
Am 12. Januar, 100 Tage nach ihrem Amtsantritt, bedankt sich Claudia Sheinbaum Pardo bei ihrem Publikum. Sympathisant*innen, Gewerkschaftler*innen und Aktivist*innen, all jene, die man seit 2018 als die neue Linke Mexikos bezeichnet, füllen den zócalo, den zentralen Platz von Mexiko-Stadt. Um ihre einstündige Ansprache zu halten, verlässt die Präsidentin, wie schon so viele vor ihr, um 11 Uhr den Nationalpalast in Begleitung ihres Ehemanns Jesús María Tarriba, einem Experten für finanzielle Risiken mit Erfahrung in Bankinstituten in Spanien und Mexiko. Die neue politische Elite Mexikos weist gewisse Ähnlichkeiten in Bezug auf altbekannte Verbindungen wie diese, und nationale Symbolik auf. Die Präsidentin erscheint im Ton des sogenannten Mexiko-Rosas. Das geblümte Stickmuster, das ihr Kleid schmückt, erinnert an traditionelle, Indigene Blusen – Sheinbaum versucht, ähnlich wie ihr Vorgänger Andrés Manuel López Obrador (AMLO), Nähe zu Indigenen Gruppen zu suggerieren. Ihr Auftritt zum Anlass der ersten 100 Tage ihrer Regierung folgt jedoch in vielerlei Hinsicht den Traditionen früherer Präsidenten.
Auch die großen Menschenmengen, die zu Veranstaltungen dieser Art mit unterstützenden Botschaften für den*die amtierende*n Präsident*in aus den Bundesstaaten anreisen, erinnern an frühere Zeiten als die Partei der Institutionellen Revolution (PRI) regierte. Die PRI, die sich selbst als Mitte-links-Partei bezeichnete, stellte mehr als 70 Jahre lang die Regierung. Die Sympathisant*innen, die damals bei Regierungsansprachen die Plätze füllten, wurden von denen, die jetzt an der Macht sind, abwertend „die Angekarrten“ genannt. Doch in ihrer neuen Position scheinen sie dieselbe Strategie weiterzuführen. In Videos in den Sozialen Netzwerken prahlen Gouverneur*innen der Bundesstaaten damit, wer die meisten Unterstützer*innen für den Auftritt der Präsidentin mitbringt. Die Partei subventioniert Busse, mit denen diese von weit her anreisen.
Auf Luftaufnahmen des zócalo, sind Fahnen, Wimpel, Mützen, T-Shirts und Transparente zu sehen. Die Veranstaltung erinnert an ein Popkonzert oder ein Fußballspiel: die Zuschauer*innen starten Laolawellen, rufen der Präsidentin Fanbotschaften zu. Straßenverkäufer*innen bieten kleine Puppen an, die Amlitos und Clauditas genannt werden.
Das zweite Stockwerk der 4T
Die Redner*innentribüne vor dem Präsidentenbalkon des Nationalpalastes trägt die Botschaft „100 Tage des zweiten Stockwerks der vierten Transformation.“ Der Zweck dieser 100 Tage-Veranstaltung, so Sheinbaum, sei es, Rechenschaft abzulegen und ihre Verpflichtung zu bekräftigen, dem Volk immer nahe zu sein. Sie betont, dass sie in 100 Tagen schon alle 32 mexikanischen Bundesstaaten besucht hat und erklärt: „Warum nennen wir es den zweiten Stock der vierten Transformation? Weil das Fundament, das Erdgeschoss, vom besten Präsidenten gelegt wurde: Andrés Manuel López Obrador.“
In ihrer Rede hebt sie die Fortschritte in den Bereichen Soziales, Gesundheit, Bildung, Wissenschaft, Sicherheit, Energie, Wasser, Straßeninfrastruktur und Zugverkehr hervor. Dazu gehört beispielsweise die erhebliche Anhebung des Mindestlohns um 12 Prozent und die Senkung des Preises descanasta básica (Einheit der für den Grundbedarf notwendigen Produkte, Anm. d. Red.). Sie verspricht eine Wirtschaftsstrategie, die Mexiko bis 2030 unter die zehn größten Volkswirtschaften der Welt bringen soll, genannt „Plan Mexico.“ Investitionsanreize, Importsubstitution, „Zusammenarbeit und nicht Unterordnung“ mit der US-Regierung angesichts der imperialistischen Äußerungen und Tiraden von Donald Trump sind das Ziel.
