Agroexport unter ökologischem Anpassungsdruck

Die Wirtschaft hat die Zeichen der Zeit erkannt. Die westlichen Durchschnittskon­sumentInnen verlangen immer häufiger nach “Öko-Quali­tät”. Man reagiert zunächst vor allem mit Etiketten – Ecola­beling. Auch in den großen Supermärkten wird immer mehr “biologisch Abbau­bares” und “ökologisch Angebautes” an­geboten. Selbst die Automo­bilun­ternehmen bieten “grüne” Fahrzeuge an oder den Öko-Golf. Schließlich glänzt die deutsche Chemiein­dustrie momentan mit ganz­seitigen An­zeigen in Tageszei­tungen, um den Le­serInnen die “Nachhaltigkeit” ihrer Pro­duktionsweise nahezubringen. Jenseits des vielfachen Etikettenschwin­dels ist jedoch tatsächlich etwas in Bewe­gung gekom­men. Durch Produktnormen und gesetzli­che Bestimmun­gen wie etwa die Gefahr­stoffverordnung oder das Chemikalienge­setz, in neuester Zeit zu­dem durch die Etablierung eines Ökoau­dits (interne Be­triebskontrollen zur Er­stellung von Öko­bilanzen) wer­den die Produktionskreis­läufe in Unternehmen stärker unter die Lupe genommen. Eine wachsende Zahl von Firmen geht inzwi­schen Selbstver­pflichtungen ein und kann sich nach Um­stellung ihrer Pro­duktion be­rechtigte Hoffnungen auf wachsende Marktanteile machen. Unterstützt wird dieser Prozeß durch die Vergabepolitik öffentli­cher Verwaltungen. Auf nationaler Ebene gibt es seit 1977 ein Um­weltzeichen, das weit­gehend unabhängi­gen, wissenschaftlichen Kri­terien genügt. Auf internationaler Ebene strebt man eine einheit­liche Pro­duktnormierung an und die EU hat schließlich 1992 eben­falls ein Umweltzei­chen eingeführt. Die Anforde­rungen, die an euro­päische Produkte ge­stellt werden, sollen ebenso für außerhalb der EU er­zeugte Waren Gültigkeit haben. Davon sind zum Beispiel auch Agrarpro­dukte aus lateinamerikanischen Ländern betroffen.
Rahmenbedingungen für Agrar­exporte des Südens
Zwischen 1970 und 1992 ist der Anteil Lateinamerikas am Welthandel von 5,6 auf 3,3% zurückgegangen. Das internatio­nale Handelsklima ist durch einen wach­senden Protektionismus des Nordens ge­prägt ge­wesen, der die Länder Lateiname­rikas jährliche Exporteinnahmen von ca. 40 Mrd. US-Dollar gekostet hat. Dabei sind es vor allem die nichttarifären Han­delshemmnisse, die dem Süden zu schaf­fen ma­chen. Ende 1990 hatte der GATT 284 solcher Exportrestriktionen re­gistriert, wovon allein 59 auf landwirtschaftliche Produkte ent­fielen. Gleichzeitig subven­tionieren die Industrieländer ihre Agrar­produktion mit jährlich ca. 300 Mrd. US-Dollar. Darüber hin­aus leiden vor allem arbeitsintensive Branchen, die aufgrund nied­riger Lohnkosten bestimmten Ländern überhaupt erst eine Wettbe­werbschance einräumen, unter Handelsbeschränkungen. Dies trifft vor allem auf die Textilbranche zu. Der Verfall der Agrarpreise seit den 80er Jahren hat Lateinamerika wegen sei­ner hohen Ab­hängigkeit von diesen Ex­porterlösen, die zwei Drittel der Gesamt­erlöse ausmachen, schwer getroffen. Die FAO beziffert den Preis­rückgang in den letzten Jahren auf 26%. Die Schuldenlast und die einseitige Ausrichtung auf den Export weniger Agrarprodukte hat viele Länder dazu gezwungen, die Produktion von Primärgütern noch zu verstärken. Dies führte jedoch zu einem Überangebot und be­schleunigte damit den Preisverfall landwirtschaftlicher Produkte weiter. Der wachsende ökonomische Druck auf die Länder des Südens hat einer immer bedin­gungsloseren Ausbeutung von Roh­stoffen und einem rücksichtsloseren Um­gang mit Ressourcen weiter den Weg geebnet. Bis­her stellt gerade die nahezu uneinge­schränkte Umwelt­zerstörung einen kom­parativen Kostenvorteil der Länder des Südens dar. Der Berücksichtigung exter­ner Kosten stehen mehr denn je die Sach­zwänge des Weltmarktes entgegen. Gleichzeitig beginnt die auch für ihren Außenhandel relevanter werdende Um­weltpolitik der Indu­strieländer, die Länder des Südens unter einen neuen Anpas­sungs­druck zu stellen. Ein wichti­ges In­strument ist in diesem Zusammen­hang die Vergabe von Gütesiegeln für Waren, die auch lateinameri­kanische Ex­portpro­duzenten in Zukunft zwingen wird, Nachweis über ökologische Produktions­methoden zu führen.
Ökologischere Holzprodukte aus Chile?
Chile ist eines der Länder, dem es – von vielen inzwischen gar als “Modellfall” ge­feiert – gelungen ist, insbesondere durch die Diver­sifizierung seiner Agrarexporte ein erstaunliches Wachstum zu er­zielen. Neben dem traditionellen Exportrohstoff Kupfer sorgen vor allem Holzwirtschaft und Fischerei für die hohen Exporterlöse. Die holzverarbeitende Industrie wird als eine der Branchen betrachtet, mit der Chile den Einstieg in die “zweite Phase der exportorien­tierten Industrialisierung” gelingen könnte.
Überwiegend auf ausgelaugten Flächen wurden, seit Mitte der 70er Jahre mit staatlicher Förderung Pinus radiata- und Eukalyptus-Plan­tagen angelegt. Die inten­sive Forstproduktion erfolgte über­wiegend zur heimischen Zellstoffproduk­tion sowie zum Export von Holzchips. Weitere 10% des Holzverbrauchs werden durch die Waldnutzung gesichert. Auch hier macht die Holzchip-Produktion den größten An­teil aus, dazu kommt die Mö­belproduktion sowohl für den heimischen als auch den nordamerikanischen und eu­ropäischen Markt. Ungefähr 80% der Wälder werden von der lokalen Bevölke­rung zur Ent­nahme einzelner Bäume oder von Totholz als Brennholz genutzt. Die Ausdehnung der Plantagenbewirtschaf­tung hat zu einer Besitz­konzentration in den Händen weni­ger Unternehmen ge­führt, während Klein­besitzer zur Aufgabe gezwungen waren und in die Städte mi­grierten. Die größten ökologischen Pro­bleme bereiten ebenfalls die Plantagen. Ihre Anlage findet zwar auf überwiegend ausgelaugten Böden statt, womit die Forstunternehmer gerne ihre Tätigkeit rechtfertigen. Tatsächlich wurde sogar der Einsatz von Herbiziden redu­ziert. Es gibt jedoch in Chile bisher keine systematische und effektive Kontrolle über die tatsächli­che Bewirtschaftungs­weise und die Aus­dehnung der Plantagen­bewirtschaftung auf geschützte Waldge­biete.
Gütesiegel für den Forstsektor gibt es bis­her nur von einzelnen Privatunternehmen oder Nicht-Regierungs-Organisationen. Seit No­vember 1993 bearbeitet die EU einen Vorschlag für ein Gütesiegel für Pa­pierprodukte, das u.a. den Nachweis er­fordert, daß der Rohstoff Holz aus einer nachhaltigen Bewirtschaftung stammt. Die internationale Tropenholz­kampagne der Umweltorganisationen könnte sich mittel­fristig negativ auf den chilenischen Holz­export auswirken, da Chile im Ausland häufig fälschlicherweise für ein tropisches Land ge­halten wird. Angesichts zuneh­mender Produktanforde­rungen und der Tatsache, daß man kaum auf den europäi­schen Markt wird ver­zichten können, wird die bisherige Strate­gie einzelner Forstun­ternehmen, sich Märkte in weniger um­weltsensiblen Län­dern vor allem in Asien zu suchen, länger­fristig kein erfolgreicher Weg sein. Ob sich die chilenischen Unter­nehmen schließlich auf eine ökologischere Pro­duktionsweise einlassen, wird jedoch auch von der Einigung über ein neues Forstge­setz und der Einführung einer Landnut­zungsplanung abhängen.
Zellstoff ist das zweitwichtigste Exportprodukt
Von noch größerer Bedeutung für Chile ist die Produktion von Zellstoff zur Pa­pierherstellung. Diese ist inzwi­schen nach Kup­fer zum zweitgrößten Ex­portprodukt Chiles geworden. 70% der Ge­samtproduktion wird exportiert, wobei Eu­ropa der wichtigste Markt für ge­bleichten Zellstoff ist. Die ökologischen Anforde­rungen auf dem europäischen Markt sind in den letzten Jahren gewach­sen, ge­rade in Deutschland wird z.B. im­mer weniger chlorgebleichter Zell­stoff nachgefragt. Schließlich ist in den letzten Jahren auch die Möbelproduktion expan­diert, auch wenn ihr Anteil an den Exporterlö­sen für Chile noch nicht beson­ders relevant ist. Sollen gerade in diesem Bereich einer ar­beitsintensiveren Produk­tion auf höherer Wertschöpfungsstufe Fortschritte erzielt werden, wird man sich je­doch verstärkt mit Produktauflagen aus­einandersetzen müssen. Be­reits beste­hende ökologische Auflagen in mehreren europäischen Län­dern beziehen sich auf Grenzwerte für das krebserzeugende Formaldehyd und Penta­chlorphenol, dazu kommen die hochgifti­gen Stoffe Lindan, Arsen, DDT und Schwermetalle, die bei­spielsweise in Deutschland nicht Be­standteil von Holz­produkten sein dür­fen. In absehbarer Zeit wird dies wohl für die gesamte EU gelten. Schließlich wirkt sich sogar die deutsche Verpackungsverord­nung auf diesen Be­reich aus, da sie die Verwertung von Verpackungsmate­rial festlegt. Dies betrifft beispielsweise Holz­paletten, die als Son­dermüll entsorgt wer­den müssen, wenn sie mit Holzschutzmit­teln behandelt wurden. Bisher gehen die chilenischen Möbelex­porte zwar überwie­gend in die USA, wo noch keine so hohen Anforderungen ge­stellt werden. Aner Chile setzt auch hier auf Exportsteigerungen in Richtung Eu­ropa.
In Chile scheint in einigen der angespro­chenen Branchen ein ökolo­gisches Pro­blembewußtsein vorhanden zu sein. Dies ist im wesentli­chen durch die öffentliche Diskussion über die gerade durch die Ex­portproduktion verursachten Umweltschä­den, insbesondere die Wald­schäden, ent­standen. Bei manchen Unternehmen scheint zudem die Ein­sicht zu wachsen, daß eine bedingungslose Ausbeutung heimischer Ressourcen auch ökonomisch kontraproduktiv sein kann. Gerade res­sourcenabhängige und exportorientierte Unternehmen, die die Anfor­derungen der internationalen Märkte kennen, können es deshalb sein, die sich auf nationaler Ebene für eine Umstellung der Pro­duk­tionsmethoden stark machen. Unver­ändert stark scheint dagegen nach wie vor die Animosität gegen staatliche Eingriffe und Kontrollin­stanzen zu sein. Hier ver­trauen auch die chilenischen Unterneh­mer, die externe Produktauflagen per EU-Verord­nung hinzunehmen gezwun­gen sind, lie­ber auf den freien Markt.
Ökologischere Nelken aus Ko­lumbien?
Einer der dynamischsten Sektoren der kolumbianischen Agrarexport­wirtschaft ist in den letzten Jahrzehnten die Blumen­produktion. 1992 exportierte Kolumbien Blumen im Wert von mehr als 342 Millio­nen US-Dollar. Damit entwickelte sich der Blumensektor zur viertwichtigsten Ex­portbranche nach Erdöl, Kaffee und Ba­nanen. Für die Weltbank verbirgt sich da­hinter “eine der größten Entwicklungs-Er­folgsstories der letzten zwei Dekaden”.
Die ökologische Situation der Blumen­produktion ist jedoch durch einen extre­men Gebrauch von Pestiziden, durch die Belastung von Böden und Gewässern durch toxische Stoffe und eine zuneh­mende Luft­verschmutzung gekennzeich­net. Dies wirkt sich auf die nahegelegenen Ortschaften aus. Die absehbare Erschöp­fung der einst üppigen Grundwas­servorkommen, die zur Bewässerung ver­wendet wurden, ist ein weiteres Problem. Dazu kommt die extreme Ausbeutung der Arbeitskräfte, ur­sprünglich armer Bauern, inzwischen überwiegend Frauen aus den Ar­menvierteln Bogotas. Arbeitsschutzbe­stimmungen werden, wenn über­haupt vorhanden, kaum eingehalten. Vergiftun­gen durch toxische Stoffe sind an der Ta­gesordnung.
85% der kolumbianischen Blumenpro­duktion gehen heute in die USA, 13% in die EU. Gerade hier wachsen die ökologi­schen Anforderungen. In Holland ist man dabei, eine sogenannte “ökologische Blume”, das heißt, Kriterien für eine nachhaltigere Blumenproduktion zu ent­wickeln. Sie beziehen sich z.B. auf die Verwendung von Pestizi­den und Dünger oder einen rationellen Energieverbrauch bei der Produktion. Dies könnte in abseh­barer Zeit in ein Öko-Label für Blumen in der Europäischen Union münden.
In Deutschland hat die Menschenrechtsor­ganisation FIAN die Ar­beitsbedingungen der Beschäftigten in der Blumenindustrie öffentlich gemacht und soziale Nachhal­tigkeit sowie die Einhaltung von Arbeits­schutzmaßnahmen eingefordert (vgl. den Artikel “Alles paletti? Gütesiegel für ko­lumbianische Blumen” in diesem Heft). Die un­menschlichen sozialen Bedin­gungen bei der Blumenproduktion in Ko­lumbien und Kenia kamen schließ­lich im Juli 1993 im Europäischen Parlament zur Sprache. Es for­derte die Europäische Kommission auf, die Produktionsbedin­gungen zu überprü­fen und gegebenenfalls ein Importverbot auszusprechen. Dagegen setzt die kolum­bianische Regierung den Vorwurf des Protek­tionismus. Inzwischen versucht man jedoch von kolumbianischer Seite außerdem, durch die Veröffentli­chung einer “weißen Liste” von Unter­nehmen, die bestimmte soziale und ökolo­gische Mindest­standards einhalten, dem externen Druck durch ein europäisches Öko-Label zuvorzukommen. Bisher müs­sen die tatsächlich eingeleite­ten Schritte zur Ver­besserung der Arbeitssituation je­doch als un­angemessen bezeichnet wer­den.
Neuer Protektionismus oder mehr Nachhaltigkeit
“Das europäische Label ist ein Flop”, so die Süddeutsche Zeitung am 29.9.1994, nachdem sich die Europäische Kommis­sion aufgrund un­befriedigender Ergeb­nisse bei der Vergabe entschlossen hatte, das Umweltgütezeichen für Industriepro­dukte nun zu privatisieren. Was nach der Brüsseler Verordnung von 1992 bis zum Schluß strittig blieb, sind die entsprechen­den Vergabekriterien für industrielle Pro­dukte. Oftmals richten sich diese auch in­nerhalb der EU vor al­lem nach den Inter­essen der jeweiligen heimischen Industrie. Dies sagt einiges über den tatsächlichen Stand der Entwicklung in Eu­ropa aus. Un­fähigkeit, nationale Produktion ökologisch umzustel­len, und Protektionismustenden­zen untereinander herrschen noch bei denen vor, die im internationalen Handel verstärkt Ökostandards setzen wollen.
Sind überhaupt Fortschritte in Richtung nachhaltiger Produktion durch Öko-Eti­kettierung zu erzielen? Am chilenischen Beispiel ist erkennbar, daß die öffentliche Diskussion über die Zerstörung der heimi­schen Wälder, sowie die wachsenden in­ternationalen Produktan­forderungen, Un­ternehmen der Holzbranche dazu zwin­gen, sich in einen Politikprozeß zur Durchsetzung ihrer Kriterien bei der Ent­wicklung von Gütesiegeln zu begeben. Teilweise hat dies auch schon zur Um­stellung von Produktionsmethoden ge­führt. Exportunternehmen, das zeigt auch das kolumbianische Beispiel, werden sich in Zukunft einem zunehmenden Anpas­sungsdruck nicht entziehen können, wenn sie nicht auf den europäischen Markt ver­zichten wollen. Die Frage, ob ökologische Produktanforderungen einen Hebel zur Durchsetzung eines ökologischen Struk­turwandels im Exportbereich der latein­amerikanischen Länder darstellen können, ist zwar nicht von vorne herein zu vernei­nen. Man muß jedoch er­kennen, daß die­ser umweltpoliti­sche Hebel gerade in einem sehr sensiblen ökonomischen Be­reich ansetzt, der in ex­tremer Weise konjunktu­rellen Weltmarktentwicklungen ausgesetzt ist. Der Spiel­raum für latein­amerikanische Exportun­ternehmen, inno­vativ auf die neuen An­forderungen zu reagieren, ist sehr gering. Oft fehlt es da­für bereits an Information oder know how. Zugleich mangelt es oft­mals am politi­schen Willen nationaler Re­gierungen, über die Unter­zeichnung inter­nationaler Abkommen und die Festlegung gesetz­gebe­rischer Normen hinaus, die na­tionale Umweltpolitik mit Leben zu er­füllen, die Einhaltung von Verordnungen zu kontrol­lieren und tatsächlich durch­zusetzen. Dies ist nicht zuletzt ent­scheidend, wenn es darum geht festzu­stellen, wie weitrei­chend die Produkti­onsumstellungen in­folge der ökologischen Produktanforde­rungen tatsächlich sind. Für die arbeitsin­tensiven Branchen besteht schließlich die Gefahr, daß der ökologi­sche Anpassungs­druck zu einer weiteren Verschlechterung der sozialen Sicherung und der Arbeitsbe­dingungen für die Be­schäftigten führen könnte. Der Begriff der “Nachhaltigkeit” beinhaltet jedoch neben der Zukunftssi­cherung kommender Gene­rationen auch die Berücksichtigung sozi­aler Siche­rung der heute Lebenden.
Inwieweit ist eine Agrarexportwirtschaft, die sich in erheblichem Maße auf Pro­dukte konzentriert, die auch in Europa hergestellt werden können, überhaupt mit nachhaltigem Wirtschaften im globalen Maßstab vereinbar. Während in der EU subventionierte Nahrungsmit­tel vernichtet werden, erreichen nach langen Transport­wegen Holz, Fisch, Blumen oder Früchte aus Lateinamerika den europäischen Ver­braucher. Wie lange sich die vielgelobten, dynamischen Agroex­portbranchen, die sich bisher vor allem durch die Ausbeu­tung bil­liger Arbeitskräfte und ihrer na­türlichen Ressourcen ihre Nische im Weltmarkt sichern konnten, dort werden behaupten können, ist von zahlreichen Faktoren abhängig, die am wenigsten je­doch von den Exportnationen selbst beein­flußt werden. Der Preisverfall tradi­tioneller lateinamerikanischer Agrarpro­dukte wie Kaffee, Kakao, Zucker oder Baumwolle in den 80er Jahren sollte War­nung genug sein, erneut zu sehr auf unbe­ständige Weltmarktkonjunkturen zu ver­trauen. Wie nachhaltig negativ EU-Ent­scheidungen Dritt-Welt-Produktion betref­fen können, haben kürzlich erst wieder zwei – in diesem Fall afrikanische – Län­der betreffende Fälle gezeigt: Durch die in Kürze erfolgende Übernahme der in Großbritannien geltenden Schokoladen-Regelung in der EU wird es Herstellern erlaubt, die bisher zu verwendende Ka­kaobutter durch billige Pflanzenöle zu er­setzen. Dies bedeutet für die afrikanischen Kakaoproduzenten einen Einnahmeausfall von ca. 20%.
Im Senegal haben die mei­sten Land­wirte den Anbau von Weizen und Reis aufgege­ben, nachdem ihre Preise durch von Brüs­sel mit 6,4 Mrd. Mark jährlich subventionier­tes Exportgetreide unter die Produktionskosten gedrückt worden wa­ren. Dies sind die Rahmenbe­dingungen, die Schritte in Richtung zu mehr Nach­haltigkeit verhindern. Der Bei­trag, den eine Öko-Etiket­tierung zu einem ökologi­schen Umstrukturierungsprozeß leisten könnte, muß dagegen eher als be­scheiden angesehen werden.

