FRIEDEN RÜCKT IN WEITE FERNE

Der Druck auf die Regierung von Präsident Iván Duque wächst. Bäuer*innenverbände, Gewerkschaften und andere zivilgesellschaftliche Organisationen hatten am 25. April zu einem Generalstreik aufgerufen. Die Protestaktionen richten sich gegen den nationalen Entwicklungsplan der Regierung Duque, der Tage später, am 3. Mai, dennoch vom Senat bewilligt wurde. Tausende Menschen versammelten sich auf dem Bolívar-Platz im Herzen Bogotás, wo es zu Zusammenstößen mit der Polizei kam. Elf Menschen wurden verletzt, 33 verhaftet. Die Arbeit von Journalist*innen wurde von Einheiten der mobilen Aufstandsbekämpfungseinheit (ESMAD) behindert. Zwei Fotografen der kolumbia­nischen Presseagenturen Colprensa und Efe wurden von der ESMAD angegriffen.
Während die politischen Vorhaben der rechtskonservativen Regierungspartei CD das Land weiter polarisieren, rückt der Frieden in weite Ferne. Der Nationale Entwicklungsplan, ein Fahrplan der Regierung für die nächsten vier Jahre, hat zum Ziel, soziale Ungleichheiten unternehmerisch zu bekämpfen. Doch der als „Pakt für Kolumbien, Pakt für Gerechtigkeit“ getaufte Plan erinnert an die Politik des Ex-Präsidenten Álvaro Uribe Vélez und sät große Zweifel an der Bereitschaft der jetzigen Regierung, das Friedensabkommen mit den entwaffneten Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) umzusetzen.

Wie kann Frieden hergestellt werden, wenn anstatt in Bildung in Verteidigung investiert wird?

So wie damals unter Uribe werden im Fahrplan der Regierung Duque Probleme wie Auslandsverschuldung, Ankurbelung von Wirtschaftswachstum und Fragen der Sicherheit in den Vorder­grund gestellt. Doch wie kann Frieden hergestellt werden, wenn in die Agrarindustrie anstatt in die kleinbäuerliche Landwirtschaft, wenn anstatt in Bildung in Verteidigung investiert wird?
Mit den Studierendenprotesten Ende vergangenen Jahres wurde die vielschichtige Krise in den Bildungsinstitutionen angeprangert, die jedoch mit dem Entwicklungsplan nicht gelöst wird. Darin werden sieben sehr allgemeine Ziele für Bildung genannt, aber „der Plan vermeidet eine tiefere Diskussion über das Hauptproblem im Bildungssektor – die Unterfinanzierung“ so Politikwissenschaftler Ángel Pérez im Wirtschafts­magazin Dinero. Auch im neuen Entwicklungs­plan sind den Zielen keine Finanzierungen zugeordnet. Es wird befürchtet, dass Schulen und Universitäten privatisiert werden, was die Wut der Studierenden weiter wachsen lässt. Auf den Demonstrationen am 25. April forderten die Studierenden, dass die Regierung sich an Abkommen hält, die im Dezember 2018 nach einem 65-tägigen Streik der Studierenden ausgehandelt worden waren. Vergeblich warten sie noch auf die 1,34 Millarden Pesos, die den öffentlichen Hochschulen zur Verfügung gestellt werden sollten.
Die sogenannte economía naranja, wie Präsident Duque die kolumbianische Kreativindustrie nennt, wird im Entwicklungsplan besonders hervorgehoben und zielt auf einen kulturellen Wandel in Kolumbien. Die „orangene Wirtschaft“ will Projekte von Kreativen und Tourismus fördern. Mit Krediten und Steuervergünstigungen sollen bildende Künste, Musikszene und Filmproduktion gestärkt werden. Auch soll in kulturelle Einrichtungen und in Schulbücher investiert werden. Was sich jedoch als Fortschritt anhört, entpuppt sich als widersprüchlich. Denn vor allem sollte Kunst und Kultur für die Menschen mit niedrigem Einkommen zugänglicher werden, es ist aber, „als ob nur die Leute der höheren Klasse ein Recht auf Unterhaltung hätten“, sagte der Unternehmer und Konzertveranstalter Ricardo Leyva gegenüber dem Kulturmagazin Arcadia im vergangenen November. Denn mit dem Finanzierungsgesetz der Regierung Duque (siehe LN 533) wurde unter anderem die Steuer auf Internet, Bücher und Konzertkarten erhöht.
Der Fokus des nationalen Entwicklungsplans auf die economía naranja bedeutet nicht, dass der Rohstoffsektor seine Stellung als Antriebskraft der kolumbianischen Wirtschaft verlieren wird. Elf Prozent der im Plan vorgesehenen Gelder sollen dem Ministerium für Bergbau und Energie zugute kommen. Auch Fracking wurde durch das Unterhaus in den Entwicklungsplan aufgenommen, noch muss der Senat entscheiden, ob die umstrittene Methode für Gasgewinnung in Kolumbien angewendet wird. Zurzeit laufen drei Fracking-Pilotprojekte in Kolumbien.

Die Regierung verpasst die Chance, die ländliche Entwicklung voranzutreiben

Für Kleinbauern und -bäuerinnen dürfte vor allem der kleine Etat für sie ein Dorn im Auge sein.
Das Budget für den Agrarsektor fällt dagegen klein aus. Zwei Prozent der Gelder sind für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung vorgesehen, was in Zeiten des Post-Konflikts den Kleinbauern und -bäuerinnen ein Dorn im Auge sein dürfte. „Der nationale Entwicklungsplan zeigt, dass der Landverteilung, der Gesundheit, der Bildung in ländlichen Regionen, der Stromversorgung und weiterer nötigen Infrastruktur für die Verbesserung unserer Produktivität die Finanzierung entzogen wird“ schreibt Andrés Gil, Präsident von ANZORC, einer nationalen Vereinigung von Organisationen von Kleinbäuer*innen, in der Zeitung El Espectador.
Für den Landwirtschaftsminister Andrés Valencia sind Kritik und Proteste nicht gerechtfertigt. Im Interview mit dem Online Portal Agronegocios behauptet er, dass die Regierung eng mit Bauern und Bäuerinnen zusammenarbeite, um die Situation im ländlichen Raum zu verbessern. Doch dem widersprechen zivilgesellschaftliche Netzwerke wie ANZORC, die Cumbre Agraria (alternativer Agrargipfel) oder selbst die Minga (gemeinschaftliche indigene Protestorganisation), welche noch darauf warten, dass die Regierung sich an Verhandlungen beteiligt oder bereits ausgehandelte Abkommen aus dem vergangenen Jahr erfüllt. „Es ist inkohärent, dass sich die Regierung über die Proteste auf den Landstraßen wundert, wenn sie weiterhin die Wege für den Dialog versperrt“, erklärt ANZORCs Präsident Gil. Es kommt hinzu, dass es keinen klaren Zusammenhang zwischen dem Entwicklungsplan und der Implementierung des Friedensabkommens mit der FARC gibt. Statt die historische Chance anzunehmen, die der Friedensvertrag bietet, um die landwirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben, habe sich die Regierung Duque für den Weg der Polarisierung und Marginalisierung des ländlichen Kolumbiens entschieden, so Gil.
Ein weiteres Anliegen der Protestaktionen in der Hauptstadt war die gravierende Situation für Menschenrechtsaktivist*innen in Kolumbien. Dafür wurde ein humanitärer Zufluchtsort in Bogotá eingerichtet, wo zweitausend Menschenrechtsaktivist*innen die Gefahren sichtbar machen wollen, denen sie in ihrer Arbeit ausgesetzt sind. Letztes Jahr wurden 160 Menschenrechtsaktivist*innen getötet, ein Mord jeden zweiten Tag.

 

// Schlachtfeld Frauenkörper

Vergewaltigung als Vergeltung, als Foltermethode, als Mittel zur Unterdrückung und als Ausdruck militärischer Macht: Millionen Frauen und Mädchen sind im Kontext von bewaffneten Konflikten und Kriegen zu Opfern sexualisierter Gewalt geworden. In Kongo, Sudan, Bosnien und auch in Lateinamerika. Die Zahlen nehmen weltweit besorgniserregend zu. Im April verabschiedete der UN-Sicherheitsrat auf Initiative Deutschlands eine Resolution, die sexualisierte Gewalt in Krisengebieten bekämpfen und die Opfer stärken soll. Die Menschenrechtsanwältin Amal Clooney sprach vor dem Rat von einem „Nürnberg-Moment” in Anspielung auf die Nürnberger Prozesse gegen führende Nazionalsozialisten nach dem Zweiten Weltkrieg.

Tatsächlich kann von Prozessen oder gar Verurteilungen in den meisten Fällen keine Rede sein. Im internationalen Strafrecht ist sexualisierte Gewalt zwar als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit kodifiziert. Doch in der Praxis spiegelt sich das Ausmaß dieser Verbrechen weder in Prozessen noch in den Urteilen wider – die Straflosigkeit ist immens. „Kollektives Versagen” bescheinigte die jesidische Aktivistin Nadia Murad aus dem Irak der internationalen Gemeinschaft in ihrer Rede vor dem Sicherheitsrat. Murad wurde 2014, wie hunderte andere jesidische Frauen, vom sogenannten Islamischen Staat verschleppt und in ihrer Gefangenschaft vielfach vergewaltigt. Bisher, so Murad, sei kein einziger Täter verurteilt worden; bei der UN würden Reden gehalten, aber keine konkreten Maßnahmen ergriffen.

Es braucht mehr als Lippenbekenntnisse, um die unsäglichen Gräueltaten zu beenden.

Es sind auch staatliche Akteure, die − wie derzeit in Nicaragua − auf das Mittel sexualisierter Gewalt in Konfliktsituationen zurückgreifen (siehe Interview ab Seite 14). Aus zahlreichen Berichten von Opfern wissen wir, dass die Frauen nach ihrer Verhaftung mit der Integrität ihres Körpers den Preis dafür zahlen, dass das Aufbegehren der Zivilgesellschaft das Regime ins Wanken bringt. Wir wissen von Vergewaltigungen durch Paramilitärs und Polizei, von Wärtern, die Gefangene zwingen, sich vor ihnen nackt auszuziehen, von grabschenden Polizisten und von der Verweigerung medizinischer Hilfe bei durch Folter provozierter Fehlgeburten. Für diese Taten werden weder das Präsidentenpaar Ortega-Murillo noch ihre Befehlsempfänger vor einem Internationalen Strafgerichtshof landen.

Und auch die mindestens 24.000 kolumbianischen Frauen, die während des bewaffneten Konflikts Opfer sexualisierter Gewalt durch Paramilitärs, FARC-Guerilla und Soldaten der staatlichen Armee geworden sind, haben von der neuen Resolution nicht viel zu erwarten. Nachdem Präsident Iván Duque angekündigt hat, die Übergangsjustiz, die als Teil des Friedensabkommens geschaffen wurde und über eine eigene Ermittlungsgruppe zu sexualisierter Gewalt verfügt, in ihren Zuständigkeiten zu beschneiden, fürchten die Frauen um die erhoffte Aufarbeitung. Der normale Rechtsweg bei solchen Verbrechen führt in Kolumbien in 90 Prozent der Fälle zu Straflosigkeit.

Die UN-Resolution ist ein wichtiges Signal, doch es braucht mehr als Lippenbekenntnisse, um die unsäglichen Gräueltaten, die im Kontext von Kriegen und bewaffnet ausgetragenen Konflikten an Frauen begangen werden, zu beenden. Das zeigen auch bisherige UN-Resolutionen zum Thema, denn viel hat sich seitdem nicht geändert. Ein Strafgerichtshof für sexualisierte Gewalt, wie ihn Amal Clooney vorschlägt, wäre eine konkrete Maßnahme. Da die USA und Russland den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag für „tot” befinden und als gescheitertes „Experiment” ansehen, müssten andere Länder gemeinsam ein eigenes Gericht zur Aufarbeitung von Sexualverbrechen in Konflikten gründen.

Ob die Opfer von der Resolution die Anerkennung ihres Rechts auf körperliche Unversehrtheit erhoffen dürfen, wird davon abhängen, ob die UN tatsächlich wirksame Instrumente schafft, die zur Verurteilung der Täter führen können.

 

// Die Redaktion

DON LEO WILL KEIN NARCO SEIN

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Wieder in seiner Welt Don Leon (Foto: Lorena Schwab De La O)

„Ich bin im Jahr 1953 in der Region Chocó geboren. Als Kind ging ich nur für ein paar Monate in die Schule, gerade genug, um Lesen und Schreiben zu lernen. Mit neun Jahren sandte mich meine Familie auf eine Kaffeefarm. Die Besitzer der Farm, die wir Kinder als unsere ‚Großeltern‘ bezeichneten, nahmen uns als einen Teil ihrer Familie auf. Diese Zuneigung betäubte unsere Armut.

Im Jahr 1975 hatte ein Frost in der brasilianischen Region Paraná, wo die größten Mengen an Kaffee weltweit produziert wurden, tausende Kaffeepflanzen zerstört. Kolumbien, zuvor der zweitgrößte Kaffeeproduzent der Welt, stieg auf und wurde die Nummer eins. In Brasilien nannte man dieses Ereignis helada negra (der schwarze Frost), während die kolumbianische Regierung es stattdessen helada santa (der heilige Frost) nannte. Denn der Wert eines Pfunds Kaffee in Kolumbien stieg von 70 Cent auf vier US-Dollar in den Jahren 1976 und 1977. Durch diesen übertriebenen Preis wurden die Farmbesitzer immer reicher und trotzdem wurden wir Kaffeepflücker immer noch mit demselben erbärmlichen Tageslohn bezahlt, wie es vor der Erhöhung der Kaffeepreise der Fall war.

Aus Angst vor der Guerilla und der aufkommenden Gewaltsituation begannen die ‚Großeltern‘ ihre Farmen billig zu verkaufen oder sie zu verlassen, wenn niemand mehr dafür zahlen wollte. In diesem Moment tauchten neue Besitzer auf, die die Farmen kauften und Schutzgeld an die Guerilleros zahlten. Wenn sie eine Farm kauften, rissen sie die bescheidenen, aber gemütlichen Häuser ab und bauten neue große und schöne Häuser. Dann kauften sie eine andere Farm und machten dasselbe. Wenn sie acht bis zehn Grundstücke gekauft hatten, nannte man diese hacienda.

Was dann passierte, verletzte unsere Seele, unsere Gefühle und unseren Stolz als Bauern. Es begann eine soziale Diskriminierung, die wir aus unserer Kindheit nicht gewohnt waren. Die großen Häuser sicherten sie mit Elektrozäunen, damit wir uns nicht näherten und sie brachten Dinge wie Pools und Saunen mit, die wir noch nicht einmal auszusprechen wussten.

Ungerechtigkeiten von allen Seiten

Die Gewohnheiten von den ‚Großeltern‘, uns als Familie aufzunehmen und uns dasselbe Essen wie ihren Kindern zu geben, ging durch die neuen Besitzer der haciendas verloren. Die Nächte wurden traumatisch, weil wir in Kasernen untergebracht waren, wo bis zu 200 Arbeiter auf unmenschliche Weise auf dem Boden schliefen. Wir mussten unser Geschäft in den Kaffeeplantagen erledigen und uns in den Bächen baden, weil es noch nicht einmal Toiletten für uns gab. In dieser Zeit sahen wir Kaffeepflücker, dass für die Besitzer der hacienda die Hunde wichtiger waren als wir Arbeiter. Aufgrund dieser Ungerechtigkeit verfluchte ich mein Leben als Kaffeepflücker und betete in der Nacht, dass Gott mir eines Tages eine eigene Farm geben möge, falls ich das Glück hätte, weder von der Guerilla noch von den Paramilitärs oder dem Militär umgebracht zu werden. So könnte ich den Besitzern der haciendas in Kolumbien zeigen, dass es nicht nötig ist, die Arbeiter zu erniedrigen, ihre Gefühle zu verletzen oder sie als Sklaven zu halten, um eine Farm zu verwalten.

