kuba auf andere Weise versucht
Beny Moré – “Der Barbar des Rhytmus”
Seine Boleros tragen die Schwermut tropischer Abende oder die Melancholie der bleiernden Herbsttage Havannas. Seine Stimme dabei ist wie das Rauschen von Brandung, von Palmenblättern ( – “como arullo de palma”) oder wie die Brise eines Ventilators; manchmal auch wie das Klagen der stürmischen Karibik, unterstützt von seufzenden, oft sogar gellenden und schmetternden Metallbläsern. Seine Sones, Guajiras und Mambos haben den Geschmack von Tabak und Rum, aber von Rauch und Besäufnis in Spielhöllen und Tanzhallen der großen Stadt. Das unterscheidet Moré von Matamoros, Portabales oder Celina González, den musikalisch schollenverbundenen Soneros der guateques campesinos, die den Sonnenaufgang in Oriente besingen oder das vom Mondlicht silbern gezeichnete Tal, die Machete des Zuckerrohrschneiders oder die kleine weiße Hand, die zum Abschied aus dem bohío winkt. Beny Moré tauscht gewissermaßen die Bauernhütte aus Stroh gegen eine Suite im Hotel Nacional, als er in Havanna ein Engagement als Sänger bei Miguel Matamoros bekommt. (Matamoros führt den kubanischen Bolero später als Folklore in New York auf, obwohl dort kubanische Musik, wie auch die Fusion des “Cubop” von Gillezpie und Bauzá, nicht sehr geschätzt und gehandelt wird, weil sie schwarz ist). Aber spätestens in Mexiko (dort ist kubanische Musik beliebter) erkennt Moré als erfinderisches Talent, daß Matamoros seine klassischen Son- und Bolero-Arrangements niemals ändern will; der Sänger löst sich von der Gruppe und wird, noch in Mexiko, durch die Begegnung und künstlerische Zusammenarbeit mit Dámaso Pérez Prado und seinem Orchester “amerikanisiert” – ohne jedoch selbst jemals seine Cubanía in die USA zu bringen (wie Mario Bauzá und Chano Pozo). Der Ruhm einiger Lieder in den USA (die tanzbaren Fast-Step-Nummern wie “Mambo Nr. 5”) bleibt später allein dem Mambo-Erfinder und “König” Pérez Prado vorbehalten, mit seinen quirligen Klaviereinlagen, der donnernden Perkussion und den schrillen Bläsersätzen. Moré, nur der “Prinz” des Mambo, verleiht der Big Band von Pérez Prado vorerst seine Stimme und das exotische Kolorit der Afrocubanía: Guaguancó-Schritte und Hahnenschreie als wichtiger Bestandteil der musikalischen Dramaturgie einer Mambo-Orchester-Show. Dadurch ist der Sänger in Mexiko (hier sogar als Schauspieler), Panama, Kolumbien oder Venezuela bekannter als in Kuba selbst, jedenfalls bis 1950, dem Jahr seiner Rückkehr, oder vielleicht bis 1951, als Moré im Fernsehkanal “Oriental” auftreten kann und sich das Publikum mit seiner vieltönigen Stimme, seinen spontanen, aber rhytmisch scheinbar ausgeklügelten Ausrufen und seinen schnellen Tanzschritten erobert: Die alten Sextette aus Oriente erreichten ihren Durchbruch mit dem Radio und der aufkommenden Plattenindustrie, aber Beny Moré wird durch das Fernsehen als neuem Medium populär und entwickelt sich zum Showmaster des Son. Beny Moré behält sein afrikanisches Erbe (der Nachname geht auf versklavte Vorfahren der Mutter zurück), respektiert die musikalische Tradition der alten Provinz Oriente (Sones und Guajiras), und setzt eigene Innovationen, aber auch den Einfluß amerikanischer Big Bands hinzu (“Beny Moré y su Banda Gigante”). Beny Moré ist bárbaro im doppelten Sinne: Sowohl als Meister des Rhytmus und der Erneuerung (also des Mambo) wie auch als Bauer/guajiro aus Oriente, der keine Noten lesen kann und schon mit zwölf Jahren die Schule verlassen muß, um Zuckerrohr zu schneiden. Verschieden sind deshalb auch die Plattencover, für die er posiert: einmal singend unter Bananenstauden mit Gitarre und Strohhut, neben Schaufel, Machete und einer linden guajira; dann in einem offenen amerikanischen Zweisitzer am städtischen Malecón, mit Congas und Gitarre, Anzug, Fliege und (wieder) Strohhut. Das gelbe Nummernschild des Automobils trägt die Aufschrift “Particular”, und das heißt, Beny Moré ist, anders als viele berühmte kubanische Musiker, nach der Revolution im Land geblieben, obwohl die meisten Musiklokale geschlossen wurden (Che Guevara hatte eine bekannte Abneigung gegen die garitos und bevorzugte humanistische Lektüre), aber Beny Moré läßt sich von Kuba inspirieren und ein Kubaner, coño, gehört nun mal nach Kuba. In den Boleros von Moré liegt, wie gesagt, alle tropische Schwermut oder die der Tanzhallen ab 4 a.m.; in seinen Sones und Mambos liegt die Bewegung der Tanzenden eher als die der Feldarbeiter, seine Musik riecht nach Tabak und Rum, doch weniger nach Anbau und Ernte als nach Verbrauch und Genuß. Beny Moré stirbt an Rum und Tabak und Kuba (wie Chano Pozo, paradise lost, an den Drogen New Yorks), aber mit der Tragik und Sinnlichkeit seiner Boleros, unerwartet, im Jahr 1963. In Havanna, New York und anderswo huldigt man ihm wie einem orisha der Santería; Tito Puente erhält einen Grammy (den einzigen für die entstehende Salsa) ausgerechnet für seine musikalische “Hommage an Beny Moré”, und Celia Cruz sieht zum Himmel auf und singt (begleitet von Pacheco): Beny Moré – en gloria esté!
Lateinamerika im Fußballfieber
Kolumbien – auf leisen Sohlen zum Titel?
Die Vorstellung mit Kolumbien zu beginnen, rührt aus der schlichten Tatsache, daß die Kolumbianer als einzige Mannschaft die Qualifikation ungeschlagen überstanden. Zu zwei Siegen über Peru und zwei Unentschieden gegen Paraguay gesellten sich zwei Siege gegen den Topfavoriten und Südamerikameister Argentinien. Nach dem 2:1 Heimsieg gelang den Kolumbianern im Rückspiel in Buenos Aires Historisches. Mit 5:0 wurde Argentinien die höchste Heimniederlage in seiner Geschichte verpaßt. Kurz nach Schlußpfiff füllten sich in Kolumbien landesweit die Straßen mit fünf Finger zeigenden, enthusiastisch feiernden AnhängerInnen. Überschäumende Begeisterung mit tödlichen Folgen für Dutzende. Gewalt als Begleiterscheinung des Massenspektakels Fußball ist leider auch in Kolumbien an der Tagesordnung.
Dem hohen Stellenwert des Fußballs im allgemeinen und dieses Triumphes über Argentinien im besonderen, trug auch Präsident Gaviria Rechnung. Alle Spieler und der Trainer wurden mit dem höchsten Orden des Landes dekoriert. In Kolumbien träumen viele vom Titel, auch die Fußballfachwelt traut den Supertechnikern den Coup zu. Unbestritten der populärste und schillerndste Fußballer des Landes ist der Kapitän und Mittelfeldregisseur Carlos Alberto Valderrama. Nach einer Knieverletzung Ende Februar bangte eine ganze Nation um seine Teilnahme. Tausende von Kerzen wurden angezündet, tausende von Gebeten gesprochen. Unerwartet schnell wurde “El Pibe” (der Kleine) wieder fit und die Träume vom Titel erhielten mit seinem Comeback neue Nahrung.
Der Kopf Kolumbiens: “El Pibe” – “Ich liebe das Leben in seiner ganzen Buntheit”
Schon äußerlich fällt Carlos Valderrama mit seinem blonden Afro-Look aus dem Rahmen. So eigenwillig wie seine Haartracht, die er als Ausdruck seiner Lebensfreude beschreibt, so eigenwillig zeigt er sich auf dem Spielfeld. Der Ball als Spielzeug und nicht als schnöder Arbeitsgegenstand. Dieser Spielauffassung zu Folge “streichelt” Valderrama erst ausgiebig den Ball, bevor er ihn zu einem Mitspieler weiterpaßt. All dies mit ausgefeilter Technik, die den ÄsthetInnen unter den FußballanhängerInnen das Herz höher schlagen läßt. Brillant seine Spielübersicht, die exakten Pässe, die nahezu Ausgang jedes Angriffes seiner Mannschaft sind. Als Kopf von seinen Mitspielern unumschränkt anerkannt, wird er als Anspielstation permanent gesucht und meist auch gefunden. Zumindest so lange die Kondition von “El Pibe” reicht. Laufen war vor allem zu Beginn seiner Karriere nicht sein Ding. “Ich bin keiner, der anderen hinterherrennt. Ich muß das Spiel machen und Tore schießen, sonst nichts.” Im reifen Alter von knapp 33 Jahren hat er sich scheints doch noch besonnen. Bei der “Copa America” (Südamerikameisterschaft) im letzten Jahr zeigte er neben den gewohnten technischen Kabinettstückchen auch ungewohnten kämpferischen Einsatz. Der dem Nationaltrainer Francisco Maturana vor Jahren zugeschriebene Satz: “Ein Länderspiel ohne Carlos ist wie ein Tag ohne Sonne”, gewinnt so gesehen zusätzliche Berechtigung. Die Wertschätzung ist indes nicht auf Kolumbien beschränkt. Sowohl 1987, als Valderrama bei der “Copa America” erstmals international in Erscheinung trat, als auch 1993 wurde er zum südamerikanischen Fußballer des Jahres gewählt.
Europäische Effizienz und lateinamerikanisches Genie
In Europa gehen die Meinungen bezüglich Valderrama auseinander. Bei den deutschen Fans ist er durch seine Schauspieleinlage im WM-Spiel 1990 gegen die deutsche Elf unrühmlich in Erinnerung geblieben. Mehrere Minuten lang spielte er den “toten Mann”, ließ sich mit der Bahre vom Platz tragen, um Sekunden später, wie von Geisterhand genesen, wieder quicklebendig auf dem Platz aufzutauchen und zu allem Überfluß mit einem genialen Paß das kolumbianische Ausgleichstor vorzubereiten.
Als erster Kolumbianer suchte Valderrama 1988 das lukrative Legionärsdasein in Europa. Seine Leistungen während der drei Jahre im französischen Montpellier und dem halbjährigen Aufenthalt im spanischen Valladolid waren aber eher durchwachsen. Seine lateinamerikanische Spielauffassung vertrug sich nicht recht mit europäischem Effizienzdenken. Richtig glänzen konnte Valderrama nur bei seinen Auftritten im Nationaltrikot. Folglich kehrte er 1992 nach Kolumbien zurück. Seit 93 spielt er nun in Barranquila, unweit entfernt von seiner Geburtsstadt Santa Marta an der kolumbianischen Karibikküste. Mit dem dortigen Klub Atlético Junior wurde er erstmals in seiner Laufbahn kolumbianischer Meister. Vielleicht doch von europäischem Effizienzdenken beeinflußt oder etwa nur ein Aspekt des Lebens in seiner ganzen Buntheit?