Wirtschaftsreformen in Kuba – Konturen einer Debatte

Der Vizedirektor des Zentrums für Ame­rikastudien in Havanna, Julio Carranza Valdés, nimmt mit seinem einführenden Beitrag vom November 1992 eine Be­standsaufnahme der Krise der kubani­schen Wirtschaft vor. Den Beginn der Krise datiert er auf Mitte der achtziger Jahre. Das Zusammenspiel von externen und internen Faktoren ließ die kubanische Wirtschaft in einen Abwärtsstrudel gera­ten, der bis dato noch nicht gebremst wer­den konnte.
Eine Verschlechterung der Wirtschaftsbe­ziehungen zum Westen, mit dem Kuba trotz der Einbindung in den Rat für gegen­seitige Wirtschaftshilfe (RGW) in den siebziger Jahren noch ca. 40 Prozent sei­nes Außenhandels abwickelte, stand dabei am Beginn dieser Entwicklung. Die Ver­schärfung der Blockade seitens der USA ist in diesem Zusammenhang nur eine von mehreren Ursachen. Besondere Erwäh­nung verdient dabei das von den USA verhängte Importverbot für mit kubani­schem Nickel hergestellte Produkte, be­sitzt Kuba doch ca. 37 Prozent der welt­weiten Nickelreserven. Auch der Fall der Ölpreise ab 1985 traf Kuba hart, denn mit dem Reexport von überschüssigem so­wjetischen Erdöl erzielte das Land in den Jahren 1983-85 40 Prozent seiner Deviseneinnahmen. Beim wichtigsten Exportpodukt Zucker waren aufgrund un­günstiger klimatischer Verhältnisse eben­falls beträchtliche Produktionsrückgänge zu verzeichnen. Diese externen Faktoren fanden in einer sinkenden internen wirt­schaftlichen Effizienz ihre unheilvolle Er­gänzung, die der Autor auf das von den sozialistischen Bruderländern übernom­mene Modell des extensiven Wachstums zurückführt.
Importabhängige Wirtschaft
Dieses Modell erfordert ein hohes Import­niveau, trieb entsprechend die Auslands­verschuldung in die Höhe und in Verbin­dung mit der 1982 ausbrechenden Ver­schuldungskrise Kuba in die Zahlungs­krise. Die Neuverhandlung der Schulden scheiterte, Konsequenz war die Einstel­lung des Schuldendienstes seitens Kuba und der Kreditvergabe seitens der Gläubi­ger. Die weitere Verlagerung der Han­delsbeziehungen in Richtung Ostblock war damit durch die Devisenknappheit vorgezeichnet und wurde 1986 von Regie­rungsseite auch offiziell proklamiert. 1987 wickelte Kuba bereits 88,5 Prozent seines Handels mit sozialistischen Staaten ab, allein 70 Prozent mit der UdSSR.
Die starke Ausrichtung auf die sozialisti­schen Länder wurde durch die nicht absehbare Entwicklung in der UdSSR und den restlichen RGW-Staaten zum Schlag ins Kontor. Kuba verlor dadurch “nicht nur einen günstigen Handelsraum, son­dern eine umfassende wirtschaftliche Ein­bindung.” Die von 8,139 Mrd. USD im Jahre 1989 auf 2,2 Mrd. USD im Jahre 1992 gesunkene Importkapazität be­schreibt das Ausmaß dieser Entwicklung.
Neuorientierung der Wirtschaftsstrategie
Die erforderliche Neuorientierung hat nach Carranza Valdés drei Aufgaben zu bewältigen: Eine Anpassung der Wirt­schaft an die neuen Bedingungen und die Eingliederung in den Weltmarkt auf neuen Grundlagen sowie eine effizienzsteigernde Reorganisierung der Wirtschaft.
Der Rückgang der Importkapazität ließ die Importe von ca. 8 Mrd. US Dollar im Jahre 1989 auf ca. 4 Mrd. US Dollar im Jahre 1991 sinken. Angesichts der im­portabhängigen Wirtschaftsstruktur war ein Einbruch der Produktion unvermeid­lich. Der kleinere Kuchen wiederum macht Einschränkungen auf der Vertei­lungsebene unumgänglich. Die soziale Versorgung ist davon ebenso betroffen wie der private Konsum und die staatli­chen Investitionen.
Eine Steigerung der Importkapazität kann angesichts der existierenden Kreditsperre nur über eine Ausweitung der Devisen­einnahmen erfolgen. Nichttraditionelle Exporte im Bereich der Pharmaindustrie und von medizinischer Ausrüstung auf mikroelektronischer Basis sowie der Aus­bau des Tourismussektors gelten als Hoff­nungsträger im Rahmen dieser Strategie. Dennoch macht Carranza deutlich, daß Kuba auch bei einer günstigen Entwick­lung zumindest mittelfristig mit einge­schränkten Importmöglichkeiten leben muß. So hält er zusätzlich eine Neuver­handlung der Auslandsverschuldung und Effizienzsteigerungen im Bereich der Produktion und des Handels für “überlebensnotwendig”.
Ausländisches Kapital
als Notlösung
Das in Kuba vorhandene Potential an in­dustrieller Infrastruktur mitsamt hochqua­lifizierten Arbeitskräften kann wegen Ka­pitalmangels, veralteter Technologie und fehlenden internationalen Absatzmärkten bisher nicht ausgeschöpft werden. Trotz der eingeräumten Risiken, die Carranza vor allem im Aufkommen einer dualen Struktur eines dynamischen, effizienten Sektors auf ausländischer Kapitalbasis ei­nerseits und eines hinterherhinkenden in­ländischen Sektors andererseits sieht, gibt es keine Alternative zur Öffnung gegen­über dem ausländischen Kapital. Als Knackpunkt für die Verbindung der Aus­landsinvestitionen mit dem internen Sek­tor und für eine integrale Wirtschafts­reform insgesamt sieht er denn auch die “Neuordnung der Wirtschaft unter einem neuen System der Wirtschaftslenkung”. Wie dieses System aussehen könnte, ver­mag der Autor allerdings nicht zu konkre­tisieren.
Über dieses neue System der Wirt­schaftslenkung schweigt sich auch Fidel Castro in seiner Rede zur Legalisierung des US-Dollars zum vierzigsten Jahrestag des Revolutionsbeginns am 26. Juli 1993 aus. Er beschreibt all die widrigen Ereig­nisse, mit denen Kuba seit 1989 konfron­tiert wurde, insbesondere den Verfall des sozialistischen Lagers, und ihre Auswir­kungen in bemerkenswerter Offenheit. Of­fen bleibt aber auch, mit welcher Strategie damit umgegangen werden soll. Die ku­banische Politik sei, so Castro, Sachzwän­gen ausgeliefert. An erster Stelle steht da­bei die Notwendigkeit, die Devisenein­nahmen massiv zu steigern. Oberstes Ziel sei es, “das Vaterland, die Revolution und die Errun­genschaften des Sozialismus zu retten.” Die Reformmaßnahmen stehen je­doch nicht in einem problem­über­grei­fen­den Gesamtkonzept. Ein solches ist schlicht nicht existent. Ob angesichts der Extrem­situation, in der sich Kuba befin­det, ein langfristiges Konzept im Moment imple­mentiert werden könnte, steht indes­sen auf einem anderen Blatt. Wie die Sonderperi­ode in Friedenszeiten jedoch ein Ende fin­den soll, ohne daß ein Ge­samtkonzept in­klusive eines neuen Sy­stems zur Wirt­schaftslenkung entwickelt wird, darauf bleibt auch Castro die Ant­wort schuldig.
“Sommer der Reform”
Die Freigabe des Dollars leitete einen “Sommer der Reform” ein, der im Mittel­punkt des Beitrags des renommierten Kuba-Kenners Carmelo Mesa-Lago von der Universität Pittsburgh steht. Neben der Legalisierung des Devisenbesitzes wurde selbständige Arbeit auf eigene Rechnung grundsätzlich erlaubt. Dazu berechtigt sind Staatsangestellte in ihrer Freizeit, ar­beitslos gewordene ArbeiterInnen aus Staatsbetrieben sowie RentnerInnen, Be­hinderte und Hausfrauen. Nicht nur der Personenkreis, sondern auch die Tätig­keiten sind eingeschränkt. Der Dienstlei­stungsbereich überwiegt bei den 117 zu selbständiger Arbeit zugelassenen Beru­fen. Mesa-Lago sieht darin eine Legalisie­rung von Tätigkeiten, die ohnehin aus­geübt wurden und werden, ob nun mit oder ohne Billigung des Staates. Bei einer geschätzten Zahl von inzwischen 1,5 bis 2 Millionen mit oder ohne Registrierung auf eigene Rechnung arbeitenden Personen scheint eine Überwachung kaum durch­führbar. So bleibt für viele die Versu­chung groß, sich nicht registrieren zu las­sen. Zum einen büßen Arbeitslose bei Re­gistrierung einen Teil ihrer staatlichen Zuwendungen ein, zum anderen könnte eine Registrierung bei einer veränderten Politik die Enteignung nach sich ziehen.
Mit einer seit September 1993 diskutierten Landwirtschaftsreform werden drei Ziele verfolgt: Die obligatorische Ef­fi­zienz­stei­ge­rung, eine Schaffung von Arbeitsanrei­zen, um mit geringstmögli­chem Ressour­ceneinsatz einen Produkti­onszuwachs zu erzielen sowie die Selbst­finanzierung und Selbstversorgung der landwirtschaftlichen Produktionseinhei­ten. Die Reform soll zwei Ebenen betref­fen. Zum einen geht es um die Umwand­lung der staatlichen Be­triebe in Genossen­schaften. Diese bleiben dabei unter Kontrolle des Staates und müssen ihre Über­schüsse zu staatlich be­stimmten Konditio­nen an denselbigen veräußern. Die zweite Ebene betrifft bis­her ungenutzte Kleinflä­chen. Sie können künftig an RentnerInnen oder “Personen, die aus gerechtfertigten Gründen nicht in der Lage sind, in der Landwirtschaft zu arbeiten” zum Zwecke der Selbstversor­gung vergeben werden. Wer unter die zweite Kategorie fällt, ist nicht klar, Mesa-Lago vermutet Staatsan­gestellte im Nichtagrarsektor.
Der Versuch der kubanischen Führung, mit marktorientierten Veränderungen die Errungenschaften des Sozialismus zu ret­ten, ohne die Marktwirtschaft einführen zu wollen, hält Mesa-Lago indessen für zum Scheitern verurteilt. Er begründet dies mit dem fortgesetzten Verfall der kubanischen Wirtschaft trotz bisher eingeführter Re­formmaßnahmen und mit ihren negativen Folgen für die Regie­rung, beispielsweise der wachsenden Un­gleichheit in der Be­völkerung und der zu­nehmendem Bedeu­tung des informellen Sektors. An der Marktwirtschaft führt laut Mesa-Lago kein Weg vorbei – nur ob der Übergang weiterhin friedlich oder gewalt­sam bis hin zum Bürgerkrieg verläuft, hält er für of­fen.
Joint-Ventures
als Hoffnungsträger
Joint-Ventures wird im Rahmen der aktu­ellen wirtschaftspolitischen Maßnahmen ein großer Stellenwert eingeräumt. Zwei AutorInnen beschäftigen sich mit dieser Thematik, so zunächst Robert Lessmann von der Universtät Wien. Aufgrund der Unklarheit, welche Kooperationsformen unter den Begriff Joint-Venture gefaßt werden, bezieht er sich vorwiegend auf Unternehmen mit ausländischer Kapital­beteiligung, die sogenannten empresas mixtas. Diese Mischunternehmen führen ihre Transaktionen ausschließlich in frei konvertierbarer Währung durch. Da somit auch die Ausgaben in frei konvertierbarer Währung anfallen, macht eine Produktion für den Binnenmarkt wenig Sinn. So pro­duzieren die meisten denn auch für den Exportsektor oder für den Dollarsektor des Binnenmarktes. Steuerrechtliche und ar­beitsrechtliche Sonderkonditionen räumen den Mischunternehmen nach Lessmann selbst im internationalen Vergleich her­vorragende Bedingungen ein. Die meisten Joint-Ventures befinden sich im hand­werklichen und kleinindustriellen Bereich. Von größerer Bedeutung sind jedoch die Joint-Ventures im Bereich der Grundstoff­industrie und des Tourismus. Bei ersterer sind Joint-Ventures vor allem bei der Su­che nach Erdölvorkommen und der Mo­dernisierung der Nickelindustrie gefragt. Auch ist angedacht, im Tausch gegen Rohöl Mexiko und Kolumbien die Nut­zung von überschüssigen Raffineriekapa­zitäten in Kuba anzubieten. Am erfolg­reichsten und dynamischsten verlief die Entwicklung bisher im Tourismussektor. 20 Joint-Ventures trugen dazu bei, dßaß der Tou­rismussektor zur zweitgrößten Devisen­quelle heranwuchs. Da die Joint-Ventures erst in den neunziger Jahren ver­stärkt auftauchten, hält der Autor eine Er­folgsprognose für verfrüht, sieht in ihnen aber einen potentiell wichtigen Beitrag zur Dynamisierung der Volkswirtschaft.
Gesellschaftliche Auswirkungen von Joint-Ventures
Die sozialen Folgen der Joint-Ventures thematisiert Gillian Gunndie (Professorin an der Georgetown-University) anhand mehrerer Fallstudien und Interviews. Die Interviews mit kubanischen Parteiführern, einschließlich Fidel Castros, machen deutlich, daß die kubanische Führung sich der Problematik der Folgen steigender Auslandsinvestitionen bewußt ist. Den­noch gibt es laut Castro “keine andere Wahl, als (…) die Verbindung mit jenen ausländischen Unternehmen zu suchen, die Kapital, Technologie und Märkte an­bieten können.” Die Konsequenzen blei­ben laut Castro spekulativ.
Die Fallstudien spielen mit der Ausnahme der “Curaçao Drydock Company” (CDM)-Werft in Havanna im Tourismusbereich. Positiven Effekten wie steigenden Devi­seneinnahmen und der Schaffung von Ar­beitsplätzen stehen eine Aushöhlung des kubanischen Gleichheitsethos durch das Entstehen einer neuen ArbeiterInnenelite und das Aufkommen von nationalistischen Ressentiments wegen des Zugangsverbots zu Joint-Venture Hotels gegenüber. Das zum September 1992 gezogenen Fazit der Autorin fällt knapp positiv aus: “Untergraben ausländische Investitionen das kubanische System? Noch nicht.”
Kubas Transition
Die Öffnung und Reform (apertura) der kubanischen Wirtschaft analysieren Pedro Monreal und Manuel Rúa del Llano, Mit­arbeiter des Zentrums für Amerikastudien in Havanna. Die institutionellen Verände­rungen in Kuba stehen im Zentrum ihrer Überlegungen. Diese Veränderungen könnten aus sich heraus den derzeitigen Dualismus im kubanischen Wirtschafts­system mit dem “System der Wirtschafts­lenkung und Planung” einerseits und der Marktorientierung im Außenhandel, beim Tourismus und hinsichtlich der Auslands­investitionen andererseits, überwinden.
Zwei Variablen weisen sie eine Schlüssel­rolle zu. Neben Wachstum und Export­diversifizierung wird der Erschließung neuer, externer Finanzierungsquellen Prio­rität eingeräumt. Die institutionellen Transformationen innerhalb der Wirt­schaftsreform verlaufen zweigleisig. Unter die organisatorischen Transformationen fallen Veränderungen in der Form und der Funktionsweise der Wirtschaftsakteure sowie Änderungen in der staatlichen Struktur. Damit ist die Gründung von Ak­tiengesellschaften ebenso gemeint, wie der Aufbau einer Infrastruktur für Handel und Finanzgewerbe, Preisreformen oder der wachsende Einfluß von Nicht-Regie­rungs-Organisationen. Die normativen Transformationen umfassen die Verände­rungen in der Gesetzgebung und in den administrativen Normen. Die Verfas­sungsreform vom Juli 1992 und zahlreiche Gesetzesdekrete, Resolutionen und ergän­zende Regelungen sind Beispiele hierfür. Mit der erwähnten Verfassungsreform se­hen die Autoren den Beginn einer neuen Phase bei den normativen Transformatio­nen, denn erstmals wurde die Öffnung über den Exportsektor hinaus auf den Binnensektor ausgeweitet. Neue Konzepte in den Bereichen des Eigentums und sei­ner Übertragung und bei der Rolle des Staates in der Wirtschaftsplanung und -ausführung sind beispielgebend. Die Le­galisierung des Devisenbesitzes ein Jahr später stellt einen weiteren Schritt dar. Aus den bisherigen Erfahrungen mit der apertura ziehen sie überraschend optimi­stische Schlußfolgerungen. Die Notwen­digkeit einer umfassenden Wirtschafts­reform bleibt unbestritten, aber durch die apertura seien günstigere politische Vor­aussetzungen für diese geschaffen wor­den: “Zum einen das notwendige Ver­trauen der politischen Entscheidungsträger in ihre Fähigkeit, einen Prozeß institutio­neller Reformen durchführen und unter Kontrolle halten zu können – und zum an­deren die Idee, daß die Konzentration der politischen Macht einhergehen kann mit marktorientierten Wirtschaftsreformen.”
Dieser Optimismus fehlt bei den kulturel­len Einschüben indes völlig. Das Gedicht eines anonymen Autors, Liedtexte der beiden populären Sänger Carlos Varela und Pedro Luis Ferrer haben ebenfalls die ökonomische Situation zum Thema. Drastisch werden darin die Auswirkungen der Krise auf die soziale und moralische Substanz der Gesellschaft geschildert. Sie sind auch nicht als Auflockerung gedacht, sondern sollen als Beispiele ge­sellschaftliche Gegenreaktionen anschau­lich machen. Der letzte Song “Hay mucha gente huyendo” (Es gibt viele Leute, die fliehen) von Pedro Luis Ferrer verleiht dem Band zusätzliche Aktualität. Eine Aktualität, die mit einem bis Mai 1994 reichenden Informationsstand für ein Buch ohnehin schon bemerkenswert ist.

Der Wutausbruch des Juan Tama

Vieles erinnert an den Vulkanausbruch des Nevado del Ruiz 1985, als über 20 000 Menschen von einer Schlammlawine ge­tötet wurden. Auch diesmal war ein schneebedeckter Vulkan beteiligt: Durch ein Erdbeben der Stärke sechs lösten sich Eisplatten des 5750 Meter hohen Nevado del Huila und vermischten sich mit riesi­gen Erd- und Schlammassen zu einer töd­lichen Lawine, die das Flußtal herunter­donnerte. Im Gegensatz zu damals er­eignete sich die Katastrophe nachmittags, so daß sich die meisten Menschen retten konnten. Trotzdem gehen die vorsichtig­sten Schätzungen von über 600 Toten und 400 Schwerverletzten aus, über 1000 blei­ben vermißt, und weitere 18 000 Men­schen sind direkt Betroffene, die oft nur ihr nacktes Leben retten konnten und noch heute in Notunterkünften leben.
Im Notlager Escalereta
Escalereta ist eines dieser Camps. In knapp 3000 Meter Höhe und bei Tempe­raturen zwischen fünf und zehn Grad hau­sen hier 2000 Menschen in teils gespen­deten, teils selbstgebauten Zelten. Die feuchte Kälte und das ungewohnte Essen haben viele Indianer, besonders Kinder, erkranken lassen. Ein kleines Team von Ärzten und Krankenpflegern, zuweilen auch ein Páez-Medizinmann, sichern die nötigste Versorgung. Immer wieder hört man, daß Hilfsgüter auf dem Landweg von der Provinzhauptstadt Popayán oder in den Depots des Heeres oder des Roten Kreuzes verschwunden sind. Viele CampbewohnerInnen stammen aus Mos­coco, einem Dorf, das das Erdbeben völlig zerstört hat. Zu Fuß ist es eine halbe Stunde zum Fluß Moras, wo eine kleinere Lawine 30 Menschen und die Brücke fortgerissen hat. Nach Moscoco, wo ein Teil der EinwohnerInnen unter Plastikpla­nen lebt, kommt man nur, wenn man sich traut, den Fluß mit einer halsbrecherischen Seilbahn zu überqueren, die jeden Mo­ment reißen kann. Rotbraune Narben ver­unstalten die sonst grünen Steilhänge, dort, wo das Beben Erdrutsche auslöste.
80 Soldaten sollen Escalereta vor der Gue­rilla schützen, einer eher hypothetischen Gefahr. Umberto Rocha aus Moscoco be­richtet, dort hätten Soldaten einen Ge­sundheitsposten demoliert und nach Waf­fen durchsucht. Die Lebensmittelvertei­lung wurde den Einheimischen entrissen und willkürlich gehandhabt. In Escalereta hingegen gelingt die Zusammenarbeit zwi­schen Heer, den Freiwilligen des Roten Kreuzes und des Zivilschutzes so­wie den Führern der hier vertretenen Dorfgemein­schaften, die in enger Verbindung mit der Indianerbewegung CRIC (Regionaler In­dianerrat der Provinz Cauca) stehen.
Wohin mit der Bevölkerung?
Im Katastrophengebiet wurden alle Stra­ßen und Brücken zerstört. Man konnte sich Anfang August nur per Hubschrauber fortbewegen. Daher war in den ersten Wochen das dringendste Problem vieler BewohnerInnen die Zusammenführung ih­rer Familien. In den nächsten Monaten soll die Um- und Rücksiedlung geklärt werden. Etwa 3000 Menschen haben das Páeztal bereits endgültig verlassen. Auch die Regierung favorisierte anfangs diese Variante. Dagegen besteht der CRIC, in dem die meisten Páez organisiert sind, auf einer Neuordnung der Gemeinschaften, die den weitverbreiteten Wunsch nach Zu­sammenhalt und Verbleib in Tierradentro berücksichtet. Diese Position scheint sich durchzusetzen.
Wie dies bewerkstelligt werden kann, ist aber noch unklar. Der nicht-indianische Teil der Betroffenen, vor allem schwarze und mestizische Campesinos, hat eine we­niger intensive Bindung an die Region und läßt sich leichter in andere Gegenden der Provinz Cauca umsiedeln. Das wird auch auf einen Teil der indianischen Dorfgemeinschaften zukommen, denn vordem fruchtbare Teile des Páeztals wurden zur Hochrisikozone erklärt und können wohl auf Jahrzehnte nicht mehr besiedelt werden. Andere Ländereien in Tierradentro müßte die Regierung Privat­besitzern abkaufen, zu denen auch Dro­genhändler gehören.
Mohnfelder vernichtet
Der Anbau von Mohn stellte in den letzten Jahren eine der bedeutensten Nebener­werbsquellen vieler Bauern dar. Die Na­turkatastrophe vernichtete nahezu alle – meist kleinere – Pflanzungen, die in die­sem Jahr wieder verstärkt angelegt wor­den waren. Die desolate ökonomische Si­tuation – Tierradentro zählt zu den ärmsten Gegenden Kolumbiens – brachte viele dazu, das zur Heroinherstellung notwen­dige Mohnlatex an Zwischenhändler zu verkaufen. Im vergangenen Jahr schloß die Regierung mit den Einheimischen ein Ab­kommen über die Ersetzung des Mohnan­baus durch alternative Produkte. Das nun von der Lawine begrabene Ausbildungs­zentrum in Tóez gehörte zu diesem Pro­gramm. Der Substitutionspro­zeß war je­doch bereits vorher ins Stocken geraten, da die versprochenen Mittel nur spärlich flossen. Allgemein herrschte der Eindruck vor, daß das Interesse der Regie­rung an der erfolgreichen Durchführung des Projekts rasch nachließ.
Staatliche Inkompetenz
Inwieweit der Mohnanbau zur Abholzung und diese wiederum zum Ausmaß der Katastrophe beigetragen haben, ist um­stritten. Fest steht, daß WissenschaftlerIn­nen bereits 1986 eine Landkarte der Re­gion mit den jetzt verwüsteten Risikoge­bieten erstellt hatten: Auch eine Studie der staatlichen Umweltorganisation Inderena vom vergangenen Jahr nahm in einem Krisenszenario (Vulkanausbruch oder Erdbeben) die jetzige Katastrophe ziem­lich genau vorweg. Diese Studie mit den darin vorgeschlagenen Maßnahmen zur Vorbeugung verschwand unbeachtet in den Schubladen der politisch Verantwort­lichen.
Ein Trauerspiel war auch die dilettanti­sche Reaktion staatlicher Instanzen in den ersten Tagen. Die Hubschrauber der Me­dien waren denen der Regierung weit vor­aus. Erst nach 48 Stunden trafen die ersten staatlichen Hilfsleistungen ein. Noch heute gibt es Menschen in abgelegenen Winkeln des Páeztals, die keinerlei Hilfe erhalten haben.
Die Indianer mußten ihre angemessene Beteiligung in der Kommission zum Wie­deraufbau erst einklagen. Der von der Re­gierung eingesetzte Ausschuß “Nasan Kiwb” (Land der Menschen) muß nicht nur mit der Neuordnung des Lebens in Tierradentro fertigwerden, sondern auch mit internen Streitigkeiten, die wiederum die Interessenskonflikte in der Region wi­derspiegeln.
Die Strafe der Götter
So stellen in der Kommission VertreterIn­nen regierungs­naher Positionen die Mehr­heit. Dazu gehört auch der Bogotaner Ar­chäologe und Astrologe Mauricio Puerta, eine schillernde und in Tierradentro höchst umstrittene Persönlichkeit. Er lebt seit über zwanzig Jahren dort und hat mit sei­nen Ausgrabungen dafür gesorgt, daß die Regierung einen archäologischen Park mit indianischen Grabstätten einrichten konnte, der zu den touristischen Haupt­attraktionen Kolumbiens zählt. Puerta, Schulfreund des neuen Präsidenten Erne­sto Samper und astrologischer Berater mehrerer Minister, wird beschuldigt, vor dem Beben eine wertvolle Urne mitge­nommen zu haben, ohne die vorgeschrie­benen indianischen Riten vollziehen zu lassen. Deswegen, so ein weitverbreiteter Glaube, seien die Götter zornig geworden und hätten das Erdbeben geschickt. An­dere sehen in der Katastrophe allgemein eine Antwort der Götter auf die Tatsache, daß die Natur durch den Einfluß der Wei­ßen aus dem Gleichgewicht gebracht wor­den sei. Der legendäre Indianerführer Juan Tama, der im 18. Jahrhundert den Wider­stand gegen die Spanier organisierte, habe – ebenso wie Kiwe, die Mutter Erde – die Menschen strafen wollen.
Jesús Piñacué, der bekannteste Aktivist der Indianerbewegung in Cauca (siehe Interview) nimmt die erste Version ernst. Puerta bestreitet sie vehement und be­hauptet, der CRIC habe sie selbst lanciert, um die IndianerInnen gegen ihn aufzu­bringen. Tatsache bleibt, daß beide Seiten um den Erhalt von Hilfsgeldern und den Einfluß in der Region konkurrieren. Da­neben gibt es Parteipolitiker, Kirchen­obere und VertreterInnen der anderen eth­nischen Gruppen, die ebenfalls Sitz und Stimme im Führungsgremium von “Nasan Kiwb” erhalten haben.
Die – neben den RegierungsvertreterInnen – gesicherte Beteiligung der Betroffenen am jetzt beginnenden Neuanfang in Tierra­dentro stellt zweifellos einen Fort­schritt gegenüber der Bewältigung des Vul­kanausbruchs von 1985 dar. Gustavo Wil­ches: “Die Krise ist eine Zeit der Ge­fahr, aber auch der Chancen. Deswegen müssen wir sie nutzen, um diese Region nach vorne zu bringen. Wir werden mit allen zusammenarbeiten, mit Schwarzen, Me­stizen und Indianern.” In den kom­menden Monaten wird sich zeigen, ob die Kom­mission diesem Anspruch gerecht wird, was vielleicht noch schwieriger sein wird als die technische Seite des Wiederauf­baus.

