Konvention zum Schutz indigener Völker wertlos

Herr Caal Xol, Sie wurden am 24. März 2022, hier in Cobán aus dem Gefängnis entlassen. Ein Jahr später müssen Sie sich immer noch vor Gericht verantworten. Warum?

Seit 2017 laufen gleich zwei Verfahren gegen mich. In einem ersten beschuldigt mich der Staat unrechtmäßig ein Lehrergehalt bezogen zu haben. Das zweite Verfahren wurde von der Firma Oxec angestrengt. Sie baut die mehrere Wasserkraftwerke am Río Cahabón. Dagegen habe ich mich gemeinsam mit anderen engagiert. Ich wurde angezeigt Elektrokabel gestohlen und mehrere Mitarbeiter des Bauunternehmens Netzone SA gemeinschaftlich mit anderen Aktivisten festgehalten zu haben.

Sie wurden am 30. Januar 2018 verhaftet, im November des gleichen Jahres zu einer Haftstrafe von sieben Jahren und vier Monaten wegen schweren Raubes und Freiheitsberaubung verurteilt – zu Recht?

Nein (lacht), natürlich nicht. Die Richter haben mich verurteilt, obwohl sie sich nur auf die Aussagen von drei oder vier Netzone-Mitarbeiter berufen konnten. Es gab keine Videos, keine Fotos, keine unabhängigen Zeugen – ein fabrizierter Prozess. Das ist auch die Meinung von Amnesty International, die mich im Juli 2020 zum Gewissensgefangenen erklärten. Auch Experten der Vereinten Nationen haben meine Haftstrafe als Versuch bezeichnet mich zum Schweigen zu bringen und zu diskreditieren. Das ist Ihnen nicht gelungen.

Hat die Stigmatisierungs- und Kriminalisierungskampagne in ihrem Dorf, in ihrer Region, in gewerkschaftlichen Zusammenhängen funktioniert?

Nein, keineswegs, aber vielleicht im Rest Guatemalas. Wer glaubt denn, dass ich in größerer Menge Kabel geraubt habe? In meiner Heimatgemeinde nur wenige. Da kennt man mich gut. Ich bin Lehrer, ich habe mich in der Gewerkschaft engagiert – solche Leute sind bekannt in den Gemeinden. Das wird nicht so schnell vergessen. Ich habe viel moralische Unterstützung erhalten – kaum jemand hat geglaubt, dass ich wirklich gestohlen habe, die meisten, dass es gefälschte Anschuldigungen waren.

Auch im Gefängnis haben mich Briefe erreicht. Ich selbst habe regelmäßig geschrieben, fast täglich einen Brief, von denen viele in den sozialen Netzen veröffentlicht wurden und die mich draußen in Erinnerung gehalten haben.

Schreiben als Therapie im Gefängnis. Wie ist es Ihnen da ergangen?

Puh, das war eine schlimme Zeit mit Folgen. Jetzt bin ich in psychologischer Behandlung. Die Ärzte haben mich durchgecheckt. Ich hatte einen Tumor, der im Gefängnis entstanden ist. Nach meiner Entlassung aus der Haft, wurde der Tumor in einem Krankenhaus in Guatemala Stadt entfernt.

Man muss wissen wie man im Gefängnis durchkommt, sich aus Konflikten heraushält. Für mich war das Schreiben so etwas wie meine Therapie. Es hat mir geholfen, klar zu bleiben und mir etwas Respekt der anderen Häftlinge eingebracht. Auch die Solidarität von Amnesty, der Peace Brigades und die Besuche haben geholfen.

Amnesty hat Sie zum Gewissensgefangenen erklärt. Hatte das einen Effekt?

Nein, eigentlich nicht. Guatemalas Justiz hat in den letzten Jahren das letzte bisschen ihrer Unabhängigkeit verloren. Es gibt in Guatemala eine Gruppe von Personen, die die Justiz kontrollieren. Sie ermitteln gegen unbequeme Richter unter fadenscheinigen Vorwänden und bedrohen sie mit Haft. Viele fliehen deshalb ins Ausland. Es gibt mehr als zwei Dutzend Fälle. Staatsanwälte und Staatsanwältinnen sitzen im Gefängnis und werden kriminalisiert, obwohl sie nur ihre Arbeit gemacht haben. So wie ich auch. Wir leben in einem Land, in dem der Rechtsstaat beerdigt wurde. Dafür gibt es auch jetzt im laufenden Wahlkampf zu den Präsidentschaftswahlen am 25. Juni zahlreiche Belege.

Woran denken Sie – an die Nominierung der Kandidat*innen?