Mexiko – Heimvorteil im Gringoland
An der Qualifikation zur letzten WM durfte Mexiko nicht teilnehmen. Der Grund: Bei einer Junioren-WM hatte Mexiko diverse ältere Spieler mit getunten Pässen eingesetzt. Nachdem die Verfehlung ruchbar wurde, folgte die empfindliche Strafe durch den Weltfußballverband (FIFA) auf dem Fuß. Nach achtjähriger WM-Abstinenz war die Freude nun um so größer, daß Mexiko seiner Favoritenrolle in der Nord- und Mittelamerika-Ausscheidung gerecht wurde und somit neben dem automatisch qualifizierten Veranstalterland USA als einziges Land diese Region vertritt. Die Spiele der mexikanischen Mannschaft werden wohl die stimmungvollsten der WM werden – zumindest, was die Atmosphäre auf den Rängen betrifft. Hauptspielort für Mexiko ist Washington. Die riesige mexikanische Gemeinde in den USA wird zu Tausenden in die Hauptstadt pilgern.
Zwei Niederlagen in der Qualifikation in Costa Rica und El Salvador konnte das mexikanische Team verkraften, da der Hauptkonkurrent Kanada zweimal geschlagen wurde. In zwölf Spielen nur acht Gegentore. Nicht zuletzt ein Verdienst des Ausnahmetorwarts Jorge Campos, der als populärster Spieler dem in Spanien spielenden Hugo Sanchez den Rang abgelaufen hat.
Der komplette Spieler:Campos – “Ich liebe grelle Farben und verrückte Kleiderkombinationen”
Der jetzige US- und ehemalige mexikanische Nationaltrainer Bora Milutinovic hält ihn für den kompletten Spieler der letzten hundert Jahre. Einfach deshalb, weil Jorge Campos auf den zwei gegensätzlichsten Positionen, die es im Fußball gibt, zumindest nationale Spitzenklasse darstellt. Sowohl in der Nationalmannschaft, als auch vor allem im Verein, spielt er je nach Lage Torwart oder Mittelstürmer, mitunter gar in einem Spiel. Den Höhepunkt seiner Doppelrolle zelebrierte er 1992 bei einem Erstligaspiel. Zuerst vom Tor in den Sturm gewechselt, sorgte er für den Ausgleich, um kurz vor Ende der Partie bei einem Elfmeter für die gegnerische Mannnschaft ins Tor zurückzukehren und mit seiner Abwehrparade das Unentschieden zu sichern. “Das Ganze ist keine inszenierte Show von mir. Ich kann mich einfach nicht entscheiden, ob ich nur Tore verhindern oder nur Tore schießen soll.” Aber Entscheidungen über die Aufstellung trifft im Fußball ja gemeinhin der Trainer, womit Campos aus seinem Dilemma befreit wäre. Seinem Spieltrieb gibt Campos mit Billigung seiner Trainer auch als Torwart nach. Da sowohl die mexikanische Nationalmannschaft als auch seine Vereinsmannschaft UNAM Mexiko ohne letzten Mann (Libero) spielen, bekleidet Campos diese Position ersatzweise.
Seine für einen Torhüter geringe Größe von 175 cm gleicht er mit einem enormen Sprungvermögen aus. Entwickelt hat er diese Sprungkraft nach eigenen Angaben beim Fußballspiel am Strand seiner Heimatstadt Acapulco. Andere Berichte kolportieren indessen, daß er seiner Tätigkeit als Hühnerfänger auf der großväterlichen Farm einen Gutteil seiner Fangtechnik und Sprungkraft verdankt.
Kleider machen Leute
Seine Position als Torwart verleiht ihm alle Freiheiten bei der Kleiderwahl. Haben Feldspieler ob des einheitlichen Trikots nur geringen Spielraum, mit ihrer Kluft auf sich aufmerksam zu machen, so sind der Phantasie des Torhüters keine Grenzen gesetzt. Kein Torhüter nützt dies so weidlich aus, wie Jorge Campos. “Das meiste Geld gebe ich für meine ausgefallenen Torhüterausrüstungen aus, ich liebe grelle Farben und verrückte Kleiderkombinationen.” Wenn er auch verrückte Kleiderkombinationen bevorzugt, verrückt ist er keineswegs, sondern mit einer guten Portion Realitätssinn ausgestattet. Nach Europa will er auf keinen Fall wechseln. Er befürchtet wohl zu Recht, daß er mit seinem Stil im nüchternen Europa nicht ankommen würde.
Bolivien – Höhenflug in dünner Andenluft
Bolivien hatte nun wahrlich bei der Prognose der WM-Teilnehmer niemand auf der Rechnung. Während ihrer zweier WM-Teilnahmen 1930 und 1950 gelang ihnen weder Punkt noch Tor. Einer der “Fußballzwerge” schlechthin. Die Fußballgrößen Brasilien und Uruguay galten vor Beginn der Qualifikation als haushohe Favoriten, Ecuador als Außenseiter und Bolivien als Punktelieferant. Aber es kam ganz anders. Seine Heimspiele trägt Bolivien auf 3800m Höhe in La Paz aus. Folglich geht den gegnerischen Mannschaften in La Paz im wahrsten Sinne des Wortes gegen Ende des Spiels die Luft aus. Dies ist nicht neu, doch noch nie schlug Bolivien soviel Kapital daraus wie diesmal. Brasilien mußte in den letzen drei Minuten zwei Gegentore hinnehmen und verlor 0:2. Uruguay bekam in den letzten zehn Minuten gar drei Eier ins Nest gelegt und verlor 1:3. Daß Bolivien in Brasilien mit 0:6 unter die Räder kam, konnte verschmerzt werden. Der zweite Platz hinter Brasilien blieb dank der imposanten Heimbilanz gewahrt. Die erste WM-Teilnahme seit 44 Jahren war geschafft. Der Verkehr brach zusammen. Nicht nur in La Paz, auch in den Exilgemeinden Washington-Georgetown, Buenos Aires, Santiago und Lima.
Sechs aktuelle Nationalspieler entstammen der berühmten Academia Tahuichi Aguilera (Fußballnachwuchsschule) in Santa Cruz, die 1978 vom jetzigen Staatssekretär für Sport Rolando Aguilera gegründet wurde. Auch der Stürmerstar Marco Antonio Etcheverry erlernte dort sein fußballerisches Rüstzeug.
“El diabolo”: Ein teuflischer Dribbler
Seine Ausbildung an der Tahuichi-Akademie verdankt Marco Etcheverry der Antidrogen-Organisation “Seamos”. “Seamos” kam für den Monatsbeitrag von 16 DM auf, da dieser die finanziellen Möglichkeiten seiner Eltern überstieg. Mit 17 Jahren unterschrieb “El diabolo” (der Teufel) seinen ersten Profivertrag bei Bolivar La Paz. Mit 21 Jahren feierte er 1991 sein Debüt in der Nationalmannschaft. Im gleichen Jahr glänzte er mit spektakulären Dribblings bei der “Copa America” (Südamerikameisterschaft) so sehr, daß er ins All-Star-Team der besten 11 Spieler des Turniers gewählt wurde. Der Weg ins lukrative Europa war geebnet. Der spanische Erstligist Albacete sicherte sich flugs die Dienste des umworbenen Stürmers. Doch alles Geld konnte das überhandnehmende Heimweh nicht kompensieren. Etcheverry wurde mehr in Kneipen als auf dem Trainigsplatz gesehen. Nach einem halben Jahr brach “El diabolo” seine Zelte im europäischen “Paradies” wieder ab, um nach La Paz zu seinem Stammverein Bolivar zurückzukehren. Die in Bolivien für einen Fußballprofi kärglichen Verdienstmöglichkeiten von im Schnitt 1700 DM, ließen ihn aber nach einem Jahr das chilenische “Exil” bei Colo Colo Santiago suchen. Mit diesem Club wurde er 1993 auf Anhieb Meister, wenngleich eine schwere Knieverletzung im November sein Mitwirken in der Schlußphase der Meisterschaft verhinderte. Bei der WM soll er aber wieder fit sein und kann somit im Eröffnungsspiel dem deutschen Team die Hölle heiß machen.
Argentinien
Bei den letzten zwei Weltmeisterschaften jeweils Endspielgegner der deutschen Mannschaft, war der Weltmeister von 1978 und 1986 und amtierende Südamerikameister (1993) natürlich Topfavorit in seiner Gruppe. Doch Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. Das unterentwickelte Kolumbien könne in Argentinien doch gar nicht gewinnen, soll Diego Maradona vor dem Rückspiel in Buenos Aires geäußert haben. Mit dem schon erwähnten 5:0 Sensationssieg gaben die Kolumbianer auf dem Spielfeld eine deutliche Antwort. Das ruhmreiche Argentinien mußte so eine interkontinentale Zusatzqualifikation gegen Australien bestreiten, um das Ticket für die USA zu erhalten. Mit diesen beiden Spielen kehrte auch Argentiniens bester Fußballer aller Zeiten, Diego Armando Maradona nach dreijähriger Abstinenz wieder ins Nationalteam zurück. Trotz mangelhafter Fitness trug Maradona mit seiner Vorlage zum 1:1 in Australien und beim knappen 1:0 in Buenos Aires mit seinem Mythos entscheidend zur Qualifikation bei. Wenn auch im Moment ohne Verein und von seiner Höchstform weit entfernt, hofft Argentinien, daß Maradona auch bei der WM mit Genieblitzen die Mannschaft führen und inspirieren kann.
“Dieguito”: “Fußballgott” und “Kokainsünder” – der Mythos Maradona
Neben dem Brasilianer Pelé gilt er als weltbester Spieler aller Zeiten. Schlagzeilen produziert er im Privatleben ebenso ausgiebig wie auf dem Spielfeld. Seine Größe als Fußballer ist ebenso unumstritten, wie seine Persönlichkeit umstritten. Politisch zeichnet sich Maradona durch wechselnde Positionen aus. Einst Verehrer von Menem, schenkte er als Zeichen seiner Wertschätzung unlängst dem máximo líder Fidel Castro sein Trikot. Bei den kürzlichen Kommunalwahlen in Argentinien sprach er sich für das Mitte-LinksBündnis Frente Grande aus.
Teures Wunderkind
Seine von zahlreichen Rekorden und Erfolgen gekrönte Profikarriere begann Diego Armando Maradona schon zehn Tage vor seinem 16. Geburtstag als Einwechselspieler der Argentinos Juniors Buenos Aires. Vier Monate später feierte das Supertalent als jüngster Nationalspieler des Landes aller Zeiten seinen Einstand in der Nationalmannschaft. Mit 21 Jahren wechselte er für die damalige Rekordablösesumme von ca. 20 Millionen DM zum spanischen Club FC Barcelona; 1984, mit 23 Jahren, für die neue Rekordablösesumme von ca. 24 Millionen DM an den Vesuv zum SSC Neapel. Größere sportliche Erfolge hatte “Dieguito” bis dato überhaupt noch nicht errungen. Allein sein Ruf als weltbester Fußballspieler ließ die Ablösesumme in ungeahnte Höhen schnellen. Mit der Zeit in Neapel (84 bis 91) ist der Aufstieg zum verehrten “Fußballgott” wie auch der Fall zum “Kokainsünder” verbunden.
Eine Stadt und ihr Spieler – die Symbiose
Schon zu seiner Vorstellung pilgerten 80.000 ZuschauerInnen ins Stadion San Paolo. Maradona, einer, der den Aufstieg geschafft hat, als Symbol der Hoffnung für die Armen. “Bienvenuti a Italia” – so wurde das Afrika zugeordnete Neapel in Genua oder Mailand hämisch empfangen. Maradona als Symbol eines neuen Selbstbewußtseins gegenüber den reichen Städten des Nordens.