“Mit Unterstützung von außen werden wir uns erholen”
Der Páez Jesús Enrique Piñacué (30) vom CRIC ist einer der profiliertesten Aktivisten der kolumbianischen Indianerbewegung. Vor kurzem war er im Team mit An­tonio Navarro Wolff (Demokratische Allianz M-19) Kandidat für die Vizeprä­sidentschaft des Landes.
Wie wirkt sich die Katastophe auf die Páez aus?
Unser Volk hat viele harte Proben hinter sich: den Kampf gegen die Spanier, die politische Gewalt nach der Unabhängig­keit Kolumbiens, den Bürgerkrieg der Parteien, die Gewalt von seiten der Gue­rilla und der Drogenhändler – all dies in einem Staat, der sich der Straffreiheit beugt.
Wie beurteilen Sie das Verhalten der Regierung?
In den ersten Tagen wurden wir auseinan­dergerissen, weil die Rettungsdienste die Leute überstürzt herausholten, ohne die lokalen Führer zu konsultieren. Allmäh­lich kommen wir aber wieder auf den richtigen Weg zurück.
Glauben Sie, daß die Leute nach der Katastrophe wieder mehr Mohn anpflan­zen werden?
Nein, denn viele einflußreiche Indianer­führer sind mit diesem Lösungsversuch für die wirtschaftliche Notlage nicht ein­verstanden. Jetzt herrscht große Trauer, Verzweiflung und Angst, aber wenn die kolumbianische und die internationale Gemeinschaft uns unterstützen, werden wir uns erholen.
Welche Probleme sehen Sie beim Wie­deraufbau?
Die Arbeit der Kommission “Nasan Kiwb” könnte von politischen Interessen behindert werden, besonders wegen der bevorstehenden Kommunalwahlen.
Wer soll die Hilfsgelder verwalten?
Präsident Gaviria hat darauf bestanden, daß alle Gelder von der Kommission ka­nalisiert werden. Der CRIC hat dies be­reits auf seiner letzten Sitzung beschlos­sen.

Interview: Gerhald Dilger
und Harry Clegg

Von Deutschland aus leitet “Brot für die Welt” Spenden an den CRIC weiter. Konto 500 500 500 bei der Postbank Köln (BLZ 370 100 50), Stichwort: Erdbeben Kolumbien.

Jenseits des Staates?

Im Editorial weist Albrecht Koschützke darauf hin, daß die Autonomie der latein­amerikanischen Staaten (politisch und ökonomisch) seit jeher begrenzt war, die “Durchsetzung des neoliberalen Paradig­mas (…) jedoch eine extreme Form von außen induzierter Transformation der na­tionalen Gesellschaften mit einer offenbar weiterreichenden Eingriffstiefe” darstellt. Bietet der neoliberale Staat neue Frei­räume für die multinationalen Kapitale, ist seine nationale Autonomie nach dem Um­bauprozeß der achtziger Jahre noch stär­ker reduziert. Auch die Binnenreichweite des lateinamerikanischen Staates war tra­ditionell begrenzt. Er garantierte zumeist weder ein fächendeckendes Bildungs- und Gesundheitssystem, noch kümmerte er sich beispielsweise um die indianische Bevölkerung und die verarmten Massen.
Der Unterschied zu früher liegt darin, “daß die strukturellen Schwächen des Staates nunmehr zu Tugenden erklärt werden, daß die Vernachlässigung seiner sozialen Funktionen nicht mehr vorwerf­bar, sondern lobenswert, weil freiheits­stiftend ist, daß nur rudimentäre staatliche Dienstleistungsangebote statt als Defizit jetzt zum Ziel deklariert werden, kurz, be­stehende Not wird in eine Chance zur Entwicklung umgelogen. Praktisch heißt das: Der immer schon miserable Staat wird noch miserabler; er liquidiert Hoff­nung, Erwartungen, Rechte und Ansprü­che auf Zukunft und Entwicklung gerade für jene, deren eigene materielle Kraft schon bisher nicht ausgereicht hat, indivi­duell Armut, soziale Ungerechtigkeit und Unterentwicklung erfolgreich anzugehen und die jetzt auf die Chancen des Wett­bewerbs und des Marktes reduziert werden.”
Die negativen Auswirkungen der Privati­sierung staatlicher Funktionen beschreibt Thomas Fatheuer in seiner Analyse der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro: Ganze Stadtviertel werden von Drogen­banden, Glücksspielkartellen und Todes­schwadronen kontrolliert. Das Problem ist hierbei, wie so oft, jedoch weniger die Aufgabe des staatlichen Gewaltmonopols – die Polizei wird von den BewohnerInnen der Favelas eher als Bedrohung denn als Schutz gesehen und ist zudem mit den Strukturen privater Gewalt “symbiotisch verwachsen” -, sondern ganz allgemein die Macht der Gewalt über die Gesell­schaft. Auch jenseits des Gewaltmonopols werden die staatlichen Aufgaben wie Bil­dungs- und Gesundheitssystem zuneh­mend privatisiert und von Drogen- und Glücksspielbossen übernommen. In der tiefgreifenden sozialen Krise bilden sich laut Fatheuer “neue Formen einer sich barbarisierenden gesellschaftlichen Ver­mittlung, die vielleicht, und das ist das Bestürzende, gar nicht so schlecht funk­tionieren.” Vor allem aber wirken sie sy­stemstabilisierend, begünstigen “autoritäre und faschistische Antworten” und er­schweren den Aufbau basisorientierter Alternativen innerhalb der Favelas.
Daß der Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung und der Abbau der staatlichen Regulierungsfunktionen auch Chancen bietet und die politische Organisierung der Betroffenen fördern kann, zeigt Juliana Ströbele-Gregor an­hand des Hoch- und Tieflands Boliviens. Der (Wieder-)Aufbau basisorientierter Entscheidungsstrukturen und Organisatio­nen der indianischen Landbevölkerung in den achtziger Jahren resultierte aus der Notwendigkeit, der Austeritätspolitik der bolivianischen Regierungen zu begegnen, wurde aber auch durch die neuen Frei­räume erleichtert, die der Rückzug von “Stiefvater Staat” schuf. Der unabhängige Organisierungsprozeß beförderte gleich­zeitig ein neues Selbstbewußtsein und die Besinnung auf die eigenständige kulturelle Identität und Tradition der indianischen Bevölkerung. Zwei Faktoren spielten in diesem Prozeß eine bedeutsame Rolle: die Führungspersönlichkeiten und die Nicht­regierungsorganisationen (NGOs). Hatten erstere als “soziale Grenzgänger” eine wichtige Funktion als “Mittler von Ideen, Werten, politischen Vorstellungen und Kontakten” nutzten die Basisorganisatio­nen die NGOs insbesondere zur Finanzie­rung notwendiger Projekte und Hilfsmaßnahmen. Dabei erwies sich die massive Ausbreitung der NGOs nicht nur als posi­tiv: mit der Macht des Geldes korrum­pierten sie Führungspersönlichkeiten und zerstörten gewachsene Dorfstrukturen.
Diese Ambivalenz der NGOs in ganz La­teinamerika diskutiert Albrecht Koschützke in seinem Artikel über “Die Lösung auf der Suche nach dem Problem: NGOs diesseits und jenseits des Staates”. Waren diese in den Jahren der Diktatur in vielen lateinamerikansichen Ländern oft dem antidiktatorialen Kampf verpflichtet und nicht selten ein Refugium für Oppo­sitionelle, veränderten sie sich mit dem Redemokratisierungsprozeß der frühen achtziger Jahre und übernahmen oft die Aufgaben, die der neoliberale Staat nicht mehr zu erfüllen bereit war – während der Staat “immer weniger Staat wird und sich qua Privatisierung schrittweise auf reine Vermittlerfunktionen reduziert, also ten­denziell einer NGO ähnlich wird”. Ohne die Bedeutung der NGOs, die seit den achtziger Jahren einen riesigen Boom er­leben, in vielen Teilbereichen in Frage zu stellen, kritisiert Koschützke die verbrei­tete Meinung, daß diese per se effizient, kostengünstig, uneigennützig, demokra­tisch und basisnah seien. In der Realität bilden sich durch den expandierenden Hil­femarkt vielmehr neue Abhängigkeiten. Zudem bestehe die Gefahr, daß die NGOs, statt demokratisches Bewußtsein, Erfah­rung und Organisierung zu fördern, in der Praxis insitutionelle und soziale Prozesse demokratischer Teilhabe untergraben.
Aus einer ganz anderen Perspektive unter­sucht Lothar Witte den Privatisierungs­prozeß der letzten Jahre: Anhand der Re­form der Sozialversicherung in Chile, Peru und Kolumbien macht Witte deut­lich, daß die Ausformung der notwendi­gen Veränderungen in hohem Maße von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhängt. Das “chilenische Modell”, das während der Diktatur realisiert wurde, trägt vor allem den Interessen des Privat­kapitals Rechnung. Die kolumbianische Reform berücksichtigt zumindest zum Teil auch die sozialen Interessen der ein­kommensschwachen Versicherten. Vor allem aber zeigt Witte – dem das Ver­dienst gebührt, ein so trockenes Thema wie eine Versicherungsreform anregend und anschaulich dargestellt zu haben -, daß weder ein staatliches System automa­tisch sozial gerechter, noch ein privates effizienter ist.
Hans Petter Buvollen und Robert Große zeichnen den schwierigen und wider­sprüchlichen Autonomieprozeß an der ni­caraguanischen Atlantikküste nach. Histo­risch von der Zentralregierung in Mana­gua kaum beachtet, begann erst die sandi­nistische Regierung Anfang der achtziger mit dem verstärkten Aufbau staatlicher In­stitutionen und Entwicklungsprogramme – und machte vieles falsch. Nachdem sich insbesondere die Miskito dem bewaffne­ten Widerstand gegen die Revolutionsre­gierung angeschlossen hatten, initiierte die FSLN einen Verhandlungsprozeß, der 1987 in die Verabschiedung eines Auto­nomiegesetzes mündete. Der Widerspruch zwischen den wirtschaftlichen und politi­schen Interessen der Zentralregierung und den BewohnerInnen der Atlantikküste, zwischen Staat und Gesellschaft, wurde allerdings bis heute nicht gelöst. Die At­lantikküste ist noch immer “Spielball von Kräften, die außerhalb der Region liegen”.
Den Schwerpunkt des Jahrbuchs be­schließt eine – bereits in den Lateiname­rika Nachrichten Nr. 241/242 vorabge­druckte – sehr persönliche Einschätzung von Ingrid Kummels über die Gleichzei­tigkeit von Sozialismus, Kapitalismus und Santería für die Menschen in Kuba. In Ge­sprächen mit FreundInnen und Familien­mitgliedern hat Kummels festgestellt, wie in den letzten Jahren der ökonomischen Krise die Santería für die Menschen zu ei­nem wichtigen Bezugspunkt ihrer All­tagskultur “jenseits des sozialistischen Staates” wurde. Auch die Regierung hat ihre rigide Haltung gegen diese Volksreli­gion in den achtziger Jahren gelockert: “Ihre Strategie war, die Musik und die Rituale der Santería durch ihre Folklori­sierung für den Tourismus zu nutzen und zugleich deren religiöse Bedeutungen auszuhöhlen.” Doch die AnhängerInnen der Santería entzogen sich auf ihre eigene Art dieser Funktionalisierung.
Insgesamt bietet der Schwerpunkt des diesjährigen Jahrbuchs einen interessanten Einblick in die Prozesse, die jenseits des (neoliberalen) Staates vor sich gehen. Er­freulicherweise werden nicht nur die ne­gativen Auswirkungen der neoliberalen Restrukturierung analysiert, sondern auch die Chancen berücksichtigt, die der Rück­zug des Staates bietet. Dies hätte aller­dings noch vertieft werden müssen: Wie in dem Beitrag von Juliana Ströbele-Gregor über die Bauernorganisationen in Bolivien deutlich wurde, sind die sozialen Bewegungen entscheidende Akteure, um der neoliberalen Transformation Wider­stand entgegenzusetzen. Auf sie wird al­lerdings kaum eingegangen. Hier hätte sich – ähnlich dem Beitrag über die NGOs – ein Überblick über die sozialen Bewe­gungen in Lateinamerika angeboten.
Abgerundet wird das Jahrbuch wie in je­dem Jahr durch Länderberichte: Diesmal über Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, El Salvador, Gua­temala, Kuba, Mexiko und Peru. Wer keine brandaktuellen Informationen er­wartet – Redaktionsschluß war bereits im April -, wird auch diese Berichte mit Ge­winn lesen.

Jenseits des Staates?. Lateinamerika – Analysen und Berichte 18, hrsg. von Dietmar Dirmoser u.a., Horlemann Verlag (Bad Honnef), 278 Sei­ten, 29,80 DM, ISBN 3-89502-008-7

Editorial Ausgabe 241/242 – Juli/August 1994

Nur eineinhalb Tage nach seiner Rück­kehr ins heimatliche kolumbianische Me­dellín war er tot: Andrés Escobar, Fuß­ball-Nationalspieler, Schütze des Ei­gentores zum 0:1 im Spiel gegen die USA, starb auf dem Weg ins Krankenhaus, von 12 Kugeln tödlich getroffen. Sein Treffer, unhaltbar für den eigenen Torhüter ins Netz gegrätscht, war wohl die Schlüssel­szene, an der Kolumbien im WM-Turnier zerbrach. Danach lief nichts mehr, Ko­lumbien verlor mit 1:2 und mußte trotz eines Erfolges gegen die Schweiz nach Hause fliegen.
Das hätten die Spieler besser nicht tun sollen. Denn schon vor dem Spiel gegen die USA hatten sowohl der Trainer Fran­cisco Maturana als auch der Mittelfeld­spieler Gabriel Jaime Gómez via Telefax Drohun­gen ins Hotel erhalten. Für den Fall, daß Gómez nicht durch Herman Gavi­ria er­setzt würde, wurden Bomben­attentate auf die Häu­ser ihrer Familien in Kolumbien angekündigt. Prompt spielte Gaviria, Gómez flog mit mulmigen Ge­fühlen nach Hause. Vielleicht hat ihm die Entschei­dung des Trainers das Leben gerettet.
Gewalt zieht sich indes wie ein roter Faden durch die Geschichte Kolumbiens. Hun­derttausend fielen dem Bürgerkrieg von 1899 bis 1903 zum Opfer. Zwei­hundert­tausend starben bei der violencia, dem zehnjährigen Bürgerkrieg von 1948 bis 1958. Seit den 60er Jahren herrscht Krieg zwischen dem Militär und ver­schiedenen Guerillabewegungen. In die Tau­sende ge­hen die Morde an Bauern und Gewerk­schafterInnen durch von Groß­grund­besit­zern angeheuerte Todes­schwadronen. In den letzten Jahren spielte sich die Mafia in den Vordergrund.

Gerade wird dem scheidenden Präsi­denten Gavi­ria, der sich auf seinen Amts­antritt als frisch gebacke­ner OAS-Vorsit­zender vor­bereitet, die Mitschuld an Men­schen­rechts­ver­let­zungen vorgeworfen, da gerät auch der neue Prä­sident Samper in den Verdacht einer direkten Verbindung zum Drogen­kartell von Cali. Niemand der herrschen­den Politikerkaste, so scheint es, ist frei von Verbindungen zur Krimi­na­li­tät.
Organisierte Kriminalität scheint auch den Hintergrund für das Attentat abzu­geben. So mehren sich die Zeichen, daß der Mord an Andrés Escobar eine gezielte Racheaktion des Medellíner Drogen­kartells ist. Dieses hat Unsummen an Wett­geldern auf einen Sieg der kolum­bia­ni­schen Na­tio­nal­mann­schaft bei der Welt­mei­ster­schaft ge­setzt. Das ver­fein­dete Kar­tell in Cali ob der günsti­gen Quoten da­gegen. Andrés Escobar war der Lieblingsspieler des Nationaltrainers Matu­rana. Ehemals Trainer von Nacional Medellín, war er nach einem Abstecher nach Europa, zum verfeindeten America Cali gewechselt und für das Medellín Kartell zum Verräter geworden. Ihm und dem Cali-Kar­tell war das Attentat laut Bekenneranrufen gewidmet.
Andrés Escobar also doch nur ein alltägliches Opfer der Drogenmafia, und nicht eines enttäuschten Fußball­fanatikers? Es wäre weit weniger spektakulär und nicht mehr als eine Nachricht wert, oder wer kennt schon Omar Canas, hoffnungsvolles Stürmer­talent, der 1993 seine öffentliche Kritik an der Drogenmafia mit dem Leben bezahlte.

Nichts als Ärger mit den Drogen

Die Entscheidung des Obersten Ver­fassungsgerichtes sei für die Entwick­lung Kolumbiens “schwerwiegend und höchst gefährlich”, malte Gaviria in ei­ner bei­spiellos scharfen Kritik den Teufel an die Wand. Orchestriert wurde der Präsident von einem viel­stimmigen Aufschrei der öffentlichen Meinung, der Kirche, der Präsident­schaftskandidaten, vieler Medien – bis hin zu kleinen Schulkindern, die an Protestdemonstrationen teilnahmen.
Inzwischen suchen Regierung und private Organisationen fieberhaft nach Wegen, die Entscheidung durch ge­setzliche Maß­nahmen oder eine Volks­befragung, die seit der Verfassungsre­form 1991 möglich ist, auszuhebeln.
Drogenkonsum – ein individuelles Grundrecht?
Das Oberste Verfassungsgericht be­gründet seine umstrittene Entschei­dung wie folgt: Der Staat habe in der Verfas­sung die persönliche Freiheit je­des einzel­nen seiner BürgerInnen ga­rantiert. Jedem sei es selbst überlassen, ob er seine Ge­sundheit und sein Leben durch den Kon­sum von Drogen ge­fährde. Das Verfas­sungsgericht stellt damit den Einzelnen mit seinen Be­dürfnissen und Entscheidungsmöglich­keiten über die Ge­sellschaft und ihre von der Mehrheit defi­nierten Interes­sen. In seiner Begründung erwähnt das Gericht unter anderem die wider­sprüchliche Praxis des Staates, den Konsum von Alkohol oder Zigaretten mit ihren erheblichen gesundheitlichen und sozialen Folgeschäden zu erlau­ben, und gleichzeitig den Konsum an­derer Drogen zu verbieten.
Schon Monate zuvor nahm der Kon­flikt zwischen Präsident Gaviria und dem ober­sten Ankläger heftige Di­mensionen an. Gustavo de Greiff hatte öffentlich erklärt, daß der bisherige Kampf gegen den Dro­genhandel ge­scheitert sei. Dabei berief er sich auch auf Aussagen führender US-Politike­rInnen und FunktionärInnen der dorti­gen Drogen-Bekämpfungs-Behörden. Als Konsequenz müsse über die Lega­lisierung von Drogen nachgedacht wer­den.
Gustavo de Greiff bezog sich dabei vor allem auf die Tatsache, daß Kolumbien in diesem Krieg Tausende von Opfern zu verzeichnen habe, während der stei­gende Konsum in den Industriestaaten dort von offizieller Seite nur halbherzig bekämpft werde. Man könne nicht den Anbaulän­dern die ganze Last des Kampfes aufbür­den.
Mit den Drogenbossen verhandeln?
Vor einigen Jahren wurde in Kolum­bien, ähnlich wie in den Vereinigten Staaten, eine Kronzeugenregelung für Kriminelle geschaffen. Nach dem Tod von Pablo Es­cobar, dem Chef des Me­dellín-Kartells, war zu erwarten, daß sich der Einsatz von Fahndungsbehör­den, Polizei und Militärs nun auf die Drogenbosse in Cali konzen­trieren würde. Daher hatten einige capos ihre Rechtsanwälte vorgeschickt, um mit der Staatsanwaltschaft über eine mög­liche “Übergabe” zu verhandeln.
In diesem Zusammenhang kam es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Gaviria und de Greiff, die sich beson­ders an der Höhe der Gefängnisstrafen und den Haftbedingungen der capos des Cali-Kartells entzündeten. Der Generalstaats­anwalt argumentierte un­ter anderem da­mit, daß häufig nicht ausreichend Beweise zur Verfügung stünden, um eine reguläre Verurteilung der Drogenhändler zu garan­tieren.
Als Gustavo de Greiff sich dann er­laubte, US-Kollegen mitzuteilen, daß gegen einen dort wegen eines Flug­zeuganschlags an­geklagten kolumbia­nischen Drogenhänd­ler in seinem Heimatland keine Beweise vorlägen und daher von seiner Seite nicht er­mittelt würde, kam es zum Eklat: Der US-Senator John F. Kerry titulierte Ko­lumbien als “Drogen-Demokratie”. Die dortige Staatsanwaltschaft sei von narcos unterwandert. Ähnlich äu­ßerte sich auch Janet Reno, die Ge­neralstaatsanwältin der Vereinigten Staa­ten. Die USA stellten daraufhin die Wei­tergabe von Beweismaterial gegen in Ko­lumbien angeklagte Drogen­händler ein.
Die heftigen Attacken aus dem Aus­land veranlaßten nun Gaviria, sich hinter sei­nen Generalstaatsanwalt zu stellen und ihn zu verteidigen – aller­dings nicht, ohne nochmals auf die Meinungsunterscheide hinzuweisen.
Die Kokain-Mafia als Wahlkampfsponsor?
Nachdem sich die Wogen ein bißchen ge­glättet hatten, ging am 21. Juni, zwei Tage nach der Präsidentschaftswahl, die nächste Tretmine hoch. Der Mit­schnitt eines Tele­fongespäches soll beweisen, daß sowohl der unterlegene konservative Kan­didat Andres Pastrana als auch der neuge­wählte liberale Präsident Ernesto Sam­per auf den Gehaltslisten der Drogen­bosse stehen.
Bewiesen ist bisher nichts. Fest steht nur, daß das internationale Ansehen Kolum­biens durch diesen Skandal weiter lädiert wird. Für das Land steht viel auf dem Spiel, insbesondere, was die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten angeht. So wäre es wirtschaft­lich ein herber Schlag, wenn Kolum­bien die wirtschaftliche Vorzugsbe­handlung verlöre, die den zoll­freien Export bestimmter Waren in die USA erlaubt. Eine Drohung, mit der die Vereinigten Staaten alle diejenigen Länder zur Räson zwingt, die – in ih­ren Augen – nicht genug im Kampf gegen die Drogen tun.