Die Ungerechtigkeiten von allen Seiten verwandelten uns in Nomaden. Im Jahr 1980 wurde ich bis zur Sierra Nevada in Santa Marta gelockt, wo mir gesagt wurde, dass es viel Kaffee gäbe und man als Pflücker sehr gut bezahlt würde. Aber als ich ankam, merkte ich, dass alles ein Betrug war. Denn es gab keinen Kaffee, dafür aber Marihuana auf riesigen Feldern. Ich hatte kein Geld, um zurückzukehren, Essen zu kaufen oder ein Zimmer zum Schlafen zu bezahlen, sodass ich gezwungenermaßen in den Marihuana-Feldern nach Arbeit fragte und dort blieb. Es stellte sich heraus, dass die Arbeit zwar hart war, aber wir das drei- oder vierfache von unserem Lohn als Kaffeepflücker verdienten.

Statt Kaffee, Marihuanafelder soweit das Auge reicht

Das Leben auf dem Feld in der Welt des Marihuanas ist nicht angenehm. Sie ist ungerecht und hart, aber niemand ist dem anderen überlegen. Alle, angefangen bei dem Besitzer der Plantage bis hin zum bescheidensten Arbeiter, essen dasselbe und schlafen in denselben Betten, sodass man die Diskriminierung nicht spürt. Doch trotzdem erreichte uns in der Sierra Nevada die Gewalt mit großer Brutalität, da es dort den Drogenhandel gab. Wieder mussten wir fliehen und so kam ich im Jahr 1984 zu einer riesigen Plantage an der Grenze zu Brasilien, um Kokablätter zu sammeln. Ich kannte diese Pflanze noch nicht, aber hörte schon am ersten Tag die Arbeiter über ein sogenanntes Labor sprechen. Ich wurde neugierig und fragte nach Erlaubnis, um das Labor zu sehen. Dort sah ich einen alten Mann, der Don Vicente hieß und auf einem Baumstamm saß, um die Kokablätter zu verarbeiten. Ich fand, dass es sehr einfach aussah und sagte mir selbst, dass auch ich eines Tages Chemiker werden müsste. Deshalb setzte ich mich jeden Tag nach meiner Arbeit in die Nähe des Labors, nur um zu sehen wie der Alte die Kokablätter verarbeitete. Nach vier Tagen merkte ich, dass Don Vicente nicht mehr die Präzision eines Chemikers hatte, da seine Hände zitterten, wenn er die Chemikalien zusammenmischte. Durch meine Erfahrung als Bauer merkte ich sofort, dass er Malaria hatte.

Meine Begeisterung wurde jeden Tag größer, da ich hoffte, dass ich diesen Mann in seiner Arbeit ersetzen könnte. Nach einigen Tagen musste er mich zur Hilfe rufen und in diesem Moment wurde ich zu der Person, die ich mein ganzes Leben verabscheut hatte, nämlich zu einer opportunistischen. Denn mich interessierte nicht mehr die Krankheit des Mannes, sondern ich wollte nur, dass er mir alles Nötige beibrachte. Er musste es tun, da die Narcos keinen Fehler erlauben. Zwölf Tage später war ich ein Experte und konnte den ganzen Mist manipulieren, der gebraucht wurde, um das Gift herzustellen.

Nach zwei Monaten Arbeit wurden wir alle zum Haus des Besitzers bestellt und bekamen unseren Lohn. Als ich das Geld in der Hand hatte fiel ich vor Freude fast um. Es war für mich so viel Geld, dass ich das Gefühl hatte, in der Lotterie gewonnen zu haben. Ich fühlte mich groß und wichtig und fing an, meine Kollegen von oben herab zu behandeln, wie die narcos, wenn sie viel Geld verdienen. Nach zwei oder drei Stunden – ich lag in meiner Hängematte und hatte bereits einen kühleren Kopf – fing mein Gewissen an, mir alles vorzuwerfen, was ich getan hatte. Ich realisierte, dass aufgrund meiner Tätigkeit in den Bergen tausende von Familien die schlimmste Hölle durchlebten, ohne eine Zukunft für ihre Kinder zu haben. Ich dachte auch an meinen Sohn, der erst einige Monate alt war und dessen Leben irgendwann ebenfalls von einer erbarmungslosen Person vergiftet werden würde, so wie ich es bei vielen Familien tat.

Mut für die Flucht aus der Hölle

Nach einigen Minuten gab mir Gott den Mut für die Entscheidung, aus dieser Hölle zu fliehen ohne die Konsequenzen zu fürchten. Es bestand die Gefahr, vom Regenwald lebendig verschluckt oder von den narcos gefunden und getötet zu werden, denn die Flucht war für sie der größte Betrug. Um elf oder zwölf Uhr in der Nacht, ich kann mich an die Uhrzeit nicht mehr genau erinnern, traf ich also die Entscheidung, zu fliehen. Es waren vier Tage Wanderung durch den Regenwald bis ich das erste Dorf erreichte. Dort konnte ich essen, trinken, schlafen und Medizin kaufen. Denn selbst mein Kopf war geschwollen von den Insektenstichen und ich war mit Malaria infiziert.

Ich kam zu meiner Familie und wir kauften uns mit dem Geld, das ich verdient hatte, alles, was wir vorher nie besessen hatten: einen Fernseher, Möbel für das Wohnzimmer und andere Dinge. Mit dem Rest des Geldes kauften wir einen kleinen Laden, der mit den Jahren ständig wuchs. Im Jahr 2009 war ich schon im Besitz von zwei Autos, mehreren Geschäften und Grundstücken. Aber ich war nicht glücklich, weil das nicht meine Welt war. Meine Welt waren schon immer die Berge, die Felder und die Bauern. Ich sah sie jeden Tag vorbeikommen, beladen mit der Demütigung, die ich mit viel Mühe losgeworden war.

An einem Tag sagte ich deshalb zu meiner Frau und meinem Sohn, dass es an der Zeit wäre, alles zu verkaufen um in die Berge zurückzukehren. Ich wollte eine Farm kaufen, um meinen lang ersehnten Traum zu realisieren. Sie waren einverstanden und wir verkauften alles, außer ein kleines Auto, damit mein Sohn zur Universität fahren konnte, um zu studieren. Dann kaufte ich eine seit der Zeit der Gewalt völlig verlassene Farm mit einem beschädigten Haus. Und ich tat dasselbe, was die Besitzer der hacienda damals taten: Ich riss das Haus ab und baute stattdessen ein großes und schönes Haus mit vielen Zimmern und Bädern. Ich wollte, dass der bescheidenste Arbeiter der Farm dasselbe aß wie mein Sohn, in denselben Betten schlief und ein angemessenes Gehalt bekam. Und noch viel wichtiger: dass dieser Arbeiter eine Wertschätzung als Mensch erfährt und nicht wie ein Produktionsroboter behandelt wird, so wie ich das in meiner Jugend erlebt habe.“

 


KAFFEEINDUSTRIE IN KOLUMBIEN

Die Kaffeebäuerinnen und -bauern in Kolumbien haben mit drastischen Preissenkungen zu kämpfen. Letzten Februar sank der Wert eines Pfunds Kaffee auf 0,93 US-Dollar, den niedrigsten Stand seit 13 Jahren. Der Verkaufswert liegt weit unter den Produktionskosten und ist auch um 74 Prozent geringer als der 1983 durch das Internationale Kaffee-Übereinkommen festgelegte Preis. Die Zukunft der Kaffeeindustrie in Kolumbien und der ganzen Welt bleibt dadurch ungewiss. Der nationale Verband der Kaffeeproduzent*innen in Kolumbien (FNC) stellt dabei keinen tatsächlichen Schutz für die Betroffenen dar. Dieser legte einen „idealen Preis“ fest, der 42 Prozent unter dem im Jahr 1983 festgelegten Preis liegt und für die Kaffeebäuerinnen und -bauern keineswegs „ideal“ ist. Schätzungen zufolge verdienen sie lediglich 2 US-Cents an jeder Tasse Kaffee. Die Kaffeeproduzent*innen sind oftmals von extremer Armut betroffen und müssen auf illegale Produktionen umsteigen oder in die Städte migrieren. Die meisten von ihnen können sich kaum gegen die multinationalen Kaffeekonzerne wehren, die zum großen Teil in der Schweiz angesiedelt sind. Diese wollen trotz der Warnungen, dass Kaffeebäuerinnen und -bauern zunehmend in den illegalen Sektor wechseln, keine höheren Preise zahlen. So ist der rentablere Kokaanbau seit dem Friedensvertrag mit der FARC-Guerilla im Jahr 2016 stark gestiegen.

 

MEIN NACHBAR, DER PARAMILITÄR


Erinnerungen und Schnaps Manche Geschichten erzählen die Bewohner*innen nur leise (Foto: Danilo Garcia)

 

Auf den ersten Blick wirkt der kleine Ort idyllisch. Amalfi, 20.000 Einwohner*innen, im Norden des kolumbianischen Departamentos Antioquia gelegen, ist von grünen Bergen umgeben, an deren Hängen Kaffee angebaut wird und hinter deren Silhouetten die Goldminen liegen. Über die vielen kleinen Straßen drängen sich Fahrräder bis sie an den zentralen Platz gelangen, auf dem Bäume, Bänke, Brunnen, Statuen, Kirche, Restaurants, Cafés und Kneipen zum Verweilen einladen. Amalfi ist belebt, freundlich, geschäftig; hinter den offen stehenden Türen lassen sich die großen Innenhöfe erahnen.

Im Park vor der Kirche steht die Statue eines Jaguars. Eine Hommage an jenen Jaguar, der vor vielen Jahren einst ins Dorf kam und für Unruhe sorgte. Als ihn mutige Amalfitanxs erlegten, wurde ihnen zu Ehren ein großes Fest gefeiert und ein Dorfmythos begründet. Diese Geschichte erzählen sie gerne in Amalfi. Andere nicht.

Jene anderen Geschichten lassen sich zwischen Fahrradklingeln und spielenden Kindern heute nicht erahnen. Nur wer sie kennt, sieht das Dorf mit anderen Augen. So wie Daniela*, 25 Jahre alt, Sozialarbeiterin, geboren in Amalfi und hier aufgewachsen. Sie schiebt ihr Fahrrad, immer wieder bleibt sie kurz stehen, um Menschen zu begrüßen. Als sie am luxuriösesten Haus des Ortes vorbeikommt, flüstert sie den Namen des Paramilitärs, der es gebaut hat. Bis heute wohnt seine Familie dort. Daniela kennt sie – natürlich. Eine ganze Reihe von mächtigen Paramilitärs sind in der circa 20.000 Einwohner*innen zählenden Gemeinde geboren. Unter ihnen die drei Castaño-Brüder, die mit den Autodefensas Unidas de Colombia (AUC, Vereinigte Bürgerwehren Kolumbiens) jene Gruppe gründeten, die für die meisten Massaker im kolumbianischen Bürgerkrieg verantwortlich sind. Doch auch die Brüder „Don Mario“ und „El Alemán“, sowie „Monoleche“ und „Arcángel“ kommen von hier. Namen, die in großen Teilen des Landes Schauer über den Rücken laufen lassen und die wie ein Nebel über dem Dorf von Amalfi liegen.

Wie Daniela haben viele Amalfitanxs Teile ihrer Biographien mit den Para-Kommandanten geteilt: „Ich hab damals als Kind mit den Castaños auf der Straße gespielt“, erzählt Leandro*. Damals ahnte er noch nicht, wie sich ihre Wege später noch einmal kreuzen würden. Leandro arbeitete als junger Erwachsener als Polizeiinspekteur. Seine Aufgabe: Jene Leichen protokollieren, die der Paramilitärchef und Kindheitsfreund Carlos Castaño in Auftrag gegeben hat.

Ein erbarmungsloser Krieg gegen alle, die nur in den Verdacht geraten, die Guerilla zu unterstützen

Die Geschichte der berühmt-berüchtigten Castaños beginnt mit den Aktivitäten von Fidel Castaño. Er wird 1951 als Sohn einer Viehzüchterfamilie auf einer Finca in Amalfi geboren und nimmt über den Autohandel bald Kontakt zur organisierten Kriminalität auf. In Medellín lernt er Pablo Escobar kennen, arbeitet mit ihm zusammen. 1979 wird Castaños Vater von der FARC entführt, Fidel ist zu dem Zeitpunkt 28 Jahre alt, sein Bruder Carlos 14. Die Familie bezahlt die Hälfte des Lösegeldes; das reicht der FARC nicht: die Guerillerxs ermorden das Familienoberhaupt. Zu jenem Zeitpunkt ist Entführung eine der Haupteinnahmequellen der Guerilla, viele Familien werden Opfer. Doch die Castaños haben die nötigen Mittel, um sich zu rächen. Schon bald schmieden Carlos und Fidel Pläne für den Aufbau eigener Kampfeinheiten. Mit einer kleinen Privatarmee, den Autodefensas Campesinas de Córdoba y Urabá (ACCU), beginnen sie in Córdoba und im Norden Antioquias ihren Rachefeldzug. Ein erbarmungsloser Krieg gegen die Zivilbevölkerung und jede*n, der*die nur in den Verdacht gerät, die Guerilla zu unterstützen, entbrennt. Damit haben die Castaños Erfolg, gewinnen die Unterstützung von Teilen des Staates und der öffentlichen Sicherheitsapparate, mit denen sie gemeinsam ihre Massaker verüben. Nachdem Fidel 1994 von einer Splittergruppe der EPL-Guerilla umgebracht wird, übernimmt Carlos Castaño das Ruder und vereint mehrere paramilitärische Gruppen zu den Autodefensas Unidas de Colombia (AUC). Allein im Zeitraum zwischen 1980 und 2000 brachten die paramilitärischen Gruppen über 120.000 Menschen um. Carlos Castaño selbst wird später von seinem jüngeren Bruder Vicente ermordet, der fortan den Schrecken weiterführt. Es ließe sich viel über die Castaños und anhand von ihnen über die jüngere Geschichte Kolumbiens erzählen. Auch über die Brüder Rendón Herrera, „El Alemán“ und „Don Mario“, die sich damals mit weiteren Amalfitanos den Castaños anschlossen. „Don Mario“ baute mit den Autodefensas Gaitanistas de Colombia die bis heute stärkste paramilitärische Gruppe auf.

Warum die Paramilitärs weitestgehend unbehelligt massenhaft Menschen ermorden konnten, ist eine Frage, die auch mit der Verflechtung von Zivilbevölkerung und Paramilitärs zu tun hat. Und die zu weiteren Fragen führt: Was bringt eine Viehzüchterfamilie dazu, zu Massenmörder*innen zu werden? Und wie geht und ging die Dorfgemeinschaft von Amalfi mit jenen Söhnen des Dorfes um?

Der Polizist Leandro hätte sich beinahe selbst den Castaños angeschlossen. Damals, als er als einziger Polizist in einem Vorort Amalfis arbeitete, in dem die ELN das Sagen hatte. Auch Leandro war den Befehlen der Guerilla unterworfen, selbst wenn er das so niemals zugeben durfte. „Ich beschränkte mich dann mehr auf Sozialarbeit.“ Eines Tages kam ein alter Freund auf Leandro zu und fragte, ob er nicht mit den Castaños kämpfen wolle; schließlich könne er mit der Waffe umgehen und hätte doch als Polizist Erfahrung darin, Gemeinschaften zu kontrollieren. Sie könnten ihm eine gute Waffe, viel Geld und ein Auto anbieten. Leandro dachte nach. Zwei, drei Tage bespricht er sich mit seinen Eltern. „Ich hab mich an meine Werte erinnert“, sagt er. Er ahnte, was auf ihn zukommen könnte. Als er später die Massaker sieht, ist die Realität noch schlimmer als das Befürchtete. Leandro sagt: „Ich wäre einer von denen gewesen.“ Heute wirkt Leandro mit seinen Falten und dem freundlichen Lächeln wie die Personifizierung des Amalfitanos, der es irgendwie geschafft hat, sich rauszuhalten, obwohl er mittendrin war.