AMLOs Erbe und die Kontinuität in der Politik zeigen sich nicht nur in der Art und Weise, wie Sheinbaum sich in Reden oder in den von ihrem Vorgänger eingeführten morgendlichen Fernsehansprachen mit markigen Begriffen und Sprüchen wie der ambivalenten Aussage „Liebe wird mit Liebe bezahlt“ an ihr Volk wendet, sondern auch an der fortdauernden Militarisierung. Am 1. Oktober 2024, am Tag ihres Amtsantritts, schossen Soldat*innen im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas auf eine Gruppe von Migrant*innen, die in zwei Transportern unterwegs waren. Sechs Menschen wurden getötet und zwölf weitere verletzt. Die Opfer gehörten zu einer Gruppe von 33 Migrant*innen verschiedener Nationalitäten. Fälle wie dieser sind keine Ausnahmen, dennoch förderte die Präsidentin mehr Militärpräsenz im Bereich der öffentlichen Sicherheit und trieb die Aufklärung des Falles nur unzureichend voran. Das Ministerium für Nationale Verteidigung (Sedena) rechtfertigte den Angriff: Die Soldaten behaupteten, die Fahrer hätten nicht angehalten, sie hätten das Feuer eröffnet, da sie zuvor Schüsse gehört hätten.
Das Verhältnis zum Militär stellt nicht nur eine Kontinuität von AMLO zu Sheinbaum dar, sondern auch zur früheren Regierungspartei PRI – obwohl ihre Partei Morena in Opposition zur PRI entstand. Letztere stieß die Militarisierung des Landes an, die seit über 6 Jahren von Morena fortgeführt wird. Auch die vermehrte Einflussnahme auf unterschiedliche Institutionen ist eine Fortführung früherer Regierungspolitik, so beispielsweise in Form der von Sheinbaum durchgesetzten Schließung autonomer Einrichtungen wie des Nationalen Transparenzinstituts und des Telekommunikationsinstituts. Nach jahrzehntelangem Kampf für die Transparenz öffentlichen Handelns und des Haushalts erreichten Nichtregierungsorganisationen 2002 die Verabschiedung des Bundesgesetzes über Transparenz und Zugang zu öffentlichen Informationen. Am 12. Juni 2003 wurde auf dieser Basis das Bundesinstitut für den Zugang zu öffentlichen Informationen (IFAI) geschaffen. Dieses Jahr wird diese Errungenschaft wieder aufgelöst.
Sheinbaum hat kontroverse Reformen durchgesetzt, von denen eine der umstrittensten die der Justiz ist. Die mexikanische Justiz hält derzeit eine Straffreiheitsquote von mehr als 90 Prozent aufrecht, nur 10 Prozent der Vebrechen werden aufgeklärt. Dies soll sich durch die Reform ändern. In ihrem Bericht zur 100-Tage-Feier erinnerte die Präsidentin unter dem Beifall der Anwesenden daran, dass am 1. Juni die Richter*innen und Staatsanwält*innen erstmals direkt von den Bürger*innen gewählt werden. Sie bestritt dabei, dass die Reform darauf abziele, die Kontrolle über die Gerichte und Tribunale zu erlangen. Die Justiz soll gestärkt und die Korruption bekämpft sowie die Menschenrechte geschützt werden. Doch die Justizreform wird von Expert*innen und Organisationen wegen mehrerer Aspekte kritisiert. Der wichtigste ist die Befürchtung, dass Richter*innen und Staatsanwält*innen so mehr politischen Einflüssen und dem Druck von Wahlen ausgesetzt sein werden. Das würde die Unparteilichkeit der Justiz schwächen.