Pablo Escobars verwaiste Kindersoldaten

Der neunzehnjährige Chucho redet sehr angeregt über das Begräbnis von Pablo Escobar, dem Chef des Drogenimperiums von Medellín. El Patrón, wie Chucho ihn nennt, wurde am 3. Dezember 1993 von staatlichen Sicherheitskräften getötet. “Ich mußte es sehen, um es zu glauben”, sagt er. “Ich hätte nie gelglaubt, daß die Regie­rung in der Lage wäre, Pablo zu töten. Ich glaubte, dieser Mann sei unbesiegbar.”
Chucho war einer der 5.000 – überwie­gend jungen und armen – EinwohnerInnen von Medellín, die zu der Beerdigung des Drogenbosses kamen. Die aufgewühlte Menge der Trauernden zerbrach die Fen­ster der Beerdigungshalle und trug den Sarg von Escobar spontan auf ihren Schultern. Schließlich mußte die Armee eingreifen, um die Ordnung wiederherzu­stellen und die Beerdigung zu beenden.
Selbstverständlich waren die meisten Ko­lumbianerInnen über den Tod von Escobar erfreut. Sie sahen in ihm den gewalttäti­gen Protagonisten eines Jahrzehntes voller Drogenhandel, Terrorismus, Morde und politischer Attentate. Zum ersten Mal nach vielen Jahren fühlten sie den Tri­umph, den Staat wieder als ihren eigenen anzusehen. Es entstand die Hoffnung, daß sie endlich beginnen könnten, die lange Phase der Gewalt und des Leidens zu überwinden.
Chucho dagegen glaubt, daß alles beim alten bleiben wird. Wenn er dies bekräf­tigt, denkt er an sein eigenes Schicksal. “Schau Bruder”, sagt er, “Pablo starb, aber wir haben immer noch die gleiche Armut, die gleiche Arbeitslosigkeit, die gleichen korrupten Autoritäten. Welcher Weg soll uns also offen stehen?”
Der junge Mann lebt im nordöstlichen Di­strikt der Stadt Medellín, einem dicht be­siedelten Gebiet, das bis an steile Berg­hänge heranreicht. Dort schloß Chucho sich mit vierzehn Jahren einer Bande an. Wie bei den meisten aus der Gruppe be­gann mit einfachen Aktivitäten wie dem Transport von Waffen. Eines Tages wurde ihm während einer Aktion der Bande be­fohlen zu schießen.
Aus Chucho wurde ein sicario, ein be­zahlter Killer im Dienste der Drogen­händler. Obwohl er viel von dem Geld, was ihm zwischen die Finger geriet, ver­schwendete, vergaß er nicht das Verspre­chen, das er ablegte, als er sich entschloß, in die Welt der Kriminalität einzutreten: seiner Mutter ein Haus zu bauen.
Von ihrem Ehemann verlassen, arbeitet Chuchos Mutter als Hausangestellte für eine wohlhabende Familie. Obwohl sie Angst hat, daß ihr Sohn wie so viele sei­ner Freunde einen tragischen frühen Tod stirbt, ist sie dankbar, daß er ihr ein Dach überm Kopf verschafft hat. “Armut ist besser als das Risiko des Todes”, sagt sie Chucho, und hakt die Namen all seiner Freunde ab, die ein gewalttätiges Ende ge­funden haben. Chucho zuckt nur mit den Schultern und wiederholt den gleichen Satz: “Nur Gott weiß, wann du sterben sollst”.
Von Hungerleidern
zu Kanonenfutter
Die ersten mit dem Kartell verbündeten Jugendgangs entstanden Ende der siebzi­ger Jahre. Für die Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Drogenbanden wurden Heranwachsende aus den Armen­vierteln als sicarios rekrutiert. Spä­ter, als der Staat versuchte, diese Banden unter Kontrolle zu bringen, begannen die glei­chen Jungen Polizisten und Richter zu er­morden. 1983 feuerte ein Sechzehnjäh­riger die Maschinengewehrkugel ab, die den Justizminister Rodrigo Lara Bonilla tötete. Präsident Belisario Betancur setzte unverzüglich einen Auslieferungsvertrag mit den Vereinigten Staaten in Kraft, nach dem Drogenhändler schärfer verfolgt wer­den. So begann eine Schlacht, bei der die jungen sicarios in der vordersten Frontli­nie der Drogenkartelle standen.
Morde an hohen Staatsvertretern bildeten die Höhepunkte der Beteiligung junger Berufskiller an diesem Krieg. Viele von ihnen haben Ähnlichkeiten mit Chucho: Sie stammen aus Armenvierteln, wurden von ihren Eltern fallengelassen, besuchten nicht regelmäßig die Schule, waren ar­beitslos. Junge Männer mit ähnlichen so­zialen Profilen ermordeten Zeitungsverle­ger, linke Politiker und staatliche Funktio­näre.
Eine der für die KolumbianerInnen er­schreckendsten Episoden war der Mord an Carlos Pizarro León Gómez, dem Prä­sidentschaftskandidaten der M-19. Die frühere Guerilla hatte sich gerade als Par­tei formiert und angefangen, sich am par­lamentarischen System zu beteiligen. Am 26. April 1990 bestieg Pizarro in Bogotá ein Linienflugzeug, um in den Nordosten des Landes zu fliegen. Wenige Minuten nach dem Start zog ein junger Passagier eine Schußwaffe, richtete sie auf den Kandidaten und tötete ihn. Pizarros Leib­wächter erwiderten das Feuer und töteten den Mörder.
Nach diesem Vorfall bezeichneten die Medien diese jungen Killer als kamikazes. Die jungen Männer führ­ten ihre Aktionen auf eine so überra­schende und furchtlose Weise durch, daß es für die Regierung quasi unmöglich wurde, die Sicherheit von Personen zu ga­rantieren. Gepanzerte Fahrzeuge und Leibwächter wurden Teil des alltäglichen Lebens im Lande.
Drogenhandel und Brutalisierung des Alltags
Zu Beginn der siebziger Jahre begann der Drogenhandel, sich in Medellín und der umliegenden Region auszubreiten. Die Zahl der Jugendbanden wurde Mitte die­ses Jahrzehnts von der Polizei auf 200 Gruppen mit ca. 5.000 Mitgliedern ge­schätzt. Die meisten davon hatten nichts mit den Drogenhändlern zu tun, aber alle versuchten, deren Stil zu imitieren. Schon bald wurden die Jugendgangs in die bluti­gen territorialen Auseinandersetzungen verwickelt, die sich in den Armenvierteln Medellíns abspielten. Während der acht­ziger Jahre stieg in der Stadt die Zahl der Morde drastisch an. 1980 starben in Me­dellín 730 Personen eines gewalttätigen Todes. 1985 war Mord mit 1.684 Opfern zur Haupttodesursache geworden. 1990 wurden in der 1,7 Millionen Einwohner-Stadt 5.500 Morde registiert.
Was veranlaßte viele Jungen zu solch selbstmörderischem Verhalten? Warum beteiligten sich sicarios an Aktionen, bei denen sie wahrscheinlich sterben wür­den? Das Problem liegt selbstverständlich nicht nur bei diesen jungen Delinquenten, son­dern auch in der Gesellschaft, die diese hervorbringt. Bevor Jugendkriminalität sich so weit verbreitete, hatten sich in Kolumbien viele dramatische Verände­rungen vollzogen. Die Banden entstanden in Gegenden, die von massiver Landflucht geprägt sind und während der siebziger Jahre vom Staat fast vollständig vergessen worden waren. Die BewohnerInnen wur­den in die “informelle” Welt verbannt – eine Welt, in der bürgerliche Rechte und Pflichten kaum existierten. Die Söhne die­ser MigrantInnen wuchsen am äußersten Rand der Legalität auf. Sie wurden als BürgerInnen zweiter Klasse behandelt, mit denen von staatlicher Seite aus ledig­lich die Polizei zu tun hatte. Als die Be­völkerung sich selbst organisiserte, um gegen ihre Lebensbedingungen zu prote­stieren, antwortete das politische System mit Kriminalisierung und Unterdrückung und verschloß die legalen Kanäle politi­scher Beteiligung. Die Migrantenfamilien verblieben unter der Kontrolle der kor­rupten traditionellen liberalen und konser­vativen Parteien. Gleichzeitig zersetzten sich ihre traditionellen Formen des Zu­sammenhalts.
Als in diesen Gemeinden Mitte der siebzi­ger Jahre eine verstärkte Kriminalität zu verzeichnen war, bestand die Antwort an­derer gesellschaftlicher Bereiche und der staatlichen Sicherheitsorgane in Ausrot­tungskommandos zur sogenannnten “sozialen Säuberung”. Anstatt sich um die Resozialisierung der jungen Leute zu be­mühen, wurden viele in den Straßen und Außenbezirken der Städte einfach nieder­geschossen. Nach Berichten der General­staatsanwaltschaft beteiligten sich auch Mitglieder der Streitkräfte an diesen To­desschwadronen. Auf diese Weise be­gann der Staat seine grundlegendsten öf­fentlichen Funktionen zu verlieren: die Verteidigung der BürgerInnen, die Schlichtung von Konflikten und die Ver­waltung der Justiz.
Narcos als Jugendidole
Der Tod wurde zur Routine – zunächst für Staat und Gesellschaft, dann für die Grup­pen von Jugendlichen, die in diesem Kreuzfeuer aufwuchsen, inmitten der Gleichgültigkeit gegenüber den Leichen auf den Straßen. Die jungen sicarios wur­den in eine Welt hineingeboren in der keine verbindlichen Prinzipien existierten, die ihnen gegenseitigen Respekt und Achtung vor dem Leben selbst hätten vermitteln können. Hinzu kamen die viel­fältigen Einflüsse neuer sozialer Akteure wie etwa der Drogenhändler, die brutale Gewalt und die Liebe zum Luxus zur Grundlage sozialer Beziehungen machten. Die Jugendgangs waren das Resultat nicht nur einer sozialen und wirtschaftlichen Krise, sondern auch einer Legitimitäts­krise der sozialen Institutionen. Die Ak­tionen dieser jungen Leute stellten die Be­deutung von Leben und Tod in Frage. Wir reden von einer Generation, die ihre Stärke in einem Bereich fand, wo sämtli­che Grenzen aufgelöst waren.
Pablo Escobar selbst stieg durch brachiale Gewalt zum Chef des Medellín-Kartells auf. Während eines Jahrzehntes erlangten sein Leben und seine Aktivitäten mythi­sche Dimensionen. Für die armen Leute wurde er zum Idol, zum Symbol der Re­bellion gegen das Establishment. Unter seiner Führung brachten sogenannte “Büros” die Aktivitäten der Jugendgangs unter den Einfluß des Medellín-Kartells. Es handelte sich hierbei um Tarnfirmen in Form von Autowerkstätten oder Immobi­lienbüros, wo Männer des Kartells die Bosse der städtischen Jugendbanden für sich rekrutierten. Nach wie vor kontrollie­ren diese Anführer den Stadtteil, in dem sie leben. Ihre Macht ist so groß, daß kein Krimineller ohne ihr Einverständnis ope­rieren kann.
Die meisten Gangs identifizieren sich mit den Namen ihrer Anführer: Nachos Bande, Crazy Uribes Bande etcetera. Der Boß hält die Bande zusammen und agiert mit absoluter Autorität. Er entscheidet über Fragen von Leben und Tod. Logi­scherweise ist er großzügig mit seinen loyalen Anhängern und und unerbittlich gegenüber denen, die ihn betrügen oder sich gegen ihn stellen.
Die meisten Jugendlichen in der “Armee” der Drogenhändler sterben in einem der vielen Kriege, für die sie rekrutiert worden sind. Einigen ist es gelungen, eine gewisse Machtstellung zu erreichen, selbst zu We­stentaschen-Capos zu werden und einen gewissen Wohlstand anzuhäufen.
Die Bande als Ersatzfamilie
Während der achtziger Jahre stieg die Kriminalitätsrate bei den Jungen zwischen 12 und 18 Jahren. Dies hat mehrere Gründe: Die traditionellen Institutionen, die für die Vermittlung zwischen dem In­dividuum und der sozialen Ordnung ver­antwortlich waren, hatten ihre Wirkung verloren. Bei der Entstehung von Lebens­stilen spielten jetzt neue Akteure eine ent­scheidene Rolle. Blutrachen wurden im­mer häufiger, ebenso die Aktionen pa­ramilitärischer Gruppen, Guerillas und Gruppen zur “sozialen Säuberung”. Die Gesellschaft begann, sich aufzulösen.
Weder in der Schule noch in der Familie oder in der Kirche fanden sich moralische, soziale oder kulturelle Vorbilder, die die neuen städtischen Generationen anspra­chen. Die Banden wurden zum alternati­ven Sozialisationsmittel. Sie wurden zu dem Weg, auf dem sich viele junge Leute in die symbolische und “normative” Welt einfügten.
Gleichzeitig machte die Familie in allen gesellschaftlichen Schichten eine grundle­gende Krise durch. Bei den armen Leuten kamen noch besondere Faktoren hinzu. So erziehen immer mehr Frauen ihre Kinder alleine. Gleichzeitig sind immer mehr von ihnen berufstätig. Alkoholismus und Dro­genabhängigkeit, der Mangel an Verant­wortungsbewußtsein bei den Vätern und die hohe Arbeitslosenrate tragen dazu bei, daß der Vater aus vielen Haushalten ver­schwunden ist.
Hinzu kommt eine wachsende Gewalt ge­gen Frauen und Kinder. Statistiken des Kolumbianischen Instituts für Familien­wohlfahrt zufolge hat es seit 1980 in je­dem Jahr einen Anstieg der registrierten Fälle von Kindesmißbrauch gegeben. Das Institut schätzt, daß es pro Jahr zwischen 50.000 und 100.000 Fälle von körperlicher und seelischer Mißhandlung oder sexuel­lem Mißbrauch im Lande gibt. Allein in der ersten Hälfte des Jahres 1986 wurden in den verschiedenen Sozialstationen in Medellín 7.500 Fälle von Gewalt gegen Minderjährige behandelt. Im größten Krankenhaus der Stadt wurden in diesem Jahr 3.073 Kinder wegen Verletzungen behandelt, 74 davon hatten Schußwunden. Die Statistiken beleuchten die Auswir­kungen von Gewalt auf Kinder und die Ef­fekte eines autoritären und intoleranten Familienmodells.
In vielen Familien mangelt es nicht nur an Liebe, sondern auch an positiven Model­len von Autorität. Dies ist besonders of­fenkundig, wenn der Vater seiner Rolle in der Familie nicht gerecht wird. Wenn sich ein Junge einer Bande anschließt, findet er in dem Anführer eine Identifikationsper­son, wie er sie in der Familie nicht hatte. Die Mütter verhalten sich gegenüber ihren delinquenten Söhnen oft zwiespältig. Oft mißbilligen sie zwar das, was ihre Kinder tun. Gleichzeitig beschützen sie sie und halten bis zum Ende zu ihnen. Wenn es den Kindern gelingt, einen höheren Le­bensstandard zu erreichen, erhöht sich der Toleranzlevel.
Pablo Escobar – ein verkannter Wohltäter?
Die Jugendgangs werden zum Ausdruck der Subkultur der Drogendealer, wo Ideale und Helden gefunden werden können. Entsprechend werden narcos, in eini­gen Regionen auch sicarios, ideali­siert. Dazu gehört in manchen Fällen auch das Image als “Wohltäter” der Gesell­schaft. Pablo Escobar wurde zum Beispiel zum gleichen Zeitpunkt, als er vom Staat und den Me­dien geächtet wurde, von vielen, insbe­sondere armen Kolumbianer­Innen my­thologisiert. Sie hielten ihn für einen guten und mächtigen Mann, dem die traditionell Herrschenden im Lande unfai­rerweise al­les Übel anhängen wollten.
In einer Umfrage, die letztes Jahr in den Schulen des nordöstlichen Distriktes durchgeführt wurde, wurden Schüler ge­fragt, wen sie für die wichtigste Person des Landes hielten. 21 Prozent der Be­fragten nannten Pablo Escobar, 19,6 Pro­zent den Präsidenten César Gaviria, 12,6 Prozent René Higuita, den Torwart der Nationalmannschaft. Von allen befragten Kindern hatten 56,5 Prozent eine positive Meinung über Escobar.
In weiten Kreisen der Gesellschaft hält sich immer noch die Einstellung, daß Es­cobar eigentlich Gutes bewirken wollte. Der Krieg der Regierung habe ihn ge­zwungen, Dinge gegen seinen Willen zu tun. In geringerem Ausmaß werden auch die mittleren capos und die sicarios aus den Vierteln als Wohl­täter angesehen – als Verteidiger des Wohlstandes der Gemein­schaften.
Die Jungen aus den Hüttenstädten wach­sen mit dem Bedürfnis auf, intensiv zu le­ben, ihren eigenen Willen durchzusetzen, zu sagen: “So sind wir: Wir existieren!”. Die Gewaltausübung ist zu einem Weg geworden, die Gesellschaft zur Anerken­nung ihrer Existenz zu zwingen. In den Banden haben sie etwas gefunden, was die Gesellschaft nicht bieten kann: Freunde und Verbündete, mit denen sie grundle­gende Lebensbereiche teilen. Es gibt keine Unterordnung unter eine äußere Autorität. Dies verleiht den Banden eine große Por­tion Vitalität.
Die größeren Gangs haben ein System von Codes und Beziehungen, auf denen ihr Zusammenhalt beruht. Hier werden Auto­ritätsbeziehungen mit Loyalität und Soli­darität kombiniert. Innerhalb einer Sub­kultur werden Verbrechen und Gewalt nicht notwendigerweise als illegitim ange­sehen. Die Subkultur bezieht die Jugendli­chen in ein Wertesystem ein, daß sich bei weitem von den formalen Maßstäben der Gesellschaft unterscheidet. Die Bande funktioniert als eine isolierte Umgebung, in welcher die Mitglieder von Angriffen auf ihre Selbstachtung geschützt sind. Den Jungen fehlen die gesellschaftlichen Kon­zeptionen von “gut” und “schlecht”. Viele werden zu Delinquenten, ohne sich selbst als “anders” anzusehen. Sie haben ihr ei­genes positives Selbstbild.
Die Jungen werden Linie von der Aussicht auf Abwechslung, Vergnügen und Aben­teuer wie von einem Magneten angezo­gen. In dieser maskulinen Welt werden Status und Führerschaft durch Tapferkeit und Machtausübung bestimmt. Dies bein­haltet das Wissen über den Gebrauch von Waffen. Alle kolumbianischen Bandenan­führer sind perfekte Schützen und wissen, wie man glatt und effizient vorgeht.
Wenn wir Städte wie Caracas und Rio de Janeiro betrachten, finden wir eine ähnli­che Situation wie in Medellín. Dort haben größere Drogendealer Armeen von Her­anwachsenden aufgestellt, um ihr Territo­rium in den Armenvierteln zu sichern. Sie benutzen diese Jugendlichen als Kanonen­futter in ihren Konfrontationen unterein­ander und mit staatlichen Autoritäten. Wenn die narcos nicht so immense Ge­winnspannen hätten, wäre es praktisch unmöglich, so viele Heranwachsende zu rekutieren und modernste Waffen zu be­schaffen.
Der staatliche Drogenkrieg – ein Schuß nach hinten
Nach dem Mord am liberalen Präsident­schaftskandidaten Luís Carlos Galán star­tete die Regierung 1990 eine frontale At­tacke gegen das Medellín-Kartell. Die Si­cherheitskräfte begannen mit Angriffen auf die Jugendbanden, die sie für die Re­servearmee der Drogenhändler hielten. Diese Offensive fand ohne den geringsten Respekt für Menschenrechte statt. Sie be­diente sich derselben Logik wie der Krieg zur Aufstandsbekämpfung: Ganze Ge­meinden wurden zu Feinden der Gesell­schaft erklärt. Heranwachsender in einem Armenviertel zu sein bedeutete, als sicario klassifiziert zu werden. Die staatliche Of­fensive, bei der Tausende von Menschen illegal verhaftet wurden, ver­stärkte die Abneigung gegen die Sicher­heitsorgane und den Staat.
In diesem Sinne war die Strategie ein Schuß nach hinten. Viele junge Leute identifizierten sich mit den Drogenhänd­lern und radikalisierten sich gegen die Re­gierung. Zu spät wurden sich die nationa­len und regionalen Regierungen darüber bewußt, daß die Anwendung von coun­terinsurgency-Methoden ein Fehler war, und gingen weniger brachial vor.
Nach wie vor sind weder eine grund­legende Umstrukturierung des Justiz- und Polizeisystems noch eine substantielle Umverteilung des Wohlstandes zu erwar­ten. Trotzdem gibt es einige “soziale Ak­tions-Programme” zur Resozialisierung von Jugendlichen, die zu begrenzter Hoff­nung Anlaß geben. Einige öffentliche und private Organisationen bieten mittlerweile Beschäftigungsprogramme an.
Die Jugendbande als Mittel zur Resozialisierung?
Gleichzeitig wird versucht, Mechanismen zu entwickeln, mit denen der negative Charakter der Banden unter Berücksichti­gung ihrer Gruppenstrukturen verändert werden kann. Letzteres bedeutet, mit dem gesellschaftlichen und persönlichen Selbstbild der Jungen zu arbeiten. Von der Erkenntnis ausgehend, daß in der Gewalt­ausübung ein Bedürfnis liegt, sich selbst zu erkennen und auszudrücken, versuchen die Resozialisierungsprojekte, neue For­men der gesellschaftlichen Darstellung zu finden, die für diese Jungen von Bedeu­tung sind.
Einige dieser Vorgehensweisen sind offen politisch. Durch die Bemühungen um eine lokale Entwicklung sind aus einigen Jun­gen, die vorher gefürchtete Kriminelle wa­ren, herausragende kommunale Führer geworden. Gruppen, die sich vorher bis aufs Messer bekämpften, haben Friedens­abkommen unterzeichnet und sich zu­sammengetan, um für soziale Entwick­lungsprogramme auf kommunaler Ebene zu kämpfen.
Medellín vollzieht heute eine Anzahl in­teressanter Versuche, sich als Gesellschaft neuzukonstituieren. Dies geschieht jedoch im vollen Bewußtsein, daß jede Lösung für eine so tiefgreifende Krise eine lange Entwicklung erfordert.
Pablo Escobar ist gestorben. Dies bedeutet allerdings nicht das Ende des Drogenhan­dels. Jeder weiß, daß sich, solange der Markt für Drogen weiter wächst, immer wieder neue Organisationen bilden wer­den, um von diesem lukrativen Geschäft zu profitieren. Die Indudtriestaaten ver­langen von den Anbauländern, diesen Krieg fortzusetzen, obwohl wir alle wis­sen, daß dieser hart und nutzlos ist. Die Logik des illegalen Drogenmarktes ist un­erbittlich. Jungen aus Medellín wie Chucho hat der Drogenhandel für ihr Le­ben geprägt. Er brachte ihnen den Traum vom Reichtum und die Realität des Todes. Zunächst wurde es normal, Zeuge des Tötens und Sterbens zu sein, dann, selbst zu töten und zu sterben.
Gewalt wurde zu einem Mittel, mit dem traditionell ausgegrenzte Gruppen von Ju­gendlichen die Anerkennung des Staates und der “anderen” Gesellschaft suchten. Mit ihrem abweichenden Verhalten stell­ten die jungen Bandenmitglieder die so­ziale Ordnung, die auf Diskriminierung beruhte, grundlegend in Frage. Die Ge­walt ermöglichte es der “vergessenen Stadt”, auf der Landkarte des öffentlichen Bewußtseins zu erscheinen. Sie brachte soziale und wirtschaftliche Ungleichheit stärker ans Licht. Das Drama der Ärmsten wurde publik. Jugendgewalt veranlaßte den Staat, der die Armenviertel jahrelang der Polizei überlassen hatte, über seine Legitimität und sein Verhältnis zu deren BürgerInnen nachzudenken.

Der Autor ist kolumbianischer Journalist und Sozialarbeiter; Verfasser des Buches “Born to die in Medellín”, Latin American Bureau, 1990; deutsch: “Totgeboren in Me­dellín”, Wuppertal: Peter Hammer Verlag 1991, 174 S., 16,80 DM

Vorwärts, aber nicht vergessen!