Viel erlebt Maultier und Mensch und die Last der Vergangenheit (Foto: Danilo Garcia)

So handhabt er es auch, als er 1997 zur zentralen Polizei in Amalfi wechselt. Um den Schrecken kommt er nicht herum; seine Aufgabe ist die Registrierung der Toten. Es ist die Zeit, in der die Paramilitärs in das Dorf zurückkehren, bewaffnet und gnadenlos gegen jede*n, der oder die nur im Geringsten in den Verdacht gerät, die Guerilla zu unterstützen. „Teilweise haben wir an drei Tagen 14 Leichen begutachtet.“ Eines Tages rief der Kommandant der Paramilitärs bei Leandro an und kündigte an: „Du, für morgen hab ich zwei Leichen für dich. Kannst dich schon mal drauf vorbereiten.“ Leandro wusste viel und war doch machtlos. Er leitet die Berichte über die Toten an die Staatsanwaltschaft weiter. „Da versackten sie“, sagt Leandro, und fügt ein kolumbianisch-resigniertes „Natürlich.“ an. Er sagt, dass der Staat nicht präsent war. Dass der Staat die Leute im Stich gelassen hat. Und dass der Name paramilitar in Kolumbien zu lesen ist wie para militar – „für das Militär“. Teilweise waren es die gleichen Leute, die an einem Tag die Uniform der kolumbianischen Armee und am nächsten Tag die schwarze Armbinde der Paramilitärs trugen. Sie ist spürbar, die Enttäuschung eines Mannes, der selber an die Gesetze des Staates geglaubt hat. Sich für die Polizei und gegen ein Leben als Paramilitär entschieden hat. Und es ist die Geschichte eines Mannes, die zeigt, dass es viele hätte treffen können. Wäre er damals mitgegangen, nach Córdoba, nach Uraba, auf den Rachefeldzug der Castaños, wäre er zum Mörder geworden. Seine Geschichte ist eben auch jene, die zeigt, dass es doch eine Wahl gab.

„So sind die Paras Teil der Landschaft geworden.“

Dass die Castaños diese auch hatten, wird im Dorf zwar nicht abgestritten, aber auch nicht unbedingt betont. „Du musst dir vorstellen, die Guerilla hat ihren Vater entführt, sie haben zweimal Lösegeld bezahlt, und die haben ihn trotzdem umgebracht“, sagt der Nachtwächter Don Juan zur Rechtfertigung.

Dabei haben sie in Amalfi den Schrecken selbst erlebt. Das zeigt ein vierstündiges Kneipengespräch am Abend, das die alten Zeiten wieder aufleben lässt. Mit dabei zwei gute Seelen des Dorfes: Oscar Mejía, der seit mehreren Jahrzehnten im technischen Bereich der Stadtverwaltung arbeitet, 44 Jahre alt, und Omar Blandón, 48, der im Auftrag der Stadt Landwirtschaftsprojekte durchführt. Sie haben viele Gemeinsamkeiten: ein stets freundliches Lächeln, Gelassenheit. Doch an diesem Abend sprudeln aus ihnen die Erinnerungen aus mehr als drei Jahrzehnten, in denen bewaffnete Gruppen in Amalfi das Sagen hatten. Es sind die beiden Überfälle der ELN-Guerrilla 1991 und 1996, an die sie sich am besten erinnern. Damals stürmte die ELN die Polizeizentrale. Im wieder aufgebauten Gebäude zog eine Außenstelle der Universidad Nacional ein: Bildung gegen die Gewalt. Es sind die ersten kollektiven traumatischen Erinnerungen. Die Kämpfe, die vier bis fünf Stunden andauerten, die toten Zivilist*innen. Mejía erinnert sich, dass er mit Freunden bei einem Sportfest war. Die Schüsse hielten sie erst für Feuerwerk. Als sie in der Ferne Flugzeuge sahen, kam die Panik. Angst, die Armee könnte bombardieren. So kommt es nicht. Als später der Bürgermeister ermordet wird, setzt das Militär für zwei Jahre den ersten „Militärbürgermeister“ Kolumbiens ein.

Doch nichts übertrifft den Schrecken, der mit der Rückkehr der Paramilitärs 1997 beginnt. „Es gab hier nie das ganz große Massaker“, erzählt Mejía. „Aber ein langsames Massaker der Betäubung.“ Tag für Tag gab es Tote. Sich nicht einzumischen war quasi unmöglich. „Am einen Tag kam die Guerilla und fragte dich, ob sie dein Huhn mitnehmen können. Jeder wusste, dass er keine Wahl hatte. Am nächsten Tag kamen die Paras und beschuldigten dich, die Guerilla durch das geschenkte Huhn unterstützt zu haben“, erzählt Mejía. Wer sich in irgendeiner Weise mit einer der Gruppen anlegte – oft ohne es zu wollen -, schaufelte sich sein eigenes Grab. Bei den Opfern der Paramilitärs galt das wörtlich: Nicht wenige zwangen sie vor der Ermordung, das Loch zu buddeln, in das man sie später tot hineinwarf.

Mejía erzählt davon, wie er einst selbst fast in einem der unbenannten Gräber gelandet wäre. Einer Freundin wurde ein Zettelchen unter der Tür durchgeschoben: „Du hast 24 Stunden, um zu gehen.“ Das kam vor, doch in ihrem Fall schien es ungewöhnlich. Mejía machte sich also auf den Weg und fragte den Kommandanten der Paramilitärs: Dieser verneinte, der Zettel sei nicht von ihm. Am selben Tag suchte Mejía den örtlichen Guerillachef auf und erhielt die selbe Antwort.

Später erfuhren sie: Jemand aus dem Dorf wollte die allgemeine Angst ausnutzen und sich auf diesem Weg den Arbeitsplatz der Freundin in der Stadtverwaltung ergattern. Die Freundin blieb, doch am nächsten Tag lud der Para-Kommandant Mejía vor. Seine Konsultationen wurden ihm zum Verhängnis. „Man hätte ihm gesagt, Mejía habe ein Treffen mit der Guerilla gehabt“, sagte der Para-Kommandant verärgert. Mejía erklärte sich. Sie lassen ihn gehen – vorerst. Am selben Abend werden in dem Vorort, in dem Mejía lebt, drei Personen von den Paramilitärs umgebracht. Mejía hatte sich an diesem Abend kurzfristig entschieden, in Amalfi zu bleiben und nicht nach Hause zu fahren. Sonst – und er sagt es heute lachend – hätte es ihn auch erwischt. In dieser Zeit lieferten viele Menschen durch falsche Anschuldigungen an die mordenden Paras aus.
Oscar Mejía überlegt, dann sagt er etwas bemerkenswertes: „Dabei habe ich vor der Guerilla eigentlich nie Angst gehabt. Mit denen konnte man reden.“ Unvergessen bleibt der Schrecken der Paramilitärs, wenn sie ins Dorf kamen. Der Pick-Up in scharfer Erinnerung: „Toyota, dunkelrot, Kennzeichen 619.“ Wen sie auf die Ladefläche zerrten, der betrat den „Weg in den Himmel“. Sie fuhren die Menschen aus dem Dorf, schnitten die Körper in Einzelteile und warfen sie in den nahegelegenen Rio Medellín. Das war eine Anordnung von Carlos Castaño. Nachdem die Menschen in der ersten Zeit noch offen im Dorf umgebracht wurden, wendeten sich mehrere alte Gefährt*innen an den Chef der mordenden Gruppe. „Carlos, kannst du nicht wenigstens dafür sorgen, dass das außerhalb des Dorfes stattfindet?“ Der Kommandant erfüllte diesen Gefallen.


„Wir haben in Amalfi eine besondere Gabe, zu vergessen.“

Das Morden wird zur Alltäglichkeit. Mejía wendet sich an Blandón: „Weißt du noch, als sie Limber, Camilo und die anderen beiden umgebracht haben? Da warfen sie die Leichen auf den Marktplatz und nebendran unterhielten sich die Leute weiter, als ob nichts passiert wäre.“ Auch die Soldaten stehen tatenlos daneben, als sie die Menschen auf die Pick-Ups laden. Mejía und Blandón erinnern sich an Namen, Tage, wie das Wetter war. Bei all dem, was sie den Menschen angetan haben: Wie steht man heute zu den Castaños? „Das waren gute Leute, fleißig, Leute vom Land“, da sind sich Mejía und Blandón einig, so wie die meisten in Amalfi. Es scheint, als hätte man sich stillschweigend darauf geeinigt. Natürlich haben sie schreckliche Sachen gemacht, aber… Und dieses „Aber“ ist groß geschrieben in Amalfi. Da gibt es den Schmerz über den Tod des Vaters. So wie die Macht des Geldes, die die Menschen eben schlechter macht. Und die falschen Freund*innen.

„Viele haben unter den Guerillas gelitten“, sagt Mejía. „Aber manche hatten eben das Geld, um sich zu wehren.“ So wie die Castaños. Für einige sind sie bis heute Helden. Die Capos kamen und luden auf Schnaps ein, 30 bis 40 Leute. „Mit denen konntest du dich gut hinsetzen und ein Bier trinken.“

„So sind die Paras Teil der Landschaft geworden“, sagt Omar Blandón und fügt an: „Die mussten sich hier nie entschuldigen.“ Sie waren eben da und wenn du nicht gehen wolltest, musstest du mit den Familien zusammenleben. Dazu kommt eine Neigung, dem Opfer eine Mitschuld zu geben. Manche wurden umgebracht, weil sie eben mit den falschen Leuten geredet hatte. Oder weil sie den Mund nicht halten konnte. Das nimmt die Täter erstmal aus der Schusslinie. „Die Leute hier sind sehr katholisch und hoffen, dass Gott eines Tages für Gerechtigkeit sorgen wird“, erklärt Mejía über seine Nachbarschaft. Diese Einigkeit unterstreichen die Amalfitanxs durch ein schwarzes Kreuz auf der Stirn. So leiten sie die „Semana Santa“, die heilige Zeit um Ostern, ein.

Ebenso einheitlich ist die Version der Geschichte, die in Amalfi heute laut ausgesprochen wird. „Die Castaños waren eine ehrenwerte Familie unseres Dorfes“, meint Mejía und erwähnt zum Beweis einen der Brüder, der unbehelligt auf seiner Finca lebte und sich aus dem bewaffneten Konflikt stets rausgehalten hatte. Vielleicht ist ein solches Geschichtsverständnis auch eine Notwendigkeit, um weiter die Dorfgemeinschaft aufrecht zu erhalten. Selbst im Krieg. Sonst ist es schwierig zu verstehen, warum heute in Amalfi die Menschen nach wie vor nett und aufgeschlossen wirken und die Türen der Häuser offen stehen. Es ermöglicht auch den Mitgliedern der Mörder*innenfamilien, in Ruhe zu leben. Ein Sohn von Carlos Castaño lebt nach wie vor im Dorf. Das Hostel am zentralen Platz gehört einer Tante. Die Supermärkte und weitere Geschäfte gehören Familienmitgliedern von „Don Mario“ und „El Alemán“. Und mit Federico Gil Jaramillo ist ein Familienmitglied der Castaños der wohl aussichtsreichste Kandidat für die nächsten Bürgermeister*innenwahlen. Ein Thema, über das sich nur mit leiser Stimme unterhalten wird – auch heute noch.

Als in diesen Tagen die in der Gegend präsente ELN einen „bewaffneten Streik“ angekündigt hat und eines Abends die Lichter in Amalfi ausgingen, da erschrak Omar Blandón – so wie einst, als die Lichter ausgeknipst wurden, damit die Menschen im Dunkeln aus ihren Häusern gezogen und auf den Pick-Up geladen wurden. Noch vor wenigen Jahren war die Gefahr real. Es ist um das Jahr 2010, als die verschiedenen paramilitärischen Gruppen sich in Kolumbien, um die verbliebenen Pfründe bekriegen. Auch in Amalfi. Hier ist es heute ruhiger geworden. „Es gibt nicht mehr viel Koka, auch kaum mehr Gold in den Minen“, erklärt Oscar Mejía die Gründe für den überraschenden Frieden. Denn in den Nachbargemeinden ist der Tod nach wie vor Alltag. So leistet sich Amalfi ein seltsames Schweigen. In vielen vom Konflikt betroffenen Dörfern gibt es heute Erinnerungsräume oder zumindest eine Wand mit den Fotos der Opfer, ein Buch, in dem die Erinnerungen festgehalten werden. In Amalfi gibt es von alledem nichts. Als der damalige Präsident Juan Manuel Santos 2016 den Friedensvertrag mit den FARC zur Volksabstimmung stellte, gewann in Amalfi das „Nein“. Bis heute ist es eine Hochburg der Anhänger*innen von Alvaro Uribe, jenem ultrarechten Ex-Präsidenten, der den Paramilitarismus in Kolumbien mit aufgebaut hat. „Wir haben in Amalfi eine besondere Gabe, zu vergessen“, meint Oscar Mejía.

Daniela wollte sich damit nie abfinden: „Ich habe weinend im Park gesessen, als das Nein-Ergebnis aus Amalfi kam“, erzählt sie und sagt trotzdem: „Aber die Guten hier sind in der Überzahl.“ Zumindest arbeitet die Sozialarbeiterin daran – mit einem kommunalen Filmfestival, das jedes Jahr stattfindet und das dabei helfen soll, ein anderes Amalfi zu kreieren.
Es wird noch Jahre dauern.

Nachtrag: Entgegen der Beteuerungen, dass die Zeit der Gewalt vorbei sei, werden zwei Wochen nach dem Besuch des Autors fünf Bergarbeiter in einem Teil Amalfis umgebracht. Die Umstände werden nicht aufgeklärt. Gerüchte sagen, dass die Mörder Mitglieder der paramilitärische Gruppe Clan del Golfo waren.

* Name geändert

 

SOZIALER PROTEST ZWISCHEN HOFFNUNG UND POLARISIERUNG

Gefährlicher Einsatz Politische Opposition fordert in Kolumbien viele Menschenleben (Foto: Comunicaciones CRIC)

Der Begriff Minga bezeichnet einen kollektiven Arbeitseinsatz und wird in Kolumbien inzwischen auch für politische Versammlungen verwendet. Die derzeit wichtigste heißt „Minga für die Verteidigung des Lebens, des Territoriums, der Gerechtigkeit und des Friedens“. Nach und nach haben sich der Minga-Blockade auf der Panamericana ebenfalls Bauern und Bäuerinnen, Afro-Kolumbianer*innen und indigene Gruppen aus anderen Regionen angeschlossen. Trotz abwechselnd schwerer Regenfälle und brennender Sonne, nahm die Zahl der Protestierenden seit Mitte März eher zu als ab. Die Hauptforderung: Präsident Iván Duque soll in den Cauca kommen, um Rechenschaft abzulegen – über die mehr als tausend vom kolumbianischen Staat nicht erfüllten Abkommen mit den Gemeinden und ihren Organisationen, seine als Unterminierung wahr­­genommene Haltung gegenüber dem Friedensprozess mit der demobilisierten FARC-Guerilla sowie den immer weiter zunehmenden Morden an lokalen Führungspersönlichkeiten und Menschenrechtsverteidiger*innen. 556 solcher gezielten Tötungen verzeichnet das Forschungsinstitut für Entwicklung und Frieden (INDEPAZ) zwischen Januar 2016 und Januar 2019 in Kolumbien, mit einem stetigen Anstieg. Die meisten Morde wurden mit 252 an der Zahl im Jahr 2018 verübt. Die Region Cauca ist in dieser Statistik mit einem Anteil von mehr als einem Fünftel trauriger Spitzenreiter. Aber die Fronten sind verhärtet. Der Präsident weigerte sich wochenlang direkt mit den Protestierenden zu verhandeln und entsendete nur Stellvertreter*innen. „Mit Blockaden verhandeln wir nicht“, wiederholte er immer wieder in einer offensichtlichen Paraphrasierung der gleichen Aussage in Bezug auf Terrorist*innen. Erst am 5. April kam es zu einem Durchbruch bei den Verhandlungen. Die Regierung stellte ein über 230 Millionen Euro schweres Investitionspaket im Rahmen des Nationalen Entwicklungsplanes sowie die direkte Präsenz des Präsidenten in der Folgewoche in Aussicht. Im Gegenzug erklärten sich die an der Minga beteiligten Organisationen bereit, zwar nicht die Minga zu beenden, aber zumindest die Blockade der Panamericana bis auf weiteres aufzuheben.