Ja, genau. Mehrere Kandidatinnen und Kandidaten, darunter mit Thelma Cabrera auch eine aussichtsreiche Indigene, wurden von Höchsten Wahlgericht (TSE) nicht zugelassen – unter wenig stichhaltigen Vorwänden.

Zurück zu Ihrem Fall: Wurde die Bevölkerung um ihr Einverständnis für den Bau der Wasserkraft-werke gebeten und darüber informiert?

Nein, wir wurden nicht informiert, nicht gefragt, ob wir mit der Umleitung der Flüsse, dem Bau von Staudämmen und mehr einverstanden waren. 2015 begannen die Bauarbeiten und auf den Baufahrzeugen waren immer die Namen von zwei Unternehmen zu sehen: Soler und Cobra. Wir haben die Namen auf den Seiten der Ministerien wiederentdeckt und so festgestellt, dass Lizenzen für Wasserkraftwerke vergeben worden waren, ohne dass wir Maya Q’eqchi’ informiert und um Zustimmung gefragt wurden wie es die ILO-Konvention 169 zum Schutz indigener Völker vorsieht. Die ist von Guatemala unterzeichnet worden und auch von den spanischen Stromunternehmen, die vor unserer Haustüre Kraftwerke bauen.

Was passierte dann?

Wir begannen uns zu koordinieren und fuhren in die Hauptstadt, um gegen die Vergabe von Konzessionen ohne Beteiligung der lokalen Bevölkerung zu protestieren. Der Fall wurde publik. Schnell wurde klar, dass die Lizenzen für die Kraftwerke vom Minister für Energie und Minen vergeben wurden: Eric Archila. Der wird heute mit Haftbefehl gesucht. Mich hat damals die lokale Bevölkerung ernannt, um die Verhandlungen zu führen, Verträge aufzusetzen und den Widerstand zu koordinieren.

Das brachte sie für mehr als vier Jahre ins Gefängnis.

Richtig, allerdings begann die Diffamierung früher und sie hält an. Heute muss ich regelmäßig vor Gericht erscheinen, um mich gegen den Vorwurf zu wehren, dass ich ein Gehalt als Lehrer bezogen hätte, ohne zu unterrichten. Richtig ist, dass ich aufgrund meiner gewerkschaftlichen Arbeit freigestellt war. Ich unterrichtete nicht, sondern habe mich in Vollzeit für die Lehrergewerkschaft engagiert. Das versuche ich den Richtern seit einem Jahr mit allen nötigen Dokumenten zu belegen. Doch sie lassen nicht locker – es geht weiterhin darum mich zu diskreditieren und zu kriminalisieren.

„DAS SCHLIMMSTE DIESER REGIERUNG HABEN WIR NOCH NICHT GESEHEN“


GASTÓN CHILLIER ist seit 2006 Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation CELS, wo er zuvor als Anwalt zu Themen institutioneller Gewalt gearbeitet hat. Das CELS (Zentrum für legale und soziale Studien) wurde vor 40 Jahren während der Militärdiktatur von einer Gruppe von Anwält*innen gegründet, um die Fälle der Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo und Folteropfer der Militärdiktatur in ihrem Prozess für Wahrheit, Erinnerung und Gerechtigkeit zu unterstützen. Seither kämpft das CELS gegen Straflosigkeit und institutionelle Gewalt und war an allen großen Menschenrechtsprozessen Argentiniens beteiligt. Neben diesen traditionellen Themenfeldern ist das CELS ein wichtiger und renommierter Akteur für aktuelle soziale Organisationen und Bewegungen. Das CELS gibt eine jährliche Studie zur Menschenrechtssituation in Argentinien heraus. (Foto: Caroline Kim)


Herr Chillier, wie steht es im Wahljahr um die argentinische Regierung?
Diese Regierung hat alle Befürchtungen übertroffen. Statt einer demokratischen modernen Rechten kam eine klassisch neoliberale Rechte, wie sie schlimmer nicht sein konnte. Die Macri-Regierung ist eine orthodoxe, neoliberale Regierung, die nach politischer Öffnung strebt, aber mit einer US-Regierung zu tun hat, die protektionistisch ist. Macri hatte das Pech, seine Politikstrategie, sich der Welt zu öffnen, umzusetzen, als die Welt gerade dabei war, sich zu schließen. Er war zu spät. Jetzt sind wir mitten in einer Wirtschaftskrise, im letzten Jahr hat die Regierung wieder Geld beim IWF geliehen. Das ist für Argentinien eine sehr sensible und negative Sache, die noch bis vor kurzem undenkbar war. Argentinien hat gute Gründe für die Ablehnung des IWF aus den Erfahrungen der großen Krise von 2001.