Maradona gab die Sympathien, die ihm in Neapel entgegenschlugen, zurück. Auf dem Spielfeld ließ er mit seinen Tricks Alltagssorgen verblassen. Privat lud er des öfteren Kinder für ein Wochenende in seine Prunkvilla ein. Wenn überhaupt, dann wurde in Argentinien der Gewinn der Weltmeisterschaft 1986 enthusiastischer gefeiert als in Neapel. Auch Neapel war Weltmeister geworden, schließlich war es ihr “Dieguito”, der als überragender Spieler dem Turnier seinen Stempel aufgedrückt hatte. Unsterblich machte sich Maradona im Jahr darauf. Der Begriff scudetto (italienischer Meistertitel) war aus dem neapolitanischen Vokabular entfernt worden, schien doch ein Fluch auf ihm zu lasten oder wie anders konnte erklärt werden, daß Neapel noch nie Meister geworden war. Maradona, der Magier, löste auch diesen Fluch. Meisterschaft und Pokal in einem Jahr. Maradona war auf dem Höhepunkt seines Ruhms angekommen. Eine ganze Stadt lag “Dieguito” zu Füßen, umarmte ihn – und hätte ihn fast erdrückt.
Maradona auf der Flucht – die Tragik
Maradona, der sich anfangs in seiner unantastbaren, gottähnlichen Rolle gefiel, wurde es zuviel. “Ich fühle mich wie ein Gefangener” äußerte er 1989. Er wollte weg, obwohl der sportliche Erfolg immer noch gegeben war. 1990 wurde die Meisterschaft ein zweites Mal errungen. Maradona gehen lassen, Neapel ohne Gott und Hoffnung? Wie sollte ein Präsident das verantworten? Maradona im Käfig. Im Februar 91 wurde Maradona mit ersten Drogenvorwürfen konfrontiert. Im März wurde es amtlich. Nach einem Ligaspiel wurde ihm der Kokaingenuß nachgewiesen. Er habe zu den Drogen gegriffen, um dem Rummel um seine Person zu entfliehen. Er floh weiter. Zunächst vor der italienischen Justiz nach Argentinien. Dort wiederum in die Drogen. Nach seiner Festnahme wegen Drogenbesitz bewahrte ihn nur sein Name und die Bereitschaft, sich einer Entziehungskur zu unterziehen, vor einer Haftstrafe. Seine Karriere schien beendet.
Nach Ablauf seiner 15monatigen Spielsperre wegen Dopings wollte er seine Karriere bei Boca Juniors Buenos Aires fortsetzen. Neapel gab seinen Sohn preis – für 11,3 Millionen DM. Nie war er so billig und dennoch für Boca zu teuer. So hieß der glückliche Erwerber Sevilla. Mit Maradona setzte ein Zuschauerboom ein. Der Mythos Maradona hatte an Zugkraft nichts eingebüßt. Glücklich wurde Diego in Sevilla jedoch nicht. Die Eskapaden häuften sich. Im Sommer 93 hatte Maradona sein Ziel erreicht. Er wurde entlassen und kehrte nach Argentinien zurück. Sein neuer Club hieß Newell’s Old Boys aus Rosario – bis zum 1. Februar. “Maradonas Vertrag mit unserem Klub ist beendet, weil Diego psychisch nicht in der Lage ist, mit Anstand und Würde in einer ihm gemäßen Art zu spielen.” Mit diesen Worten beendete der Vereinspräsident die Zusammenarbeit mit dem enfant terrible. Die WM ist Maradonas neuer Fluchtpunkt. “Die Argentinier können beruhigt sein. Ich werde bei der WM dabei sein und in den USA wie um mein Leben spielen” ließ er kurz nach seiner Entlassung verlauten. Wohin sein Weg oder seine Flucht danach führen wird, ist noch offen. Der Mythos lebt weiter. Nur so ist zu erklären, daß dem bald 34jährigen Maradona auch für die Zeit nach der WM schon wieder Angebote vorliegen. Darunter eins vom SSC Neapel.
Brasilien
Brasilien ist das einzige Land der Welt, das an allen 14 Weltmeisterschaften teilgenommen hat. Brasilien ist das einzige Land, das auf einem fremden Kontinent Weltmeister wurde (1958 in Schweden). Die glorreiche Zeit des dreifachen Weltmeisters liegt indessen weit zurück. Seit 24 Jahren kein Weltmeistertitel mehr. Dennoch gilt Brasilien immer noch als Inbegriff für Fußballkunst und Fußballzauber. Wenngleich auch die Kolumbianer inzwischen als “die letzten Brasilianer” tituliert werden, gilt Brasilien wie immer als einer der Topfavoriten auf den Titel. Daran ändert auch die erstmals in einer Qualifikation erlittene Niederlage gegen Bolivien nichts. Gruppensieger wurden die Brasilianer trotzdem. Im letzten und entscheidenden Spiel gegen Uruguay berief der Nationaltrainer Parreira nach neunmonatiger Verbannung den Stürmerstar Romário wieder ins Aufgebot. Dieser bedankte sich mit zwei Toren. Unbestritten als Torjäger, ist er innerhalb der Mannschaft ob seiner Starallüren jedoch ständiger Unruheherd.
Heirat im Strafraum: Romário: “Training ist Kalorienverschwendung”
“Ich wollte schon seit frühester Jugend immer ganz vorne spielen und Tore schießen.” Romário hat sein Vorhaben eindrucksvoll umgesetzt. Von 89 bis 91 wurde er dreimal in Folge holländischer Torschützenkönig. Auch in seiner ersten Saison beim FC Barcelona wurde er dieses Jahr souveräner Schützenkönig. In Europa zog er als Torschützenkönig bei den Olympischen Spielen 1988 erste Aufmerksamkeit auf sich. Sein darauffolgender Wechsel zum Philips-Sport-Verein (PSV) Eindhoven sorgte durch die ungewöhnliche Finanzierungsart für Schlagzeilen. Philips hatte von der brasilianischen Zentralbank mit einem Abschlag Schuldentitel in Höhe von 2,8 Millionen US-Dollar aufgekauft, der Verein Romários (Vasco da Gama) erhielt im Gegenzug von der Zentralbank Cruzados zum Tageswert von 3,91 Millionen US-Dollar (siehe LN 176). Zum ersten Mal wurde so ein Fußballspieler zum Zwecke staatlicher Schuldentilgung verwendet.
Der launische Strafraumkönig
Der Strafraum ist Romários Lebensfeld. Nicht nur, daß er seine Tore fast ausschließlich aus kurzer Distanz im selbigen erzielt, nein selbst geheiratet hat er in ihm. Zu seiner Trauung wurde eigens ein Altar auf dem Elfmeterpunkt eines Fußballplatzes aufgebaut. Launisch zeigt er sich auch bei der Wohnungssuche in Barcelona. Nach knapp einem Jahr wohnt er immer noch in einem Luxushotel, weil er sich für kein Appartement entscheiden kann. Mal hat’s keinen Meeresblick, mal ist’s zu klein, mal ist’s zu weit vom Trainingsplatz entfernt. Ansonsten mißt er dem Training eher weniger Bedeutung bei. Training sei “Kalorienverschwendung” ließ er einmal verlauten. Dementsprechend häufig blieb er ihm fern. Tore schießen läßt sich nunmal nicht trainieren. “Ich glaube, daß ich mit diesem Talent auf die Welt gekommen bin”, äußerte er sich zu seinen Torjägerqualitäten. An Selbstvertrauen mangelt es Romário wirklich nicht. Dem brasilianischen Nationalheiligen Pelé unterstellte er kürzlich sogar in aller Öffentlichkeit “Schwachsinnigkeit” und “Museumsreife”. Seinen Stürmerkollegen in der Nationalmannschaft, Muller, kritisierte er heftig und kündigte an, daß er nicht mit ihm zusammenspielen wolle. Pelé reagierte gelassen: “Manchmal sagt man in Europa eine Sache und sie wird in einer anderen Art und Weise in Südamerika berichtet”. Er bezeichnete sich sogar als Fan Romários und erwartet ihn als einen der Superstars bei der WM. Die Mitspieler des Torjägers reagierten gar nicht. Der Grund: Nationaltrainer Parreira verhängte einen “Maulkorberlaß”. Keiner darf sich in der Öffentlichkeit negativ über den Hoffnungsträger der Nation äußern. Vor neun Monaten noch hatte Romários Forderung nach einem Stammplatz zu seiner Verbannung geführt. Jetzt hält ganz Brasilien in der Hoffnung still, daß Romário Brasilien zum Weltmeistertitel schießt. Wehe Romário, wenn er nicht trifft.
Niederlage im Frieden
Regierungsbeteiligung als Knackpunkt
Für Rafael Vergara Navarro, gescheiterter Kandidat der Partei für den Senat, beginnt der Abstieg der AD-M19 bereits unmittelbar nach den Wahlen vor vier Jahren: Sündenfall war seiner Ansicht nach der Eintritt von Antonio Navarro Wolff als Gesundheitsminister in die Regierung des liberalen Präsidenten Gaviria.
In das gleiche Horn stößt auch Jorge Child, Ökonomie-Professor und ständiger Kolumnist der angesehenen Tageszeitung El Espectador, der der Kommunistischen Partei Kolumbiens nahesteht. Mit dem Eintritt in die Regierung sei die AD-M19 sozusagen mit fliegenden Fahnen zum Gegner übergelaufen. Ein anderer Kommentator bezichtigt Navarro Wolff gar des Betruges, weil er sich von den traditionellen Kräften habe vereinnahmen lassen und seine persönlichen Interessen über die der Bewegung und der Hoffnungen der WählerInnen gestellt habe.
Die AD-M19 hatte im Mai 1990 rund 700.000 Stimmen auf sich vereinigen können. Die Beteiligung an der Regierung hat nach der Auffassung von Jorge Child die WählerInnnen der AD-M19 enttäuscht. Sie hätten die AD-M19 gewählt, weil sie mit ihrem sozialen Profil anders als die traditionellen Parteien zu sein versprach, die vor allem auf die Besetzung von Posten und Ämtern in Regierung und Verwaltungen erpicht sind. Die Altparteien, die Liberale und die Konservative Partei, teilten sich seit Jahrzehnten die Macht im Land, und so waren Cliquenwirtschaft und Korruption die Regel.
In der damaligen politischen Situation gab es aber wohl keine Alternative zur Regierungsbeteiligung. Die AD-M19 hatte die Waffen niedergelegt, um in dem seit Jahrzehnten polarisierten Land einen Friedensprozeß einzuleiten. In diesem Sinne, so die Interpretation von Eduardo Chávez, bis zum Ende der Legislaturperiode Senator der AD-M19, “war die Partei in der Verpfichtung, den Frieden zu konsolidieren und zu beweisen, daß friedliches Zusammenleben möglich ist.” Er selbst erhielt – aus der Guerilla in seine Heimatstadt Cali zurückgekehrt – mehrere Monate lang täglich mehrfach Morddrohungen. Die Partei wollte beweisen, daß auch andere Kräfte das Land regieren können. Die Regierungsbeteiligung war Suche nach Konsens, nach einer “geistigen Entwaffnung” des Landes im Interesse des Friedens.