„Gegen die Minga wird mit militä-rischen Mitteln vorgegangen.“

Bisher setzte Präsident Duque auf die Strategie der Kriminalisierung sozialer Proteste, die sein Verteidigungsminister Guillermo Botero im letzten Jahr mit der Behauptung, alle indigenen Proteste seien vom Drogenhandel finanziert, auf die Spitze trieb. Der Vorwurf, der Protest sei von bewaffneten Gruppen unterwandert oder politisch von der demobilisierten Guerilla FARC kontrolliert, wird seitdem laufend wiederholt. Mitglieder der Regierungspartei Centro Democrático befüttern unter anderem den Twitterkanal #MingaDeLasFarc laufend mit Propaganda. Dass die indigenen Gemeinden seit jeher die Präsenz aller bewaffneten Akteur*innen – egal ob Armee, Guerilla oder Paramilitärs – in ihren Territorien ablehnen und die autonome indigene Justiz regelmäßig Waffen und anderes Kriegsmaterial beschlagnahmt und ausnahmslos vernichtet, wird ignoriert.  Das befördert einerseits die von einigen Vertreter*innen des Regierungslagers betriebene politische Polarisierung der kolumbianischen Gesellschaft, mit fortwährenden Anschuldigungen und Beleidigungen gegen jede Opposition und rechtfertigt andererseits nach außen ein hartes Vorgehen gegen die Blockade. „Gegen die Minga wird mit militärischen Mitteln vorgegangen“, stellt Omar Quirá vom Menschenrechtsprogramm des Indigenen Regionalrats des Cauca (CRIC) fest, welcher als Zusammenschluss von 90 Prozent der indigenen Gemeinden des Cauca maßgebliche Kraft hinter der Minga ist. „Es ist besorgniserregend, dass unter den zur Kontrolle der Minga entsandten Kräften nicht nur Polizisten, sondern auch Soldaten sind. Außerdem gab es mehrere Versuche, die Minga zu infiltrieren. Wir haben ungefähr zehn Militärangehörige identifiziert und an die Defensoría del Pueblo [nationale Ombudsbehörde, Anm.d.Verf.] sowie die UNO übergeben,“ ergänzt Quirá.

Foto: Miguel Boller

Inzwischen sind mehrere Videos veröffentlicht worden, auf denen zu sehen ist, wie Soldaten mit auf Dauerfeuer geschalteten Waffen in Richtung der Protestierenden schießen. Mehrfach wurden auch die Zeltlager der Mingueroas angegriffen, obwohl sie abseits der Panamericana liegen. Militärflugzeuge, Drohnen und Hubschrauber überflogen trotz anders lautender Abmachungen immer wieder die Protestlager und warfen Propagandamaterial oder Leuchtkörper ab. Gleichzeitig versuchten anscheinend auch illegale bewaffnete Gruppen, die Situation zu nutzen, um ihre Positionen zu stärken oder gegen die autonomen Gemeinden vorzugehen, die für sie ein Hindernis bei der Durchsetzung ihres Machtanspruchs darstellen.

Die bisherige Bilanz: Über 100 Verletzte und 11 Tote auf Seiten der Mingueroas, darunter mehr als ein Dutzend durch Schusswaffen Verwundete. Außerdem wurde ein Polizist durch nicht identifizierte Heckenschützen erschossen. Die meisten Toten gab es bei einer noch ungeklärten Explosion in einer Hütte, in der sich mehrere Indigene ausruhten. Laut einem Überlebenden hatten Unbekannte einen Sprengsatz in die Hütte geworfen. Von der Regierungsseite wurden sofort Anschuldigungen laut, die Opfer hätten selbst mit Sprengstoff hantiert.Vom 3. auf den 4. April kam es in Popayán, der Hauptstadt des Cauca, zu massiven Übergriffen auf Gebäude und Installationen des Regionalrats des CRIC als wichtigste Kraft hinter der Minga. Außerdem wurden die Bauernorganisation CIMA und die nationale Ombudsbehörde angegriffen. Mehrere Menschen wurden teils schwer verletzt (siehe Kurznachrichten S.54).
Oberflächlich betrachtet ist der wichtigste Faktor hinter diesen Auseinandersetzungen die in Kolumbien allgegenwärtige Frage nach Landbesitz und einer Agrarreform. Die Bedeutung der Landfrage spiegelt sich auch darin dass die „Integrale Reform des ländlichen Raums“ der erste Punkt der Friedensabkommen von Havanna ist. Laut Daten von Oxfam ist die Ungleichheit in der Landverteilung in Kolumbien weiterhin extrem und hat seit den 1990er Jahren sprunghaft zugenommen: Nur ein Prozent der landwirtschaftlichen Produktionseinheiten kontrollieren über 70 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche.

Hier prallen Welten aufeinander

Im Cauca werden diese Gegensätze besonders deutlich: Auf der einen Seite stehen traditionelle Großgrundbesitzer*innen wie die Zuckerrohrbaron*innen im Norden des Departements, deren Felder sich über tausende Hektar in den am einfachsten zu bewirtschaftenden Ebenen vom Norden des Cauca bis in das Nachbardepartement Valle del Cauca erstrecken. Auf der anderen Seite finden sich tausende Kleinproduzent*innen in den indigenen, afrokolumbianischen und Campesino-Gemeinden, deren Ländereien häufig an den schwer zu bearbeitenden Andenhängen liegen und in vielen Fällen nicht einmal die Größe erreichen, die nach offiziellen Daten für den Unterhalt einer Familie ausreicht. Hinzu kommen relativ neue Akteur*innen wie Cartón Colombia, eine Tochterfirma der europäischen Smurfit Kappa mit Sitz in Irland. 2015 besaß Smurfit Kappa, unter anderem auch Deutschlands größter Hersteller von Kartonverpackungen, in Kolumbien knapp 68.000 Hektar. Mit Slogans wie „Better Planet Packaging“ bastelt die Firma in Europa an ihrem Nachhaltigkeitsimage und schafft es sogar noch, für völlig sterile Fichten- und Eukalyptus-Monokuturen Aufforstungs- und Klimaboni einzustreichen. Hier prallen nicht nur Welten aufeinander, sondern auch Produktionsmodelle: Agrarindustrie und kleine, diversifizierte Produktionsflächen, die neben der Produktion für den Verkauf auch der Selbstversorgung dienen.

Dass es gerade im Cauca immer wieder sowohl zu Gewaltausbrüchen als auch zu längeren Auseinandersetzungen zwischen sozialen Bewegungen kommt, hat weitere Gründe. Zum einen haben die unterschiedlichen bewaffneten Gruppen ein hohes Interesse an der Kontrolle sowohl von Anbaugebieten von Koka und Marihuana als auch an den unterschiedlichen Routen in Richtung Pazifik, wo die Drogen zum Export verladen werden. Zum anderen ist wohl nirgendwo in Amerika, mit Ausnahme der zapatistischen Gemeinden in Mexiko, die indigene Autonomie so weit entwickelt wie im Cauca. Der CRIC ist von fünf Gemeinden bei ihrer Gründung 1971 auf inzwischen 126 Gemeinden mit etwa 270.000 Einwohner*innen in der gesamten Region angewachsen. Die indigene Justiz setzt ihre Eigenständigkeit mit viel Selbstbewusstsein durch. Sie beschlagnahmt und zerstört Waffen und Drogen, und große Infrastruktur- oder Bergbauprojekte müssen regelmäßig mit gut organisiertem Widerstand rechnen. Es gibt autonome Schulen, ein eigenes Gesundheitssysstem und die Gemeinden schrecken auch vor Besetzungen von Ländereien der Familien mit Großgrundbesitz nicht zurück. Der Aufbau eigener Strukturen wurde außerdem von Beginn an mit einer juristischen Strategie begleitet. Damit konnten bestehende Normen und sogar Regelungen, die noch aus der Kolonialzeit stammen, subversiv zur Untermauerung von Forderungen und zur Absicherung von Erreichtem genutzt werden. Zusätzlich wurde efolgreich Lobbyarbeit für Gesetzesreformen betrieben, die auch nationale Auswirkungen haben.

Minga ist mehr als eine Blockade

Dadurch haben sich die indigenen Gemeinden des Cauca zu einem Machtfaktor entwickelt, der den bewaffneten Akteuren genauso ein Dorn im Auge ist wie der Regierung und den Großgrundbesitzer*innen. Diese greifen zur Verteidigung ihres Machtanspruchs immer wieder zu Gewalt und Kriminalisierung oder versuchen bei anderen benachteiligten Sektoren Neid auf die politischen und materiellen Errungenschaften der indigenen Bewegung zu schüren und sie gegeneinander auszuspielen. In letzter Zeit ist es dennoch mehrfach gelungen, vor allem die unterschiedlichen Gruppen aus dem ländlichen Raum zu koordinieren und eine gemeinsame Agenda auszuhandeln, so auch bei der aktuellen Minga. José Ildo Pepe, einer der von der Minga benannter Sprecher stellt fest: „Unsere Minga fordert die Umsetzung bestehender Abkommen und Rechte für die afrokolumbianischen Gemeinden, für die Campesinos und für uns Indígenas. Unsere Minga hat nationale Reichweite. Die Themen sind struktureller Art: Land, Schutz des Lebens und der Umwelt, Wasser, nicht nur im Cauca, sondern im ganzen Land. Die Regierung denkt, es geht nur um den von ihr vorgelegten Nationalen Entwicklungsplan. Aber es geht um mehr: Es geht um die Bewahrung des Lebens in seiner Ganzheit.”


(Foto: Comunicaciones CRIC)

 

Diese Sichtweise zeigt sich auch in den anderen Gesichtern der Minga, abseits der Konfrontationen mit der Staatsmacht, von Außenstehenden nur selten wahrgenommen. „Die Kreativität der Menschen, um unter solchen Bedingungen durchzuhalten, ist unglaublich“, erzählt Omar Quirá mit einem breiten Grinsen. „Es wurden zum Beispiel schon Fußballturniere und Unterricht in traditionellen andinen Tänzen mitten auf der Panamericana organisiert. Und ein paar Jugendliche drehen mit einer Kameraattrappe aus Pappe Runden durch die Protestlager, führen Interviews, verbreiten Neuigkeiten und bringen nebenbei die Leute zum Lachen.“ Auch die basisdemokratischen Elemente der indigenen Kultur sind ein wichtiger Bestandteil. „Nach jeder Verhandlungsrunde finden Versammlungen statt, um die Menschen zu informieren, zu hören, was sie denken, politische Themen zu diskutieren sowie Empfehlungen und Anweisungen an die Sprecher*innen und Verhandlungsführer*innen zu vereinbaren“, führt Quirá aus. „All das verwandelt sich in neue Protestformen, stärkt den Zusammenhalt und unsere autonome Kultur.“

 

DER FLUSS FLIESST NICHT

Kein Gold mehr Goldwäscher*innen verloren durch die Flut ihre Lebensgrundlage (Foto: Agencia Prensa Rural , CC BY-NC-ND 2.0)

Puerto Valdivia ist die letzte der vier Stationen unserer Reise. Hier sieht es aus, als hätte der Rio Cauca erst gestern das ganze Dorf überschwemmt und wirklich alle Häuser an der Uferstraße mehr oder weniger verwüstet. Der mitgeführte Sand liegt noch auf den Fußböden der Häuser und bildet Haufen mit zerborstenen Bettgestellen und anderen Möbeln. Kein Mensch lebt mehr hier. Puerto Valdivia gleicht einer tropischen Geisterstadt. „Wir stehen hier im hinteren Teil der Schule,“ erklärt uns Pedro, einer der Vertreter*innen der Vereinigung der traditionellen Goldwäscher*innen (Name von der Red. geändert), der uns durch sein Dorf führt. „Inzwischen sind seit der Überschwemmung sechs Monate vergangen, und die Schulbücher liegen immer noch genau so da.“ Offensichtlich war hier einmal eine kleine Terrasse oder ein Minischulhof. Inzwischen haben alle möglichen Schlingpflanzen die Oberhand gewonnen.

Außer den Aktivist*innen von Movimiento Rios Vivos Antioquia (MRVA) und ausländischen Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen, wie unsere Gruppe, kommt niemand hierher. Wir sind Vertreter*innen von Mitgliedsorganisationen des Netzwerks Zusammenarbeit für den Frieden (ECP). Einige unterstützen bereits seit mehreren Jahren lokale Basisorganisationen in ihrer Kritik an dem Staudammprojekt Hidroituango ca. 170 km nördlich von Medellín. Das Wasserkraftwerk soll eines Tages mit 2.400 Megawatt Stromproduktion 17 Prozent des kolumbianischen Stromverbrauchs liefern. Dazu wird der Cauca, der zweitgrößte Fluss Kolumbiens, auf 76 km Länge aufgestaut. Es ist nur logisch, dass dies mit enormen Auswirkungen auf Flora, Fauna, das lokale Klima und natürlich auch auf die in der Region lebenden Menschen verbunden ist. Nach Schätzungen des renommierten Anwält*innenkollektivs José Alvear Restrepo, das die Betroffenen des Staudammprojekts vertritt, sind ca. 150.000 Menschen direkt davon betroffen. Laut Plan sollte der gesamte Bau Ende 2018 fertiggestellt sein. Doch Ende April 2018 wurde durch einen Erdrutsch einer der Entlastungstunnel an der Staumauer verstopft und am Folgetag durch den Druck des sich aufstauenden Wassers wieder frei gespült. Eine riesige, unkontrollierte Flutwelle entstand und richtete auf ihrem Weg flussabwärts großen Schaden an. Sie riss eine Brücke mit sich, die Hütten der Goldwäscher*innen an beiden Ufern und zerstörte all ihre Habe: Möbel, Haushaltsgegenstände, die Nutzgärten, Boote und Werkzeuge. Auch die Hühner und andere Haustiere ertranken.

Viele Familien lebten im November 2018 noch in provisorischen Unterkünften, die meisten bei Verwandten oder weiter oberhalb auf den angrenzenden Hügeln. 37 Personen saßen immer noch in der Turnhalle von Ituango fest. Ihre Versorgung seitens der Behörden ist prekär. In Eigenarbeit haben sie eine Toilette errichtet und einen kleinen Nutzgarten angelegt, in dem sie Kräuter, Zwiebeln und Tomaten anbauen. Sie fühlen sich von den Behörden im Stich gelassen und sind im Ort mit ihrer Kritik am Staudammprojekt alles andere als wohlgelitten.
Die Zukunft der durch die Flutwelle obdachlos gewordenen Goldwäscher*innen aus Puerto Valdivia ist völlig ungeklärt. Das Betreiberunternehmen, die Stadtwerke von Medellín (EPM), hatte 2008 vor Beginn der Flutung des Stausees einen Zensus der potentiell Betroffenen durchgeführt. Die Kriterien des Zensus haben sie selbst festgelegt und dabei eine ungeklärte Zahl von Einzelpersonen und Familien unberücksichtigt gelassen. Darin liegt eine der aktuellen Schwierigkeiten, denn diese Familien sind jetzt von der Möglichkeit von Entschädigungen durch EPM ausgeschlossen. Die örtlichen Behörden hatten ihrerseits keinen eigenen Zensus über potentiell Betroffene des Staudammprojekts erhoben. Insgesamt sind die Melderegister in Kolumbien auch durch den jahrzehntelangen bewaffneten Konflikt und durch andauernde Vertreibungen lückenhaft und nicht aktualisiert. In Bezug auf das Staudammprojekt fallen nun diese nicht registrierten Personen durch alle Raster.