Was ist die Bilanz von vier Jahren Macri-Regierung hinsichtlich der Menschenrechte?
Es gibt zwei große Linien, die miteinander verbunden sind. Die soziale Situation im Kontext der Strukturanpassungen der Wirtschaftspolitik geht mit einer immer repressiveren Politik einher. Hinzu kommen Rückschritte in verschiedenen Politikbereichen wie der Migrations- oder Sicherheitspolitik: Militarisierung und Sicherheit stehen wieder ganz oben auf der Agenda in Argentinien. Wenn man die Statistiken betrachtet, ist zwar keine Zunahme von Polizeigewalt zu verzeichnen, die Rückschritte gab es jedoch vor allem im Diskurs, der den tödlichen Einsatz von Schusswaffen durch staatliche Sicherheitskräfte legitimiert. Ein viel beachteter Fall war der von Chocobar, einem Polizisten, der eine Person, die einen Touristen bestohlen hatte, mit einem Schuss in den Rücken tötete, ohne jegliche legitime Notwehr. Der Präsident hat ihn zusammen mit der Sicherheitsministerin Patricia Bullrich empfangen und gesagt: „Solche Polizisten brauchen wir.“ Das ist ein sehr harter Diskurs, auch ohne Bolsonaro zu sein. Chocobar ist heute wegen Mordes verurteilt.
Dann gab es natürlich den Fall des verschwundenen Aktivisten Maldonado und die Erschießung von Rafael Nahuel (Mapuche-Aktivist, 2017 durch einem Schuss in den Rücken ermordet, Anm. d. Red.). In allen Fällen reagierte die Regierung mit der Unterstützung der Sicherheitskräfte, die die Morde begangen haben.

Als die Massenproteste für Gerechtigkeit für Santiago Maldonado das ganze Land auf die Straße geholt haben, verschärften sich auch Repressionen gegen Demonstrant*innen und Journalist*innen. Ist die zunehmende Kriminalisierung der sozialen Proteste charakterisierend für Macris Regierungszeit?
Eine der ersten Amtshandlung nach der Amtsübernahme der Regierung war die Verhaftung der indigenen Führungsfigur Milagro Salas im Januar 2016. Das war ein Wendepunkt in der Kriminalisierung von sozialen Protesten. Die Einschüchterung von sozialen und politischen Aktivisten hat seither noch zugenommen, vor allem auch gegenüber Journalisten, die über soziale Proteste berichten. Die Regierung hat alles versucht, den Terrorismus als Bedrohung aufzubauen und somit auf die Agenda zu setzen, auch in der Vorbereitung auf den G20-Gipfel. Am besten sieht man das an der Kriminalisierung der Mapuche-Gemeinden. Die argentinische Regierung macht gemeinsame Sache mit der chilenischen Regierung und den Geheimdiensten, dazu gehört auch die illegale Überwachung von Mapuche-Aktivisten und Unterstützern. Auf chilenischer Seite gibt es Beweise für die Fälschung von Beweismitteln, um bekannte Mapuche-Autoritäten zu kriminalisieren und sie aufgrund von Terrorismus anzuklagen. Der neue Rahmen für Argentinien ist das Sicherheitsprogramm der USA, wo der Krieg gegen Terrorismus und Drogen im Zentrum steht. Auch in Argentinien ist das wieder zu einer starken politischen Strategie geworden. Die Regierung und die Sicherheitsministerin haben viel ihrer Zeit darein investiert, das Bild eines „inneren Feindes“ zu etablieren. Von da aus verwandelt sich jede Art der Demonstration, der öffentlichen Äußerung von sozialer Kritik, von Protest oder social leadership in eine Bedrohung. Das ist gefährlich für ein demokratisches System.