Fehlendes Profil
Ex-Gesundheitsminister Antonio Navarro Wolff kennt den Vorwurf der Korrumpierung durch den Ministerposten und des damit verbundenen Glaubwürdigkeitsverlustes seiner Partei sehr genau. Von sich aus kommt er als erstes auf diese Vorwürfe zu sprechen. Er verweist auf die Wahlergebnisse: In seiner Zeit als Minister seien die Stimmen für die Partei von 700.000 im Mai auf rund 1 Million bei den Wahlen im Herbst 1990 zur Verfassungsgebenden Versammlung gesteigert worden. Offenkundig sei das Ansehen der Partei in dieser Zeit gewachsen. “Dies hatte mit der praktischen Politik als Gesundheitsminister zu tun.”
Als Hauptproblem der Partei in den letzten eineinhalb Jahren der Opposition macht Navarro Wolff dagegen den Mangel an einem klaren Profil aus: “Das Problem ist nicht, ob wir in der Regierung sind oder in der Opposition. Entscheidend ist, daß wir den Unterschied erfahrbar machen. Wenn man sich in der Regierung nicht von den anderen unterscheiden kann, muß man raus.” Unnütz sei eben aber auch eine inaktive Opposition.
Den letzten Punkt kritisiert auch Jorge Child. Er verweist auf das Projekt der Sozialversicherung (mit Renten- und Krankenversicherung für einen großen und wachsenden Teil der Bevölkerung), das in den letzten zwei Jahren ein zentraler Gegenstand der öffentlichen und parlamentarischen Debatte war. “In dieser sehr wichtigen Debatte war die Position der AD-M19 wenig klar. Weder die Senatoren noch die Mitglieder des Repräsentantenhauses haben sich daran beteiligt. In diesem Moment haben sie sehr viel Glaubwürdigkeit verloren.”
Den Vorwurf mangelnder aktiver Beteiligung gerade an diesem wichtigen sozialpolitischen Projekt weist die Senatorin Vera Grabe, eine der bekanntesten und populärsten Persönlichkeiten der AD-M19, entschieden zurück.
“Wir haben nur eine andere Position als die traditionelle Linke. Wir haben nie, auch nicht als Guerilla, nur Opposition gemacht und kritisiert, sondern immer Lösungsvorschläge unterbreitet. Selbst die konservativen Parteien und viele Leute erkennen an, daß das Gesetz zur Sozialversicherung schlechter wäre, hätten wir nicht mit Vorschlägen und Lösungen konstruktiv daran mitgearbeitet.”
Viele Listen, wenig Stimmen
Die Aufsplitterung in zu viele Listen gilt übereinstimmend als eine Ursache des Wahldesasters. Die Ex-Guerilleros konnten insgesamt mehr als 150.000 Stimmen auf sich vereinigen (unter Berücksichtigung einiger Einzelkandidaturen sogar noch 100.000 mehr). Andere Listen gewannen mit 30.000 Stimmen einen sicheren Platz im Senat. Aber: Die Allianza war mit 13 verschiedenen Listen im ganzen Land angetreten. Das Debakel war programmiert. Was den großen Altparteien – mit ihrer Vielfalt von Richtungen und Flügeln, regionalen Patriarchen und Gruppen – genützt hatte, hat der AD-M19 das Genick gebrochen. Vera Grabe: “Was wir als eine Vielfalt geplant hatten, haben die Leute als Uneinigkeit interpretiert.”
Mit einer einzigen Liste angetreten, hätte die AD-M19 bis zu 5 Senatssitze gewinnen können. Die Wahlschlappe wäre nicht so verheerend gewesen. Zu erklären blieben jedoch auch dann die deutlichen Stimmenverluste von 700.000 auf 150.000.
Zu viel persönlicher Ehrgeiz…
Die Vielzahl der Listen hat mit einer Auseinandersetzung in der Partei zu tun, die an frühere Konflikte bei den Grünen in der BRD erinnert. Es gab ein schriftliches Versprechen der AD-M19 SenatorInnen, nicht wieder zu kandidieren, sofern sie nicht ausdrücklich von der Partei zur erneuten Kandidatur aufgefordert würden. Zu viele der einmal Gewählten fanden das Leben als Abgeordnete aber wohl zu interessant und kandidierten erneut. Ob mensch sich da halt versprochen hatte? Oder war es schlicht Existenzangst? Denn was macht ein Ex-Guerillero in einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung sich den Lebensunterhalt im informellen Sektor verdienen muß.
…und zu wenig Disziplin
Die Solidarität, die in der Gruppe zur Zeit der Guerilla vorhanden war, hat sich im Kongress aufgelöst und ist einem weitverbreiteten Individualismus gewichen. Im Krieg war mensch noch aufeinander angewiesen, im Frieden nicht mehr. Antonio Navarro Wolff sagt, es habe keine Disziplin bei den ParlamentarierInnen geherrscht. “Im Parlament gab es keine Leitung und keine einheitliche öffentliche Selbstdarstellung.” Dies habe dem Ansehen der Partei sehr geschadet. Vera Grabe hält einen solchen Prozeß der Individualisierung innerhalb der Führungsruppe, den sie als Entwicklung einer gewissen Vielfalt bezeichnet, allerdings für unvermeidlich. Konsequenz der vielen Jahre in der Guerilla, in der ausschließlich das Prinzip der totalen Gemeinsamkeit habe herrschen müssen.
Laut Navarro Wolff war es auch nicht möglich, eine von den ParlamentarierInnen unabhängige Parteistruktur aufzubauen. Unter anderem deshalb nicht, weil sie, die für kolumbianische Verhältnisse sehr hohe Einkommen haben, nicht bereit waren, Gelder für die Parteiarbeit zu Verfügung zu stellen.
Eduardo Chávez, ehemaliger Senator der AD-M19, sieht eine zu starke Konzentration auf die Arbeit im Parlament. “Wir haben die Dynamik des alltäglichen Kampfes der Bürger vernachlässigt. Das hat eine Art Isolierung zwischen der Führung und dem normalen Bürger geschaffen, der von der Führung erwartet hatte, sie werde sich mehr um ihre alltäglichen Aktivitäten und Sorgen kümmern.”
Dabei scheint es inhaltlich weiterhin viele gemeinsame Positionen zu geben. Die Partei kritisiert die neoliberalen Wirtschaftskonzepte, die einseitige wirtschaftliche Öffnung des Landes von einem Tag auf den anderen durch die (neo)liberale Regierung Gaviria. Diese plötzliche Öffnung für Importe hat die einheimische Industrie und Landwirtschaft einem Wettbewerb ausgesetzt, der ihr schwer zu schaffen macht.
Gemeinsam tritt die AD-M19 für die Fortsetzung des Friedensprozesses mit der Guerilla ein. Ebenso stehen soziale Entwicklung, die Bewahrung der genetischen Vielfalt von Pflanzen und Tieren und umweltverträgliches Wirtschaften auf der Tagesordnung.
Die Liberalen – die großen Sieger
Die Liberalen sind nach den Wahlen vom März 1994 stärkste Fraktion und beherrschen den Kongreß. Besonders erfolgreich waren die AnhängerInnen des liberalen Präsidentschaftskandidaten Ernesto Samper, der – so die Umfrageergebnisse Mitte April – der nächste Präsident Kolumbiens sein wird. Er verspricht den KolumbianerInnen einen sozialen Kapitalismus, setzt auf die menschliche Arbeitskraft und will eineinhalb Millionen Arbeitsplätze schaffen. Der Staat soll wieder stärker eine soziale Funktion übernehmen. Wobei – wie Jorge Child sagt – Samper keineswegs die Eckpunkte des Neoliberalismus, wie Internationalisierung oder Privatisierung negiert, sondern nur einige Korrekturen vornehmen will. Die letzten Wahlergebnisse jedenfalls scheinen zu zeigen, daß das Versprechen eines sozialen Kapitalismus vielen KolumbianerInnen attraktiver erscheint, als die Kritik an der wirtschaftlichen Öffnung, wie die AD-M19 sie vertritt.
Trübe Aussichten
Die Allianza Democrática-M19 hat mit dem Wahldebakel ihren bisherigen Zugang zu den Medien verloren. Sie hat kein Geld. Was also bleibt? Jorge Child sagt ohne wenn und aber ihr Ende voraus: “Die Demokratische Allianz ist dabei auseinanderzufallen. Ein Teil dieses Prozesses hat auch mit der persönlichen Diktatur des Parteichefs zu tun.” Auch anderen Bewegungen, die sich in Kolumbien als sogenannte Dritte Kraft etablieren wollten, sei dieser Prozeß nicht erspart geblieben. Er erwartet, daß viele Aktivisten von den traditionellen Parteien aufgesogen werden, vor allem deshalb, weil diese Angebote für qualifizierte Leute machen. Die Liberalen seien ebenso wie die Konservativen nach außen sehr flexibel, mit verschiedenen Flügeln, die teilweise auch fortschrittlichere Positionen vertreten und Reformkräften offenstehen.
An eine Zukunft kann die AD-M19 wohl überhaupt nur denken, wenn sie ihre Strategie ändert und sozusagen an der Basis wieder neu beginnt. Navarro Wolff: “Viele unserer Generäle müssen sich die Sterne abnehmen – und die Rolle der einfachen Soldaten erfüllen.” Notwendig sei eine Restrukturierung der Partei, der Aufbau einer funktionierenden Parteiorganisation. Notwendig sei ferner eine von allen bewußt akzeptierte Disziplin.
Vor allem aber muß sich die Partei auf lokaler Ebene in den Städten und Regionen als politische Kraft installieren. Vera Grabe: “Das ist der Moment, nach neuen Formen der zivilen. friedlichen Aktion zu suchen. Politik im institutionalisierten Rahmen zu machen hat, wie wir gesehen haben, seine Kosten. Das hat den Leuten oft nicht gefallen. Es liegt jetzt an uns, auf regionaler und lokaler Ebene für soziale Angelegenheiten zu kämpfen.”
Rückfall in den “bipartidismo”
Die Demokratische Allianz AD-M19 steckt in einer schweren Krise, die ihr Aus bedeuten kann. Die Schwäche der AD-M19 bedeutet für die KolumbianerInnen: weiterhin bleibt das traditionelle Zwei-Parteien-System beherrschend und mit ihm der fortgesetzte Kauf von Stimmen. Alte Seilschaften statt mehr Bürgerbeteiligung und Demokratie. Keine Opposition und keine Kontrolle der Herrschenden. Schade – für Kolumbien.
Sicherheitskräfte außer Kontrolle
Daß auch die neue Verfassung von 1991,in der einige wichtige Punkte zur Einhaltung der Menschenrechte festgelegt sind,keine großen Veränderungen bewirkte,beweist die unverminderte Anzahl von Menschenrechtsverletzungen. Viele Opfer werden im Zuge von “sozialen Säuberungen” getötet, die meist von Todesschwadronen ausgeführt werden und sich gegen “sozial unerwünschte” Personen wie Homosexuelle, Prostituierte oder Straßenkinder richten.
Es gibt zahlreiche Indizien dafür, daß sich die Todesschwadronen überwiegend aus”Sicherheitskräften” zusammensetzen,wobei ungewiß ist, ob bei den “sozialen Säuberungen” ebenso auf Befehl gehandelt wird, wie es im Kampf gegen dieGuerilla der Fall ist. Allerdings ist bekannt, daß die Todesschwadronen Unterstützung von Großgrundbesitzern und Geschäftsleuten erhalten.