Der alltägliche Kampf ums Überleben macht die Entwicklung von Zukunftsperspektiven schwierig. Dennoch kristallisieren sich zwei Optionen heraus, die bei genauerem Blick mit ähnlichen Schwierigkeiten verbunden sind: Rückkehr an den ursprünglichen Ort oder Umsiedlung an etwas höher gelegene Orte. Insbesondere die ehemaligen Bewohner*innen von Puerto Valdivia, deren Häuser überflutet wurden, wollen nicht dorthin zurückkehren, sehen sich jedoch durch EPM dazu gedrängt. Mit ein paar Reparaturen an den Häusern wäre der Fall für das Unternehmen erledigt – so scheinen sie zu kalkulieren. Dabei wirken zumindest die Häuser an der Uferstraße nicht so, als würde eine Reparatur helfen, sondern eher, als müssten sie wieder ganz neu aufgebaut werden. Aber davon abgesehen, haben die Menschen Sorge, dass sich eine Flutwelle wie im Mai jederzeit wiederholen könnte – und auch Menschenleben kostet. An allen Häusern der Uferstraße ist ein kleiner Aufkleber zu finden: „KEINE RÜCKKEHR!“

Eine unkontrollierte Flutwelle entstand und richtete flussabwärts großen Schaden an

Die meisten wollen in höher gelegene Orte umgesiedelt werden. Dazu benötigen sie allerdings finanzielle und technische Unterstützung, um Fuß zu fassen und eine kleine Landwirtschaft aufzubauen oder die vorherige zu erweitern, so dass sie den Lebensunterhalt sichert. Andere konzentrieren ihre Forderungen und ihr Engagement auf eine Rückkehr zur vorherigen Situation. Dies beinhaltet notwendigerweise einen Rückbau beziehungsweise Abriss der Staumauer und keine Inbetriebnahme des Kraftwerks. Wie realistisch diese Option auch angesichts der enormen bereits getätigten Investitionen sein kann, ist schwer zu beurteilen. Und selbst wenn es einen Rückbau gäbe, bliebe unklar, ob ähnliche Lebensbedingungen der Flussanrainer*innen wieder hergestellt werden könnten.

Im Stausee wurden Fische ausgesetzt, allerdings schmecken sie nach verfaultem Holz

Viele Generationen lang bestand eine Besonderheit der Lebens- und Wirtschaftskultur der Region darin, dass die Familien über eine diversifizierte Einkommensstruktur verfügten. Das Goldwaschen und Fischen fand direkt am und im Fluss statt. Die meisten Familien etwas weiter oben in den Hügeln verfügen auch über ein Stück Land zur Selbstversorgung und über kleine Kaffeefelder. Mit diesen vier Pfeilern konnten sie ihren Lebensunterhalt ziemlich stabil sichern und Jahre mit schlechteren Ernten oder geringen Fischbeständen wirtschaftlich ausgleichen. Durch das Staudammprojekt wurden alle vier Einkommens- und Versorgungspfeiler gleichzeitig beeinträchtigt oder zunichte gemacht. Während bereits zuvor klar war, dass das Goldwaschen durch die Flutung des Stausees als Einkommensquelle wegfallen würde, war nicht vorherzusehen, dass auch die Subsistenzwirtschaft nicht mehr möglich sein würde. Denn die Flutung des Stausees hat auch eine Veränderung des Mikroklimas hervorgerufen, so dass weder die Kaffeeernte noch die Anpflanzungen zur Selbstversorgung gedeihen. Was den Fischfang betrifft, so wurden zwar im Stausee wieder Fische ausgesetzt, allerdings sind diese nach Angaben der Betroffenen ungenießbar, weil sie nach verfaultem Holz schmecken würden: vor der Flutung wäre die Biomasse nicht vollständig entfernt worden. Kurz- und mittelfristig benötigen die betroffenen Familien Unterstützung bei der Umsiedlung und dem Aufbau von stabilen Einkommensmöglichkeiten. Längerfristig ist aber überhaupt nicht klar, welche dies sein und wo sie entwickelt werden können. Beides hängt von politischen Entscheidungen rund um das Staudammprojekt ab.

Überschwemmtes Haus am Fluss  Zahlreiche Anwohner*innen wurden obdachlos (Foto: Christiane Schwarz)

So zeigt sich am Ende der Reise ein düsteres Bild: Hauptsächlich bleiben die Unsicherheiten und Fragezeichen bestehen. Seriöse Prognosen können nicht abgegeben werden. Wird das Kraftwerk in Betrieb genommen und wenn ja, wann? Kann ausreichende Sicherheit gewährleistet werden, so dass es die Familien wagen, nach Puerto Valdivia und an die Flussufer zurückzukehren? Wie entwickelt sich das Mikroklima in den kommenden Jahren im Bereich des Stausees? Ermöglicht es stabile Ernten für Kaffee und Subsistenzwirtschaft? Natürlich gibt es in der Region auch Menschen, die sich neue wirtschaftliche Möglichkeiten durch den Staudamm und größeren Wohlstand für die schwer zugängliche Region erhoffen. Das Betreiberunternehmen rührt die Werbetrommel in diesem Sinne. Auf den ersten beiden Stationen unserer Reise, Toledo und Sabanalarga, konnten wir uns davon ein Bild machen. Als Sponsor der Dorffeste war EPM dort auf Plakaten, Schirmen und in den Getränkebuden omnipräsent. Das MRVA zeigt Anfeindungen und Bedrohungen ihrer Mitglieder immer wieder bei den Behörden an und macht sie auch international bekannt. Im Jahr 2018 wurden bislang die meisten Bedrohungen verzeichnet. Zwischen Januar und dem 10. Dezember 2018 verzeichnet MRVA 108 Aggressionen gegen Kritiker*innen des Staudammprojekts, darunter Bedrohungen, Stigmatisierungen, physische Verfolgung, illegale Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Die Aussichten für 2019 sind leider nicht besser. Anfang Februar wurden die Schleusentore in der Staumauer geschlossen, so dass kurzfristig der Wasserpegel flussabwärts stark abfiel. In der Folge sind unzählige Fische verendet. Der Kampf der Menschen um ihre Lebensgrundlage, den Cauca Fluss, und gegen das Wasserkraftwerk wird 2019 weitergehen.

 

HINHALTETAKTIK UND RÜCKSCHRITTE

Die Region Cauca wirkt malerisch, doch sie ist umkäpft  Foto: tacowitte, Flickr (CC BY 2.0)

Der CRIC vertritt seit 47 Jahren die indigenen Gemeinschaften der Nasa im Cauca. Warum sind Ihre Erwartungen an die erste Verhandlungsrunde mit der neuen kolumbianischen Regierung so gering?
Für uns_ist es offensichtlich, dass die Vereinbarungen zur Verbesserung der Situation der indigenen Gemeinden durch die Regierung verschleppt und nicht eingehalten wurden._Die in der Verfassung von 1991 festgelegten kollektiven Rechte für Indigene und Afrokolumbianer*innen wurden unter den nachfolgenden Regierungen, vor allem unter Pastrana, Uribe und Santos weitgehend außer Acht gelassen und zurückgeschraubt. Das auf dieser Verfassung basierende Gesetz 1060 und die Anerkennung indigener Selbstverwaltung waren dabei nie Selbstläufer. Die Tatsache, dass nur drei indigene Gemeinden, die Nasa, die Misac und die Isiapidadas, von insgesamt zehn Gemeinden im Cauca eigene Selbstverwaltungsstrukturen aufbauen konnten, war das Ergebnis von sozialen Kämpfen und von der Vernachlässigung und Behinderungen durch den Staat. Das Ganze wurde aber durch den Konflikt erschwert: Es gab Vertreibungen und Indigene werden als Anhänger der FARC stigmatisiert. Hinzukommen Drogenanbau und illegaler Bergbau. Darüber hinaus gab es nach 1990 eine Invasion von radikalen Evangelikalen im Cauca, welche die Gemeinden bis heute spalten. Trotz aller Schwierigkeiten gab es von unserer Seite viele Versuche, mit den jeweiligen Regierungen zu verhandeln. Am 18. und 19. Januar gab es die erste Verhandlungsrunde mit der neuen Regierung in Popayán, die bereits in der letzten Runde mit der Santos-Regierung vereinbart war.

Wie geht es jetzt weiter?
Der im Januar 2019 vorgelegte Vierjahresplan der Regierung wurde nicht mit uns abgesprochen. Das gilt auch für andere Projekte der Regierung, beispielsweise bei Investitionen, die theoretisch im Rahmen eines Beratungsprozesses angekündigt werden müssen. Es ist also nichts Besonderes mit Regierungsvertretern zu sprechen; denn eine Einflussnahme auf den lokalen Entwicklungsplan lässt sich nur durchsetzen, wenn man sich zu Wort meldet und Präsenz zeigt. Wir machen diesbezüglich Druck in den Verhandlungen, dass es verbindliche Vereinbarungen und Haushalte für die autonome indigene Verwaltungen gibt. Aufgrund des Stillstands bei der Umsetzung des Planes haben wir – die indigenen Autoritäten – nun unseren eigenen Vierjahresplan vorgelegt. Im Zuge unserer Vorschläge sollen Schritte gegangen werden, damit die Bürgermeistereien klare Befugnisse erhalten, die bislang oft nur auf dem Papier stehen. Im Prinzip war das bereits 2013 vereinbart.

Was erwarten Sie von der Regierung Duques?
Nach unseren gegenwärtigen Erfahrungen sind unter der Präsidentschaft von Iván Duque eher Rückschritte zu erwarten. Unsere Forderungen stehen teilweise im Gegensatz zu den offiziellen Entwicklungszielen der Regierung – die ja auf Großprojekte und Zentralismus setzen. Das geht auch aus dem Entwurf des nationalen Entwicklungsplans der Regierung hervor, der seit dem 10. Februar im Kongress diskutiert wurde.
Wir wissen gegenwärtig zum Beispiel fast nichts über die Details, über die darin enthaltenen Vorschläge für die sogenannten Investitionsgebiete und unternehmerische Entwicklung als auch was dabei für die Pazifikregion vorgesehen ist. Um unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen, mobilisieren wir zum großen Protestmarsch der Indigenen und Campesinos im Cauca.

Wie ist das im Zusammenhang mit den Friedensverträgen zwischen der Regierung und der FARC zu sehen?
Der CRIC hat nie direkt an den Verhandlungen mit der FARC teilgenommen, sondern nur über die Vertreter*innen der Zivilgesellschaft – zum Beispiel Frauen und Indigene, die auch in Havanna waren. Zwar wurden immerhin rund 60 Prozent der vereinbarten Punkte verwirklicht, aber noch sind wesentliche Vereinbarungen nicht umgesetzt worden. Dazu gehört die finanzielle Unterstützung bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft, Sicherheitsgarantien und Infrastruktur. Ein wichtiger Punkt für uns ist die Untätigkeit der Regierung in Sachen Drogenanbau. Seit dem Friedensschluss 2016 haben sich nach Angaben der UN die Anbauflächen von Coca, Amapolla und Mariuhana in Kolumbien von 43.000 Hektar auf 250.000 Hektar erweitert. Das betrifft vor allem uns, hier im Cauca. Auch das ist ein Ausdruck mangelnder Perspektiven und schlechter Umsetzung der Vereinbarungen.

Hatten für Euch die Verhandlungen mit der ELN praktische Bedeutung?
Während der Verhandlungen hatten wir im letzten Jahr bei Beratern der ELN angefragt, ob und wo konkret diese Gruppe militärische Einheiten im Cauca unterhält, die unsere Interessen berühren. Bis zum Abbruch der Friedensverhandlungen hatten wir allerdings keine Antwort darauf erhalten.

Wie ist die Lage für Euch in Sachen Verfolgung und Ermordung von Angehörigen der Guardia Indígena. Gab es Drohungen gegen Euch?
2019 sind schon mehr als 10 unserer Anführer ermordet worden. Unter anderem fordern wir deshalb Sicherheitsgarantien für uns. Einige von uns sind mehrfach bedroht worden. Ich möchte keine Namen nennen, aber zum Beispiel ist die Provinzhauptstadt Popayán mittlerweile ein gefährliches Pflaster für uns geworden.

 

WENIGER IST MEHR

Foto: © Diana Garay


Ein Junge wohnt mit seinem Vater in einem einfachen Haus, umgeben von Natur. Es regnet durchs Dach und das Haus ist innen ganz leer, nur ein Feuer wärmt die beiden, wenn sie in ihrer löchrigen Kleidung auf dem harten Boden sitzen und sich ein karges Mahl teilen. Die Seele wärmt jedoch nichts, keine persönlichen Gegenstände, kein Spielzeug und auch kein Regal, in die man sie legen könnte. Eines Tages findet der Junge im Wald einen Stuhl – begeistert nimmt er ihn mit nach Hause.

© Germano Saracco

Der Vater möchte dies jedoch nicht und bittet ihn, den Stuhl zurückzubringen. Der Sohn sitzt daraufhin abends traurig in der Ecke, dann bekommt er die Erlaubnis doch. Als der Junge am nächsten Tag den Stuhl holen will, hat sich jedoch etwas Wichtiges verändert, und er muss ihn dort lassen.
In der minimalistischen Fabel El tamaño de las cosas (Die Größe der Dinge) aus Kolumbien möchte uns Regisseur Carlos Felipe Montoya in nur 12 Minuten mit elementaren Fragen konfrontieren, die unter anderem mit dem Begehren von Dingen und allgemeiner der Bedeutung zu tun haben, die wir ihnen beimessen, sowie der sich ändernden Wahrnehmung der Dinge. “Weiß das zu schätzen, was du im Leben hast”, sagt etwa der Vater in einer Szene zu seinem Sohn. Montoya, der bereits zum zweiten Mal mit einem Kurzfilm auf der Berlinale zu Gast ist, gibt den Zuschauer*innen jedoch nicht einfach eine Moral mit auf den Weg. Er möchte, wie er sagt, dass diese nach dem Kinobesuch noch eine Weile über den Film und seine Botschaft nachdenken. Das ist ihm auf jeden Fall gelungen.

© Diana Garay

Schmerzt in El tamaño de las cosas die Abwesenheit materieller Dinge, so ist es in Los ausentes (Die Abwesenden) aus Mexiko der Tod eines Menschen. Er gibt Anlass zu Überlegungen ganz anderer Art: Der siebenjährige Rafaelito und seine beiden Freunde sollen auf einer Totenwache zur Aufmunterung ein paar traditionelle Huapango-Lieder spielen, jedoch haben sie nur ein Repertoire von drei Stücken. Wie sollen sie reagieren, als die trauernde Witwe am Ende ihrer Darbietung gern noch ein weiteres Stück hören möchte? Sie müssen sich schnell entscheiden.

Der Kurzfilm von José Lomas Hervert erzählt eine einfache, aber sensible Geschichte einiger Menschen ganz unterschiedlichen Alters. Die Kamera zeigt uns auf einfühlsame Weise weinende, aber auch lächelnde Gesichter, wir sehen sowohl Trauer als auch sich entwickelnde Zuneigung. Gesprochen wird dagegen nicht viel, Gestik und Mimik sagen neben der Musik mehr aus als tausend Worte. Zur Unterstützung dieses Fokus ist der Film in Schwarzweiß gedreht. Zurück bleibt nach 17 Minuten ein Mikrokosmos der Gefühle und des Lebens.