Wie spielt die wirtschaftliche Situation in dieses Klima mit hinein?
Das Merkmal dieser Zeit und dieser Regierung ist der bedeutende Anstieg der Ungleichheit aufgrund der Auswirkungen der Wirtschaftspolitik. Das heißt nicht, dass es in den vorherigen zwölf Jahren Kirchnerismus keine Probleme gab, aber die Fortschritte, die durch die Vorgängerregierungen hinsichtlich der Verteilung des Reichtums erzielt wurden, sind wieder rückgängig gemacht worden. Alle sozialen und wirtschaftlichen Indikatoren zu Armut und Arbeitslosigkeit zeigen, wie ernst die wirtschaftliche Situation ist. Argentinien kehrt nun zu diesem fatalen Schema zurück, in dem die jährliche Inflationsrate mindestens 40 Prozent beträgt, mit einer systematischen Abwertung des Peso. Im letzten Jahr wurde der Peso um 100 Prozent abgewertet, was eine enorme Auswirkung auf die Inflation und die soziale Situation hat.
Das Modell dieser Regierung ist vergleichbar mit dem chilenischen. Ein Modell, in dem es einen sehr viel konzentrierteren Reichtum gibt und viele Teile der Gesellschaft außen vor bleiben. Das ist die Realität. Als die Regierung angetreten ist, kursierten unter den Staatsbeamten Äußerungen über die Vorgängerregierung wie: „Die haben doch tatsächlich die Armen glauben machen, dass sie in Urlaub fahren könnten. Oder dass sie ein Recht darauf hätten, wenig für Strom und Gas zu bezahlen…“ Das ist eine Message, die gegen die Substanz der argentinischen Gesellschaft geht. Obwohl es seit vielen Jahren bergab geht, hat die Idee von Gleichheit einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft. Auf eine bestimmte Art und Weise schätzt sie, dass sie eine egalitäre mit einer großen Mittelklasse ist – im Gegensatz zu Chile, Brasilien oder Paraguay.

Derart umgeben von rechten Regierungen wird auch Argentinien mehr nach rechts rücken?
Wenn Macri gewinnt, wird er sich weiter nach rechts ausrichten. Nicht bis in die Extreme, die wir in Brasilien sehen, aber seine Politik wird noch mehr eine der Strukturanpassungen sein. Teil der Kritik, den die Hardliner an der Regierung haben, ist, dass sie nicht genug Sparmaßnahmen durchgesetzt hat. Sie nennen das Gradualismus, weil die Regierung nicht von Anfang an eine Schock- und Sparpolitik gefahren ist. Die Sozialausgaben sind vergleichsweise sogar höher als die der Vorgängerregierung, weil ihr nichts anderes übrigblieb. Es gab keinen Spielraum dafür, dass diese Regierung so neoliberal wie die von Präsident Menem in den 90ern sein konnte.

Aber es gab doch starke Kürzungen bei den Renten, Bildung, Gesundheit und Kultur?
Es gab Kürzungen, die tatsächlichen Ausgaben sind allerdings nicht weniger geworden, die Sozialpolitiken wurden nicht beendet. Aber nicht, weil die Regierung glaubt, dass es ein Recht auf Sozialpolitik gäbe, sondern weil sie nicht anders konnte. Das war der Weg, um die Regierungsfähigkeit zu erhalten. Wenn Macri jetzt gewinnt, sehen wir das hässlichste Gesicht einer Regierung, die noch neoliberaler und autoritärer werden wird. Die nächsten Jahre werden sehr hart werden durch zusätzliche Sparmaßnahmen in einem sozialen Gefüge mit vielen Konflikten. Und die argentinische Gesellschaft charakterisiert sich darüber, auf die Straße zu gehen und zu protestieren. Es waren die ständigen sozialen Proteste seit der Übernahme der Regierung, die verhindert haben, dass es noch mehr Repressionen gegeben hat. Ich glaube, wir haben das Schlimmste dieser Regierung noch gar nicht gesehen.

Und was denken Sie: Wird Macri gewinnen?
Das wäre politikwissenschaftlich eine sehr seltsame Sache, denn normalerweise werden Regierungen nicht wiedergewählt, wenn die Wirtschaft am Boden und die Regierung sehr schlecht ist. Wenn er trotz allem wieder gewinnt, kann das nur durch die hohe Polarisierung erklärt werden. Alles deutet darauf hin, dass die Leute eher danach wählen, was sie nicht wollen, als danach was sie wollen. Es gibt eine sehr starke Ablehnung der Politik der Regierung, sie wird nicht wegen ihrer Stärken gewählt. Aber trotzdem ist es nicht sicher, ob die Regierung bzw. der Präsident nicht doch wiedergewählt werden kann.

Das liegt auch an der noch zu bestimmenden Gegenkandidatur…
Wenn der Peronismus es schafft, sich zu einigen, wird er sicherlich in der ersten oder zweiten Wahlrunde gegen die aktuelle Regierung gewinnen. Wenn das nicht passiert, bleibt alles unklar. Die größte Figur, die der Peronismus heute hat, ist die Ex-Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner mit einer Unterstützung von 30 bis 35 Prozent der Wähler. Wer auch immer die Wahlen gewinnt, die nächsten Jahren werden sehr konfliktreich werden. Wenn die aktuelle Regierung gewinnt, wird es sehr viel härter, weil die Antwort brutaler sein wird. Wenn eine andere Partei gewinnt, wird es wahrscheinlich mehr Absichten geben, den sozialen Konflikt anders zu regeln.