Der Polyp und die Demokratie in Guatemala
Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sich Guatemala endlich von der häßlichen Diktatur Jorge Ubicos befreit, der als der “Napoleon der Tropen” in die Geschichte eingehen wollte. Seine wichtigste Tat hatte 1936 darin bestanden, die einseitigen Verträge mit der US-amerikanischen Ba­nanengesellschaft United Fruit Company für weitere 45 Jahre zu verlängern. Diese Gesellschaft, “El Pulpo” – der Polyp – ge­nannt, hatte zehn Prozent der Böden des Landes unter seine Kontrolle gebracht, ei­gene Straßen, Eisenbahnen, Telephon­netze und Hafenanlagen aufgebaut, brauchte keine Steuern zu zahlen und keine Gewerkschaften zu fürchten.
Die guatemaltekischen Demokraten, die das Erbe Ubicos antraten, wollten das Land ganz sachte und vorsichtig aus sei­nem halb feudalen, halb kolonialen Zu­stand in die Neuzeit führen und zimmerten dafür erst mal eine liberale Verfassung, die einige eher zaghafte Reformen erlau­ben sollte. Der erste Präsident, der Uni­versitätsprofessor Juan José Arévalo, baute Schulen und setzte durch, daß auch die United Fruit Company Gewerkschaf­ten und das Streikrecht anerkennen mußte. Schon das war dem Polypen zuviel. Umso heftiger war die Reaktion, als Arévalo – ganz im Rahmen der Verfassung – nach sechs Jahren das Amt an seinen demokra­tisch gewählten Nachfolger Jacobo Ar­benz abgab. Arbenz war Sohn eines Schweizer Apothekers und als Hauptmann der Armee maßgeblich am Sturz Ubicos beteiligt gewesen. 1952 verkündete er eine äußerst bescheidene Landreform, wie sie auch in der Verfassung vorgesehen war: Die Kaffeeplantagen der während des Weltkrieges ausgewiesenen Deutschen wurden verstaatlicht, und brachliegender Grundbesitz – auch von der United Fruit – wurde an landlose Indios verteilt. Natür­lich wurde Entschädigung gezahlt, aber nur gemäß dem Buchwert, den die ent­eigneten Unternehmen dem guatemalteki­schen Fiskus für die betroffenen Lände­reien selbst gemeldet hatten. Für die Uni­ted Fruit ergab das eine Summe von 600.000 Dollar, was US-Präsident Eisen­hower “traurig unangemessen” fand.
Eisenhower kannte sich gut aus, weil er sich mit Leuten umgeben hatte, die in den Diensten des Polypen gestanden hatten oder noch standen oder gar selbst beteiligt waren. Außenminister John Foster Dulles hatte 1936 als Mitglied des New Yorker Anwaltsbüros Sullivan und Cromwell die Verträge mit Ubico selbst ausgehandelt. Sein Bruder Allen Dulles war Chef des Geheimdienstes CIA. John Moors Cabot, Staatssekretär für interamerikanische An­gelegenheiten, war ein Bruder des Präsi­denten der United Fruit. Henry Cabot Lodge, Botschafter bei den Vereinten Na­tionen, war Großaktionär des Unterneh­mens. Anne Whitman, Privatsekretärin von Eisenhower, war mit dem Leiter der Public-Relations-Abteilung von United Fruit verheiratet. Eisenhower und Dulles kannten sich also aus und forderten das Fünfundzwanzigfache an Entschädigung.
1954: Das Ende der Hoffnung
Präsident Arbenz wollte mit seiner Landreform etwas mehr gemäßigten Ka­pitalismus nach Guatemala bringen, aber das bringt ihm nun den Vorwurf des Kommunismus ein.
Die kleine Kommunistische Partei unter­stützt ihn, und er muß sich bei der wach­senden Opposition der konservativen Oligarchie auf alle Kräfte stützen, die ihm helfen. Während CIA, United Fruit und die Reaktionäre Guatemalas längst die In­vasion planen, wird Arbenz selbst be­schuldigt, die Nachbarländer zu bedrohen: “Die Krakenarme des Kreml sind unüber­sehbar”, warnt John Moors Cabot aus dem Weißen Haus in Washington.
Am Fronleichnamstag 1954 hat Oberst Castillo Armas, an der US-Generalstabs­akademie geschult, mit der Unterstützung von CIA-Offizieren in Honduras genü­gend Kräfte beisammen, um mit etwa 1000 Söldnern, Flugzeugen und Torpedo­booten das schlecht gerüstete und kaum verteidigte Land zu überfallen und in zehn Tagen zu erobern. Vorwand war die Nachricht, daß der schwedische Frachter “Afhelm” im Hafen Puerto Barrios 2000 Tonnen Waffen und Munition aus den tschechischen Skoda-Werken gelöscht hatte.
Diktatoren wie Somoza von Nicaragua, Pérez Jiménez von Venezuela, Rojas Pi­nilla von Kolumbien oder Trujillo von der Dominikanischen Republik preisen bese­ligt den Sieg der Demokratie in Gua­temala. Der Erzbischof von Guatemala, Mariano Rossell Arellano, feiert den Sieg über den “gott- und vaterlandsfeindlichen Kommunismus”.
Jacobo Arbenz muß in der mexikanischen Botschaft um Asyl nachsuchen. Ein junger argentinischer Medizinstudent verbringt diese Tage in Guatemala und versucht, trotz heftiger Asthma-Anfälle, an der Or­ganisation des Widerstands teilzunehmen: Ernesto Guevara, der Che. Er hat diese Er­fahrung nie vergessen: die Macht des Im­periums, den Einfluß des Großunterneh­mens, den Verrat der Oberschicht, den Kleinmut der offiziellen Armee und die Ohnmacht der Indios, die nun wieder ent­eignet wurden.
Demokratische Reformen waren offenbar auf friedliche Weise nicht durchzusetzen, diese Lehre hatten CIA und United Fruit den lateinamerikanischen Reformern er­teilt. Der Che und Fidel Castro haben es dann in Kuba auf andere Weise versucht

Beny Moré – “Der Barbar des Rhytmus”

Seine Boleros tragen die Schwermut tropischer Abende oder die Melancholie der bleiernden Herbsttage Havannas. Seine Stimme dabei ist wie das Rauschen von Brandung, von Palmenblättern ( – “como arullo de palma”) oder wie die Brise eines Ventilators; manchmal auch wie das Klagen der stürmischen Karibik, unterstützt von seufzenden, oft sogar gellenden und schmetternden Metallbläsern. Seine Sones, Guajiras und Mambos haben den Geschmack von Tabak und Rum, aber von Rauch und Besäufnis in Spielhöllen und Tanzhallen der großen Stadt. Das unterscheidet Moré von Matamoros, Portabales oder Celina González, den musikalisch schollenverbundenen Soneros der guateques campesinos, die den Sonnenaufgang in Oriente besingen oder das vom Mondlicht silbern gezeichnete Tal, die Machete des Zuckerrohrschneiders oder die kleine weiße Hand, die zum Abschied aus dem bohío winkt. Beny Moré tauscht gewissermaßen die Bauernhütte aus Stroh gegen eine Suite im Hotel Nacional, als er in Havanna ein Engagement als Sänger bei Miguel Matamoros bekommt. (Matamoros führt den kubanischen Bolero später als Folklore in New York auf, obwohl dort kubanische Musik, wie auch die Fusion des “Cubop” von Gillezpie und Bauzá, nicht sehr geschätzt und gehandelt wird, weil sie schwarz ist). Aber spätestens in Mexiko (dort ist kubanische Musik beliebter) erkennt Moré als erfinderisches Talent, daß Matamoros seine klassischen Son- und Bolero-Arrangements niemals ändern will; der Sänger löst sich von der Gruppe und wird, noch in Mexiko, durch die Begegnung und künstlerische Zusammenarbeit mit Dámaso Pérez Prado und seinem Orchester “amerikanisiert” – ohne jedoch selbst jemals seine Cubanía in die USA zu bringen (wie Mario Bauzá und Chano Pozo). Der Ruhm einiger Lieder in den USA (die tanzbaren Fast-Step-Nummern wie “Mambo Nr. 5”) bleibt später allein dem Mambo-Erfinder und “König” Pérez Prado vorbehalten, mit seinen quirligen Klaviereinlagen, der donnernden Perkussion und den schrillen Bläsersätzen. Moré, nur der “Prinz” des Mambo, verleiht der Big Band von Pérez Prado vorerst seine Stimme und das exotische Kolorit der Afrocubanía: Guaguancó-Schritte und Hahnenschreie als wichtiger Bestandteil der musikalischen Dramaturgie einer Mambo-Orchester-Show. Dadurch ist der Sänger in Mexiko (hier sogar als Schauspieler), Panama, Kolumbien oder Venezuela bekannter als in Kuba selbst, jedenfalls bis 1950, dem Jahr seiner Rückkehr, oder vielleicht bis 1951, als Moré im Fernsehkanal “Oriental” auftreten kann und sich das Publikum mit seiner vieltönigen Stimme, seinen spontanen, aber rhytmisch scheinbar ausgeklügelten Ausrufen und seinen schnellen Tanzschritten erobert: Die alten Sextette aus Oriente erreichten ihren Durchbruch mit dem Radio und der aufkommenden Plattenindustrie, aber Beny Moré wird durch das Fernsehen als neuem Medium populär und entwickelt sich zum Showmaster des Son. Beny Moré behält sein afrikanisches Erbe (der Nachname geht auf versklavte Vorfahren der Mutter zurück), respektiert die musikalische Tradition der alten Provinz Oriente (Sones und Guajiras), und setzt eigene Innovationen, aber auch den Einfluß amerikanischer Big Bands hinzu (“Beny Moré y su Banda Gigante”). Beny Moré ist bárbaro im doppelten Sinne: Sowohl als Meister des Rhytmus und der Erneuerung (also des Mambo) wie auch als Bauer/guajiro aus Oriente, der keine Noten lesen kann und schon mit zwölf Jahren die Schule verlassen muß, um Zuckerrohr zu schneiden. Verschieden sind deshalb auch die Plattencover, für die er posiert: einmal singend unter Bananenstauden mit Gitarre und Strohhut, neben Schaufel, Machete und einer linden guajira; dann in einem offenen amerikanischen Zweisitzer am städtischen Malecón, mit Congas und Gitarre, Anzug, Fliege und (wieder) Strohhut. Das gelbe Nummernschild des Automobils trägt die Aufschrift “Particular”, und das heißt, Beny Moré ist, anders als viele berühmte kubanische Musiker, nach der Revolution im Land geblieben, obwohl die meisten Musiklokale geschlossen wurden (Che Guevara hatte eine bekannte Abneigung gegen die garitos und bevorzugte humanistische Lektüre), aber Beny Moré läßt sich von Kuba inspirieren und ein Kubaner, coño, gehört nun mal nach Kuba. In den Boleros von Moré liegt, wie gesagt, alle tropische Schwermut oder die der Tanzhallen ab 4 a.m.; in seinen Sones und Mambos liegt die Bewegung der Tanzenden eher als die der Feldarbeiter, seine Musik riecht nach Tabak und Rum, doch weniger nach Anbau und Ernte als nach Verbrauch und Genuß. Beny Moré stirbt an Rum und Tabak und Kuba (wie Chano Pozo, paradise lost, an den Drogen New Yorks), aber mit der Tragik und Sinnlichkeit seiner Boleros, unerwartet, im Jahr 1963. In Havanna, New York und anderswo huldigt man ihm wie einem orisha der Santería; Tito Puente erhält einen Grammy (den einzigen für die entstehende Salsa) ausgerechnet für seine musikalische “Hommage an Beny Moré”, und Celia Cruz sieht zum Himmel auf und singt (begleitet von Pacheco): Beny Moré – en gloria esté!

Lateinamerika im Fußballfieber

Kolumbien – auf leisen Sohlen zum Titel?

Die Vorstellung mit Kolumbien zu begin­nen, rührt aus der schlichten Tatsache, daß die Kolumbianer als einzige Mannschaft die Qualifikation ungeschlagen überstan­den. Zu zwei Siegen über Peru und zwei Unentschieden gegen Paraguay gesellten sich zwei Siege gegen den Topfavoriten und Südamerikameister Argentinien. Nach dem 2:1 Heimsieg gelang den Kolumbia­nern im Rückspiel in Buenos Aires Histo­risches. Mit 5:0 wurde Argentinien die höchste Heimniederlage in seiner Ge­schichte verpaßt. Kurz nach Schlußpfiff füllten sich in Kolumbien landesweit die Straßen mit fünf Finger zeigenden, enthu­siastisch feiernden AnhängerInnen. Über­schäumende Begeisterung mit tödlichen Folgen für Dutzende. Gewalt als Begleit­erscheinung des Massenspektakels Fußball ist leider auch in Kolumbien an der Tagesordnung.
Dem hohen Stellenwert des Fußballs im allgemeinen und dieses Triumphes über Argentinien im besonderen, trug auch Prä­sident Gaviria Rechnung. Alle Spieler und der Trainer wurden mit dem höchsten Or­den des Landes dekoriert. In Kolumbien träumen viele vom Titel, auch die Fußball­fachwelt traut den Supertechnikern den Coup zu. Unbestritten der populärste und schillerndste Fußballer des Landes ist der Kapitän und Mittelfeldregisseur Carlos Alberto Valderrama. Nach einer Kniever­letzung Ende Februar bangte eine ganze Nation um seine Teilnahme. Tausende von Kerzen wurden angezündet, tausende von Gebeten gesprochen. Unerwartet schnell wurde “El Pibe” (der Kleine) wie­der fit und die Träume vom Titel erhielten mit seinem Comeback neue Nahrung.

Der Kopf Kolumbiens: “El Pibe” – “Ich liebe das Leben in seiner ganzen Buntheit”

Schon äußerlich fällt Carlos Valderrama mit seinem blonden Afro-Look aus dem Rahmen. So eigenwillig wie seine Haar­tracht, die er als Ausdruck seiner Lebens­freude beschreibt, so eigenwillig zeigt er sich auf dem Spielfeld. Der Ball als Spiel­zeug und nicht als schnöder Arbeitsgegen­stand. Dieser Spielauffassung zu Folge “streichelt” Valderrama erst ausgiebig den Ball, bevor er ihn zu einem Mitspieler weiterpaßt. All dies mit ausgefeilter Tech­nik, die den ÄsthetInnen unter den FußballanhängerInnen das Herz höher schla­gen läßt. Brillant seine Spielübersicht, die exakten Pässe, die nahezu Ausgang jedes Angriffes seiner Mannschaft sind. Als Kopf von seinen Mitspielern unum­schränkt anerkannt, wird er als Anspiel­station permanent gesucht und meist auch gefunden. Zumindest so lange die Kondi­tion von “El Pibe” reicht. Laufen war vor allem zu Beginn seiner Karriere nicht sein Ding. “Ich bin keiner, der anderen hinter­herrennt. Ich muß das Spiel machen und Tore schießen, sonst nichts.” Im reifen Alter von knapp 33 Jahren hat er sich scheints doch noch besonnen. Bei der “Copa America” (Südamerika­meister­schaft) im letzten Jahr zeigte er neben den ge­wohnten techni­schen Kabinettstückchen auch unge­wohnten kämpferischen Einsatz. Der dem Nationaltrainer Francisco Matu­rana vor Jahren zugeschriebene Satz: “Ein Län­der­spiel ohne Carlos ist wie ein Tag ohne Sonne”, gewinnt so gesehen zusätz­liche Berechtigung. Die Wertschätzung ist in­des nicht auf Kolumbien beschränkt. Sowohl 1987, als Valderrama bei der “Copa America” erstmals international in Erscheinung trat, als auch 1993 wurde er zum südamerikanischen Fußballer des Jah­res gewählt.

Europäische Effizienz und lateinamerikanisches Genie

In Europa gehen die Meinungen bezüglich Valderrama auseinander. Bei den deut­schen Fans ist er durch seine Schauspiel­einlage im WM-Spiel 1990 gegen die deutsche Elf unrühmlich in Erinnerung geblieben. Mehrere Minuten lang spielte er den “toten Mann”, ließ sich mit der Bahre vom Platz tragen, um Sekunden später, wie von Geisterhand genesen, wie­der quicklebendig auf dem Platz aufzutau­chen und zu allem Überfluß mit einem genialen Paß das kolumbianische Aus­gleichstor vorzubereiten.
Als erster Kolumbianer suchte Valder­rama 1988 das lukrative Legionärsdasein in Europa. Seine Leistungen während der drei Jahre im französischen Montpellier und dem halbjährigen Aufenthalt im spa­nischen Valladolid waren aber eher durchwachsen. Seine lateinamerikanische Spielauffassung vertrug sich nicht recht mit europäischem Effizienzdenken. Rich­tig glänzen konnte Valderrama nur bei seinen Auftritten im Nationaltrikot. Folg­lich kehrte er 1992 nach Kolumbien zu­rück. Seit 93 spielt er nun in Barranquila, unweit entfernt von seiner Geburtsstadt Santa Marta an der kolumbianischen Ka­ribikküste. Mit dem dortigen Klub Atlé­tico Junior wurde er erstmals in seiner Laufbahn kolumbianischer Meister. Viel­leicht doch von europäischem Effizienz­denken beeinflußt oder etwa nur ein Aspekt des Lebens in seiner ganzen Bunt­heit?

Mexiko – Heimvorteil im Gringoland

An der Qualifikation zur letzten WM durfte Mexiko nicht teilnehmen. Der Grund: Bei einer Junioren-WM hatte Me­xiko diverse ältere Spieler mit getunten Pässen eingesetzt. Nachdem die Verfeh­lung ruchbar wurde, folgte die empfindli­che Strafe durch den Weltfußballverband (FIFA) auf dem Fuß. Nach achtjähriger WM-Abstinenz war die Freude nun um so größer, daß Mexiko seiner Favoritenrolle in der Nord- und Mittelamerika-Ausschei­dung gerecht wurde und somit neben dem automatisch qualifizierten Veranstalter­land USA als einziges Land diese Region vertritt. Die Spiele der mexikanischen Mannschaft werden wohl die stimmung­vollsten der WM werden – zumindest, was die Atmosphäre auf den Rängen betrifft. Hauptspielort für Mexiko ist Washington. Die riesige mexikanische Gemeinde in den USA wird zu Tausenden in die Hauptstadt pilgern.
Zwei Niederlagen in der Qualifikation in Costa Rica und El Salvador konnte das mexikanische Team verkraften, da der Hauptkonkurrent Kanada zweimal ge­schlagen wurde. In zwölf Spielen nur acht Gegentore. Nicht zuletzt ein Verdienst des Ausnahmetorwarts Jorge Campos, der als populärster Spieler dem in Spanien spie­lenden Hugo Sanchez den Rang abgelau­fen hat.

Der komplette Spieler:Campos – “Ich liebe grelle Farben und verrückte Kleider­kombinationen”

Der jetzige US- und ehemalige mexikani­sche Nationaltrainer Bora Milutinovic hält ihn für den kompletten Spieler der letzten hundert Jahre. Einfach deshalb, weil Jorge Campos auf den zwei gegensätzlichsten Positionen, die es im Fußball gibt, zumin­dest nationale Spitzenklasse darstellt. Sowohl in der Nationalmannschaft, als auch vor allem im Verein, spielt er je nach Lage Torwart oder Mittelstürmer, mitunter gar in einem Spiel. Den Höhepunkt seiner Doppelrolle zelebrierte er 1992 bei einem Erstligaspiel. Zuerst vom Tor in den Sturm gewechselt, sorgte er für den Aus­gleich, um kurz vor Ende der Partie bei einem Elfmeter für die gegnerische Mannnschaft ins Tor zurückzukehren und mit seiner Abwehrparade das Unentschie­den zu sichern. “Das Ganze ist keine in­szenierte Show von mir. Ich kann mich einfach nicht entscheiden, ob ich nur Tore verhindern oder nur Tore schießen soll.” Aber Entscheidungen über die Aufstellung trifft im Fußball ja gemeinhin der Trainer, womit Campos aus seinem Dilemma be­freit wäre. Seinem Spieltrieb gibt Campos mit Billigung seiner Trainer auch als Tor­wart nach. Da sowohl die mexikanische Nationalmannschaft als auch seine Ver­einsmannschaft UNAM Mexiko ohne letzten Mann (Libero) spielen, bekleidet Campos diese Position ersatzweise.
Seine für einen Torhüter geringe Größe von 175 cm gleicht er mit einem enormen Sprungvermögen aus. Entwickelt hat er diese Sprungkraft nach eigenen Angaben beim Fußballspiel am Strand seiner Hei­matstadt Acapulco. Andere Berichte kol­portieren indessen, daß er seiner Tätigkeit als Hühnerfänger auf der großväterlichen Farm einen Gutteil seiner Fangtechnik und Sprungkraft verdankt.

Kleider machen Leute

Seine Position als Torwart verleiht ihm alle Freiheiten bei der Kleiderwahl. Haben Feldspieler ob des einheitlichen Trikots nur geringen Spielraum, mit ihrer Kluft auf sich aufmerksam zu machen, so sind der Phantasie des Torhüters keine Gren­zen gesetzt. Kein Torhüter nützt dies so weidlich aus, wie Jorge Campos. “Das meiste Geld gebe ich für meine ausgefal­lenen Torhüterausrüstungen aus, ich liebe grelle Farben und verrückte Kleiderkom­binationen.” Wenn er auch verrückte Kleiderkombinationen bevorzugt, verrückt ist er keineswegs, sondern mit einer guten Portion Realitätssinn ausgestattet. Nach Europa will er auf keinen Fall wechseln. Er befürchtet wohl zu Recht, daß er mit seinem Stil im nüchternen Europa nicht ankommen würde.

Bolivien – Höhenflug in dünner Andenluft

Bolivien hatte nun wahrlich bei der Pro­gnose der WM-Teilnehmer niemand auf der Rechnung. Während ihrer zweier WM-Teilnahmen 1930 und 1950 gelang ihnen weder Punkt noch Tor. Einer der “Fußballzwerge” schlechthin. Die Fuß­ballgrößen Brasilien und Uruguay galten vor Beginn der Qualifikation als haushohe Favoriten, Ecuador als Außenseiter und Bolivien als Punktelieferant. Aber es kam ganz anders. Seine Heimspiele trägt Boli­vien auf 3800m Höhe in La Paz aus. Folglich geht den gegnerischen Mann­schaften in La Paz im wahrsten Sinne des Wortes gegen Ende des Spiels die Luft aus. Dies ist nicht neu, doch noch nie schlug Bolivien soviel Kapital daraus wie diesmal. Brasilien mußte in den letzen drei Minuten zwei Gegentore hinnehmen und verlor 0:2. Uruguay bekam in den letzten zehn Minuten gar drei Eier ins Nest gelegt und verlor 1:3. Daß Bolivien in Brasilien mit 0:6 unter die Räder kam, konnte verschmerzt werden. Der zweite Platz hinter Brasilien blieb dank der impo­santen Heimbilanz gewahrt. Die erste WM-Teilnahme seit 44 Jahren war ge­schafft. Der Verkehr brach zusammen. Nicht nur in La Paz, auch in den Exil­gemeinden Washington-Georgetown, Bu­enos Aires, Santiago und Lima.
Sechs aktuelle Nationalspieler entstam­men der berühmten Academia Tahuichi Aguilera (Fußballnachwuchsschule) in Santa Cruz, die 1978 vom jetzigen Staats­sekretär für Sport Rolando Aguilera ge­gründet wurde. Auch der Stürmerstar Marco Antonio Etcheverry erlernte dort sein fußballerisches Rüstzeug.

“El diabolo”: Ein teuflischer Dribbler

Seine Ausbildung an der Tahuichi-Aka­demie verdankt Marco Etcheverry der Antidrogen-Organisation “Seamos”. “Sea­mos” kam für den Monatsbeitrag von 16 DM auf, da dieser die finanziellen Mög­lichkeiten seiner Eltern überstieg. Mit 17 Jahren unterschrieb “El diabolo” (der Teufel) seinen ersten Profivertrag bei Bo­livar La Paz. Mit 21 Jahren feierte er 1991 sein Debüt in der Nationalmannschaft. Im gleichen Jahr glänzte er mit spektakulären Dribblings bei der “Copa America” (Südamerikameisterschaft) so sehr, daß er ins All-Star-Team der besten 11 Spieler des Turniers gewählt wurde. Der Weg ins lukrative Europa war geebnet. Der spani­sche Erstligist Albacete sicherte sich flugs die Dienste des umworbenen Stürmers. Doch alles Geld konnte das überhand­nehmende Heimweh nicht kompensieren. Etcheverry wurde mehr in Kneipen als auf dem Trainigsplatz gesehen. Nach einem halben Jahr brach “El diabolo” seine Zelte im europäischen “Paradies” wieder ab, um nach La Paz zu seinem Stammverein Bo­livar zurückzukehren. Die in Bolivien für einen Fußballprofi kärglichen Verdienst­möglichkeiten von im Schnitt 1700 DM, ließen ihn aber nach einem Jahr das chile­nische “Exil” bei Colo Colo Santiago su­chen. Mit diesem Club wurde er 1993 auf Anhieb Meister, wenngleich eine schwere Knieverletzung im November sein Mit­wirken in der Schlußphase der Meister­schaft verhinderte. Bei der WM soll er aber wieder fit sein und kann somit im Er­öffnungsspiel dem deutschen Team die Hölle heiß machen.