Aber nicht nur Menschen, die nicht in das soziale Wunschbild einiger Personen passen, sind in Kolumbien ernsthaft gefährdet. Auch MenschenrechtsaktivistInnensind massiven Drohungen ausgesetzt. Den
Menschenrechtsorganisationen werden Kontakte zu den Guerillas nachgesagt, weshalb bereits viele Mitglieder solcher Organisationen von Militärs oder paramilitärischen Gruppierungen ermordet wurden oder spurlos “verschwanden”.
Wer Kritik übt, ist ein Terrorist
Im Kampf gegen Drogenmafia und Aufständische haben Polizei und Militär eine weite Spanne an Handlungsmöglichkeiten. Anti-Terrorismus-Gesetze, die verschärfte Strafbestimmungen beinhalten, garantieren eine große Freiheit im Umgang mit “TerroristInnen”. Der Begriff “Terrorist” kann sehr willkürlich gedeutet werden,
und häufig fallen Personen, die lediglich Kritik an der Regierung üben, in diese Kategorie. Außerdem werden Angehörige von Gewerkschaften oder BewohnerInnen kleiner Dörfer beschuldigt, die Guerilla zu unterstützen, weshalb auch sie vor Verhaftung, Folter und dem “Verschwinden- lassen” nicht geschützt sind. Für brutale Mißhandlungen sind auch die “Mobilen Brigaden” bekannt, Sondereinheiten der Armee zur Aufstandsbekämpfung.
Ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu nehmen, liefern sich Armee und Polizei Gefechte mit angeblichen Guerilleros. Dabei getötete ZivilistInnen werden meist als “im Kampf gefallene Guerilleros” bezeichnet, oder es wird behauptet, sie seien während des Schußwechsels zwischen die Fronten geraten. Es sind auch Fälle bekannt, in denen Massaker an ZivilistInnen nachträglich der Guerilla, wie beispielsweise der FARC, oder der Drogenmafia, zugeschrieben wurden.
Die Armee bedient sich brutaler Foltermethoden, um von Kleinbauern, die sie der Mithilfe bei der Guerilla verdächtigt, Informationen über Aktivitäten der Aufständischen zu erhalten. Jene Bauern, die keine Informationen geben können, werden kurzerhand dazu verpflichtet, der Armee als Träger oder Wegweiser zu dienen. Wer sich weigert, muß damit rechnen, er- mordet, gefoltert oder verschleppt zu werden.
Obwohl es bei den meisten politisch motivierten Verbrechen viele Indizien, häufig sogar klare Beweise für die Schuld von Polizei oder Militär gibt, bleiben ausreichende Nachforschungen nach den Tätern meist aus. Auch wenn die Namen der Verantwortlichen bekannt sind, kommt es in den wenigsten Fällen zu Urteilen, was dann mit der “mangelnden Beweislage” begründet wird. Eine der wenigen Aus- nahmen ist der Fall des Oberstleutnant Luis Felipe Becerra Bohórquez, der 1993 aus dem Dienst der Armee entlassen wurde, nachdem ihm die Verantwortung für ein Massaker nachgewiesen wurde, bei dem ZivilistInnen ums Leben gekommen waren. Im Zuge von Aufstandsbekämpfungsmaßnahrnen hatten Truppen des Bataillons Palacé, dessen Kommandeur Becerra war, im Oktober 1993 das Dorf Alto de la Loma umstellt. Bei einer Razzia im Haus der Familie Ladino wurden mehre Personen geschlagen, junge Frauen vergewaltigt und daraufhin sieben Familienmitglieder erschossen. Auch die Nachbarn der Ladinos verloren bei diesem Übergriff fünf Familienmitglieder.
Doch dies war nicht das erste Mal, daß Becerra an schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt war. Bereits zuvor war er in einige Massaker verwickelt gewesen, hatte aber nie Konsequenzen ziehen müssen -im Gegenteil: Nachdem er 1991 vom Gericht für ein anderes Massaker zur Rechenschaft gezogen werden sollte, wurde der Haftbefehl gegen ihn nicht vollstreckt. 1992 wurde Becerra, nachdem das Verfahren auf die Militärjustiz übergegangen war, sogar zum Leiter der Abteilung für Presse und Öffentlichkeitsarbeit der Armee ernannt. Im April 1993 kam der Generalstaatsanwalt zu dem Schluß, daß die Beweise für einen Antrag auf Dienstentlassung nicht genügten. Erst als Becerra im Oktober 1993 erneut ein Blutbad angerichtet hatte, wurde er dafür zur Rechenschaft gezogen, jedoch lediglich vom Dienst suspendiert.
Regierung gesteht Menschenrechtsprobleme ein
1992 wurden vom Generalstaatsanwalt neue Zahlen über Menschenrechtsverletzungen veröffentlicht. Ihm lagen 2618 Beschwerden sowie Berichte über 3099 Opfer von Menschenrechtsverletzungen vor. Der größte Teil dieser Beschwerden richtete sich gegen die Nationalpolizei, aber auch der Armee wurden einige Mißhandlungen angelastet, überwiegend die besonders schweren Delikte, wie Massaker und “Verschwindenlassen”.
Präsident Gavina und andere führende Politiker leugnen zwar nicht die von den “Sicherheitskräften” begangenen Menschenrechtsverletzungen und erkennen das Problem der Straflosigkeit durchaus an. Doch zeigen sie keine ernsthaften Bemühungen, Grundlagen für eine bessere Kontrolle der “Sicherheitskräfte” und Möglichkeiten zur härteren Ahndung von Menschenrechtsverletzungen zu schaffen. Sie begründen dies mit Mängeln im Justizwesen, wie zum Beispiel fehlenden Finanzmitteln oder unzureichenden Ausbildungsmöglichkeiten. Der Generalstaatsanwalt nennt allerdings noch einige andere Gründe dafür, warum Nachforschungen auf diesem Gebiet nur sehr schleppend vorangehen. Ein Grund sei, daß viele Vergehen in ländlichen Gegenden begangen werden, wo sich die Sicherung von Beweismitteln recht schwer gestaltet. Darüber hinaus stellen auch die armeeinternen Strukturen ein Problem dar. Befehle ohne rechtliche Grundlage werden nicht schriftlich festgehalten, werden aber wegen des Befehlsgehorsams und aufgrund von Beförderungschancen ausgeführt. Der Korpsgeist, der innerhalb der Streitkräfte herrscht, verhindert eine Zusammenarbeit mit den ermittelnden Behörden. Zudem wird bei Ermittlungen im Normalfall den Unschuldsbeteuerungen der Beschuldigten Glauben geschenkt, im Gegensatz zu den Aussagen der Zeuginnen, die nicht nur als nicht glaubhaft an- gesehen werden. Im Gegenteil: Aussage- willigen drohen massive Repressalien. Auch die Ermittlungsbeamten werden häufig eingeschüchtert. Einige wurden sogar ermordet.
Von seiten der Militärbefehlshaber wird versucht, Verfahren zu verzögern oder gar vollständig einstellen zu lassen, indem sie keine Namen von Angehörigen der Streitkräfte weitergeben, versuchen, Beweismaterial zu manipulieren, beziehungsweise zu vernichten oder Haftbefehle nicht vollstrecken. Häufig werden auch Armeeoffiziere, gegen die ein Verfahren anhängig ist, befördert oder in andere Gegenden versetzt, damit sie in einen anderen Gerichtszuständigkeitsbereich kommen. Wenn es allerdings doch einmal zu einem Verfahren kommt, meldet die Militärjustiz sofort ihre Zuständigkeit an. Damit ist ein Freispruch der Angeklagten so gut wie gewiß, es sei denn, ein Fall erlangt so viel Publizität, daß ein angemessenes Urteil aufgrund des öffentlichen Drucks nicht ausbleiben darf. Die Möglichkeit des Militärgerichts, Verfahren gegen Mitglieder der “Sicherheitskräfte” selber zu übernehmen, blieb 1991 trotz Änderung der Verfassung weiterhin bestehen.
In seltenen Fällen werden Verurteilungen ausgesprochen, die sich dann allerdings meist gegen rangniedrigere Mitglieder der Sicherheitskräfte richten, da es sehr schwierig ist, die für die Befehle verantwortlichen Vorgesetzten ausfindig zu machen, auch wenn eindeutig belastende Aussagen von Untergebenen vorliegen. Beispielsweise wurden 1992 gegen 191 Angehörige der Streitkräfte und gegen 512 Beamte der Nationalpolizei Disziplinarverfahren eingeleitet. 403 davon zogen Schuldsprüche und Sanktionen nach sich (in 373 Fällen gegen die Nationalpolizei und 31 gegen die Streitkräfte). Es gab aber nur wenige Dienstentlassungen. Meist handelte es sich um geringe Geldstrafen oder zeitlich befristete Dienstsuspendierungen.
Militärjustiz deckt Täter
Objektive Ermittlungen und Urteilssprüche werden vom Militärgericht selten gewährleistet, was nur mit politischen Beweggründen zu erklären ist, da oft genug Urteile gegen Soldaten ausgesprochen werden, wenn sie nicht im Zusammenhang mit der Aufstandsbekämpfung stehen.
Auf formaler Ebene wurden in den letzten Jahren durchaus Maßnahmen getroffen, um die Einhaltung von Menschenrechten zu gewährleisten. So wurde zum Beispiel 1990 das Amt des örtlichen Bürgerbeauftragten geschaffen, der die Aufgabe hat, Berichte über Menschenrechtsverletzungen entgegenzunehmen und gegebenenfalls erste Ermittlungen durchzuführen. Polizei und Militär sind dazu verpflichtet, ihm alle in den letzten 24 Stunden erfolgten Festnahmen mitzuteilen, sowie ihm Zugang zu allen Einrichtungen zu gewähren, damit er sich über Aufenthaltsort und Zustand von Gefangenen in- formieren kann. Doch in vielen Fällen wird die Arbeit des örtlichen Bürgerbeauftragten durch die mangelnde Kooperationsbereitschaft stark eingeschränkt. Außerdem ist auch er Drohungen und Einschüchterungsversuchen ausgesetzt.
Durch die Gemeinderäte kann die Arbeit des Bürgerbeauftragten politisch beeinflußt werden, da diese sein Budget festlegen.
Mit Inkrafttreten der Verfassung von 1991 ist auch das Amt des Volksanwalts entstanden, der Teil der Generaistaatsanwaltschaft ist und eine gewisse Überwachungsfunktion über die Einhaltung der
Menschenrechte hat. Er führt keine Ermittlungen durch, dient aber als Anlauf- stelle und Berater für Opfer von Mißhandlungen und deren Angehörige, die die Möglichkeit haben. den Staat auf Schadensersatz zu verklagen. Der Staatsrat hat bereits vielen solchen Klagen stattgegeben, auch in Fällen, in denen die Verantwortlichen freigesprochen oder ihre Verfahren eingestellt worden waren.
Als weitere Maßnahme entstanden in Städten, in denen eine große Zahl von Menschenrechtsverletzungen bekannt ist, auf Initiative von Generalstaatsanwalt und I Volksanwalt Menschenrechtsbüros. Das erste wurde 1991 in Medellín eingerichtet und nahm bereits in den ersten 16 Monaten 3563 Beschwerden entgegen. In 3554 Fällen, die meisten davon willkürliche Festnahmen oder Mißhandlungen, wurde es tätig.
Außer einigen praktischen Maßnahmen zur Eindämmung der politischen Gewalt, wurden 1991 einige formale Aspekte in der Verfassung eingeführt, die – würden sie eingehalten – eine erhebliche Reduzierung von Menschenrechtsverletzungen herbeiführen könnten.