Zuletzt: Ihr Ausblick in die Zukunft?
Ich glaube, trotz allem bleibt Lateinamerika im globalen Vergleich ein wichtiger Ort, um etwas aufzubauen, das sich an demokratischen Prinzipien und Menschenrechten orientiert, besonders Argentinien, aufgrund des Stellenwertes, den Menschenrechte bis jetzt in der Gesellschaft haben. Heute ist Macri das Rechteste, wohin wir gelangen können. Bisher sehe ich keine Möglichkeit, dass es politischen Raum für einen Antisystem-Kandidaten wie Bolsonaro gibt. Wenn es bei diesen Wahlen schlecht für die Regierung läuft, ist das eine gute Möglichkeit, aus den Erfahrungen mit einer neoliberalen Partei zu lernen. Es war das erste Mal, dass die Rechte und die Elite durch demokratische Wahlen an die Regierung gekommen sind. Davor waren es immer Putsche gewesen.
In heutigen Zeiten ist es wichtig, eine neue Form von Übereinkünften mit der Gesellschaft zu schaffen. Wenn wir nicht anfangen, die Herzen und Köpfe der Menschen zu erobern, werden diese letztlich autoritäre Optionen wählen. Wir brauchen eine Verteidigungsstrategie und gleichzeitig eine positivere, die nach vorne geht. Es existiert die Forderung nach alternativen Modellen. Ich hoffe, dass es eine überzeugende soziale Antwort gibt, die sich in der Ablehnung der neoliberalen Politik der aktuellen Regierung in den Wahlen ausdrückt.

 

„WIR MACHEN DAS NICHT, WEIL WIR ES WOLLEN”

Natividad Llanquileo (Foto: David Rojas Kienzle)

Die im Luchsinger-Mackay-Fall angeklagten Mapuche wurden wegen Brandstiftung mit Todesfolge in zwei Fällen zu je 18 und im dritten Fall zu fünf Jahren Haft verurteilt. Welche Beweise veranlassten das Gericht zu diesem Urteil?
Der einzige Beweis war die Aussage eines Polizisten, der angab, dass der Verurteilte José Peralino 2016 ein Geständnis abgelegt und darin auch die anderen Verurteilten beschuldigt hatte. In der Folge wurde ein Prozess gegen insgesamt elf Personen eröffnet, von denen jetzt drei verurteilt wurden. Dabei hat José Peralino diese Aussage, die unter Folter erfolgte, widerrufen.

Der einzige Beweis ist also die Erinnerung eines Polizisten an das Verhör eines Angeklagten vor zwei Jahren?
Genau. Das ist nur möglich, weil der Fall zunächst nach dem Antiterrorgesetz behandelt wurde. Demnach ist die Aussage eines einzelnen Polizisten für eine Verurteilung zu langjährigen Haftstrafen ausreichend. Der terroristische Charakter der Straftat wurde vom Obersten Gerichtshof zwar aberkannt, aber alle Ermittlungen wurden entsprechend des Antiterrorgesetzes geführt.

Kann man gegen das Urteil noch vorgehen?
Auf nationaler Ebene haben wir mit dem Urteil des Obersten Gerichtshofs alle juristischen Mittel ausgeschöpft. Es bleibt noch die Anzeige bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission. Die Anwälte von José und Luis Tralcal befassen sich derzeit damit und CIDSUR versucht, sie dabei zu unterstützen. Wir haben außerdem wegen Beschaffung falscher Beweismittel durch Folter Strafantrag gegen die Polizei gestellt, aber der Fall wurde bis heute nie richtig ermittelt.

Hat es während des Prozesses Unregelmäßigkeiten gegeben?
Ja. Eine kritische Richterin hat Beschwerde eingereicht, weil sie von einem anderen Richter durch Mobbing unter Druck gesetzt worden ist. Sie wurde durch einen weniger kritischen Richter ersetzt, der in der Karriereleiter aufsteigen wollte. Der Präsident von Chile entscheidet über die Besetzung hoher öffentlicher Ämter. Während also Piñera im Wahlkampf das Ende des Terrorismus versprach, bewarben sich viele am Prozess beteiligte Richter auf solche Stellen. Piñeras Wahlkampf wurde dabei auch von den Kindern des bei dem Brandanschlag getöteten Ehepaars Luchsinger-Mackay finanziell unterstützt. Doch der Terrorismus ist in Wirklichkeit natürlich nur erfunden. Diverse internationale und nationale Organisationen haben das mehrfach festgestellt. Noch nie wurde ein Mapuche wegen Terrors verurteilt.