Argentinien

Bei den letzten zwei Weltmeisterschaften jeweils Endspielgegner der deutschen Mannschaft, war der Weltmeister von 1978 und 1986 und amtierende Südamerika­meister (1993) natürlich Top­favorit in seiner Gruppe. Doch Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. Das unterentwickelte Kolumbien könne in Ar­gentinien doch gar nicht gewinnen, soll Diego Maradona vor dem Rückspiel in Buenos Aires geäußert haben. Mit dem schon erwähnten 5:0 Sensationssieg gaben die Kolumbianer auf dem Spielfeld eine deutliche Antwort. Das ruhmreiche Ar­gentinien mußte so eine interkontinentale Zusatzqualifikation gegen Australien be­streiten, um das Ticket für die USA zu er­halten. Mit diesen beiden Spielen kehrte auch Argentiniens bester Fußballer aller Zeiten, Diego Armando Maradona nach dreijähriger Abstinenz wieder ins Natio­nalteam zurück. Trotz mangelhafter Fit­ness trug Maradona mit seiner Vorlage zum 1:1 in Australien und beim knappen 1:0 in Buenos Aires mit seinem Mythos entscheidend zur Qualifikation bei. Wenn auch im Moment ohne Verein und von seiner Höchstform weit entfernt, hofft Ar­gentinien, daß Maradona auch bei der WM mit Genieblitzen die Mannschaft führen und inspirieren kann.

“Dieguito”: “Fußballgott” und “Kokain­sünder” – der Mythos Maradona

Neben dem Brasilianer Pelé gilt er als weltbester Spieler aller Zeiten. Schlag­zeilen produziert er im Privatleben ebenso ausgiebig wie auf dem Spielfeld. Seine Größe als Fußballer ist ebenso unumstrit­ten, wie seine Persönlichkeit umstritten. Politisch zeichnet sich Maradona durch wechselnde Positionen aus. Einst Verehrer von Menem, schenkte er als Zeichen sei­ner Wertschätzung unlängst dem máximo líder Fidel Castro sein Trikot. Bei den kürzlichen Kommunalwahlen in Argenti­nien sprach er sich für das Mitte-Links­Bündnis Frente Grande aus.

Teures Wunderkind

Seine von zahlreichen Rekorden und Er­folgen gekrönte Profikarriere begann Diego Armando Maradona schon zehn Tage vor seinem 16. Geburtstag als Ein­wechselspieler der Argentinos Juniors Bu­enos Aires. Vier Monate später feierte das Supertalent als jüngster Nationalspieler des Landes aller Zeiten seinen Einstand in der Nationalmannschaft. Mit 21 Jahren wechselte er für die damalige Rekordablö­sesumme von ca. 20 Millionen DM zum spanischen Club FC Barcelona; 1984, mit 23 Jahren, für die neue Rekordablöse­summe von ca. 24 Millionen DM an den Vesuv zum SSC Neapel. Größere sportli­che Erfolge hatte “Dieguito” bis dato überhaupt noch nicht errungen. Allein sein Ruf als weltbester Fußballspieler ließ die Ablösesumme in ungeahnte Höhen schnellen. Mit der Zeit in Neapel (84 bis 91) ist der Aufstieg zum verehrten “Fußballgott” wie auch der Fall zum “Kokainsünder” verbunden.

Eine Stadt und ihr Spieler – die Symbiose

Schon zu seiner Vorstellung pilgerten 80.000 ZuschauerInnen ins Stadion San Paolo. Maradona, einer, der den Aufstieg geschafft hat, als Symbol der Hoffnung für die Armen. “Bienvenuti a Italia” – so wurde das Afrika zugeordnete Neapel in Genua oder Mailand hämisch empfangen. Maradona als Symbol eines neuen Selbst­bewußtseins gegenüber den reichen Städ­ten des Nordens.
Maradona gab die Sympathien, die ihm in Neapel entgegenschlugen, zurück. Auf dem Spielfeld ließ er mit seinen Tricks Alltagssorgen verblassen. Privat lud er des öfteren Kinder für ein Wochenende in seine Prunkvilla ein. Wenn überhaupt, dann wurde in Argentinien der Gewinn der Weltmeisterschaft 1986 enthusiasti­scher gefeiert als in Neapel. Auch Neapel war Weltmeister geworden, schließlich war es ihr “Dieguito”, der als überragen­der Spieler dem Turnier seinen Stempel aufgedrückt hatte. Unsterblich machte sich Maradona im Jahr darauf. Der Begriff scudetto (italienischer Meistertitel) war aus dem neapolitanischen Vokabular ent­fernt worden, schien doch ein Fluch auf ihm zu lasten oder wie anders konnte er­klärt werden, daß Neapel noch nie Meister geworden war. Maradona, der Magier, lö­ste auch diesen Fluch. Meisterschaft und Pokal in einem Jahr. Maradona war auf dem Höhepunkt seines Ruhms angekom­men. Eine ganze Stadt lag “Dieguito” zu Füßen, umarmte ihn – und hätte ihn fast erdrückt.

Maradona auf der Flucht – die Tragik

Maradona, der sich anfangs in seiner un­antastbaren, gottähnlichen Rolle gefiel, wurde es zuviel. “Ich fühle mich wie ein Gefangener” äußerte er 1989. Er wollte weg, obwohl der sportliche Erfolg immer noch gegeben war. 1990 wurde die Mei­sterschaft ein zweites Mal errungen. Maradona gehen lassen, Neapel ohne Gott und Hoffnung? Wie sollte ein Präsident das verantworten? Maradona im Käfig. Im Februar 91 wurde Maradona mit ersten Drogenvorwürfen konfrontiert. Im März wurde es amtlich. Nach einem Ligaspiel wurde ihm der Kokaingenuß nachgewie­sen. Er habe zu den Drogen gegriffen, um dem Rummel um seine Person zu entflie­hen. Er floh weiter. Zunächst vor der ita­lienischen Justiz nach Argentinien. Dort wiederum in die Drogen. Nach seiner Festnahme wegen Drogenbesitz bewahrte ihn nur sein Name und die Bereitschaft, sich einer Entziehungskur zu unterziehen, vor einer Haftstrafe. Seine Karriere schien beendet.
Nach Ablauf seiner 15monatigen Spiel­sperre wegen Dopings wollte er seine Kar­riere bei Boca Juniors Buenos Aires fort­setzen. Neapel gab seinen Sohn preis – für 11,3 Millionen DM. Nie war er so billig und dennoch für Boca zu teuer. So hieß der glückliche Erwerber Sevilla. Mit Ma­radona setzte ein Zuschauerboom ein. Der Mythos Maradona hatte an Zugkraft nichts eingebüßt. Glücklich wurde Diego in Sevilla jedoch nicht. Die Eskapaden häuften sich. Im Sommer 93 hatte Mara­dona sein Ziel erreicht. Er wurde entlassen und kehrte nach Argentinien zurück. Sein neuer Club hieß Newell’s Old Boys aus Rosario – bis zum 1. Februar. “Maradonas Vertrag mit unserem Klub ist beendet, weil Diego psychisch nicht in der Lage ist, mit Anstand und Würde in einer ihm ge­mäßen Art zu spielen.” Mit diesen Worten beendete der Vereinspräsident die Zu­sammenarbeit mit dem enfant terrible. Die WM ist Maradonas neuer Fluchtpunkt. “Die Argentinier können beruhigt sein. Ich werde bei der WM dabei sein und in den USA wie um mein Leben spielen” ließ er kurz nach seiner Entlassung verlauten. Wohin sein Weg oder seine Flucht danach führen wird, ist noch offen. Der Mythos lebt weiter. Nur so ist zu erklären, daß dem bald 34jährigen Maradona auch für die Zeit nach der WM schon wieder An­gebote vorliegen. Darunter eins vom SSC Neapel.

Brasilien

Brasilien ist das einzige Land der Welt, das an allen 14 Weltmeisterschaften teil­genommen hat. Brasilien ist das einzige Land, das auf einem fremden Kontinent Weltmeister wurde (1958 in Schweden). Die glorreiche Zeit des dreifachen Welt­meisters liegt indessen weit zurück. Seit 24 Jahren kein Weltmeistertitel mehr. Dennoch gilt Brasilien immer noch als In­begriff für Fußballkunst und Fußballzau­ber. Wenngleich auch die Kolumbianer inzwischen als “die letzten Brasilianer” tituliert werden, gilt Brasilien wie immer als einer der Topfavoriten auf den Titel. Daran ändert auch die erstmals in einer Qualifikation erlittene Niederlage gegen Bolivien nichts. Gruppensieger wurden die Brasilianer trotzdem. Im letzten und entscheidenden Spiel gegen Uruguay be­rief der Nationaltrainer Parreira nach neunmonatiger Verbannung den Stürmer­star Romário wieder ins Aufgebot. Dieser bedankte sich mit zwei Toren. Unbestrit­ten als Torjäger, ist er innerhalb der Mannschaft ob seiner Starallüren jedoch ständiger Unruheherd.

Heirat im Strafraum: Romário: “Training ist Kalorienverschwendung”

“Ich wollte schon seit frühester Jugend immer ganz vorne spielen und Tore schie­ßen.” Romário hat sein Vorhaben ein­drucksvoll umgesetzt. Von 89 bis 91 wurde er dreimal in Folge holländischer Torschützenkönig. Auch in seiner ersten Saison beim FC Barcelona wurde er die­ses Jahr souveräner Schützenkönig. In Eu­ropa zog er als Torschützenkönig bei den Olympischen Spielen 1988 erste Auf­merksamkeit auf sich. Sein darauffolgen­der Wechsel zum Philips-Sport-Verein (PSV) Eindhoven sorgte durch die unge­wöhnliche Finanzierungsart für Schlag­zeilen. Philips hatte von der brasiliani­schen Zentralbank mit einem Abschlag Schuldentitel in Höhe von 2,8 Millionen US-Dollar aufgekauft, der Verein Romá­rios (Vasco da Gama) erhielt im Gegen­zug von der Zentralbank Cruzados zum Tageswert von 3,91 Millionen US-Dollar (siehe LN 176). Zum ersten Mal wurde so ein Fußballspieler zum Zwecke staatlicher Schuldentilgung verwendet.

Der launische Strafraumkönig

Der Strafraum ist Romários Lebensfeld. Nicht nur, daß er seine Tore fast aus­schließlich aus kurzer Distanz im selbigen erzielt, nein selbst geheiratet hat er in ihm. Zu seiner Trauung wurde eigens ein Altar auf dem Elfmeterpunkt eines Fußballplat­zes aufgebaut. Launisch zeigt er sich auch bei der Wohnungssuche in Barcelona. Nach knapp einem Jahr wohnt er immer noch in einem Luxushotel, weil er sich für kein Appartement entscheiden kann. Mal hat’s keinen Meeresblick, mal ist’s zu klein, mal ist’s zu weit vom Trainingsplatz entfernt. Ansonsten mißt er dem Training eher weniger Bedeutung bei. Training sei “Kalorienverschwendung” ließ er einmal verlauten. Dementsprechend häufig blieb er ihm fern. Tore schießen läßt sich nun­mal nicht trainieren. “Ich glaube, daß ich mit diesem Talent auf die Welt gekommen bin”, äußerte er sich zu seinen Torjäger­qualitäten. An Selbstvertrauen mangelt es Romário wirklich nicht. Dem brasiliani­schen Nationalheiligen Pelé unterstellte er kürzlich sogar in aller Öffentlichkeit “Schwachsinnigkeit” und “Museums­reife”. Seinen Stürmerkollegen in der Na­tio­nalmannschaft, Muller, kriti­sierte er hef­tig und kündigte an, daß er nicht mit ihm zusammenspielen wolle. Pelé rea­gierte gelassen: “Manchmal sagt man in Eu­ropa eine Sache und sie wird in einer anderen Art und Weise in Südame­rika be­richtet”. Er bezeichnete sich sogar als Fan Romários und erwartet ihn als einen der Super­stars bei der WM. Die Mitspieler des Torjägers reagierten gar nicht. Der Grund: Nationaltrainer Parreira verhängte ei­nen “Maulkorberlaß”. Keiner darf sich in der Öffentlichkeit negativ über den Hoff­nungsträger der Nation äußern. Vor neun Monaten noch hatte Romários For­derung nach einem Stammplatz zu sei­ner Ver­bannung geführt. Jetzt hält ganz Bra­silien in der Hoffnung still, daß Romá­rio Bra­silien zum Weltmeistertitel schießt. Wehe Romário, wenn er nicht trifft.

Niederlage im Frieden

Regierungsbeteiligung als Knackpunkt

Für Rafael Vergara Navarro, gescheiterter Kandidat der Partei für den Senat, beginnt der Abstieg der AD-M19 bereits unmittel­bar nach den Wahlen vor vier Jahren: Sündenfall war seiner Ansicht nach der Eintritt von Antonio Navarro Wolff als Gesundheitsminister in die Regierung des liberalen Präsidenten Gaviria.
In das gleiche Horn stößt auch Jorge Child, Ökonomie-Professor und ständiger Kolumnist der angesehenen Tageszeitung El Espectador, der der Kommunistischen Partei Kolumbiens nahesteht. Mit dem Eintritt in die Regierung sei die AD-M19 sozusagen mit fliegenden Fahnen zum Gegner übergelaufen. Ein anderer Kom­mentator bezichtigt Navarro Wolff gar des Betruges, weil er sich von den traditio­nellen Kräften habe vereinnahmen lassen und seine persönlichen Interessen über die der Bewegung und der Hoffnungen der WählerInnen gestellt habe.
Die AD-M19 hatte im Mai 1990 rund 700.000 Stimmen auf sich vereinigen können. Die Beteiligung an der Regierung hat nach der Auffassung von Jorge Child die Wäh­lerInnnen der AD-M19 ent­täuscht. Sie hätten die AD-M19 gewählt, weil sie mit ihrem sozialen Profil anders als die tradi­tionellen Parteien zu sein ver­sprach, die vor allem auf die Besetzung von Posten und Ämtern in Regierung und Verwaltun­gen erpicht sind. Die Altpar­teien, die Li­berale und die Konservative Partei, teilten sich seit Jahrzehnten die Macht im Land, und so waren Cliquen­wirtschaft und Kor­ruption die Regel.
In der damaligen politischen Situation gab es aber wohl keine Alternative zur Regie­rungsbeteiligung. Die AD-M19 hatte die Waffen niedergelegt, um in dem seit Jahr­zehnten polarisierten Land einen Friedens­prozeß einzuleiten. In diesem Sinne, so die Interpretation von Eduardo Chávez, bis zum Ende der Legislaturperiode Se­nator der AD-M19, “war die Partei in der Verpfichtung, den Frieden zu konsolidie­ren und zu beweisen, daß friedliches Zu­sammenleben möglich ist.” Er selbst er­hielt – aus der Guerilla in seine Heimat­stadt Cali zurückgekehrt – mehrere Mo­nate lang täglich mehrfach Mord­drohungen. Die Partei wollte bewei­sen, daß auch andere Kräfte das Land re­gieren können. Die Regierungsbeteiligung war Suche nach Konsens, nach einer “gei­sti­gen Entwaffnung” des Landes im Inte­resse des Friedens.

Fehlendes Profil

Ex-Gesundheitsminister Antonio Navarro Wolff kennt den Vorwurf der Korrumpie­rung durch den Ministerposten und des damit verbundenen Glaubwürdigkeits­ver­lustes seiner Partei sehr genau. Von sich aus kommt er als erstes auf diese Vor­würfe zu sprechen. Er verweist auf die Wahlergebnisse: In seiner Zeit als Mini­ster seien die Stimmen für die Partei von 700.000 im Mai auf rund 1 Million bei den Wahlen im Herbst 1990 zur Verfas­sungsgebenden Versammlung gesteigert worden. Offenkundig sei das Ansehen der Partei in dieser Zeit gewachsen. “Dies hatte mit der praktischen Politik als Ge­sundheitsminister zu tun.”
Als Hauptproblem der Partei in den letz­ten eineinhalb Jahren der Opposition macht Navarro Wolff dagegen den Man­gel an einem klaren Profil aus: “Das Pro­blem ist nicht, ob wir in der Regierung sind oder in der Opposition. Entscheidend ist, daß wir den Unterschied erfahrbar ma­chen. Wenn man sich in der Regierung nicht von den anderen unterscheiden kann, muß man raus.” Unnütz sei eben aber auch eine inaktive Opposition.
Den letzten Punkt kritisiert auch Jorge Child. Er verweist auf das Projekt der So­zialversicherung (mit Renten- und Kran­kenversicherung für einen großen und wachsenden Teil der Bevölkerung), das in den letzten zwei Jahren ein zentraler Ge­genstand der öffentlichen und parlamenta­rischen Debatte war. “In dieser sehr wich­tigen Debatte war die Position der AD-M19 wenig klar. Weder die Senatoren noch die Mitglieder des Repräsentanten­hauses haben sich daran beteiligt. In diesem Moment haben sie sehr viel Glaubwürdigkeit verloren.”
Den Vorwurf mangelnder aktiver Beteili­gung gerade an diesem wichtigen sozial­politischen Projekt weist die Senatorin Vera Grabe, eine der bekanntesten und populärsten Persönlichkeiten der AD-M19, entschieden zurück.
“Wir haben nur eine andere Position als die traditionelle Linke. Wir haben nie, auch nicht als Guerilla, nur Opposition gemacht und kritisiert, sondern immer Lö­sungsvorschläge unterbreitet. Selbst die konservativen Parteien und viele Leute erkennen an, daß das Gesetz zur Sozial­versicherung schlechter wäre, hätten wir nicht mit Vorschlägen und Lösungen kon­struktiv daran mitgearbeitet.”

Viele Listen, wenig Stimmen

Die Aufsplitterung in zu viele Listen gilt übereinstimmend als eine Ursache des Wahldesasters. Die Ex-Guerilleros konn­ten insgesamt mehr als 150.000 Stimmen auf sich vereinigen (unter Berücksichti­gung einiger Einzelkandidaturen sogar noch 100.000 mehr). Andere Listen ge­wannen mit 30.000 Stimmen einen siche­ren Platz im Senat. Aber: Die Allianza war mit 13 verschiedenen Listen im gan­zen Land angetreten. Das Debakel war programmiert. Was den großen Altpar­teien – mit ihrer Vielfalt von Richtungen und Flügeln, regionalen Patriarchen und Gruppen – genützt hatte, hat der AD-M19 das Genick gebrochen. Vera Grabe: “Was wir als eine Vielfalt geplant hatten, haben die Leute als Uneinigkeit interpretiert.”
Mit einer einzigen Liste angetreten, hätte die AD-M19 bis zu 5 Senatssitze gewin­nen können. Die Wahlschlappe wäre nicht so verheerend gewesen. Zu erklären blie­ben jedoch auch dann die deutlichen Stim­menverluste von 700.000 auf 150.000.

Zu viel persönlicher Ehrgeiz…

Die Vielzahl der Listen hat mit einer Aus­einandersetzung in der Partei zu tun, die an frühere Konflikte bei den Grünen in der BRD erinnert. Es gab ein schriftliches Versprechen der AD-M19 SenatorInnen, nicht wieder zu kandi­dieren, sofern sie nicht ausdrücklich von der Partei zur er­neuten Kandidatur auf­gefordert würden. Zu viele der einmal Gewählten fanden das Leben als Abgeordnete aber wohl zu in­teressant und kandidierten erneut. Ob mensch sich da halt versprochen hatte? Oder war es schlicht Existenzangst? Denn was macht ein Ex-Guerillero in einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung sich den Le­bensunterhalt im informellen Sektor ver­dienen muß.

…und zu wenig Disziplin

Die Solidarität, die in der Gruppe zur Zeit der Guerilla vorhanden war, hat sich im Kongress aufgelöst und ist einem weitver­breiteten Individualismus gewichen. Im Krieg war mensch noch aufeinander an­gewiesen, im Frieden nicht mehr. Antonio Navarro Wolff sagt, es habe keine Diszi­plin bei den ParlamentarierInnen ge­herrscht. “Im Parlament gab es keine Lei­tung und keine einheitliche öffentliche Selbstdarstellung.” Dies habe dem Anse­hen der Partei sehr geschadet. Vera Grabe hält einen solchen Prozeß der Individuali­sierung innerhalb der Führungsruppe, den sie als Entwicklung einer gewissen Viel­falt bezeichnet, allerdings für unvermeid­lich. Konsequenz der vielen Jahre in der Guerilla, in der ausschließlich das Prinzip der totalen Gemeinsamkeit habe herrschen müssen.
Laut Navarro Wolff war es auch nicht möglich, eine von den ParlamentarierIn­nen unabhängige Parteistruktur aufzu­bauen. Unter anderem deshalb nicht, weil sie, die für kolumbianische Verhältnisse sehr hohe Einkommen haben, nicht bereit waren, Gelder für die Parteiarbeit zu Ver­fügung zu stellen.
Eduardo Chávez, ehemaliger Senator der AD-M19, sieht eine zu starke Konzentra­tion auf die Arbeit im Parlament. “Wir ha­ben die Dynamik des alltäglichen Kampfes der Bürger vernachlässigt. Das hat eine Art Isolierung zwischen der Füh­rung und dem normalen Bürger geschaf­fen, der von der Führung erwartet hatte, sie werde sich mehr um ihre alltäglichen Aktivitäten und Sorgen kümmern.”
Dabei scheint es inhaltlich weiterhin viele gemeinsame Positionen zu geben. Die Partei kritisiert die neoliberalen Wirt­schaftskonzepte, die einseitige wirtschaft­liche Öffnung des Landes von einem Tag auf den anderen durch die (neo)liberale Regierung Gaviria. Diese plötzliche Öff­nung für Importe hat die einheimische In­dustrie und Landwirtschaft einem Wett­bewerb ausgesetzt, der ihr schwer zu schaffen macht.
Gemeinsam tritt die AD-M19 für die Fort­setzung des Friedensprozesses mit der Guerilla ein. Ebenso stehen soziale Ent­wicklung, die Bewahrung der genetischen Vielfalt von Pflanzen und Tieren und umweltverträgliches Wirtschaften auf der Tagesordnung.

Die Liberalen – die großen Sieger

Die Liberalen sind nach den Wahlen vom März 1994 stärkste Fraktion und beherr­schen den Kongreß. Besonders erfolgreich waren die AnhängerInnen des liberalen Präsidentschaftskandidaten Ernesto Sam­per, der – so die Umfrageergebnisse Mitte April – der nächste Präsident Ko­lumbiens sein wird. Er verspricht den Kolumbiane­rInnen einen sozialen Kapita­lismus, setzt auf die menschliche Arbeits­kraft und will eineinhalb Millionen Ar­beitsplätze schaf­fen. Der Staat soll wieder stärker eine so­ziale Funktion übernehmen. Wobei – wie Jorge Child sagt – Samper keineswegs die Eckpunkte des Neolibera­lismus, wie In­ternationalisierung oder Privatisierung ne­giert, sondern nur einige Korrekturen vor­nehmen will. Die letzten Wahlergebnisse jedenfalls scheinen zu zeigen, daß das Versprechen eines sozia­len Kapitalismus vielen KolumbianerIn­nen attraktiver er­scheint, als die Kritik an der wirtschaftli­chen Öffnung, wie die AD-M19 sie vertritt.

Trübe Aussichten

Die Allianza Democrática-M19 hat mit dem Wahldebakel ihren bisherigen Zu­gang zu den Medien verloren. Sie hat kein Geld. Was also bleibt? Jorge Child sagt ohne wenn und aber ihr Ende voraus: “Die Demokratische Allianz ist dabei auseinan­derzufallen. Ein Teil dieses Prozesses hat auch mit der persönlichen Diktatur des Parteichefs zu tun.” Auch anderen Bewe­gungen, die sich in Kolumbien als soge­nannte Dritte Kraft etablieren wollten, sei dieser Prozeß nicht erspart geblieben. Er erwartet, daß viele Aktivisten von den tra­ditionellen Parteien aufgesogen werden, vor allem deshalb, weil diese Angebote für qualifizierte Leute machen. Die Libe­ralen seien ebenso wie die Konservativen nach außen sehr flexibel, mit verschie­denen Flügeln, die teilweise auch fort­schrittlichere Positionen vertreten und Re­formkräften offenstehen.
An eine Zukunft kann die AD-M19 wohl überhaupt nur denken, wenn sie ihre Strategie ändert und sozusagen an der Ba­sis wieder neu beginnt. Navarro Wolff: “Viele unserer Generäle müssen sich die Sterne abnehmen – und die Rolle der ein­fachen Soldaten erfüllen.” Notwendig sei eine Restrukturierung der Partei, der Auf­bau einer funktionierenden Parteiorgani­sation. Notwendig sei ferner eine von al­len bewußt akzeptierte Disziplin.
Vor allem aber muß sich die Partei auf lo­kaler Ebene in den Städten und Regionen als politische Kraft installieren. Vera Grabe: “Das ist der Moment, nach neuen Formen der zivilen. friedlichen Aktion zu suchen. Politik im institutionalisierten Rahmen zu machen hat, wie wir gesehen haben, seine Kosten. Das hat den Leuten oft nicht gefallen. Es liegt jetzt an uns, auf regionaler und lokaler Ebene für soziale Angelegenheiten zu kämpfen.”