El tamaño de las cosas und Los ausentes laufen 2019 in Berlinale Generation (Kplus).

DAS LEBEN IM TOD IM LEBEN

Foto: © Los Niños Films


Am entscheidenden Tag solle sie bei Sonnenaufgang etwas essen, aber getrennt von den Gästen und nur das, was man ihr gebe. Dann gehe es los, und vielleicht werde sie etwas Angst haben. Wenn alles vorbei sei, solle sie ein kleines bisschen Alkohol trinken, und erst dann dürfe sie sich auch ausruhen. Diese Worte ihrer Großmutter zu Beginn des Films Lapü sollen die Hauptperson Doris auf das ihr bevorstehende Ritual vorbereiten.
Hintergrund der Planungen: Doris hat schon vor Jahren einen lieben Menschen verloren: ihre Cousine, mit der sie viele schöne Erinnerungen verbinden, starb fern ihres Heimatdorfes. Eines Nachts träumt sie von ihr, während der Wind über ihre Hütte in der trockenen kolumbianischen Halbwüste auf der Halbinsel Guajira am nördlichsten Ende Südamerikas weht. Im Gespräch mit ihrer Großmutter findet sie heraus, dass die Cousine sie durch den Traum bittet, ihre sterblichen Überreste zu exhumieren, zu säubern und in ihrem Dorf neu zu bestatten. Nur so könne sie ihre Ruhe finden.
© Los Niños Films
Doris wird sich der Aufgabe stellen. Das Ritual der zweiten Bestattung hat bei den Wayúu, der größten indigenen Gruppe in Kolumbien und Venezuela, eine wichtige Bedeutung und ist nach dem Ritual um die erste Menstruation bereits das zweite aus ihrer Kultur, das binnen weniger Jahre den Weg ins Kino findet (siehe La eterna noche de las doce lunas, LN 465). Mehr noch als um das Ritual selbst geht es Lapü jedoch um den Umgang mit dem Tod und seiner Rolle im Leben. In westlichen Gesellschaften wird er tabuisiert und verdrängt, sodass er, wenn er eintritt, die Zurückbleibenden aus der Bahn wirft. In Kolumbien gilt letzteres nach dem jahrelangen bewaffneten Konflikt mit vielen Opfern umso mehr. „Aber die Art und Weise, in der man den Tod versteht, ist die gleiche Weise, in der man auch das Leben versteht“, sagt César Alejandro Jaimes. „Haben wir die Fähigkeit verloren, den Tod als etwas für unser Leben zutiefst Wertvolles zu betrachten?“, fragen er und sein Regiekollege Juan Pablo Polanco sowohl sich selbst als auch das Publikum. Sie schreiben zu ihrem Werk, „Lapü ist ein Versuch, diese Beziehung zum Tod zu fühlen und wieder mit Bedeutung zu füllen, mit Verlust und Erinnerung; ein Versuch, ihn zu verbiegen und mit dem Leben zu verschmelzen.“
Dem Film gelingt es, eine für diese Thematik passende und einfühlsame Bildsprache zu finden. Genau wie Tag und Nacht in einer Sequenz mehrfach ineinander übergehen, spricht Doris in einem Moment noch mit ihrer Familie über die verstorbene Cousine und kurz darauf mit der Cousine selbst. Die Übergänge sind hier wie dort fließend, und die Grenzen zwischen Traum, Erinnerung und Fiktion verschwimmen.
© Los Niños Films
Die beiden Regisseure haben ihren ersten Film behutsam zusammen mit ihrer Hauptperson entwickelt und das Ritual sowie Doris’ Weg dorthin mit der Kamera begleitet. Diese wird zur teilnehmenden Beobachterin des Alltags, wenn Menschen in ihren Hängematten liegen, sich unterhalten, auf Bäume klettern und Wasser holen. Die Zuschauer*innen bekommen eine Vorstellung davon, dass das Leben in dieser Gemeinschaft nach einem eigenen – für unsere Wahrnehmung langsameren – Rhythmus abläuft und tauchen in diesen ein. In einigen Momenten, etwa während Doris die sterblichen Reste ihrer Cousine aus dem Grab holt oder wenn das Töten einer Kuh gezeigt wird, wirkt der Film dagegen verstörend. Gleichzeitig wird klar, dass diese Geschehnisse für die Wayúu einen selbstverständlichen Teil des Lebens darstellen. Die Diskrepanz darin ist gewollt und stimmt die Betrachter*innen nachdenklich. Nur subtil klingt an, dass sich die Wayúu wie so viele indigene Gruppen auch mit äußeren Einflüssen auseinandersetzen müssen – aber noch hören junge Menschen wie Doris ihren Großmüttern zu.

Lapü läuft 2019 im Berlinale Forum.

DER HERR DER FLIEGEN IN KOLUMBIEN


Kein Flugzeugabsturz, keine einsame Insel und keine europäischen Schulknaben. Und doch tobt die grinsende Schweinefratze, der „Herr der Fliegen“ wie man ihn aus William Goldings gleichnamigen Roman kennt, eindringlich durch Monos, den neuen Film des ecuadorianisch-kolumbianischen Regisseurs Alejandro Landes, der dieses Jahr im Berlinale Panorama zu sehen ist. Monos“, so nennt sich die achtköpfige Gruppe von jungen Gueriller@s, die in den kolumbianischen Anden ausharrt. In der Abgeschiedenheit der Berge sollen die etwa 12- bis 16-Jährigen bewaffnet und auf sich gestellt eine nordamerikanische Geisel und eine Milchkuh bewachen. Kontakt zu Befehlshaber*innen haben sie nur über ein Funkgerät. Zu welcher Guerilla-Organisation gehören sie? Und warum unterstützt kein Erwachsener die Jugendlichen bei der herausfordernden Aufgabe?
Auf den ersten Blick wirken die „Monos“ weniger wie Aufständische, sondern mehr wie gewöhnliche, überdrehte Teenager auf einer Klassenfahrt mit zugegeben hippieskem Charme: Umgeben von Bergspitzen und klarer Luft toben die Jugendlichen frei durch die Natur, sitzen gemeinsam am Feuer, erzählen, lachen und entwickeln ihre ersten romantischen Gefühle. Sehr eindrucksvoll sind auch ihre ausgelassenen Tänze und bunten Gesichtsbemalungen. Jedoch werden die vermeintlich idyllischen Szenen durchbrochen durch die harten Militärübungen der Kinder und die untereinander herrschende Hierarchie. Zum Spaß schießen die „Monos“ mit ihren Waffen wild in die Luft und sind ihrem Anführer „Lobo“ (Wolf) treu ergeben. Es lässt sich also nichts Gutes ahnen, als die Jugendlichen eines Morgens bewaffnet und schreiend einen ihrer Kameraden verfolgen, bis dieser ins Gras fällt. Sie geben ihm heftige Schläge auf das Hinterteil, während sie laut mitzählen. Erst beim 15. Schlag rufen sie dem am Boden Liegenden plötzlich lachend zu: („Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“)

Ein deutliches Aufatmen geht nach dieser Szene durch den Kinosaal, welches jedoch nicht lange anhält, denn der Film nimmt schnell eine sogartige Spannung an, als die Jugendlichen in ernsthafte Schwierigkeiten geraten und die Situation eskaliert. Letztlich spielt es keine Rolle, zu welcher Organisation die „Monos“ gehören oder welchen Zweck ihre Aktion hat: Mit starker und gewollter Referenz zum Herr der Fliegenlegt der Film seinen Fokus auf ihre Gruppendynamik in der eskalierenden Gewalt. Die unübersehbare Ähnlichkeit zum berühmten Roman nimmt Monos jedoch keinesfalls seine Spannung. Vielmehr kommen in dieser neuen Interpretation weitere interessante Faktoren hinzu, zum Beispiel das Machtverhältnis zwischen den Jugendlichen und der etwa 40-jährigen Gefangenen sowie sexuelle Spannungen. Außerdem treffen häufige Kritikpunkte am Herr der Fliegen – beispielsweise die rassistische Darstellung von Wildheit oder der komplette Verzicht auf Mädchen in der Geschichte – wohl kaum mehr zu auf diese gemischte und vielfältige Gruppe von Jugendlichen aus Lateinamerika in Monos. Alejandro Landes schafft es, mit seinem Film eine eigene Art der Geschichte zu finden und die Zuschauer*innen mitzureißen auf eine wilde, bildgewaltige und spannende Fahrt, die sie atemlos zurücklässt.

ELN BOMBT SICH INS ABSEITS

Während die ELN selbst die über den Jahreswechsel vereinbarte bilaterale Waffenruhe eingehalten haben will, sollen die Regierungstruppen während des Stillstandes ihre Soldaten strategisch positioniert und ein ELN-Camp bombardiert haben. In ihrem Schreiben erklärt das Nationale Kommando der ELN den Angriff auf die Polizeiakademie zu einem „legitimen Akt der Selbstverteidigung“.
Mit dem Schreiben wird offiziell, was die Regierung unter Präsident Iván Duque bereits kurz nach dem Anschlag am 17. Januar behauptet hatte. Bei dem Angriff mit einer Autobombe starben 21 Menschen, darunter der Attentäter. 68 weitere Personen wurden verletzt. Duque erklärte kurz darauf die Friedensgespräche mit der ELN für beendet. „Es reicht, ELN – es reicht mit den Toten, es reicht mit Entführungen und mit Attentaten gegen die Umwelt. Kolumbien sagt euch: Es reicht!” sagte Duque in einer Fernsehansprache. Er forderte die Guerillagruppe zu konkreten Taten auf, wozu insbesondere die Freilassung von mehreren Geiseln aus der Gewalt der ELN zähle sowie ein Ende sämtlicher krimineller Handlungen. In den vergangenen 17 Monaten habe die ELN 400 terroristische Aktionen in 13 Bundesstaaten, mit 339 Opfern und mehr als 100 Toten verübt, so Duque. Er brachte die Guerilla auch mit der Welle ermordeter Menschenrechtsaktivist*innen in Verbindung, die Kolumbien seit Monaten erschüttert. Der Attentäter soll demnach ein Sprengstoffexperte der ELN mit engen Verbindungen zu mehreren Personen des Oberkommandos der Guerilla gewesen sein. Unter anderem soll er Verbindungen zu Gustavo Aníbal Giraldo Quinchía, alias „Pablito“, einem der größten internen Kritiker des Friedensprozesses zwischen ELN und Regierung gehabt haben. Ein weiterer Verdächtiger, der ebenfalls Mitglied der ELN sein soll, wurde später in Bogotá festgenommen.

„Es reicht“, sagen alle

Am Sonntag nach dem Attentat demonstrierten rund 35.000 Kolumbianier*innen in Bogotá für ein Ende der Gewalt und forderten: „Es reicht!“. Duque hatte sein Amt am 7. August 2018 mit der Ankündigung angetreten, den Prozess zu beenden, sofern die Guerilla nicht eine Reihe, aus Sicht der ELN unrealistischer Bedingungen, wie etwa einen einseitigen Waffenstillstand erfülle. Die im Zuge der Friedensgespräche ausgesetzten Haftbefehle gegen zehn Kommandanten der Guerilla würden ab sofort wieder in Kraft gesetzt, erklärte Duque. Er bat die internationale Gemeinschaft um die Festnahme der ELN-Führungsriege. Aktuell halten sich die Kommandanten in Kuba auf, wo sie auf die Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen warten. Duque hatte diese seit seinem Amtsantritt ausgesetzt. Die Regierung ignorierte damit gleichzeitig einen Leitfaden, den die ELN gemeinsam mit der Vorgängerregierung von Juan Manuel Santos für einen möglichen Abbruch der Gespräche vereinbart hatte. Diese Protokolle sollten die Rückkehr der ELN-Kommandanten nach Kolumbien regeln.
Kuba erklärte, sich zu den Haftbefehlen gegen die ELN-Kommandeure zunächst beraten zu wollen: „Das kubanische Außenministerium wird sich streng an die Protokolle der Friedensverhandlungen halten, die von der Regierung und der ELN unterzeichnet wurden. Dazu zählt auch das Protokoll für den Fall eines Scheiterns der Verhandlungen. Das Ministerium berät sich mit anderen Garantiemächten. Kuba erklärt Kolumbien sein Beileid“, schrieb der kubanische Kanzler Bruno Rodríguez auf Twitter.
Der Senator Iván Cepeda und der Ex-Minister Álvaro Leyva baten derweil den kolumbianischen Hohen Kommissar für Frieden, Miguel Ceballos, in einer Erklärung darum, die bereits zwischen der Regierung Santos und der ELN vereinbarten Punkte anzuerkennen. Ceballos solle sämtliche Dokumente aus den Verhandlungen an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen übergeben. „Wir glauben, dass diese historischen Vereinbarungen, die mit viel Aufwand erreicht wurden, nicht verschleudert werden sollten“, sagte Cepeda. „Deswegen sollen, im Fallen eines neuen Friedensprozesses, die bereits vereinbarten Punkte und die gesammelten Erfahrungen die Basis für einen baldigen Frieden mit der ELN bilden.“ Dies sei möglich, weil im Gegensatz zu den Friedensverhandlungen mit den Revolutionären Bewaffneten Streitkräften Kolumbiens (FARC) nicht unter der Prämisse „Nichts ist vereinbart, bis alles vereinbart ist“, verhandelt worden sei, so Cepeda. Zu den Vereinbarungen zählen demnach unter anderem die Entminung von Gebieten in der Region Nariño, ein humanitäres Abkommen für die Region Chocó und eine Garantie für die Beteiligung der Zivilgesellschaft am Friedensabkommen.

Es gibt den Versuch, die schon getroffenen Vereinbarungen zu retten

Der UN-Sicherheitsrat verurteilte den Angriff auf die Polizeischule bei einer Sitzung Ende Januar und forderte die Regierung und die Guerilla auf, den Friedensprozess fortzusetzen. Auch die Mitglieder der politischen Partei FARC, die aus der entwaffneten ehemaligen Guerilla hervorgegangen ist, riefen die Verhandlungspartner zu weiteren Gesprächen auf. Der politische Rat der FARC erklärte zudem, er sei von dem Bekennerschreiben der ELN äußert überrascht und enttäuscht gewesen. Bis dahin hätte die Partei die Hoffnung bewahrt, dass hinter dem Attentat andere Täter*innen und Gründe steckten. Gleichzeitig forderte der Rat die Regierung jedoch auch dazu auf, die Protokolle für den Abbruch der Gespräche einzuhalten: „Der traurige Fakt, dass es sich um ein Attentat auf eine Polizeischule handelte, darf nicht dazu instrumentalisiert werden, die Tür vor zukünftigen Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft zu verschließen“, so die FARC in einer offiziellen Mitteilung. Die FARC erklärten sich zudem bereit, zwischen Regierung und ELN zu vermitteln.