Liegt das größte Problem in den bestehenden Gesetzen, mangelnder Rechtsstaatlichkeit oder geht es schlicht um Rassismus?
Ich denke, es ist vor allem Ignoranz bezüglich der internationalen Normen und der Realität der Indigenen in Chile, insbesondere der Mapuche. Dabei ist z.B. die ILO-Konvention 169 (Übereinkommen über indigene Völker der Internationalen Arbeitsorganisation, siehe LN 435/436, Anm. d. Red.) klar – aber sie wird nicht respektiert. Der chilenische Staat wurde auch bereits mehrfach für seine Kriminalisierungspolitik verurteilt, aber der Modus Operandi bleibt gleich. Die Gerichte halten sich an vorangegangene Fälle, um sich nicht mit dem eigentlichen Konflikt um die indigenen Gebiete auseinandersetzen zu müssen und folgen einfach der Politik. Ich möchte glauben, dass das mit Unwissen und Ignoranz zu tun hat, aber natürlich spielen auch die kolonialen Besitzverhältnisse eine Rolle. Viele Juristen oder ihre Familien haben Land, auf das Mapuche Anspruch erheben. Außerdem existiert ein sehr schlechtes Bild der Mapuche. Früher galten sie als faule Trinker, heute als Terroristen.

Lassen sich denn internationale Verurteilungen so leicht ignorieren?
Da geht es immer um sehr spezifische Fälle. Wenn Chile verurteilt wird, weil Mapuche nach dem Antiterrorgesetz verfolgt werden, dann heißt es in dem Urteil, das sei Diskriminierung. Damit einher gehen dann zwar auch konkrete Anweisungen, manchmal gibt es sogar Entschädigungen. Aber die Regierung bezieht das immer nur auf die Opfer dieses einen Falls. Und die Medien berichten nur solange, wie Mapuche unter Anklage stehen. Wenn aber die Anklage fallengelassen oder der Staat sogar international verurteilt wird, berichten sie nicht mehr. Im kollektiven Gedächtnis bleibt das Bild des kriminellen Mapuche. In diesem Zusammenhang spielen die alternativen Medien heute eine wichtige Rolle, denn sie bleiben bis zum Schluss an den Fällen dran.

Denken Sie, dass sich trotz der Kriminalisierung auch radikale Mittel des Protestes lohnen?
Es ist schwer zu sagen, wo der richtige Weg liegt, um diesen Konflikt zu lösen. Die Entscheidung über die Art des Protests liegt letztendlich bei den einzelnen Mapuche-Gemeinden. Wir als Verteidigung entscheiden da nicht mit, auch wenn wir selbst Mapuche sind. Meine Arbeit sehe ich als ein politisches Mittel, das dringend nötig ist. Wir machen das nicht, weil wir das wollen, sondern weil wir es müssen. Gäbe es keine kritische Organisation wie CIDSUR, wären wahrscheinlich schon mehrere Mapuche nach dem Antiterrorgesetz verurteilt worden.

Wie finanziert CIDSUR die juristische Arbeit?
Das ist ein schwieriges Thema. Natürlich hat jeder Angeklagte in Chile das Recht auf eine juristische Verteidigung. Aber die Angeklagten brauchen besonders in unseren Fällen nicht nur irgendeinen Anwalt, sondern jemanden, dem sie vertrauen. Denn die Unterwerfung unter das chilenische Rechtssystem stellt für viele Familien und Gemeinschaften der Mapuche einen ernsthaften Konflikt dar. Aus dieser Not heraus ist CIDSUR überhaupt erst entstanden. Die finanziellen Mittel für die Verteidigung kommen zum größten Teil von den Angeklagten selbst, die so viel zahlen, wie sie können. Das ist meist nur ein Bruchteil von dem, was ein Anwalt für die juristische Arbeit fordern würde, denn die Mapuche gehören zum ärmsten Teil der Bevölkerung in Chile.

Haben Sie als Anwältin von Mapuche-Angeklagten schon selbst Diskriminierung erfahren?
Fast alle Anwälte, die Mapuche vor Gericht verteidigt haben sind schon fälschlich irgendeiner Straftat beschuldigt worden oder waren Schikanen seitens der Polizei ausgesetzt. Im Anwaltsteam von CIDSUR gibt es drei Mapuche, von denen ich am längsten dabei bin, seit 2016. Gegen mich persönlich wird schon seit längerer Zeit immer wieder wegen irgendetwas ermittelt, das ist für mich kein Thema mehr. Allerdings bedeuten solche Ermittlungen für uns, dass wir nicht nur unsere Klienten, sondern auch unsere Kollegen verteidigen müssen.