Die drei verschiedenen Stufen der Notstandsgesetzgebung können vom Präsidenten nicht mehr ohne Zustimmung aller Minister und auf unbegrenzte Zeit ausgerufen werden. Bei der dritten Stufe, dem Notstand, werden die Menschenrechte, Grundrechte und die Grundsätze des humanitären Völkerrechts außer Kraft gesetzt. Außerdem wurden, die Versammlungs-, Vereinigungs-, Meinungs- und Gewissensfreiheit, das Verbot der Folter sowie Vorkehrungen gegen willkürliche Verhaftungen und Mindeststandards für einen fairen Prozeß in die Verfassung aufgenommen.
Weitere wichtige Punkte wie das Verbot der Incomunicado-Haft, die Habeas-Corpus-Rechte und die Unabhängigkeit der Justiz wurden nicht mit in die Verfassung aufgenommen.
Die blutige Geschichte Kolumbiens der letzten Jahrzehnte hat gezeigt. daß viele Gesetze wirkungslos sind. Auch die juristischen Fortschritte im Menschenrechtsbereich, die in den letzten Jahren eingeführt wurden, scheinen bisher eher Ali- bicharakter zu haben. Nach wie vor wer-den MenschenrechtsaktivistInnen, wie etwa Mitglieder der kirchlichen Kommission “Justicia y Paz”, bei ihrer Arbeit schikaniert, bedroht und oft von Regierungsseite der Zusammenarbeit mit der Guerilla bezichtigt.
So beurteilt Javier Giraido auch die gesetzlichen Änderungen skeptisch: “Wenn auch neue Institutionen zum Schutz der Menschenrechte geschaffen wurden, so hat uns die tägliche Praxis gezeigt, daß keine von ihnen mit wirksamen Machtbefugnissen ausgestattet wurde, um die Rechte tatsächlich zu schützen. Eher könnte man sagen, daß die Verwielfachung der Institutionen die Anklageprozesse und die Suche um Schutz verlängert, erschwert und durcheinander bringt. Alle diese neuen Institutionen fühlen sich ermächtigt, einander die Anklagen durch schriftliche Anordnungen zuzuweisen, wobei keine sich dazu im Stande sieht, die Probleme wirksam anzugehen.”
Editorial Ausgabe 238 – April 1994
Auf dem Redaktionstisch liegen sie regelmäßig: die Aufrufe und “Urgent Actions” in Sachen Menschenrechtsverletzungen von politischen Aktionsgruppen aller Art. “A wurde verhaftet, B ist verschwunden, bitte richten Sie höflich formulierte Briefe an den Präsidenten von …” – eine Fülle von Einzelschicksalen verlangt nach Öffentlichkeit. Sofort veröffentlichen? Der Zuspruch in der Redaktion hält sich in Grenzen, verdichten sich die vielen Einzelfälle doch immer wieder zur Kernaussage “es ist alles weiterhin so schlimm wie schon seit Jahren”. Und mit der Schlagzeile “Nichts Neues” ist nun einmal keine Leserin zum Weiterlesen zu bewegen.
Obwohl die Fälle mit Namensnennung, Schilderung der persönlichen Geschichte des Betroffenen und mit konkreter Handlungsanweisung geliefert werden, bleiben sie merkwürdig anonym. Die Texte wirken oft, als seien gegenüber früheren Aufrufen nur das Land und der Name des Betroffenen geändert worden. Der Telegrammstil der Schilderungen läßt die Schicksale austauschbar erscheinen.
Nur wenige Fälle von Menschenrechtsverletzungen werden zum nachrichtenrelevanten Thema. So zum Beispiel in Fällen spektakulärer Grausamkeit: Ein Massaker mit 50 Toten in zehn Minuten ist eine Nachricht, 50 tote Straßenkinder im Verlauf mehrerer Monate bleiben im Hintergrund. Oder ein Menschenrechtsfall führt zu politischen Konsequenzen wie jüngst in Peru. Die verkohlten Leichen eines Professors und von neun StudentInnen der Universität “La Cantuta” werden gefunden; die Morde wurden offensichtlich 1992 von Militärs begangen. Spektakulär daran war nicht die Tatsache der Morde, sondern die Art und Weise, wie Präsident Fujimori den Fall der Militärgerichtsbarkeit zuschob und damit den Rücktritt seines Premierministers provozierte.
Aufschlußreicher wird es, wenn Menschenrechtsverletzungen zu gesellschaftlichen Entwicklungen in Bezug gesetzt werden können. In Lateinamerika haben sich Art, Häufigkeit und Zielgruppe von Menschenrechtsverletzungen verändert. Waren es in den achtziger Jahren noch die politischen GegnerInnen der Diktaturen, die zu Opfern wurden, nimmt beispielsweise Brasilien heute eine traurige Spitzenposition bei Menschenrechtsverletzungen neuen Typs ein: “soziale Säuberungen”, das Ausmerzen derer, deren Existenz die Wohlhabenden stört: Straßenkinder, Obdachlose etc..
Amnesty International hat am 15. März eine weltweite Kampagne gegen Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien eingeleitet. Eine Mappe mit Einzelfallbeschreibungen gehört zu den Unterlagen, vor allem aber umfangreiches Material über die politische und gesellschaftliche Entwicklung des Landes. Sollte Amnesty es im Rahmen einer solchen Kampagne schaffen, gesellschaftliche Zusammenhänge in bezug auf Menschenrechtsverletzungen auch in der täglichen Kleinarbeit zum Thema zu machen? Die Kampagne könnte zu einem Beispiel werden, wie mit dem Thema der individuellen Menschenrechte jenseits von endlosen EinzelfallListen und von Sensationssuche umgegangen werden kann.
Vielleicht bliebe dann auch noch die Zeit, ein paar Briefe zum einen oder anderen Einzelfall abzuschicken. Auch wenn nicht gleich die ganze Welt rettet, wer einen Menschen rettet, wie Oskar Schindler (der mit der Liste) mit auf den Weg gegeben wird, bleibt doch der eine Mensch. Nicht mehr und nicht weniger.
The Latin American City
Die in ihrer Mehrzahl von Portugiesen und Spaniern im 16. und 17. Jahrhundert gegründeten lateinamerikanischen Städte haben ihren entscheidenden Wachstumsschub nach 1950 erlebt. Lateinamerika wandelte sich in rasendem Tempo von einem ruralen zu einem urbanen Kontinent. Erst in den achtziger Jahren verlangsamte sich dieser Prozeß aufgrund der ökonomischen Krise. Trotzdem können MigrantInnen in vielen Ländern bis heute vergleichsweise bessere Lebensbedingungen in den städtischen Ballungsräumen vorfinden als auf dem Land. In diesen Unterschieden ist das entscheidende Motiv für die Landflucht zu suchen. Vor allem für Frauen und junge Erwachsene, die eine Schulbildung und berufliche Fähigkeiten erworben haben, resultiert der Weg in die Städte aus einer rationalen Entscheidung. Dabei handelt es sich um eine rationale Entscheidung zwischen Alternativen, die mehrheitlich von jungen Erwachsenen und Frauen, die bessere Schulbildung und gewisse berufliche Fähigkeiten erlernt haben, getroffen wird.
Gilbert wendet sich gegen die Über-Städterungs-Thesen, nach denen die Zunahme der Bevölkerung als dem Beschäftigungswachstum im industriellen Sektor nicht angemessen kritisiert wurde. Während Städte in westlichen Industrienationen als industrielle Wachstumspole funktional gewesen seien, wurden “Dritt-Welt-Städte”, in denen es zu einer “Tertiarisierung”, einem aufgeblähten Dienstleistungssektor kam, als “parasitär” klassifiziert. Nach dieser, nach wie vor von vielen KommunalpolitikerInnen und StadtplanerInnen geteilten Betrachtungsweise gibt es einfach zu viele Menschen in der Stadt. Begründet wird der Mißstand gerne mit einem zu hohen Bevölkerungswachstum, als umgekehrt mit einer zu geringen Anzahl stabiler und qualifizierter Arbeitsplätze. Die Antwort auf die besonders in den achtziger Jahren steigenden Arbeitslosenraten, ist der heute für uns so typische und das Stadtbild der meisten lateinamerikanischen Metropolen prägende informelle Sektor. Zur Straßenszene gehören die Schuhputzer ebenso wie die ambulanten Händler. Informelle Beschäftigung geht jedoch darüber weit hinaus. Ihr kommt zudem im Hinblick auf den sogenannten modernen Sektor eine besondere Rolle zu, denn sie sorgt für niedrigere Lohn- und Reproduktionskosten. Besonders auf Export ausgerichtete Industrien profitieren davon, wie die Erfahrungen mit den Maquiladora-Industrien an der US-mexikanischen Grenze zeigen.
Duldung “wilder” Siedlungen
Ebenso wie der informelle Sektor die Arbeitswelt lateinamerikanischer Städte prägt, kennzeichnen favelas, poblaciones oder villas miserias ihre Siedlungsstruktur. Landbesetzungen und der Aufbau spärlicher Hütten wurden über lange Zeit geduldet und konnten in ökonomischen Wachstumsphasen Schritt für Schritt durch die städtische Infrastruktur erschlossen werden. Aus Wellblech- und Holzhütten wurden in Eigenarbeit oder kollektiver Anstrengung feste Häuser. Daß dabei oftmals den Bedürfnissen der BewohnerInnen entsprechende Wohnungen entstanden sind, als es bei professionell geplanter Bebauung der Fall gewesen wäre, überrascht eigentlich nicht. Nur durch politische Mobilisierung oder Zugeständnisse an lokale politische RepräsentantenInnen konnte sich die rasch wachsende städtische Bevölkerung ein Dach über dem Kopf erstreiten. Die Stadtverwaltung hatte dazu aufgrund fehlender Mittel für einen umfassenden sozialen Wohnungsbau keine Alternative. Stadtviertel wurden ans Elektrizitäts- und Wassernetz angeschlossen, Siedlungen legalisiert. Heute besitzt ein wesentlich höherer Prozentsatz von Familien ein – wenn auch bescheidenes – Eigenheim als noch zwanzig oder dreißig Jahre zuvor.
Betrachtet man das rasante städtische Wachstum ist es ein Wunder, daß die oft wegen ihrer schlechten Administration zurecht gescholtenen öffentlichen Einrichtungen nicht völlig zusammengebrochen sind. Sie scheinen, so Alan Gilbert, wohl doch besser als ihr Ruf. Prekär sind für viele die Versorgungsverhältnisse trotzdem geblieben. Neuere Siedlungen warten seit Jahren auf Wasser und Elektrizität. Neben der Bevölkerungszunahme hat auch das für Städte der sogenannten entwickelten Welt typische Auseinanderfallen von Arbeiten und Wohnen zu einem enormen Verkehrswachstum geführt. Öffentliche Verkehrssysteme sind völlig überlastet; ihr Ausbau, der lange von der Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank finanziert wurde, scheint heute, wie so manches U-Bahn-Projekt zeigt, nicht mehr tragbar. In ökonomischen Krisenzeiten wird die Aufrechterhaltung öffentlicher Infrastruktur immer schwieriger. Die Tarife wurden in den letzten Jahren drastisch angehoben. Um so stärker trat die soziale Ungleichheit bei der Versorgung hervor. In Argentinien, Kolumbien und Mexiko versucht man verstärkt, durch Privatisierung die oft defizitären öffentlichen Unternehmen loszuwerden. Auf dem gesamten südlichen Kontinent ist jedoch außer Telefon- und Telekommunikationsunternehmen deren große Mehrzahl bisher nicht in private Hände übergegangen.