Rückfall in den “bipartidismo”

Die Demokratische Allianz AD-M19 steckt in einer schweren Krise, die ihr Aus bedeuten kann. Die Schwäche der AD-M19 bedeutet für die KolumbianerInnen: weiterhin bleibt das traditionelle Zwei-Parteien-System beherrschend und mit ihm der fortgesetzte Kauf von Stimmen. Alte Seilschaften statt mehr Bürgerbeteili­gung und Demokratie. Keine Opposition und keine Kontrolle der Herrschenden. Schade – für Kolumbien.

Sicherheitskräfte außer Kontrolle

Daß auch die neue Verfassung von 1991,in der einige wichtige Punkte zur Einhaltung der Menschenrechte festgelegt sind,keine großen Veränderungen bewirkte,beweist die unverminderte Anzahl von Menschenrechtsverletzungen. Viele Opfer werden im Zuge von “sozialen Säuberungen” getötet, die meist von Todesschwadronen ausgeführt werden und sich gegen “sozial unerwünschte” Personen wie Homosexuelle, Prostituierte oder Straßenkinder richten.
Es gibt zahlreiche Indizien dafür, daß sich die Todesschwadronen überwiegend aus”Sicherheitskräften” zusammensetzen,wobei ungewiß ist, ob bei den “sozialen Säuberungen” ebenso auf Befehl gehandelt wird, wie es im Kampf gegen dieGuerilla der Fall ist. Allerdings ist bekannt, daß die Todesschwadronen Unterstützung von Großgrundbesitzern und Geschäftsleuten erhalten.
Aber nicht nur Menschen, die nicht in das soziale Wunschbild einiger Personen passen, sind in Kolumbien ernsthaft gefährdet. Auch MenschenrechtsaktivistInnensind massiven Drohungen ausgesetzt. Den
Menschenrechtsorganisationen werden Kontakte zu den Guerillas nachgesagt, weshalb bereits viele Mitglieder solcher Organisationen von Militärs oder paramilitärischen Gruppierungen ermordet wurden oder spurlos “verschwanden”.

Wer Kritik übt, ist ein Terrorist

Im Kampf gegen Drogenmafia und Aufständische haben Polizei und Militär eine weite Spanne an Handlungsmöglichkeiten. Anti-Terrorismus-Gesetze, die verschärfte Strafbestimmungen beinhalten, garantieren eine große Freiheit im Umgang mit “TerroristInnen”. Der Begriff “Terrorist” kann sehr willkürlich gedeutet werden,
und häufig fallen Personen, die lediglich Kritik an der Regierung üben, in diese Kategorie. Außerdem werden Angehörige von Gewerkschaften oder BewohnerInnen kleiner Dörfer beschuldigt, die Guerilla zu unterstützen, weshalb auch sie vor Verhaftung, Folter und dem “Verschwinden- lassen” nicht geschützt sind. Für brutale Mißhandlungen sind auch die “Mobilen Brigaden” bekannt, Sondereinheiten der Armee zur Aufstandsbekämpfung.
Ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu nehmen, liefern sich Armee und Polizei Gefechte mit angeblichen Guerilleros. Dabei getötete ZivilistInnen werden meist als “im Kampf gefallene Guerilleros” bezeichnet, oder es wird behauptet, sie seien während des Schußwechsels zwischen die Fronten geraten. Es sind auch Fälle bekannt, in denen Massaker an ZivilistInnen nachträglich der Guerilla, wie beispielsweise der FARC, oder der Drogenmafia, zugeschrieben wurden.
Die Armee bedient sich brutaler Foltermethoden, um von Kleinbauern, die sie der Mithilfe bei der Guerilla verdächtigt, Informationen über Aktivitäten der Aufständischen zu erhalten. Jene Bauern, die keine Informationen geben können, werden kurzerhand dazu verpflichtet, der Armee als Träger oder Wegweiser zu dienen. Wer sich weigert, muß damit rechnen, er- mordet, gefoltert oder verschleppt zu werden.
Obwohl es bei den meisten politisch motivierten Verbrechen viele Indizien, häufig sogar klare Beweise für die Schuld von Polizei oder Militär gibt, bleiben ausreichende Nachforschungen nach den Tätern meist aus. Auch wenn die Namen der Verantwortlichen bekannt sind, kommt es in den wenigsten Fällen zu Urteilen, was dann mit der “mangelnden Beweislage” begründet wird. Eine der wenigen Aus- nahmen ist der Fall des Oberstleutnant Luis Felipe Becerra Bohórquez, der 1993 aus dem Dienst der Armee entlassen wurde, nachdem ihm die Verantwortung für ein Massaker nachgewiesen wurde, bei dem ZivilistInnen ums Leben gekommen waren. Im Zuge von Aufstandsbekämpfungsmaßnahrnen hatten Truppen des Bataillons Palacé, dessen Kommandeur Becerra war, im Oktober 1993 das Dorf Alto de la Loma umstellt. Bei einer Razzia im Haus der Familie Ladino wurden mehre Personen geschlagen, junge Frauen vergewaltigt und daraufhin sieben Familienmitglieder erschossen. Auch die Nachbarn der Ladinos verloren bei diesem Übergriff fünf Familienmitglieder.
Doch dies war nicht das erste Mal, daß Becerra an schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt war. Bereits zuvor war er in einige Massaker verwickelt gewesen, hatte aber nie Konsequenzen ziehen müssen -im Gegenteil: Nachdem er 1991 vom Gericht für ein anderes Massaker zur Rechenschaft gezogen werden sollte, wurde der Haftbefehl gegen ihn nicht vollstreckt. 1992 wurde Becerra, nachdem das Verfahren auf die Militärjustiz übergegangen war, sogar zum Leiter der Abteilung für Presse und Öffentlichkeitsarbeit der Armee ernannt. Im April 1993 kam der Generalstaatsanwalt zu dem Schluß, daß die Beweise für einen Antrag auf Dienstentlassung nicht genügten. Erst als Becerra im Oktober 1993 erneut ein Blutbad angerichtet hatte, wurde er dafür zur Rechenschaft gezogen, jedoch lediglich vom Dienst suspendiert.

Regierung gesteht Menschenrechtsprobleme ein

1992 wurden vom Generalstaatsanwalt neue Zahlen über Menschenrechtsverletzungen veröffentlicht. Ihm lagen 2618 Beschwerden sowie Berichte über 3099 Opfer von Menschenrechtsverletzungen vor. Der größte Teil dieser Beschwerden richtete sich gegen die Nationalpolizei, aber auch der Armee wurden einige Mißhandlungen angelastet, überwiegend die besonders schweren Delikte, wie Massaker und “Verschwindenlassen”.
Präsident Gavina und andere führende Politiker leugnen zwar nicht die von den “Sicherheitskräften” begangenen Menschenrechtsverletzungen und erkennen das Problem der Straflosigkeit durchaus an. Doch zeigen sie keine ernsthaften Bemühungen, Grundlagen für eine bessere Kontrolle der “Sicherheitskräfte” und Möglichkeiten zur härteren Ahndung von Menschenrechtsverletzungen zu schaffen. Sie begründen dies mit Mängeln im Justizwesen, wie zum Beispiel fehlenden Finanzmitteln oder unzureichenden Ausbildungsmöglichkeiten. Der Generalstaatsanwalt nennt allerdings noch einige andere Gründe dafür, warum Nachforschungen auf diesem Gebiet nur sehr schleppend vorangehen. Ein Grund sei, daß viele Vergehen in ländlichen Gegenden begangen werden, wo sich die Sicherung von Beweismitteln recht schwer gestaltet. Darüber hinaus stellen auch die armeeinternen Strukturen ein Problem dar. Befehle ohne rechtliche Grundlage werden nicht schriftlich festgehalten, werden aber wegen des Befehlsgehorsams und aufgrund von Beförderungschancen ausgeführt. Der Korpsgeist, der innerhalb der Streitkräfte herrscht, verhindert eine Zusammenarbeit mit den ermittelnden Behörden. Zudem wird bei Ermittlungen im Normalfall den Unschuldsbeteuerungen der Beschuldigten Glauben geschenkt, im Gegensatz zu den Aussagen der Zeuginnen, die nicht nur als nicht glaubhaft an- gesehen werden. Im Gegenteil: Aussage- willigen drohen massive Repressalien. Auch die Ermittlungsbeamten werden häufig eingeschüchtert. Einige wurden sogar ermordet.
Von seiten der Militärbefehlshaber wird versucht, Verfahren zu verzögern oder gar vollständig einstellen zu lassen, indem sie keine Namen von Angehörigen der Streitkräfte weitergeben, versuchen, Beweismaterial zu manipulieren, beziehungsweise zu vernichten oder Haftbefehle nicht vollstrecken. Häufig werden auch Armeeoffiziere, gegen die ein Verfahren anhängig ist, befördert oder in andere Gegenden versetzt, damit sie in einen anderen Gerichtszuständigkeitsbereich kommen. Wenn es allerdings doch einmal zu einem Verfahren kommt, meldet die Militärjustiz sofort ihre Zuständigkeit an. Damit ist ein Freispruch der Angeklagten so gut wie gewiß, es sei denn, ein Fall erlangt so viel Publizität, daß ein angemessenes Urteil aufgrund des öffentlichen Drucks nicht ausbleiben darf. Die Möglichkeit des Militärgerichts, Verfahren gegen Mitglieder der “Sicherheitskräfte” selber zu übernehmen, blieb 1991 trotz Änderung der Verfassung weiterhin bestehen.
In seltenen Fällen werden Verurteilungen ausgesprochen, die sich dann allerdings meist gegen rangniedrigere Mitglieder der Sicherheitskräfte richten, da es sehr schwierig ist, die für die Befehle verantwortlichen Vorgesetzten ausfindig zu machen, auch wenn eindeutig belastende Aussagen von Untergebenen vorliegen. Beispielsweise wurden 1992 gegen 191 Angehörige der Streitkräfte und gegen 512 Beamte der Nationalpolizei Disziplinarverfahren eingeleitet. 403 davon zogen Schuldsprüche und Sanktionen nach sich (in 373 Fällen gegen die Nationalpolizei und 31 gegen die Streitkräfte). Es gab aber nur wenige Dienstentlassungen. Meist handelte es sich um geringe Geldstrafen oder zeitlich befristete Dienstsuspendierungen.

Militärjustiz deckt Täter

Objektive Ermittlungen und Urteilssprüche werden vom Militärgericht selten gewährleistet, was nur mit politischen Beweggründen zu erklären ist, da oft genug Urteile gegen Soldaten ausgesprochen werden, wenn sie nicht im Zusammenhang mit der Aufstandsbekämpfung stehen.
Auf formaler Ebene wurden in den letzten Jahren durchaus Maßnahmen getroffen, um die Einhaltung von Menschenrechten zu gewährleisten. So wurde zum Beispiel 1990 das Amt des örtlichen Bürgerbeauftragten geschaffen, der die Aufgabe hat, Berichte über Menschenrechtsverletzungen entgegenzunehmen und gegebenenfalls erste Ermittlungen durchzuführen. Polizei und Militär sind dazu verpflichtet, ihm alle in den letzten 24 Stunden erfolgten Festnahmen mitzuteilen, sowie ihm Zugang zu allen Einrichtungen zu gewähren, damit er sich über Aufenthaltsort und Zustand von Gefangenen in- formieren kann. Doch in vielen Fällen wird die Arbeit des örtlichen Bürgerbeauftragten durch die mangelnde Kooperationsbereitschaft stark eingeschränkt. Außerdem ist auch er Drohungen und Einschüchterungsversuchen ausgesetzt.
Durch die Gemeinderäte kann die Arbeit des Bürgerbeauftragten politisch beeinflußt werden, da diese sein Budget festlegen.
Mit Inkrafttreten der Verfassung von 1991 ist auch das Amt des Volksanwalts entstanden, der Teil der Generaistaatsanwaltschaft ist und eine gewisse Überwachungsfunktion über die Einhaltung der
Menschenrechte hat. Er führt keine Ermittlungen durch, dient aber als Anlauf- stelle und Berater für Opfer von Mißhandlungen und deren Angehörige, die die Möglichkeit haben. den Staat auf Schadensersatz zu verklagen. Der Staatsrat hat bereits vielen solchen Klagen stattgegeben, auch in Fällen, in denen die Verantwortlichen freigesprochen oder ihre Verfahren eingestellt worden waren.
Als weitere Maßnahme entstanden in Städten, in denen eine große Zahl von Menschenrechtsverletzungen bekannt ist, auf Initiative von Generalstaatsanwalt und I Volksanwalt Menschenrechtsbüros. Das erste wurde 1991 in Medellín eingerichtet und nahm bereits in den ersten 16 Monaten 3563 Beschwerden entgegen. In 3554 Fällen, die meisten davon willkürliche Festnahmen oder Mißhandlungen, wurde es tätig.
Außer einigen praktischen Maßnahmen zur Eindämmung der politischen Gewalt, wurden 1991 einige formale Aspekte in der Verfassung eingeführt, die – würden sie eingehalten – eine erhebliche Reduzierung von Menschenrechtsverletzungen herbeiführen könnten.
Die drei verschiedenen Stufen der Notstandsgesetzgebung können vom Präsidenten nicht mehr ohne Zustimmung aller Minister und auf unbegrenzte Zeit ausgerufen werden. Bei der dritten Stufe, dem Notstand, werden die Menschenrechte, Grundrechte und die Grundsätze des humanitären Völkerrechts außer Kraft gesetzt. Außerdem wurden, die Versammlungs-, Vereinigungs-, Meinungs- und Gewissensfreiheit, das Verbot der Folter sowie Vorkehrungen gegen willkürliche Verhaftungen und Mindeststandards für einen fairen Prozeß in die Verfassung aufgenommen.
Weitere wichtige Punkte wie das Verbot der Incomunicado-Haft, die Habeas-Corpus-Rechte und die Unabhängigkeit der Justiz wurden nicht mit in die Verfassung aufgenommen.
Die blutige Geschichte Kolumbiens der letzten Jahrzehnte hat gezeigt. daß viele Gesetze wirkungslos sind. Auch die juristischen Fortschritte im Menschenrechtsbereich, die in den letzten Jahren eingeführt wurden, scheinen bisher eher Ali- bicharakter zu haben. Nach wie vor wer-den MenschenrechtsaktivistInnen, wie etwa Mitglieder der kirchlichen Kommission “Justicia y Paz”, bei ihrer Arbeit schikaniert, bedroht und oft von Regierungsseite der Zusammenarbeit mit der Guerilla bezichtigt.
So beurteilt Javier Giraido auch die gesetzlichen Änderungen skeptisch: “Wenn auch neue Institutionen zum Schutz der Menschenrechte geschaffen wurden, so hat uns die tägliche Praxis gezeigt, daß keine von ihnen mit wirksamen Machtbefugnissen ausgestattet wurde, um die Rechte tatsächlich zu schützen. Eher könnte man sagen, daß die Verwielfachung der Institutionen die Anklageprozesse und die Suche um Schutz verlängert, erschwert und durcheinander bringt. Alle diese neuen Institutionen fühlen sich ermächtigt, einander die Anklagen durch schriftliche Anordnungen zuzuweisen, wobei keine sich dazu im Stande sieht, die Probleme wirksam anzugehen.”

Editorial Ausgabe 238 – April 1994

Auf dem Redaktionstisch liegen sie re­gelmäßig: die Aufrufe und “Urgent Acti­ons” in Sachen Menschenrechtsverletzun­gen von politischen Aktionsgruppen aller Art. “A wurde verhaftet, B ist verschwun­den, bitte richten Sie höflich formulierte Briefe an den Präsidenten von …” – eine Fülle von Einzelschicksalen verlangt nach Öffentlichkeit. Sofort veröffentlichen? Der Zuspruch in der Redaktion hält sich in Grenzen, verdichten sich die vielen Ein­zelfälle doch immer wieder zur Kernaus­sage “es ist alles weiterhin so schlimm wie schon seit Jahren”. Und mit der Schlag­zeile “Nichts Neues” ist nun einmal keine Leserin zum Weiterlesen zu bewegen.
Ob­wohl die Fälle mit Namensnennung, Schilderung der persönlichen Geschichte des Betroffenen und mit konkreter Hand­lungsanweisung geliefert werden, bleiben sie merkwürdig anonym. Die Texte wirken oft, als seien gegenüber früheren Aufrufen nur das Land und der Name des Betroffe­nen geändert worden. Der Telegrammstil der Schilderungen läßt die Schicksale austauschbar erscheinen.
Nur wenige Fälle von Menschenrechts­verletzungen werden zum nachrichtenre­levanten Thema. So zum Beispiel in Fällen spektakulärer Grausamkeit: Ein Massaker mit 50 Toten in zehn Minuten ist eine Nachricht, 50 tote Straßenkinder im Ver­lauf mehrerer Monate bleiben im Hinter­grund. Oder ein Menschenrechtsfall führt zu politischen Konsequenzen wie jüngst in Peru. Die verkohlten Leichen eines Pro­fessors und von neun StudentInnen der Universität “La Cantuta” werden gefun­den; die Morde wurden offensichtlich 1992 von Militärs begangen. Spektakulär daran war nicht die Tatsache der Morde, sondern die Art und Weise, wie Präsident Fujimori den Fall der Militärgerichtsbar­keit zuschob und damit den Rücktritt sei­nes Premierministers provozierte.
Aufschlußreicher wird es, wenn Men­schenrechtsverletzungen zu gesellschaftli­chen Entwicklungen in Bezug gesetzt wer­den können. In Lateinamerika haben sich Art, Häufigkeit und Zielgruppe von Men­schenrechtsverletzungen verändert. Wa­ren es in den achtziger Jahren noch die politischen GegnerInnen der Diktaturen, die zu Opfern wurden, nimmt beispiels­weise Brasilien heute eine traurige Spitzenposi­tion bei Menschenrechtsverlet­zungen neuen Typs ein: “soziale Säube­rungen”, das Ausmerzen derer, deren Exi­stenz die Wohlhabenden stört: Straßen­kinder, Ob­dachlose etc..
Amnesty International hat am 15. März eine weltweite Kampagne gegen Men­schenrechtsverletzungen in Kolumbien eingeleitet. Eine Mappe mit Einzelfallbe­schreibungen gehört zu den Unterlagen, vor allem aber umfangreiches Material über die politische und gesellschaftliche Entwicklung des Landes. Sollte Amnesty es im Rahmen einer solchen Kampagne schaffen, gesellschaftliche Zusammen­hänge in bezug auf Menschenrechtsverlet­zungen auch in der täglichen Kleinarbeit zum Thema zu machen? Die Kampagne könnte zu einem Beispiel werden, wie mit dem Thema der individuellen Menschen­rechte jenseits von endlosen Einzelfall­Listen und von Sensationssuche umgegan­gen werden kann.
Vielleicht bliebe dann auch noch die Zeit, ein paar Briefe zum einen oder anderen Einzelfall abzuschicken. Auch wenn nicht gleich die ganze Welt rettet, wer einen Menschen rettet, wie Oskar Schindler (der mit der Liste) mit auf den Weg gegeben wird, bleibt doch der eine Mensch. Nicht mehr und nicht weniger.