Mexiko ohne Opposition
Ein weiterer Punkt, der eine Fortführung von PRI zu Morena darstellt, ist die Schwächung der Opposition. Die Videos der Veranstaltung zeigen neben den Gouverneur*innen der Morena-Partei in vorderster Reihe zwar auch Vertreter*innen der Opposition, doch die älteren Parteien haben keine Verbindung mehr zum Volk und keine geeigneten Kandidat*innen, wie es die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Xóchitl Gálvez selbst kürzlich in einem Interview mit der Zeitung El Universal erklärte: „Wenn es jemand anderen innerhalb der Parteien gegeben hätte, mit der nötigen politischen Erfahrung, dann wäre ich sicher nicht Kandidatin geworden.“ Die Partei der Demokratischen Revolution (Partido de la Revolución Democrática, PRD), die erste wirklich linke Partei zu Zeiten der PRI, ist verschwunden. Die Partei der Nationalen Aktion (Partido Acción Nacional, PAN) ist eine rechtsgerichtete Kraft, die jedoch selbst zusammen mit der PRI keine Mehrheit hat. Kleinere Parteien wie die Bürgerbewegung Movimiento Ciudadano sind kaum in der Lage, ein Gegengewicht zu Morena und seinen Verbündeten zu bilden. Sheinbaum hat die Mehrheit hinter sich. Laut verschiedener nationaler Umfragen liegt ihre Zustimmungsrate bei über 70 Prozent.
Hingegen wirklich neu an Sheinbaum ist, dass sie als erste Frau das Präsident*innenamt innehat. Das wird immer wieder von ihr betont und hat dabei auch über ihre Person hinaus Konjunktur: 13 der 32 Bundesstaaten werden zum ersten Mal von Gouverneurinnen geführt, eine historische Zahl. Obwohl Mexiko nach wie vor eines der frauenfeindlichsten und transfeindlichsten Länder der Welt ist, scheint der Kontext, zumindest was Repräsentation und Diskurs angeht, günstig zu sein. Bilder, welche die Idee einer feministischen Regierung verstärken, sind bei der Feier überall präsent. Die Präsidentin fordert sexistische Annahmen heraus: „Auch heute sage ich denen, die meinen, dass „Frauen keine eigene Initiative haben“, dass „andere für uns denken“, dass „Frauen nicht regieren, weil wir keine Kapazitäten oder Intelligenz haben: So wie wir ein Haus führen, so wie wir Mütter und Großmütter sind, haben wir auch die Kraft, die Stärke, den Mut und die Fähigkeit, Feuerwehrfrauen, Ingenieurinnen, Astronautinnen, Ärztinnen, Anwältinnen und Oberbefehlshaberinnen der Streitkräfte zu sein.“
Feministische Diskursverschiebung
Neben dieser Diskursverschiebung ist als ein Erfolg der ersten Monate der Regierung Sheinbaum der Rückgang der Tötungsdelikte um 16 Prozent hervorzuheben. Die Präsidentin erläuterte die dahinter liegende Strategie, die sie weiterführen möchte, um junge Menschen effektiver vom Drogenhandel fernzuhalten: Ursachenbekämpfung, Sozialprogramme und spezielle Friedensprogramme für besonders von Gewalt betroffenen Gemeinden, konsequente Aufklärung von Verbrechen, die Zusammenarbeit aller Regierungsebenen und die Stärkung der Nationalgarde. Inwiefern sie es schafft, die Ursache der Probleme wirklich anzugehen oder vor allem weitere Militarisierung und den Abbau der institutionellen Autonomie voranzutreiben, wird sich in den nächsten Monaten zeigen.