Leider behandelt Gilbert die ökologischen Probleme nur als Unterpunkt in seinem Kapitel zur städtischen Infrastruktur. Er greift mit seiner Kritik an der bisher implementierten Umweltpolitik auch deshalb zu kurz, weil er die gesundheitliche Problematik in den Vordergrund stellt. Flächen-, Energie- und Ressourcenverbrauch hätten hier stärker im Vordergrund stehen müssen.
Gilbert ist besonders daran gelegen, mit einem gerade in Europa gerne gepflegten Klischee über die politische Bedeutung städtischer sozialer Bewegungen aufzuräumen. Obwohl diesen sicher seine Sympathie gilt, stellt er klar, daß eher politischer Konservatismus vorherrscht. Linke Parteien oder gar radikale linke Gruppierungen erreichen in Lateinamerika seit jeher keine Massenbasis. Die Tendenz von barrio-Bewegungen, mit lokalen PolitikerInnen in Verhandlungen einzutreten oder sich gegen Zugeständnisse in Wahlzeiten kooptieren zu lassen, kann auch kaum geleugnet werden. Strukturelle Veränderungen des Systems stehen meist hinter lokal begrenzten Verbesserungen für die eigene barrio-Bewegung zurück. Schließlich darf aber nicht unterschätzt werden, daß es auf diesem Wege oft gelungen ist, die realen Lebensbedingungen zu verbessern. Ganz im Gegensatz jedoch zum allseits beliebten Bild der Sozialrevolte war selbst in Stadtvierteln, in denen sich eine rege Interessenvertretung gebildet hatte, die Beteiligung der Betroffenen oft sehr begrenzt geblieben. Verantwortlich dafür sind, so Gilbert, neben dem politischen Verständnis der Gemeinschaften selbst, Klientelismus, Kooptation, populistischer Führungsstil und Repression durch die politisch Herrschenden.
Enttäuschend und inkohärent bleiben die abschließenden Aussagen über die Zukunftsperspektiven der “Latin American City”. Das Urteil des Autors fällt überraschend positiv aus. Nach einer Fülle detaillierter Informationen und kritischer Reflexion bisheriger Veröffentlichungen über städtische Entwicklung muß den Leser / der Leserin erstaunen, wie konventionell dieser Ausblick ausfällt. Die Tendenz des sinkenden Bevölkerungszuwachses der Metropolen läßt Gilbert ebenso hoffen, wie der Erfolg diversifizierter Exportstrategien und positiver, entbürokratisierender Effekte neoliberaler Strukturanpassung. Wirtschaftswachstum wird schließlich zum Schlüssel der Probleme und damit, so macht es der Autor gerade an der Entwicklung neuer Wachstumspole an der US-Grenze Mexikos deutlich, ist in erster Linie industrielles Wachstum gemeint. Chile oder das NAFTA-Mitglied Mexico als Erfolgsmodelle auch für andere Länder? Hier fällt der Autor in eine Denkweise zurück, die er am Beispiel der Tertiarisierungsthese zuvor mit Recht kritisiert hatte. Voraussetzung für eine Zukunft der Stadt sei natürlich politische Stabilität, also die Fortsetzung der Demokratisierungsprozesse, aber auch eine gerechtere Verteilung der Einkommen und wachsende Aufwendungen für staatliche soziale Leistungen. Daß gerade Struktur-anpassungsprogramme soziale Verbesserungen für die Masse der Bevölkerung unmöglich gemacht haben und diese auch in den Erfolgsländern kaum am Wachstum partizipieren, ist jedoch eine bittere Lektion der achtziger und beginnenden neunziger Jahre. Wirtschaftswachstum an sich als entscheidende Voraussetzung für strukturelle Verbesserungen städtischer Infrastruktur und Umwelt anzusehen, spricht zudem den Erkenntnissen einer kritischen Umweltdiskussion Hohn.
Alan Gilbert – The Latin American City. Latin Amerika Bureau, London 1994. ISBN 0906156823. Zu beziehen bei: Lateinamerika Nachrichten Vertrieb, Gneisenaustr. 2, 10961 Berlin
Rein in die öffentliche Debatte
Radio Latacunga bildet einen integralen Bestandteil des Lebens der Bauern aus der Gegend, hält die Gemeinschaft zusammen und stärkt die lokale Kultur und Identität. Jeden Tag schalten die Indios das Radio ein, um Lokalnachrichten zu hören und Ratschläge über Landwirtschaft, Gesundheit und Hygiene zu erhalten. Andere hören begierig Radiobotschaften von Verwandten, die aus dem Dorf abgewandert sind, um in den Städten zu arbeiten.
Alternative Medien – eine Stimme für die Marginalisierten
Radio Latacunga ist ein Beispiel für die Rolle, die populäre und alternative Medien im Demokratisierungsprozeß spielen können. Populäre und alternative Medien bilden für marginalisierte Gesellschaftsschichten -zum Beispiel Frauen, Jugendliche, Bauern und Indios -ein Vehikel, um an der öffentlichen Debatte teil-nehmen zu können. Diese Projekte gehorchen nicht dem Gesetz der Profitmaximierung, sondern wollen den oft vernachlässigten Interessen und Standpunkten eine Stimme geben. Sie wollen die Gesellschaft ändern. Die Medien, von denen hier die Rede ist, sind sowohl populär -sie erwachsen aus den Graswurzeln -als auch alternativ -sie zeigen Perspektiven auf, die sich vom Mainstream unterscheiden. Um es kurz zu machen, werde ich das Wort “medios populares” benutzen. Politischer und ökonomischer Einfluß hängt vom Zugang zu Informationen ab. Parallel zum Kampf um ökonomische Ressourcen in Lateinamerika findet auch im Kommunikationsbereich ein Kampf statt. Während der siebziger und frühen achtziger Jahre kristallisierte sich dieser Konflikt in der Forderung von Dritte-Welt-FührerInnen nach einer “Neuen Weltinformationsordnung”, in der Information nicht von den westlichen Mächten monopolisiert würde. Dies sollte Hand in Hand gehen mit einer “Neuen Weltwirtschaftsordnung”, in der ökonomische Ressourcen gerechter zwischen Norden und Süden aufgeteilt werden sollten. Diese Parole implizierte auch, daß die Medien der Dritten Welt immer im Öffentlichen Interesse agieren würden. Bis in die Gegenwart haben lateinamerikanische Eliten die Medien benutzt, um gesellschaftliche Kontrolle auszuüben und ihre Herrschaft zu legitimieren. Heute sind die Interessen der heimischen und der ausländischen Eliten enger miteinander verknüpft als je zuvor. Nun liegt es bei den medios populares, nach einer Neuverteilung der Informationsressourcen zu rufen.
Neue Probleme in der Demokratie
Während des dunklen Zeitalters der Militärdiktaturen in Lateinamerika gediehen die medios populares. Sie hatten ein festes Publikum und verbreiteten Botschaften des Widerstandes. Heute, im Zeitalter der Demokratie haben Einfluß und Zahl der medios populares abgenommen. Die Gründe dafür sind nicht Zensur und Repression, sondern die knappen wirtschaftlichen Ressourcen. Der Existenzkampf besteht heute nicht mehr darin, zu vermeiden, von Sicherheitskräften niedergeschossen zu werden. Heute steht im Vordergrund, in einem Zeitalter der Ernüchterung über traditionelle Politikformen relevant zu bleiben.
In vielen lateinamerikanischen Ländern hat die Öffnung der Märkte starke Auswirkungen im Kommunikationsbereich. Lateinamerikanische Medien werden zunehmend von großen Privatunternehmen dominiert. Diese Machtkonzentration wird noch verstärkt durch das verwickelte Netz persönlicher und geschäftlicher Verbindungen von RegierungsfunktionärInnen, UntemehmensmanagerInnen und EigentümerInnen von Medien. Die Nichtregierungsorganisationen-mit deren Unterstützung die meisten medios populares entstanden -haben ihre Mit-tel gekürzt oder ihre Aufmerksamkeit in andere Bereiche verlagert. Um alles noch schwieriger zu machen, richten sich die medios populares ausgerechnet an den Teil der Bevölkerung, der die geringsten Mittel hat, um Zeitschriften zu kaufen oder die alternative Kommunikation anderweitig zu unterstützen. Im Dschungel des Kapitalismus und des freien Marktes werden kleine, unabhängige Medien entweder von größeren Unternehmen geschluckt oder scheitern aufgrund mangelnder Ressourcen.
Netzwerke gegen die Zersplitterung
Medios populares müssen sich also auf diesem für alle offenstehenden Konkurrenzmarkt gegen größere und besser ausgestattete Gegner durchsetzen. Viele von ihnen sind jedoch sehr schlecht auf den Kampf vorbereitet. Die internationale Vernetzung und der Informationstransport in die entlegensten Winkel der Welt wird immer effizienter. Medios populares sind dagegen sehr zersplittert -ein wahrer Turm zu Babel verschiedener Bereiche und Interessen. Sie arbeiten vor-wiegend auf der lokalen Ebene in kleinen Gemeinden. Als eine Konsequenz davon sind sie landesweit kaum präsent.
Um die öffentliche Debatte zu beeinflussen und ein größtmögliches Publikum zu erreichen, sind eine Anzahl neuer Netzwerke geschaffen worden. Als Modell dient die Associación Latinoamericana de Educación Radiofonica (ALER), ein Dachverband freier Radios. Über diese Netzwerke wollen Organsationen Ressourcen und Information teilen.
Das lateinamerikanische Treffen der alternativen Medien und medios populares, das im April dieses Jahres in Quito stattfand, war ein erster Schritt in diese Richtung. Sechzig VertreterInnen trafen sich, um über die Herausforderungen zu diskutieren, denen sie sich gegenübersehen. Sie sprachen unter anderem über den Aufbau eines festen Kreises von JoumalistInnen, um z.B. größere Konferenzen und Ereignisse abzudecken, die Schaffung einer Datenbank und die Ein-richtung einer permanenten elektronischen Konferenzschaltung.
Auch anderswo sprießen auf kleinerer Ebene ähnliche Versuche: Zum Beispiel gründeten neun Medienorganisationen, die bei dem Treffen “Caminos de Integración U im Februar in La Paz/ Bolivien zusammenkamen, ein Netzwerk im Be reich Gewerkschaften und comunicación popular. Die TeilnehmerInnen beschlossen, Material auszutauschen, zweimal pro Jahr einen Rundbrief herauszugeben und eine Datenbank einzurichten.
High-Tech bei den Alternativmedien
Diese Informationsnetzwerke und Zusammenschlüsse werden durch die neuen Kommunkationstechnologien ermöglicht, wie etwa Telefax, Computer, Electronic Mail, Satelliten, Videokameras etc. Diese Technologien dezentralisieren den Zugang zu Informationen und beschleunigen die Nachrichtenübermittlung. Die Massenmedien waren selbstverständlich die ersten, die aus diesen technologischen Durchbrüchen Vorteile zogen. Aber genauso, wie Pancho Villa während der mexikanischen Revolution die Eisenbahnen benutzte, haben sich auch die
medios populares die neuen Technologien angeeignet, um sie für ihre eigenen Ziele zu nutzen.