The Latin American City

Die in ihrer Mehrzahl von Portugiesen und Spaniern im 16. und 17. Jahrhundert gegründeten lateinamerikanischen Städte haben ihren entscheidenden Wachstums­schub nach 1950 erlebt. Lateinamerika wandelte sich in rasendem Tempo von ei­nem ruralen zu einem urbanen Kontinent. Erst in den achtziger Jahren verlangsamte sich dieser Prozeß aufgrund der ökonomi­schen Krise. Trotzdem können MigrantIn­nen in vielen Ländern bis heute ver­gleichsweise bessere Lebensbedingungen in den städtischen Ballungsräumen vor­finden als auf dem Land. In diesen Unter­schieden ist das entscheidende Mo­tiv für die Landflucht zu suchen. Vor allem für Frauen und junge Erwachsene, die eine Schulbildung und berufliche Fähigkeiten erworben haben, resultiert der Weg in die Städte aus einer rationalen Entscheidung. Dabei handelt es sich um eine rationale Ent­scheidung zwischen Alternativen, die mehrheitlich von jungen Erwachsenen und Frauen, die bessere Schulbildung und ge­wisse berufliche Fähigkeiten erlernt ha­ben, getroffen wird.
Gilbert wendet sich gegen die Über-Städ­terungs-Thesen, nach denen die Zunahme der Bevölkerung als dem Beschäfti­gungswachstum im industriellen Sektor nicht angemessen kritisiert wurde. Wäh­rend Städte in westlichen Industrienatio­nen als industrielle Wachstumspole funk­tional gewesen seien, wurden “Dritt-Welt-Städte”, in denen es zu einer “Tertiarisierung”, einem aufgeblähten Dienstleistungssektor kam, als “parasitär” klassifiziert. Nach dieser, nach wie vor von vielen KommunalpolitikerInnen und StadtplanerInnen geteilten Betrachtungs­weise gibt es einfach zu viele Menschen in der Stadt. Begründet wird der Mißstand gerne mit einem zu hohen Bevölkerungs­wachstum, als umgekehrt mit einer zu ge­ringen Anzahl stabiler und qualifizierter Arbeitsplätze. Die Antwort auf die beson­ders in den achtziger Jahren steigenden Arbeitslosenraten, ist der heute für uns so typische und das Stadtbild der meisten la­teinamerikanischen Metropolen prägende informelle Sektor. Zur Straßenszene gehö­ren die Schuhputzer ebenso wie die am­bulanten Händler. Informelle Beschäfti­gung geht jedoch darüber weit hinaus. Ihr kommt zudem im Hinblick auf den soge­nannten modernen Sektor eine besondere Rolle zu, denn sie sorgt für niedrigere Lohn- und Reproduktionskosten. Beson­ders auf Export ausgerichtete Industrien profitieren davon, wie die Erfahrungen mit den Maquiladora-Industrien an der US-mexikanischen Grenze zeigen.
Duldung “wilder” Siedlungen
Ebenso wie der informelle Sektor die Ar­beitswelt lateinamerikanischer Städte prägt, kennzeichnen favelas, poblaciones oder villas miserias ihre Siedlungsstruk­tur. Landbesetzungen und der Aufbau spärlicher Hütten wurden über lange Zeit geduldet und konnten in ökonomischen Wachstumsphasen Schritt für Schritt durch die städtische Infrastruktur er­schlossen werden. Aus Wellblech- und Holzhütten wurden in Eigenarbeit oder kollektiver Anstrengung feste Häuser. Daß dabei oftmals den Bedürfnissen der BewohnerInnen entsprechende Wohnun­gen entstanden sind, als es bei professio­nell geplanter Bebauung der Fall gewesen wäre, überrascht eigentlich nicht. Nur durch politische Mobilisierung oder Zuge­ständnisse an lokale politische Repräsen­tantenInnen konnte sich die rasch wach­sende städtische Bevölkerung ein Dach über dem Kopf erstreiten. Die Stadtver­waltung hatte dazu aufgrund fehlender Mittel für einen umfassenden sozialen Wohnungsbau keine Alternative. Stadt­viertel wurden ans Elektrizitäts- und Was­sernetz angeschlossen, Siedlungen legali­siert. Heute besitzt ein wesentlich höherer Prozentsatz von Familien ein – wenn auch bescheidenes – Eigenheim als noch zwan­zig oder dreißig Jahre zuvor.
Betrachtet man das rasante städtische Wachstum ist es ein Wunder, daß die oft wegen ihrer schlechten Administration zu­recht gescholtenen öffentlichen Einrich­tungen nicht völlig zusammengebrochen sind. Sie scheinen, so Alan Gilbert, wohl doch besser als ihr Ruf. Prekär sind für viele die Versorgungsverhältnisse trotz­dem geblieben. Neuere Siedlungen warten seit Jahren auf Wasser und Elektrizität. Neben der Bevölkerungszunahme hat auch das für Städte der sogenannten ent­wickelten Welt typische Auseinanderfal­len von Arbeiten und Wohnen zu einem enormen Verkehrswachstum geführt. Öf­fentliche Verkehrssysteme sind völlig überlastet; ihr Ausbau, der lange von der Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank finanziert wurde, scheint heute, wie so manches U-Bahn-Projekt zeigt, nicht mehr tragbar. In öko­nomischen Krisenzeiten wird die Auf­rechterhaltung öffentlicher Infrastruktur immer schwieriger. Die Tarife wurden in den letzten Jahren drastisch angehoben. Um so stärker trat die soziale Ungleichheit bei der Versorgung hervor. In Argenti­nien, Kolumbien und Mexiko versucht man verstärkt, durch Privatisierung die oft defizitären öffentlichen Unternehmen los­zuwerden. Auf dem gesamten südlichen Kontinent ist jedoch außer Telefon- und Telekommunikationsunternehmen deren große Mehrzahl bisher nicht in private Hände übergegangen.
Leider behandelt Gilbert die ökologischen Probleme nur als Unterpunkt in seinem Kapitel zur städtischen Infrastruktur. Er greift mit seiner Kritik an der bisher im­plementierten Umweltpolitik auch deshalb zu kurz, weil er die gesundheitliche Pro­blematik in den Vordergrund stellt. Flächen-, Energie- und Ressourcenver­brauch hätten hier stärker im Vordergrund stehen müssen.
Gilbert ist besonders daran gelegen, mit einem gerade in Europa gerne gepflegten Klischee über die politische Bedeutung städtischer sozialer Bewegungen auf­zuräumen. Obwohl diesen sicher seine Sympathie gilt, stellt er klar, daß eher po­litischer Konservatismus vorherrscht. Linke Parteien oder gar radikale linke Gruppierungen erreichen in Lateinamerika seit jeher keine Massenbasis. Die Tendenz von barrio-Bewegungen, mit lokalen Po­litikerInnen in Verhandlungen einzutreten oder sich gegen Zugeständnisse in Wahl­zeiten kooptieren zu lassen, kann auch kaum geleugnet werden. Strukturelle Ver­änderungen des Systems stehen meist hinter lokal begrenzten Verbesserungen für die eigene barrio-Bewegung zurück. Schließlich darf aber nicht unterschätzt werden, daß es auf diesem Wege oft ge­lungen ist, die realen Lebensbedingungen zu verbessern. Ganz im Gegensatz jedoch zum allseits beliebten Bild der Sozialre­volte war selbst in Stadtvierteln, in denen sich eine rege Interessenvertretung gebil­det hatte, die Beteiligung der Betroffenen oft sehr begrenzt geblieben. Verantwort­lich dafür sind, so Gilbert, neben dem po­litischen Verständnis der Gemeinschaften selbst, Klientelismus, Kooptation, populi­stischer Führungsstil und Repression durch die politisch Herrschenden.
Enttäuschend und inkohärent bleiben die abschließenden Aussagen über die Zu­kunftsperspektiven der “Latin American City”. Das Urteil des Autors fällt überra­schend positiv aus. Nach einer Fülle de­taillierter Informationen und kritischer Re­flexion bisheriger Veröffentlichungen über städtische Entwicklung muß den Le­ser / der Leserin erstaunen, wie konven­tionell dieser Ausblick ausfällt. Die Ten­denz des sinkenden Bevölkerungszuwach­ses der Metropolen läßt Gilbert ebenso hoffen, wie der Erfolg diversifizierter Ex­portstrategien und positiver, entbürokrati­sierender Effekte neoliberaler Strukturan­passung. Wirtschaftswachstum wird schließlich zum Schlüssel der Probleme und damit, so macht es der Autor gerade an der Entwicklung neuer Wachstumspole an der US-Grenze Mexikos deutlich, ist in erster Linie industrielles Wachstum ge­meint. Chile oder das NAFTA-Mitglied Mexico als Erfolgsmodelle auch für an­dere Länder? Hier fällt der Autor in eine Denkweise zurück, die er am Beispiel der Tertiarisierungsthese zuvor mit Recht kri­tisiert hatte. Voraussetzung für eine Zu­kunft der Stadt sei natürlich politische Stabilität, also die Fortsetzung der Demo­kratisierungsprozesse, aber auch eine ge­rechtere Verteilung der Einkommen und wachsende Aufwendungen für staatliche soziale Leistungen. Daß gerade Struktur-anpassungsprogramme soziale Verbesse­rungen für die Masse der Bevölkerung unmöglich gemacht haben und diese auch in den Erfolgsländern kaum am Wachs­tum partizipieren, ist jedoch eine bittere Lektion der achtziger und beginnenden neunziger Jahre. Wirtschaftswachstum an sich als entscheidende Voraussetzung für strukturelle Verbesserungen städtischer Infrastruktur und Umwelt anzusehen, spricht zudem den Erkenntnissen einer kritischen Umweltdiskussion Hohn.

Alan Gilbert – The Latin American City. Latin Amerika Bureau, London 1994. ISBN 0906156823. Zu beziehen bei: Lateinamerika Nachrichten Vertrieb, Gneisenaustr. 2, 10961 Berlin

Rein in die öffentliche Debatte

Radio Latacunga bildet einen integralen Bestandteil des Lebens der Bauern aus der Gegend, hält die Gemeinschaft zusammen und stärkt die lokale Kultur und Identität. Jeden Tag schalten die Indios das Radio ein, um Lokalnachrichten zu hören und Ratschläge über Landwirtschaft, Gesundheit und Hygiene zu erhalten. Andere hören begierig Radiobotschaften von Verwandten, die aus dem Dorf abgewandert sind, um in den Städten zu arbeiten.

Alternative Medien – eine Stimme für die Marginalisierten

Radio Latacunga ist ein Beispiel für die Rolle, die populäre und alternative Medien im Demokratisierungsprozeß spielen können. Populäre und alternative Medien bilden für marginalisierte Gesellschaftsschichten -zum Beispiel Frauen, Jugendliche, Bauern und Indios -ein Vehikel, um an der öffentlichen Debatte teil-nehmen zu können. Diese Projekte gehorchen nicht dem Gesetz der Profitmaximierung, sondern wollen den oft vernachlässigten Interessen und Standpunkten eine Stimme geben. Sie wollen die Gesellschaft ändern. Die Medien, von denen hier die Rede ist, sind sowohl populär -sie erwachsen aus den Graswurzeln -als auch alternativ -sie zeigen Perspektiven auf, die sich vom Mainstream unterscheiden. Um es kurz zu machen, werde ich das Wort “medios populares” benutzen. Politischer und ökonomischer Einfluß hängt vom Zugang zu Informationen ab. Parallel zum Kampf um ökonomische Ressourcen in Lateinamerika findet auch im Kommunikationsbereich ein Kampf statt. Während der siebziger und frühen achtziger Jahre kristallisierte sich dieser Konflikt in der Forderung von Dritte-Welt-FührerInnen nach einer “Neuen Weltinformationsordnung”, in der Information nicht von den westlichen Mächten monopolisiert würde. Dies sollte Hand in Hand gehen mit einer “Neuen Weltwirtschaftsordnung”, in der ökonomische Ressourcen gerechter zwischen Norden und Süden aufgeteilt werden sollten. Diese Parole implizierte auch, daß die Medien der Dritten Welt immer im Öffentlichen Interesse agieren würden. Bis in die Gegenwart haben lateinamerikanische Eliten die Medien benutzt, um gesellschaftliche Kontrolle auszuüben und ihre Herrschaft zu legitimieren. Heute sind die Interessen der heimischen und der ausländischen Eliten enger miteinander verknüpft als je zuvor. Nun liegt es bei den medios populares, nach einer Neuverteilung der Informationsressourcen zu rufen.

Neue Probleme in der Demokratie

Während des dunklen Zeitalters der Militärdiktaturen in Lateinamerika gediehen die medios populares. Sie hatten ein festes Publikum und verbreiteten Botschaften des Widerstandes. Heute, im Zeitalter der Demokratie haben Einfluß und Zahl der medios populares abgenommen. Die Gründe dafür sind nicht Zensur und Repression, sondern die knappen wirtschaftlichen Ressourcen. Der Existenzkampf besteht heute nicht mehr darin, zu vermeiden, von Sicherheitskräften niedergeschossen zu werden. Heute steht im Vordergrund, in einem Zeitalter der Ernüchterung über traditionelle Politikformen relevant zu bleiben.
In vielen lateinamerikanischen Ländern hat die Öffnung der Märkte starke Auswirkungen im Kommunikationsbereich. Lateinamerikanische Medien werden zunehmend von großen Privatunternehmen dominiert. Diese Machtkonzentration wird noch verstärkt durch das verwickelte Netz persönlicher und geschäftlicher Verbindungen von RegierungsfunktionärInnen, UntemehmensmanagerInnen und EigentümerInnen von Medien. Die Nichtregierungsorganisationen-mit deren Unterstützung die meisten medios populares entstanden -haben ihre Mit-tel gekürzt oder ihre Aufmerksamkeit in andere Bereiche verlagert. Um alles noch schwieriger zu machen, richten sich die medios populares ausgerechnet an den Teil der Bevölkerung, der die geringsten Mittel hat, um Zeitschriften zu kaufen oder die alternative Kommunikation anderweitig zu unterstützen. Im Dschungel des Kapitalismus und des freien Marktes werden kleine, unabhängige Medien entweder von größeren Unternehmen geschluckt oder scheitern aufgrund mangelnder Ressourcen.

Netzwerke gegen die Zersplitterung

Medios populares müssen sich also auf diesem für alle offenstehenden Konkurrenzmarkt gegen größere und besser ausgestattete Gegner durchsetzen. Viele von ihnen sind jedoch sehr schlecht auf den Kampf vorbereitet. Die internationale Vernetzung und der Informationstransport in die entlegensten Winkel der Welt wird immer effizienter. Medios populares sind dagegen sehr zersplittert -ein wahrer Turm zu Babel verschiedener Bereiche und Interessen. Sie arbeiten vor-wiegend auf der lokalen Ebene in kleinen Gemeinden. Als eine Konsequenz davon sind sie landesweit kaum präsent.
Um die öffentliche Debatte zu beeinflussen und ein größtmögliches Publikum zu erreichen, sind eine Anzahl neuer Netzwerke geschaffen worden. Als Modell dient die Associación Latinoamericana de Educación Radiofonica (ALER), ein Dachverband freier Radios. Über diese Netzwerke wollen Organsationen Ressourcen und Information teilen.
Das lateinamerikanische Treffen der alternativen Medien und medios populares, das im April dieses Jahres in Quito stattfand, war ein erster Schritt in diese Richtung. Sechzig VertreterInnen trafen sich, um über die Herausforderungen zu diskutieren, denen sie sich gegenübersehen. Sie sprachen unter anderem über den Aufbau eines festen Kreises von JoumalistInnen, um z.B. größere Konferenzen und Ereignisse abzudecken, die Schaffung einer Datenbank und die Ein-richtung einer permanenten elektronischen Konferenzschaltung.
Auch anderswo sprießen auf kleinerer Ebene ähnliche Versuche: Zum Beispiel gründeten neun Medienorganisationen, die bei dem Treffen “Caminos de Integración U im Februar in La Paz/ Bolivien zusammenkamen, ein Netzwerk im Be reich Gewerkschaften und comunicación popular. Die TeilnehmerInnen beschlossen, Material auszutauschen, zweimal pro Jahr einen Rundbrief herauszugeben und eine Datenbank einzurichten.

High-Tech bei den Alternativmedien

Diese Informationsnetzwerke und Zusammenschlüsse werden durch die neuen Kommunkationstechnologien ermöglicht, wie etwa Telefax, Computer, Electronic Mail, Satelliten, Videokameras etc. Diese Technologien dezentralisieren den Zugang zu Informationen und beschleunigen die Nachrichtenübermittlung. Die Massenmedien waren selbstverständlich die ersten, die aus diesen technologischen Durchbrüchen Vorteile zogen. Aber genauso, wie Pancho Villa während der mexikanischen Revolution die Eisenbahnen benutzte, haben sich auch die
medios populares die neuen Technologien angeeignet, um sie für ihre eigenen Ziele zu nutzen.
Dies hat jedoch seinen Preis: Um Electronic Mail zu benutzen (siehe Kasten), braucht eine Organisation beispielsweise einen Computer, ein Modem und eine Telefonleitung -alles Dinge, die wohl jenseits der finanziellen Möglichkeiten einer ums Überleben kämpfenden lokalen Radiostation liegen. Medios populares werden sich eventuell bald danach unterteilen, ob sie Zugang zu neuen Technologien haben oder nicht. Bei dem Treffen in Quito diskutierten die TeilnehmerInnen enthusiastisch über Pläne für ein elektronisches Kommunikationsnetzwerk, bis die Diskussion von dem wütenden Kommentar einer Frau unterbrochen wurde, die sagte, daß ihr kleines vierteljährliches Magazin für soziale Bewegungen sich nicht die erforderliche Ausrüstung leisten könne, um elektronisch mitzuhalten.

Alternative Dienstleistungen für etablierte Medien

Medios populares dehnen ihre Reichweite auch aus, indem sie Kontakte zur Massenpresse pflegen: Chiles fernpress zum Beispiel, ein feministisches Kommunikations-und Informationsnetzwerk, das ein weitverbreitetes monatliches Magazin veröffentlicht, gibt Informationen und Themenvorschläge an JoumalistInnen der Massenmedien weiter, die sich für Frauenfragen interessieren. Zusätzlich brachte die Organisation Media Service letztes fast Jahr 700 fernpress-Artikel in den Massenmedien unter. In Venezuela hat die wirtschaftliche Krise viele medios populares ausgelöscht. Gleichzeitig gelang es Leuten aus den sozialen Bewegungen, ihre Standpunkte in “mainstream”-Fernseh-Programmen wie “Buenas Noticias” und “Comunidad con …” zu äußern, sowie in Kolumnen und Anzeigen in regionalen und landesweiten Zeitungen.
Medios populares haben ebenfalls begonnen, die Möglichkeiten und Grenzen verschiedener optischer Aufmachungen und Druckformate zu nutzen.
Print-medien haben ein schweres Handikap, wenn sie sich an Bevölkerungsgruppen wenden, die kaum oder gar nicht lesen können. Um solche Leute anzusprechen, benutzt die kolumbianische Zeitschrift Encuentro: revista de comunicación popular große Buchstaben. Ein Teil des Heftes besteht aus einer Fotogeschichte mit Sprechblasen.
Das Radio gilt als das einflußreichste Medium in Lateinamerika. CEPALC in Bogotá schätzt beispielsweise, daß 90 Prozent der KolumbianerInnen Radio hören, zwischen 60 und 70 Prozent fern-sehen, und nur 30 Prozent Zeitschriften oder Tageszeitungen lesen.
Daher haben eine Anzahl von Printmedien begonnen, ihre Möglichkeiten im Radio-und Fernsehbereich auszuloten: Um nicht-organisierte Frauen zu erreichen, beispielsweise Hausfrauen oder Analphabetinnen, startete fernpress letztes Jahr ein Frauenradio mit Informationsservice. Das Zentrum zur Förderung der Minenarbeiter (CEPROMIN) in Bolivien hat begonnen, mit Videotechnologie zu experimentieren. Zusätzlich zu seiner traditionellen Arbeit im Radio-und Zeitschriftenbereich produziert CEPROMIN mittlerweile Dokumentarvideos für die Gemeinden im Umkreis der Minen.

Raus aus den Ghettos

Um mit kommerziellen Medien konkurrieren zu können, müssen medios populares in der Tat ein größeres Publikum gewinnen. “Haben wir nicht Basisarbeit mit Marginalität verwechselt?” -So die pointierte Frage von José Ignacio López Vigil, Vertreter Lateinamerikas im weltweiten Verband der Lokalradios (World Association of Community Radios). Medios populares haben sich traditionell an organisierte Gruppen der Bevölkerung gerichtet. Statt zu versuchen, sich an das riesige nicht-organisierte Publikum mit seinen verschiedenen Geschmäckern und Interessen zu wenden, wurde lieber auf Sicherheit gesetzt, indem für die bereits Bekehrten gepredigt wurde. Comunicación popular wurde oft als Instrument an- gesehen, um zu erziehen oder bestimmte Werte einzuimpfen. Als Folge davon war der Inhalt oft streng und pedantisch.
Medios populares können sich nicht länger den Luxus einer so engen Sichtweise leisten. KritikerInnen fordern, daß sie ein Forum für die harte Debatte zwischen Leuten verschiedener politischer Überzeugungen bieten sollen. Sie sollten nützliche Informationen auf unterhaltsame Art präsentieren. Uruguays zweiwöchentliche Zeitschrift Mate Amargo veröffentlicht beispielsweise außer prägnanten politischen und wirtschaftlichen Analysen auch einen Sportteil und druckt Fernsehprogramme und Buchrezensionen ab.

Die Professionalisierung der Alternativpresse

Die Alternativpresse schenkt mittlerweile auch der Gestaltung und Aufmachung ihrer Publikationen größere Beachtung. Viele sind auch der Meinung, daß medios populares nicht länger einzig und allein vom guten Willen freiwilliger AmateurInnen abhängen können und fordern, ausgebildetes Personal einzustellen -was auch bedeuten würde, faire Gehälter zu zahlen. Medios populares beginnen, sich die professionellen Werkzeuge und Techniken des etablierten Journalismus anzueignen. Magazine wie Colombia Hoy und La otra Bolsa de Valores aus Mexiko sind voller Großfotos und einfallsreicher Karikaturen. Cien Dias aus Kolumbien geht darin besonders weit: Das Magazin ist voller farbiger Illustrationen, Diagramme und Graphiken.

Chancen und Gefahren der Kommerzialisierung

Auch die geschäftliche Seite der medios populares wird unter die Lupe genommen. Marketing, der Verkauf von Werbeplätzen und die Rationalisierung von Arbeitsprozessen sind nicht länger tabu. Viele in den medios populares bestehen darauf, daß diese finanziellen Überlegungen nicht zur Aufgabe von Werten führen müssen. “Geld ist wie Blut”, sagt López Vigil. “Das freie Lokalradio, ein lebendiger Organismus, braucht es. Aber es lebt nicht dafür. In anderen Worten: Wir sind keine Vampire.”
Aber riskieren die Altemativmedien nicht, für den Sieg des kommerziellen Erfolges ihre Seelen zu verkaufen? “Du mußt mit der Zeit Schritt halten”, sagt Juan Serrano, Leiter von Radio Mensaje im Norden Ecuadors. “Du kannst Kapitalist werden, ohne deine Philosophie zu verändern. Sobald wir ein Publikum und eine Finanzierung haben, wird es leichter sein, unsere Botschaft unter die Leute zu bringen.”
Medios populares begehen einen gefährlichen Drahtseilakt. Die Ziele, die Kommunikation zu demokratisieren und die Kämpfe der sozialen Bewegungen zu unterstützen, werden sicher nicht immer mit den Erfordernissen des Marktes vereinbar sein. Medios populares wollen die NutzerInnen von Informationen in den Kommunikationsprozeß einbeziehen. Ein Ergebnis des Kommerzialisierungsdruckes kann jedoch sein, daß die medios populares immer weniger die Gruppen vertreten, für die sie gemacht sind. Erst die Zeit wird zeigen, ob die Kommerzialisierung ein glitschiger Abhang ist -und wie weit manche hinunterrutschen werden.

Gekürzt übernommen aus: NACLA No 2, Sept/Oct. 1993

Kasten:

Telematischer Autobahnbau

Das Zauberwort heißt E-Mail (“elektronische Post”). Um in das elektronische Universum einzutauchen braucht man einen Computer, ein Modem und ein Telefon. Die Nachricht gelangt dann über Telefonleitung und Satellit in weniger als 24 Stunden an die EmpfängerInnen – zum Niedrigpreis: Eine gesendete Seite kostet in der Regel höchstens zehn bis 20 Pfennig. In welches Land die Nachricht geht, spielt dabei keine Rolle.
Der elektronische Datenaustausch, über den ein Großteil der Informationsübermittlungen stattfindet, ist mittlerweile zum Nervensystem der Industrienationen herangewachsen. Schon in den fünfziger Jahren waren elektronische Netzwerke für diverse Vorhaben des Pentagon von großem Nutzen. Später profitierten auch Diktatoren Lateinamerikas von den neuen Informationstechnologien, mit deren Hilfe sie ihre Repressionsmethoden ausfeilen konnten.
Doch seit Beginn der 80er Jahren nisten sich auf den “telematischen Autobahnen” neben Regierungen und transnationalen Konzernen auch Nichtregierungsorganisationen aus aller Welt ein. Sie nutzen die neuen Technologien zu einem demokratischen und egalitären Informations- und Erfahrungsaustausch auf den verschiedensten Gebieten.
Im Gegensatz zum Fax erlaubt elektronisches Networking über Konferenzen grenzenlose Diskussionen, an denen Organisationen und Fachleute via Computer teilnehmen. Für jeden Geschmack ist etwas dabei: Die Konferenz “Aibi-L@Uottawa” nimmt biblische Texte und Computer unter die Lupe, auf “Muoski-C@PV136587” unterhalten sich ein paar Dutzend MusikerInnen über Beethovens späte Symphonien, während “Bras-J@falio” die neuesten brasilianischen Witze auf Hunderte von PCs in aller Welt schickt und “argentina@asterix.eng.buffalo.edu” die besten Zubereitungsarten von Matetee sendet. Die meisten Konferenzen über Länder Lateinamerikas behandeln allerdings Neuigkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft.
Die Möglichkeit, über PC und Telefon Gruppen aller Kontinente fast zeitgleich miteinander zu verbinden, revolutionierte die Beteiligung von NROs an internationalen Konferenzen. Auf dem Rio-Gipfel und während den UN-Menschenrechtsdebatten dieses Jahres in Genf hingen Menschenrechtsgruppen aus 95 Ländern von Australien bis Zimbabwe am direkten Draht zur Konferenz. Fast zeitgleich waren sie auf dem neusten Stand der Diskussion, konnten Ideen austauschen, Initiativen koordinieren und schnell reagieren.
Für viele Gewerkschaften, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen in Lateinamerika ist das elektronische Networking heute eine Voraussetzung dafür, regionale und internationale Aktionen zu koordinieren und an wichtige Informationen heranzukommen. Fast alle Länder haben hierfür eigene Rechenzentren, sogenannte nodos (“Knoten”).
Manche lateinamerikanischen E-MailerInnen haben mit dem elektronischen Networking den Stein der Weisen im Informationszeitalter gefunden: Nord-Süd-Wissensklüfte in den Wissenschaften, so träumen sie, werden über internationale E-Mail-Fachkonferenzen und elektronisch zugängliche Datenbanken abgebaut. JournalistInnen enthüllen nach elektronischer Recherche transnationale Skandale und speisen die Meldung in entsprechende Konferenzen ein. Sofort haben betroffene Basisgruppen und NROs in Nord und Süd die Neuigkeit in ihren PCs, sprechen sich online ab, reichen Klage bei zuständigen Gerichten ein und stürmen umgehend nationale und internationale Behörden mit Stellungnahmen und Forderungen – alles auf elektronischem Wege.
Während einige die langersehnte Demokratisierung der Kommunikation mit dem Ausbau telematischer Autobahnen in Lateinamerika erahnen, sehen andere Gräben zwischen informationsarmen und -reichen NROs aufbrechen. Denn längst nicht jede Umweltgruppe hat einen PC, geschweige denn das Geld für ein Modem.

Hans Koberstein

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