Unterscheidet sich die jetzige Regierung unter Sebastián Piñera von der vorherigen von Michelle Bachelet hinsichtlich der Verfolgung und Repression der Mapuche?
Leider sehe ich da kaum einen Unterschied. Aber der Diskurs von Piñera ist sehr viel schärfer und das hat auch die Polizei entfesselt. Sie macht, was sie will, da sie um die Rückendeckung der Regierung weiß.

Was denken Sie über den “Plan Impulso Araucanía” der Regierung Piñera, der unter anderem 16 Millionen Dollar privater Investitionen in der Region Araucanía vorsieht?
Ich glaube, er wird die vorhandene Krise noch weiter vertiefen. Es wird viel von wirtschaftlichen Projekten und Investitionen gesprochen, aber diese Projekte werden das Leben in den Gemeinden zerstören. Alles hängt mit wirtschaftlichen Themen zusammen, alles soll gekauft werden. Durch die Einrichtung eines Fonds zur finanziellen Entschädigung von angeblichen Opfern des Terrorismus rechtfertigt der Plan außerdem den verheerenden Terrorismusdiskurs.

Berücksichtigt der Plan die Hauptforderung der Mapuche-Bewegung nach der Rückgabe des ehemaligen Territoriums?
Durch Änderungen des Indigenengesetzes soll zukünftig der Verkauf indigener Gebiete erlaubt sein. Durch die große Armut unter der indigenen Bevölkerung würde das dazu führen, dass viele Mapuche ihr Land verkaufen. In dieser Hinsicht führt der Plan zu einer Verschlechterung.

Lässt sich wenigstens den geplanten Quoten für indigene Parlamentarier*innen etwas Positives abgewinnen? Oder der vorgesehenen konstitutionellen Anerkennung der indigenen Bevölkerung?
Der Plan kündigt eine Anerkennung der indigenen Völker in der Verfassung an, allerdings nicht, wie genau diese aussehen soll. Wahrscheinlich wird dabei nichts Wesentliches herauskommen. Wenn zukünftig nur in der Verfassung steht: “In Chile gibt es verschiedene Kulturen”, ist damit nichts gewonnen, denn das ist eine bekannte Tatsache. Die Nutznießer von Quoten werden nicht die indigenen Völker sein, sondern die Parteien. Es wird am Ende vielleicht mehr indigene Abgeordnete geben, aber sie werden eher die Interessen der Parteien vertreten als die ihres Volkes. So ist es jetzt schon bei mehreren im Parlament vertretenen Mapuche.

Wenn es trotz wechselnder Regierungen keine Veränderungen zum Besseren gibt, sehen Sie dann eine Zukunft für die Mapuche als Teil des chilenischen Staats?
Ich bin Optimistin, für die Mapuche sehe ich trotz der aktuellen schwierigen Situation eine Zukunft. Das Wichtige ist, dass daran gearbeitet wird: Solange es Bewegung gibt, sieht man auch eine Zukunft. Es gibt eine Tendenz unter den Mapuche, sich wieder stärker als solche zu identifizieren. Die neuen Generationen sind jetzt stolz darauf, wer sie sind, das gab es früher nicht. Heute lernen die Jugendlichen die Sprache Mapuzungun und die Geschichte und Medizin der Mapuche. Viele Künstler eignen sich das wieder an, was die Mapuche ausmachte, bevor es den Staat Chile gab. Eine Zukunft gibt es also. Wie genau wir sie erreichen, das wissen wir leider noch nicht.

Beeinflussen solche Entwicklungen auch Ihre Arbeit als Juristin?
Wir Juristen müssen immer erst das Feuer löschen (lacht). Uns bleibt leider wenig Zeit, uns mit solchen Dingen auseinander zu setzen. Dafür braucht es mehr Leute, die sich damit beschäftigen, wie wir Mapuche-Traditionen mit unserer juristischen Arbeit verbinden können. Doch zum Glück fangen einige gerade damit an.

STRAFTAT: ZIVILCOURAGE

Maria Luisa Lozano (Foto: Susanne Schultz)
Maria Luisa Lozano (Foto: Susanne Schultz)

Maria Luisa Lozano, Sie wurden vor kurzem zu vier Jahren Gefängnisstrafe verurteilt. Wie wurde dies begründet?
Maria Luisa Lozano: Verurteilt wurde ich wegen „Lahmlegung öffentlicher Dienste“ und dazu wegen „erschwerender Umstände“. Sie behaupten, dass ich am 17. August 2015 während der Straßenblockade an der Panamericana einen Tumult organisiert und die Leute zur Straßenblockade angestachelt habe. Zudem sei ich auch verantwortlich dafür, dass Polizisten verletzt worden seien. Inzwischen habe ich Berufung eingelegt.