Dies hat jedoch seinen Preis: Um Electronic Mail zu benutzen (siehe Kasten), braucht eine Organisation beispielsweise einen Computer, ein Modem und eine Telefonleitung -alles Dinge, die wohl jenseits der finanziellen Möglichkeiten einer ums Überleben kämpfenden lokalen Radiostation liegen. Medios populares werden sich eventuell bald danach unterteilen, ob sie Zugang zu neuen Technologien haben oder nicht. Bei dem Treffen in Quito diskutierten die TeilnehmerInnen enthusiastisch über Pläne für ein elektronisches Kommunikationsnetzwerk, bis die Diskussion von dem wütenden Kommentar einer Frau unterbrochen wurde, die sagte, daß ihr kleines vierteljährliches Magazin für soziale Bewegungen sich nicht die erforderliche Ausrüstung leisten könne, um elektronisch mitzuhalten.
Alternative Dienstleistungen für etablierte Medien
Medios populares dehnen ihre Reichweite auch aus, indem sie Kontakte zur Massenpresse pflegen: Chiles fernpress zum Beispiel, ein feministisches Kommunikations-und Informationsnetzwerk, das ein weitverbreitetes monatliches Magazin veröffentlicht, gibt Informationen und Themenvorschläge an JoumalistInnen der Massenmedien weiter, die sich für Frauenfragen interessieren. Zusätzlich brachte die Organisation Media Service letztes fast Jahr 700 fernpress-Artikel in den Massenmedien unter. In Venezuela hat die wirtschaftliche Krise viele medios populares ausgelöscht. Gleichzeitig gelang es Leuten aus den sozialen Bewegungen, ihre Standpunkte in “mainstream”-Fernseh-Programmen wie “Buenas Noticias” und “Comunidad con …” zu äußern, sowie in Kolumnen und Anzeigen in regionalen und landesweiten Zeitungen.
Medios populares haben ebenfalls begonnen, die Möglichkeiten und Grenzen verschiedener optischer Aufmachungen und Druckformate zu nutzen.
Print-medien haben ein schweres Handikap, wenn sie sich an Bevölkerungsgruppen wenden, die kaum oder gar nicht lesen können. Um solche Leute anzusprechen, benutzt die kolumbianische Zeitschrift Encuentro: revista de comunicación popular große Buchstaben. Ein Teil des Heftes besteht aus einer Fotogeschichte mit Sprechblasen.
Das Radio gilt als das einflußreichste Medium in Lateinamerika. CEPALC in Bogotá schätzt beispielsweise, daß 90 Prozent der KolumbianerInnen Radio hören, zwischen 60 und 70 Prozent fern-sehen, und nur 30 Prozent Zeitschriften oder Tageszeitungen lesen.
Daher haben eine Anzahl von Printmedien begonnen, ihre Möglichkeiten im Radio-und Fernsehbereich auszuloten: Um nicht-organisierte Frauen zu erreichen, beispielsweise Hausfrauen oder Analphabetinnen, startete fernpress letztes Jahr ein Frauenradio mit Informationsservice. Das Zentrum zur Förderung der Minenarbeiter (CEPROMIN) in Bolivien hat begonnen, mit Videotechnologie zu experimentieren. Zusätzlich zu seiner traditionellen Arbeit im Radio-und Zeitschriftenbereich produziert CEPROMIN mittlerweile Dokumentarvideos für die Gemeinden im Umkreis der Minen.
Raus aus den Ghettos
Um mit kommerziellen Medien konkurrieren zu können, müssen medios populares in der Tat ein größeres Publikum gewinnen. “Haben wir nicht Basisarbeit mit Marginalität verwechselt?” -So die pointierte Frage von José Ignacio López Vigil, Vertreter Lateinamerikas im weltweiten Verband der Lokalradios (World Association of Community Radios). Medios populares haben sich traditionell an organisierte Gruppen der Bevölkerung gerichtet. Statt zu versuchen, sich an das riesige nicht-organisierte Publikum mit seinen verschiedenen Geschmäckern und Interessen zu wenden, wurde lieber auf Sicherheit gesetzt, indem für die bereits Bekehrten gepredigt wurde. Comunicación popular wurde oft als Instrument an- gesehen, um zu erziehen oder bestimmte Werte einzuimpfen. Als Folge davon war der Inhalt oft streng und pedantisch.
Medios populares können sich nicht länger den Luxus einer so engen Sichtweise leisten. KritikerInnen fordern, daß sie ein Forum für die harte Debatte zwischen Leuten verschiedener politischer Überzeugungen bieten sollen. Sie sollten nützliche Informationen auf unterhaltsame Art präsentieren. Uruguays zweiwöchentliche Zeitschrift Mate Amargo veröffentlicht beispielsweise außer prägnanten politischen und wirtschaftlichen Analysen auch einen Sportteil und druckt Fernsehprogramme und Buchrezensionen ab.
Die Professionalisierung der Alternativpresse
Die Alternativpresse schenkt mittlerweile auch der Gestaltung und Aufmachung ihrer Publikationen größere Beachtung. Viele sind auch der Meinung, daß medios populares nicht länger einzig und allein vom guten Willen freiwilliger AmateurInnen abhängen können und fordern, ausgebildetes Personal einzustellen -was auch bedeuten würde, faire Gehälter zu zahlen. Medios populares beginnen, sich die professionellen Werkzeuge und Techniken des etablierten Journalismus anzueignen. Magazine wie Colombia Hoy und La otra Bolsa de Valores aus Mexiko sind voller Großfotos und einfallsreicher Karikaturen. Cien Dias aus Kolumbien geht darin besonders weit: Das Magazin ist voller farbiger Illustrationen, Diagramme und Graphiken.
Chancen und Gefahren der Kommerzialisierung
Auch die geschäftliche Seite der medios populares wird unter die Lupe genommen. Marketing, der Verkauf von Werbeplätzen und die Rationalisierung von Arbeitsprozessen sind nicht länger tabu. Viele in den medios populares bestehen darauf, daß diese finanziellen Überlegungen nicht zur Aufgabe von Werten führen müssen. “Geld ist wie Blut”, sagt López Vigil. “Das freie Lokalradio, ein lebendiger Organismus, braucht es. Aber es lebt nicht dafür. In anderen Worten: Wir sind keine Vampire.”
Aber riskieren die Altemativmedien nicht, für den Sieg des kommerziellen Erfolges ihre Seelen zu verkaufen? “Du mußt mit der Zeit Schritt halten”, sagt Juan Serrano, Leiter von Radio Mensaje im Norden Ecuadors. “Du kannst Kapitalist werden, ohne deine Philosophie zu verändern. Sobald wir ein Publikum und eine Finanzierung haben, wird es leichter sein, unsere Botschaft unter die Leute zu bringen.”
Medios populares begehen einen gefährlichen Drahtseilakt. Die Ziele, die Kommunikation zu demokratisieren und die Kämpfe der sozialen Bewegungen zu unterstützen, werden sicher nicht immer mit den Erfordernissen des Marktes vereinbar sein. Medios populares wollen die NutzerInnen von Informationen in den Kommunikationsprozeß einbeziehen. Ein Ergebnis des Kommerzialisierungsdruckes kann jedoch sein, daß die medios populares immer weniger die Gruppen vertreten, für die sie gemacht sind. Erst die Zeit wird zeigen, ob die Kommerzialisierung ein glitschiger Abhang ist -und wie weit manche hinunterrutschen werden.
Gekürzt übernommen aus: NACLA No 2, Sept/Oct. 1993
Kasten:
Telematischer Autobahnbau
Das Zauberwort heißt E-Mail (“elektronische Post”). Um in das elektronische Universum einzutauchen braucht man einen Computer, ein Modem und ein Telefon. Die Nachricht gelangt dann über Telefonleitung und Satellit in weniger als 24 Stunden an die EmpfängerInnen – zum Niedrigpreis: Eine gesendete Seite kostet in der Regel höchstens zehn bis 20 Pfennig. In welches Land die Nachricht geht, spielt dabei keine Rolle.
Der elektronische Datenaustausch, über den ein Großteil der Informationsübermittlungen stattfindet, ist mittlerweile zum Nervensystem der Industrienationen herangewachsen. Schon in den fünfziger Jahren waren elektronische Netzwerke für diverse Vorhaben des Pentagon von großem Nutzen. Später profitierten auch Diktatoren Lateinamerikas von den neuen Informationstechnologien, mit deren Hilfe sie ihre Repressionsmethoden ausfeilen konnten.
Doch seit Beginn der 80er Jahren nisten sich auf den “telematischen Autobahnen” neben Regierungen und transnationalen Konzernen auch Nichtregierungsorganisationen aus aller Welt ein. Sie nutzen die neuen Technologien zu einem demokratischen und egalitären Informations- und Erfahrungsaustausch auf den verschiedensten Gebieten.
Im Gegensatz zum Fax erlaubt elektronisches Networking über Konferenzen grenzenlose Diskussionen, an denen Organisationen und Fachleute via Computer teilnehmen. Für jeden Geschmack ist etwas dabei: Die Konferenz “Aibi-L@Uottawa” nimmt biblische Texte und Computer unter die Lupe, auf “Muoski-C@PV136587” unterhalten sich ein paar Dutzend MusikerInnen über Beethovens späte Symphonien, während “Bras-J@falio” die neuesten brasilianischen Witze auf Hunderte von PCs in aller Welt schickt und “argentina@asterix.eng.buffalo.edu” die besten Zubereitungsarten von Matetee sendet. Die meisten Konferenzen über Länder Lateinamerikas behandeln allerdings Neuigkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft.
Die Möglichkeit, über PC und Telefon Gruppen aller Kontinente fast zeitgleich miteinander zu verbinden, revolutionierte die Beteiligung von NROs an internationalen Konferenzen. Auf dem Rio-Gipfel und während den UN-Menschenrechtsdebatten dieses Jahres in Genf hingen Menschenrechtsgruppen aus 95 Ländern von Australien bis Zimbabwe am direkten Draht zur Konferenz. Fast zeitgleich waren sie auf dem neusten Stand der Diskussion, konnten Ideen austauschen, Initiativen koordinieren und schnell reagieren.
Für viele Gewerkschaften, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen in Lateinamerika ist das elektronische Networking heute eine Voraussetzung dafür, regionale und internationale Aktionen zu koordinieren und an wichtige Informationen heranzukommen. Fast alle Länder haben hierfür eigene Rechenzentren, sogenannte nodos (“Knoten”).
Manche lateinamerikanischen E-MailerInnen haben mit dem elektronischen Networking den Stein der Weisen im Informationszeitalter gefunden: Nord-Süd-Wissensklüfte in den Wissenschaften, so träumen sie, werden über internationale E-Mail-Fachkonferenzen und elektronisch zugängliche Datenbanken abgebaut. JournalistInnen enthüllen nach elektronischer Recherche transnationale Skandale und speisen die Meldung in entsprechende Konferenzen ein. Sofort haben betroffene Basisgruppen und NROs in Nord und Süd die Neuigkeit in ihren PCs, sprechen sich online ab, reichen Klage bei zuständigen Gerichten ein und stürmen umgehend nationale und internationale Behörden mit Stellungnahmen und Forderungen – alles auf elektronischem Wege.
Während einige die langersehnte Demokratisierung der Kommunikation mit dem Ausbau telematischer Autobahnen in Lateinamerika erahnen, sehen andere Gräben zwischen informationsarmen und -reichen NROs aufbrechen. Denn längst nicht jede Umweltgruppe hat einen PC, geschweige denn das Geld für ein Modem.
Hans Koberstein