FARC bieten sich als Vermittler an

Im Gegensatz zu anderen Guerillagruppen ist die ELN basisdemokratisch organisiert. Einzelne Kommandos reagieren autonom und werden nicht durch die Führungsriege der Guerilla gesteuert. Daher kam es in der Vergangenheit immer wieder zu Aktionen einzelner Kommandos, die den Friedensverhandlungen kritisch gegenüberstehen und diese nicht mittragen wollen.
Der Angriff auf die Polizeischule zeigt, wie umstritten der Friedensprozess innerhalb der Guerilla tatsächlich ist. Erschwert wird der Prozess durch die schleppende Umsetzung des Friedensabkommens mit der FARC. Seit der Unterzeichnung des Abkommens zwischen FARC und kolumbianischer Regierung eskalierte die Gewalt gegenüber Aktivist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen in einigen Gebieten Kolumbiens. Mehr als 300 Aktivist*innen wurden seit der Unterzeichnung getötet, darunter auch unzählige bereits entwaffnete Angehörige der FARC. Entsprechend riskant erscheint ein einseitiger Waffenstillstand der ELN-Guerilla. In ihrem Bekennerschreiben forderte die ELN daher erneut eine dauerhafte gegenseitige Waffenruhe. „Präsident Duque, wir wollen betonen, dass der Weg des Krieges nicht die Zukunft Kolumbiens ist“, schreibt das ELN-Kommando. „Es ist der Frieden, deswegen erinnern wir daran, dass das Beste für das Land eine Fortsetzung der Gespräche wäre.“

 

VIELFALT AUF DEN ZWEITEN BLICK

Monos: Eine Gruppe von acht jungen Rebellen bewacht eine Geisel in den kolumbianischen Bergen (Foto: Alejandro Landes)

Auf der letztjährigen Berlinale waren lateinamerikanische Filme in so hoher Zahl und in nahezu allen Sektionen so erfreulich präsent, dass vielleicht die eine oder andere Erwartung an ihre 69. Ausgabe zu hoch ausfallen musste. Womit aber wohl doch niemand gerechnet hatte: Keine einzige zwischen Tijuana und Ushuaia erzählte Geschichte schaffte es dieses Mal in den Wettbewerb. Nur ein Film des Brasilianers Wagner Moura läuft dort – dieser allerdings außer Konkurrenz. Auch Afrika geht leer aus. Insgesamt sind 16 der 23 ausgewählten Filme Produktionen oder Koproduktionen aus Europa (davon allein 11 aus Deutschland oder Frankreich), drei weitere Filme kommen aus Kanada und den USA. So hat das mediale Aushängeschild der Berlinale dieses Mal leider einen eurozentristischen Beigeschmack, der aus Perspek- tive des globalen Südens enttäuschend ist (übrigens im gleichen Jahr, in dem im Herzen Berlins das wegen mangelnder Sensibilität für die koloniale Geschichte seiner ethnologischen Sammlungen kritisierte Humboldtforum eröffnet werden soll). Spielten hier nach den zahlreichen Auszeichnungen für die cineastischen Beiträge des Subkontinents im letzten Jahr politische Gründe eine Rolle? Wie auch immer, für den Abschied Dieter Kosslicks – der langjährige Direktor verantwortet das Festival nun zum letzten Mal – hätten sich lateinamerikaaffine Kinofans sicher etwas anderes gewünscht.

Breve historia del planeta verde: Eine Trans*frau macht eine außerirdische Begegnung (Foto: Santiago Loza)

Die gute Nachricht: Trotz des Ungleichgewichts im Wettbewerb gibt es mit bis Redaktionsschluss 21 neuen Lang- und elf Kurzfilmen insgesamt viele lateinamerikanische Filme zu sehen. Sie konzentrieren sich mit wenigen Ausnahmen auf die Sektionen Panorama, Forum und Generation. Dabei ist Brasilien das mit Abstand am meisten gezeigte Land. Während aus Südamerika sonst nur Argentinien, Kolumbien, Peru und Chile als Schauplätze präsent sind, ist mit Costa Rica und Guatemala erfreulicherweise Mittelamerika wieder besser als zuletzt vertreten. Auch die Karibik ist mit Beiträgen aus der Dominikanischen Republik sowie Kuba (nur in ausländischen Produktionen) dabei. Mexiko komplettiert (wenn auch nur in Kurzfilmen) den Länderreigen.

Je sechs Lang- und Kurzfilme aus Lateinamerika wurden von Frauen gedreht. An diesem Punkt kann man zumindest gewisse Bemühungen um ein Gleichgewicht feststellen, auch wenn immer noch Luft nach oben ist. Thematisch gibt es wieder ein breites Spektrum von sehr politischen Themen bis zu Familiengeschichten, von LGBT*-Protagonist*innen zu Evangelikalen, von Stadt zu Land, von filmischen Biografien bis hin zu Geschichten über Aliens. Nur auf den Glamour-Faktor in Form von großen Stars muss dieses Mal verzichtet werden. Eher ist das Gegenteil Programm: Mehrere interessante Debütfilme bekamen eine Chance, dokumentarische Formen bilden einen Schwerpunkt, dazu kommt die erwähnte große Zahl von Kurzfilmen. Hinsehen lohnt sich – spätestens auf den zweiten Blick dürfte für viele etwas dabei sein.

Marighella: Die Geschichte eines Revolutionärs (Foto: © O2 Filmes)

Fast alle lateinamerikanischen Filme feiern dieses Mal auf der Berlinale ihre Weltpremiere, daher können Besprechungen erst ab dem Zeitpunkt der ersten öffentlichen Aufführung veröffentlicht werden. In dieser Ausgabe gibt es deswegen nur einen Überblick.

Im Wettbewerb hält Marighella (BRA) die Fahne des Subkontinents hoch, eine unter dem Eindruck rechter Drohungen gedrehte Filmbiografie über den gleichnamigen brasilianischen Kommunisten und Revolutionär. Walter Moura erzählt die Geschichte jenes Mannes, der als Verfasser des Minihandbuchs des Stadtguerilleros international Einfluss etwa auf die Black Panther oder die RAF hatte und 1969 zur Zeit der Militärdiktatur von der politischen Polizei ermordet wurde.

Mit zehn Beiträgen finden sich die meisten Langfilme in der an gesellschaftlichen Themen orientierten Sektion Panorama, die sich dieses Jahr nach eigenem Bekunden mit „Zeiten des Ausbruchs“ beschäftigt.

Die kapitalismuskritische Dokumentation Estou me guardando para quando o carnaval chegar (BRA) erzählt vom Leben der von der Jeansindustrie abhängigen Menschen in der Stadt Toritama, für die der Karneval die einzige Entspannung ist.

Greta (BRA) zeigt ein queeres, generationenübergreifendes Brasilien. Ein älterer schwuler Krankenpfleger nimmt einen Patienten bei sich auf, während seine Nachbarin, eine erkrankte Trans*frau, Teil der Parallelgesellschaft ist. Um eine andere Trans*frau geht es in Breve historia del planeta verde (ARG/D/BRA/E): Als Tania erfährt, dass ihre Großmutter die letzten Lebensjahre in der liebevollen Gesellschaft eines Aliens verbracht hat, reist sie mit zwei Freund*innen durch das ländliche Argentinien, um die Kreatur an ihren Ursprungsort zurückzubringen. Mit Temblores (GUA/F/LUX) stellt Jayro Bustamante, der 2015 für Ixcanul einen silbernen Bären gewonnen hatte, seinen zweiten Film vor, der vom Coming-Out eines evangelikalen Familienvaters und den Folgen erzählt. Ebenfalls um das evangelikale Milieu geht es in Divino Amor (BRA/URU/CHI/DK/NOR/SWE): Joana, Mitglied in der Sekte dieses Namens, therapiert trennungswillige Paare durch ritualisierte Sexualakte mit ihr und ihrem Mann, ihre Beziehung und ihr Glaube leiden jedoch unter dem unerfüllten Kinderwunsch.

Monos: Eine Gruppe von acht jungen Rebellen bewacht eine Geisel in den kolumbianischen Bergen (Foto: Alejandro Landes)

La Arrancada (F) ist ein Porträt der Familie der kubanischen Leistungssportlerin Jenniffer und gleichzeitig das ihres Landes im Wandel. In Los miembros de la familia (ARG) kommen Geheimnisse eines Geschwisterpaares ans Licht, die aufgrund äußerer Umstände in einem verlassenen Haus festsitzen.

Monos (KOL/ARG/NL/D/DK/SWE/URU) befasst sich mit dem bewaffneten Konflikt in Kolumbien: Eine Gruppe von acht jungen Rebellen bewacht eine Geisel in den kolumbianischen Bergen, als ein Zwischenfall mit ihrer Kuh eine Überlebensschlacht auslöst.

La fiera y la bestia (DOM/ARG/MEX) erinnert in Form eines traumwandlerischen Spielfilms an den ermordeten dominikanischen Filmemacher Jean-Louis Jorge. Und Joanna Reposi montiert in Lemebel (CHI/KOL) einen hypnotischen Bilderfluss zu ihrem Porträt des 2015 verstorbenen chilenischen Autors, Aktivisten und Performancekünstlers Pedro Lemebel.

Das Forum bleibt gemäß der Maxime „Risiko statt Perfektion“ seiner bekannten Experimentierfreudigkeit treu. In Antonella Sudasassis erstem Spielfilm El despertar de las hormigas (COR/E) geht es um weibliche Sexualität und Selbstbestimmung in einer lateinamerikanischen Gesellschaft. Das Leben der 30-jährigen Isabel orientiert sich an den Erwartungen ihrer Familie, sie beginnt jedoch langsam mehr an sich selbst zu denken. In Camila Freitas Debüt, dem Dokumentarfilm Chão (BRA), kämpfen Landarbeiter*innen mittels politischem Aktivismus für Land und die ökologische Bewirtschaftung der Erde. Lapü (KOL) dreht sich um das Ritual der zweiten Beerdigung bei den Wayuu, das für diese indigene Gruppe aus dem Norden Kolumbiens eine große Bedeutung hat. In Fern von uns (ARG) sehen wir die Geschichte der Wiederannäherung von Ramira an ihre Mutter, ihren dreijährigen Sohn und die Gemeinschaft deutschstämmiger Bauern im argentinischen Regenwald. Auf der anderen Seite der Grenze gibt Marcelo in Querência (BRA/D) in der brasilianischen Pampa nach einem Überfall seinen Job als Cowboy auf und findet als Ansager bei Rodeo-Shows ein neues Leben.

Vom 40-jährigen, HIV-positiven Marcelo aus São Paulo erfahren wir in A rosa azul de Novalis (BRA), dass er ein besonderes Verhältnis zu Büchern hat, insbesondere Novalis’ Romanfragment Heinrich von Ofterdingen, aus dem er nackt und in ungewöhnlicher Leseposition vorträgt.

Als Bonus wird retrospektiv Nuestra voz de tierra, memoria y futuro aus dem Forums-Jahr 1982 gezeigt. Die Dokumentation des Kampfes eines indigenen Dorfes in Kolumbien um sein Land ist ein eindrückliches Werk des politischen Kinos.

Das Forum expanded steuert noch vier Kurzfilme bei: Fordlandia malaise berichtet von einer Fabrikstadt, die Henry Ford in den 1920ern in den Amazonasurwald bauen ließ, Parsi aus Argentinien schafft ein repetitives, virtuelles Gedicht, Vivir en junio con la lengua afuera ist eine Hommage an den kubanischen Autor und Dissidenten Reinaldo Arenas. Der Inhalt des brasilianischen O ensaio war bis Redaktionsschluss noch unbekannt.

By the Name of Tania: Schicksal einer jungen Frau aus dem Amazonasgebiet Perus (Foto: © Clin d’oeil Films)

In der Jugendfilm-Sektion Generation gibt es drei Dokumentationen zu sehen. Bei der hochaktuellen Arbeit Espero tua (re)volta (BRA) von Eliza Capai ist der Name Programm. Ausgehend von der sich zuspitzenden Sozialkrise in Brasilien, während der Schüler*innen im Kampf gegen Schulschließungen mehr als tausend öffentliche Gebäude besetzten, zeichnet sie Protestereignisse zwischen 2013 und der Wahl des rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro 2018 nach. By the name of Tania (BE/NL) konfrontiert uns mit dem Schicksal einer jungen Frau aus dem Amazonasgebiet Perus, die bei dem Versuch, der Enge ihres Heimatdorfs zu entkommen, in die Fänge der Zwangsprostitution gerät und dabei ihrer moralischen und physischen Integrität beraubt wird. Baracoa (CH/KOL/USA) gibt vor dem Hintergrund einer Gesellschaft im Wandel Einblicke in den privaten Kosmos einer kindlichen Freundschaft im ländlichen Kuba.

Los Ausentes: Musik für die Toten (Foto: José Lomas Hervert)

Vier Kurzfilme komplettieren das Generation-Programm: In der kolumbianischen Fabel El tamaño de las cosas steht die Größe von Dingen zu Wünschen in Beziehung, das Musiktrio eines mexikanischen Jungen muss in Los ausentes mit nur drei Songs Repertoire eine Totenwache bestreiten, und Mientras las olas handelt von der Bewältigung einer Identitätskrise. Der Inhalt von Los rugidos que alejan la tormenta war bei Redaktionsschluss noch unbekannt (beide Argentinien).

In der Rubrik Kulinarisches Kino sind im Dokumentarfilm Sembradoras de vida (PER) Bäuerinnen im Hochland von Peru zu sehen, die trotz Bedrohungen durch den Klimawandel an alten Traditionen festhalten. Der Kurzfilm La herencia del viento widmet sich der Verbundenheit eines mexikanischen Bauers mit der Natur.

Die Berlinale Shorts warten schließlich noch mit zwei Beiträgen auf: In Héctor erscheint ein geheimnisvolles androgynes Wesen bei Arbeitern in einer chilenischen Fischerbucht, und in Shakti will sich ein argentinischer Mann von seiner Freundin trennen, die ihm zuvorkommt.

 

BILDGEWALTIGES MEISTERWERK

Ab Anfang April in den deutschen  Kinos Traumafte Schönheit und brutale Realität in Birds of Passage

Es gibt Filme, die erzählen eine Geschichte und es gibt Filme, die machen diese Geschichte erlebbar. Das neue Werk von Ciro Guerra und Cristina Gallego ist einer dieser Filme. Birds of Passage spielt in den 70er Jahren in der Region La Guajira, im Nordosten Kolumbiens, und gilt als der Bonanza Marimbera genannte Ursprung des kolumbianischen Drogenhandels. Rapayet, ein Angehöriger der matriarchalisch geprägten Wayuu, verkauft Marihuana an US-Amerikaner*innen. Der Handel boomt und sorgt für großen Reichtum. Doch die damit verbundene Gewalt zerstört letztendlich seine Familie.

Das Regie- und Produktionsduo aus Ciro Guerra und Cristina Gallego, die schon für Die Reisen des Windes und Der Schamane und die Schlange zusammengearbeitet haben, entführt uns auch diesmal in eine Welt zwischen Legende, Traum und Wirklichkeit. In langen Aufnahmen lassen sie die beeindruckende Wüstenlandschaft der Region auf die Zuschauenden wirken. Die schlichte Rauheit der Natur steht in teils krassem Gegensatz zu der detailreich verzierten, glänzenden Kleidung der Frauen. Ebenso das prunkvolle Haus, das die Familie bewohnt, nachdem der Reichtum Einzug gehalten hat: Es scheint wie ein Geisterpalast in der Weite der Wüste und zugleich protzig und angreifbar – ein Sinnbild des Drogenreichtums. Die Ausdrucksstärke der Bildsprache zeigt sich auch in den stilleren Momenten, deren Symbolgehalt sich auf die Tierwelt bezieht. So verkünden bunt gemusterte, riesig anmutende Heuschrecken kommendes Übel und Plagen, ein nächtlich wiederkehrender schwarzer Vogel versinnbildlicht die unheilvolle Gegenwart eines getöteten Freundes. Auch die reale Gestaltung der Traumbilder, in denen die Matriarchin Úrsula Botschaften für die Zukunft liest, lassen diese als gleichberechtigte Informationsquelle neben den alltäglichen Geschehnissen wahrnehmen. Hier kommt man nicht umhin, den magischen Realismus am Werk zu spüren. Auch in der Erzählweise nähern sich die Regisseur*innen anderen Traditionen an. Ein alter Wayuu besingt in der Eröffnungs- und Schlusssequenz die Geschichte des Films und hebt sie somit in eine orale Tradition, die sich im Handlungsaufbau weiterführt, der thematisch und chronologisch in fünf Gesänge (cantos) unterteilt ist. Dies wird noch unterstrichen, indem fast nur Wayuunaiki, die Sprache der Wayuu, gesprochen wird.