Was ist tatsächlich geschehen?
Es ist mir ja etwas peinlich, denn normalerweise setze ich mich aktiv für die Rechte meiner Comunidad, also meiner Dorfgemeinschaft, ein. Aber an diesem Tag war meine Tochter krank und ich war nur zufällig in der Nähe der Demonstration, weil ich dort um die Ecke Geld abheben wollte. Dann siegte eben doch die Neugier, denn ich sah viele aufgeregte Personen und überall war Polizei. Etwa 300 Leute hatten die Straße blockiert, viele Personen kannte ich aus meiner Comunidad. Kaum war ich da, warf die Polizei die ersten Tränengasbomben. Als ich zu meinem Auto fliehen wollte, weil ich keine Luft mehr bekam, hörte ich Hilfeschreie. Eine schwangere Frau aus meiner Comunidad wurde von den Polizisten brutal über die Straße geschliffen. Da rannte ich zurück und rief: ‚Ihr seid unmenschlich, lasst sie los!‘ Daraufhin befahl einer der Polizisten: ‚Nehmt die Frauen fest!‘ Sie schlugen mich und eine ältere Frau aus der Comunidad versuchte mich zu beschützen. Letztendlich wurden zwölf Frauen festgenommen. Sie hielten uns 16 Tage in Untersuchungshaft in der Provinzhauptstadt Loja und ließen uns dann wieder frei.

Wogegen protestierten denn die Leute auf der Straße?
Gegen viele Aspekte der Regierungspolitik: Für den Respekt vor der Erde, gegen den Tagebergbau. Wir hatten in unserer kommunalen Versammlung gemeinsam beschlossen teilzunehmen. Wichtig ist uns, die bilingualen Dorfschulen zu verteidigen. Diese Schulen sind mit viel Minga, also gemeinschaftlicher Arbeit aufgebaut worden, und nun schließen die Bildungsbehörden sie und konfiszieren die Schulmaterialien. Bei uns wurde ein Gemeindekindergarten geschlossen – stattdessen sollen die Frauen die Kinder nun, bevor sie sich um ihre Tiere kümmern, in ein „Kinderzentrum“ bringen. Dahin dauert es hin und zurück eine Stunde zu Fuß. Wie soll das gehen? Außerdem werden unsere Kinder so von unserer Art zu leben und zu arbeiten entfremdet. Meine Kinder sind zum Beispiel immer bei mir und lernen alles über das Säen und Ernten.

Wie bereiten Sie sich darauf vor, vielleicht ins Gefängnis gehen zu müssen?
Für mich allein, als Maria Luisa, ist das Gefängnis nicht angsteinflößend. Ich bin stark und meine Eltern, besonders meine Mutter, haben mir beigebracht zu kämpfen. Was mir aber große Sorgen macht, sind meine drei kleineren Kinder. Bevor sie geboren wurden, war ich mit meinem Mann für sechs Jahre zum Arbeiten in Spanien und ließ damals meinen Ältesten, der jetzt schon 19 ist, bei der Schwiegermutter zurück. Ich weiß, wie lange es dauert, wieder eine starke gefühlsmäßige Bindung aufzubauen. Mein Ältester hat es uns damals nicht einfach gemacht. Die aktuelle Situation belastet besonders meinen achtjährigen Sohn. Er weint immer, wenn ich das Haus verlasse: ‚Geh nicht, sonst stecken sie dich ins Gefängnis!‘ Dummerweise haben meine Kinder mal bei Bekannten ferngesehen, sahen ein Foto von mir und hörten, dass ich verurteilt wurde. Auch mache ich mir Sorgen, dass ich meine Arbeit in der Schulverwaltung verliere, wo ich etwas mehr als den Mindestlohn verdiene. Meine ganze Familie hängt davon ab.

Kennen Sie die Initiative einer Abgeordneten der Partei Pachakutik, die sich für eine Amnestie der kriminalisierten Aktivist*innen vom August 2015 einsetzt?
Ja, diese Initiative gibt es. Ich will aber vor allem, dass vor Gericht meine Unschuld bewiesen wird und auch die der anderen aus Saraguro, die noch auf ihr Urteil warten. Schließlich haben sie keinerlei Beweise für ihr Urteil vorgelegt. Ich bekomme ja zum Glück viel solidarische Unterstützung. Als ich aus dem Untersuchungsgefängnis kam, wurde ich von hunderten von Leuten in Empfang genommen. Und auch mein ältester Sohn, der inzwischen in Quito studiert, ist stolz auf mich und sagt, auch seine Freunde solidarisieren sich mit mir. Das gibt mir Kraft.

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