Brüche der Figuren, in denen die traditionelle matriarchale Gesellschaftsstruktur zu bröckeln scheint und sich Rapayet gegen Úrsulas Wort stellt, bringen die Welt einer indigenen Gemeinschaft, die in den Drogenhandel verwickelt ist, näher. Guerra und Gallego ist es gelungen, den Blick auf das bekannte Thema des Drogenhandels in Kolumbien durch eine neue Perspektive und in einer neuen Ästhetik zu betrachten. Auch ist dies der erste Film, in dem Cristina Gallego die Co-Regie übernommen hat, was die starke Frauenrolle im Film betont. Ein überwältigender Film, dessen poetische und surreale Bilder die Zuschauer*innen nicht loslassen und dessen Geschichte Kolumbien noch immer begleitet.

„WIR KÖNNEN ALLE ETWAS VERÄNDERN!”

Musik über Krieg und Frieden Marta Gómez ist auf Erfolgskurs (Foto: wikimedia.org/ CC-BY-SA 3.0, no changes made)

Bis heute hat Marta Gómez wahrlich keinen Grund, an ihrer Entscheidung zu zweifeln. Bislang zehn veröffentlichte Alben, zwei Latin Grammys, Auftritte auf renommierten Bühnen auf der ganzen Welt – es hätte schlechter laufen können. So einfach wie sie klingen, waren die Dinge auch für die Künstlerin mit der markanten, klaren Stimme nicht immer. Trotz der frühen Einflüsse durch die Größen der lateinamerikanischen Musik wie Silvio Rodríguez, Violeta Parra, Pablo Milanés und Víctor Jara oder den legendären Interpretationen von Mercedes Sosa dauerte es, bis sie ihren eigenen Zugang zum musikalischen Erbe ihres Kontinents fand. „Ich hatte die traditionellen Protestlieder satt. Dieses Bild von einem Mann mit der Gitarre, der von tieftraurigen Dingen singt. Ich trat dem damit entgegen, was mein Herz mir vorgab: Dem politischen und poetischen Song, den ich aus meiner Umgebung kannte, der mir aber auch die Möglichkeiten gab, zu experimentieren und die musikalisch-technischen Vorlieben zu entwickeln, die mir selbst sehr gefallen.” Erst das selbstgewählte musikalische Exil, begonnen mit 20 Jahren mit einem Stipendium der prestigeträchtigen Musikschule von Berklee/USA und bis jetzt durchgehalten (Marta Gómez lebt heute in Barcelona), verhalf ihr zu dem Stil, der sie auszeichnet und der nicht leicht einzuordnen ist. Sie selbst erzählt, wie sie manchmal Buena Vista Social Club als Referenz nutzte, wenn sie ihre Musik vorstellte. Heute, da diese doch sehr ungenaue Einordnung aufgrund ihrer eigenen Bekanntheit nicht mehr nötig ist, versucht sie es mit diesen Worten: „Meine Musik ist Folklore, in Jazz gehüllt, aber nicht tanzbar” und schiebt als Erklärung nach: „Folklore muss nicht immer eine Person in traditioneller Kleidung in ihrem Dorf sein. Natürlich ist das auch Folklore, aber es bedeutet nicht, dass wir sie nicht neu erfinden können.”

Die Erkenntnis, dass Musik gleichzeitig eine international verständliche Sprache und die Transformation der eigenen Herkunft in Wort und Klang sein kann, verhalf ihr während des Studiums im Ausland zur künstlerischen Selbstfindung: „Ich befand mich in Berklee in der Wiege des Jazz und trotzdem war es der perfekte Platz, um die Musik von dem Ort, aus dem ich kam, zu arrangieren”, erzählt die Künstlerin aus Calí. Sie traf hier auf ein multikulturelles Universum, in dem sie lateinamerikanische Folklore in Dialog mit den internationalen Einflüssen an der Akademie setzen konnte.

Marta Gómez singt nicht nur, mit ihrer Musik macht sie auch Politik

Es würde Marta Gómez allerdings nicht gerecht, ihre Musik auf die Produktion kultureller Werte zu reduzieren. Die verändernde Kraft der Musik als künstlerische Gabe, die die Herzen bewegen kann, macht aus ihren Liedern auch Werke von politischem Wert. In einem von Konflikten so gebeutelten Land wie Kolumbien ist ihre Bekanntheit auch dadurch gestiegen. Immer mehr Menschen verfolgen ihre Musik und identifizieren sich damit. Die internationale Aufmerksamkeit gewann Gómez vor allem mit „Para la guerra, nada” („Für den Krieg, gar nichts”), eine der aktuell wohl meistgespielten Friedenshymnen. Musikalisch nur auf Gesang und ein paar gezupften Gitarrenakkorden basierend beschreibt der Text von „Para la guerra, nada” all die schönen Dinge, die die Menschheit erfinden könnte, wenn nur die vielen Kapazitäten, die für die Forschung zu Krieg und Kriegstechnologie gebunden werden, frei würden. Das wirkt in Zeiten von ferngesteuerten Drohnenangriffen und Fake News verbreitenden Bot-Armeen unvermeidlich naiv, ist aber genau deshalb so kraft- und wirkungsvoll. Wer kann schon einem Kind eine sinnvolle Antwort auf die Frage geben, warum es Kriege geben soll? Obwohl der Song vor allem in Kolumbien zu einem Erkennungszeichen der Friedensbewegung wurde, schrieb ihn Marta Gómez nicht für ihr Heimatland, sondern anlässlich des Israel-Palästina-Konflikts. „Die Idee kam mir, als ich von dem sogenannten ‘Iron Dome’ in Israel hörte, einem mobilen militärischen Abwehrsystem, das alle in einem Umkreis von 70 km abgefeuerten Raketen zerstören kann. Und ich stellte mir vor, wie viel Zeit, wie viel Energie, wie viel Geld in so ein ausgeklügeltes System geflossen sein musste. Und was man alles mit diesen Ressourcen machen könnte, wenn es keinen Krieg gäbe.” Die Vorstellung ist im wahrsten Sinne entwaffnend. Und übertragbar wohl so ziemlich auf jeden Konflikt weltweit, was Marta Gómez schon bald nach Erscheinen des Songs unter anderem Einladungen zu Veranstaltungen der Friedensbewegung in Kolumbien und Israel bescherte. „Es ist ein Lied, das direkt gegen den Krieg gerichtet ist, und offenbar war das etwas, was momentan gerade sehr gefehlt hat”, erklärt die Sängerin. Und sagt damit nicht nur einiges über den aktuellen Zustand der Welt, sondern auch über den der Popkultur aus. Marta Gómez macht nicht ausschließlich politische Kunst (es gibt auch Kinderlieder und Texte über Blumen und Schmetterlinge von ihr), sieht sich aber dezidiert als politische Künstlerin. Involviert ist sie aktuell zum Beispiel bei der linken politischen Bewegung La Colombia Humana („Das menschliche Kolumbien”). „Meine Funktion auf dieser Welt sehe ich darin, durch meinen Gesang Politik zu machen. Und dabei beziehe ich mich natürlich auf linke Politik, auf den Sozialismus. Das heißt nicht, dass alle diese Meinung teilen müssen. Aber meine Position werde ich auf und neben der Bühne verteidigen, bis zum Ende.” Dass es dabei auch mal Widerspruch von den eigenen Zuhörer*innen gibt, ist dabei kein Problem für sie: „Klar höre ich öfter mal Dinge wie: ‘Ich mag ja deine Musik, aber du solltest dich darauf konzentrieren und das mit der Politik lassen.’ Solchen Leuten sage ich: Es freut mich, dass du meine Lieder magst, du solltest sie auch weiter hören. Wenn dir die Texte nicht gefallen, hör einfach mehr auf die Musik.”

Dass Musik als einigende Kraft über ideologische Differenzen hinweg Menschen verbinden kann, ist eine der stärksten Überzeugungen von Marta. „Die grundlegende Aufgabe der Kunst ist für mich, dass ich kommunizieren und dadurch Menschen in irgendeiner Form berühren kann. Die menschlichen Gefühle sind bei allen ähnlich. Jeder hat sich schon ein mal verliebt, jeder ist schon einmal verlassen worden. Wer das hört, kann sich damit identifizieren. Wenn ich es schaffe, dass mir ein anderer zuhört und davon bewegt wird, hat meine Musik ihre Funktion erfüllt.”  Grenzen zieht sie aber bei den Anlässen, für die sie singt. Logisch, wer Texte über benachteiligte Frauen, Kinder oder Minenarbeiter*innen schreibt, kann schwerlich rechte Politiker wie Uribe in Kolumbien oder Bolsonaro in Brasilien unterstützen. „Auch für das Militär eines Staates könnte ich niemals auftreten. Vor dem Militär habe ich panische Angst. In manchen Ländern, wie Israel, freuen sich die Leute, wenn sie einen Soldaten auf der Straße sehen. In Kolumbien bin ich immer so schnell wie möglich weggelaufen!” Es würde zudem auch nicht zu ihrem Engagement für den Frieden passen, das sie mit ihren Auftritten in von Konflikten betroffenen Ländern verfolgt. „Wenn die Leute dort mir sagen, dass sie glücklich aus meinem Konzert gegangen sind, habe ich viel erreicht. Dass ich im Kontext des Kriegs Frieden vermitteln kann, ist für sich eine große Errungenschaft, die ich sehr schätze.”

Berührungspunkte hat Marta Gómez neben der Friedensbewegung auch mit dem Feminismus, speziell in Lateinamerika. „Es ist ermüdend, dass wir immer noch um so selbstverständliche Dinge wie das Recht auf Abtreibung kämpfen müssen” sagt sie und macht es natürlich trotzdem. Am UNO-Songprojekt „One Woman” war sie genauso beteiligt wie bei den Demonstrationen mit den „Pañuelos verdes” in Argentinien, wo sie auch auf die Madres de la Plaza de Mayo traf. Von denen hat sie eine wichtige Erkenntnis mitbekommen: Für den politischen Wandel sei es nicht so wichtig, wer gerade an der Regierung ist. „Die Madres sind seit Jahrzehnten auf der Straße, egal ob eine Militärdiktatur oder wer auch immer an der Macht war. Und sie haben viel bewirkt. Ihre Erfahrung war: Am Ende bist es du es selbst, die den Unterschied macht! Natürlich hilft es, wenn du von der Politik Unterstützung bekommst.

„Ich habe immer nur für Verlierer gestimmt”

Aber was mich betrifft – ich weiß gar nicht, wie sich das anfühlt! In meinem politischen Leben in Kolumbien habe ich immer nur für Politiker gestimmt, die verloren haben! Trotzdem glaube ich, dass sich im Land durch Basisbewegungen politisch viel verändert hat. Wir haben alle eine große politische Macht, auch wenn wir uns dessen oft gar nicht bewusst sind. In allen Lebensbereichen können wir durch unsere persönliche Einstellung etwas verändern. Wir müssen nur aufwachen und uns dieser Kraft bewusst werden!”
Dass sie selbst dieses Unterfangen aus einer relativ prominenten Position angehen kann, dafür sind Marta Gomez´ Preise und Nominierungen bei den Latin Grammys nicht ganz unwichtig. Zwei hat sie schon gewonnen – einen für die schönste visuelle Gestaltung eines Albums, einen für das beste Album für Kinder. Dieses Jahr ist sie mit ihrem aktuellen Werk „La alegria y el canto” für das beste Folklore-Album nominiert und fühlt sich deswegen zwar geehrt, aber mit 40 Jahren eigentlich noch zu jung dafür. “Diesen Preis geben sie doch normalerweise nur an 90-jährige, die ihr ganzes Leben lang nichts anderes gemacht haben als Folklore – für ihre Ausdauer…”, lacht sie. Am 15. November ist die Preisverleihung, sie gilt als aussichtsreiche Kandidatin. Und wenn es mit dem dritten Award doch nicht klappen sollte – auch nicht so schlimm. Die Schönheit und Wirkung ihrer Musik entfaltet sich schließlich noch auf vielen anderen Ebenen.

VERERBTE GEWALT

Was wäre passiert, hätten die Entführungen, die Massaker, der Krieg nicht stattgefunden? Was, wenn dieser Mord nicht geschehen wäre, der Mord an dem linken Präsidentschaftskandidaten Jorge Eliécer Gaitán?

Der Tag seiner Ermordung, der 9. April 1945, „ist ein schwarzes Loch in der kolumbianischen Geschichte“. El Bogotázo, der darauf folgende Aufstand in der Hauptstadt, kostete mindestens 3.000 Menschen das Leben und stürzte das Land ins Chaos. Zehn Jahre lang kämpften Konservative und Liberale in einem offenen Bürgerkrieg um die Macht. Der Mord an Gaitán war der Auslöser einer „kollektive(n) Neurose“, schreibt Vásquez. Es war das Wiederaufflammen des bis heute andauernden Krieges zwischen progressivem und reaktionärem Denken in Kolumbien.

Juan Gabriel Vásquez geht in Die Gestalt der Ruinen nicht der Frage nach, wie das Land ausgesehen hätte, wäre Gaitán nicht ermordet worden. Der Schriftsteller fantasiert nicht über Utopien, sondern beschäftigt sich mit den dadurch zum Leben erweckten Verschwörungstheorien. Hat der 27-jährige Mörder, Juan Roa Sierra, an jenem Mittag allein gehandelt? Was sagen die Bilder, Erinnerungen und sogar Überreste Gaitáns über dessen Tod und den vieler anderer Politiker aus?

„Das Buch ist ein Exorzismus“, sagt der Autor im Interview mit der kolumbianischen Zeitung El País. In dem 520-seitigen Roman erhalten die Leser*innen Einblicke in das Leben von Vásquez, der mit 45 Jahren bereits als einer der wichtigsten lateinamerikanischen Schriftsteller der Gegenwart gilt. Sein Buch ist eine persönliche Auseinandersetzung mit der Gewalt der 1980er Jahre, als der Drogenkrieg das Land mit aller Wucht traf: „Wir alle erlebten, wie unsere Häuser abbrannten, wir alle waren in diesen Bürgerkrieg verwickelt, der natürlich kein Bürgerkrieg war, sondern ein Massaker, feige, unbarmherzig, tückisch, an verletzlichen und zudem unschuldigen Menschen.“ Der Roman ist gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit der nicht erlebten, sondern erzählten Gewalt, mit den Lebensgeschichten der Großeltern während des Bürgerkrieges nach dem Mord an Gaitán – Geschichten, die über die Zeit zu Legenden in jeder kolumbianischen Familie wurden.

Vásquez erzählt, wie er auf einer Party des Arztes Francisco Benavides die Bekanntschaft von Carlos Carballo machte. Carballo ist ein Verschwörungstheoretiker, der von der Geschichte um und von Gaitáns Ermordung besessen ist. Die Beziehung zwischen dem Schriftsteller Vásquez, dem Arzt Benavides und dem Verschwörungstheoretiker Carballos wird zum roten Faden im komplexen Geflecht von realen und fiktiven Detektivgeschichten.

Die Gestalt der Ruinen, drei Jahre nach dem Erscheinen nun auf Deutsch übersetzt, ist meisterlich geschrieben. Mit journalistischem Stil nimmt Vásquez mal die Perspektive des Schriftstellers, mal die des Historikers, des Kriminologen oder die seiner Zeug*innen ein. Im stetigen Wechsel der Erzählperspektiven führt der Autor die Leser*innen im zweiten Teil des Romans zurück in die Vergangenheit, an einen Tag im Jahr 1914, als Rafael Uribe Uribe, General und Politiker der Liberalen Partei, getötet wurde – ein weiterer angekündigter Tod in der kolumbianische Politik mit viel verschwörungstheoretischem Potenzial.

„In dem Roman habe ich versucht, mich mit einer meiner Sorgen auseinanderzusetzen, nämlich der, dass wir Kolumbianer die Verbrechen vererben, die Gewalt in unserem Leben”, sagte Vásquez weiter im Interview mit El País. Sein Vorhaben gelingt ihm: Der erzählte Weg dorthin macht den Roman höchst aktuell und sehr lesenswert.

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