„DIE REGIERUNG WILL EINE SIMULIERTE DEMOKRATIE“

GONZÁLO GÓMEZ ist Mitglied bei Marea Socialista (Sozialistische Flut), einer Abspaltung der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV). Im Jahr 2002 gehörte er zu den Mitbegründern der chavistischen Informations- und Debattenplattform Aporrea.org. (Foto: privat)

Herr Gómez, seit Anfang April erlebt Venezuela fast täglich Proteste. Droht eine weitere Eskalation?
Sowohl Regierung als auch Opposition setzen auf Konfrontation, aber niemand kümmert sich um die Probleme des Landes und der Bevölkerung. Die Politiker glauben anscheinend, dass ihnen dieser Faustkampf am Ende Vorteile für eine mögliche Verhandlungslösung verschafft. Dies könnte zu einer sozialen Explosion führen, die weit über die oppositionsnahen Sektoren hinaus geht.

Marea Socialista hat sich bereits 2014 von der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) abgespalten. Warum haben Sie mit der Regierung gebrochen?
Man muss die Regierung vor allem aufgrund ihrer konkreten Politik und nicht aufgrund des Diskurses oder ihrer Herkunft einordnen. In der Praxis betreibt Maduro eine konterrevolutionäre Politik, die durch eine linke, antiimperialistische und gegen die Bourgeoisie gerichtete Sprache verschleiert wird. Die Regierung zieht die Repression dem Dialog vor, wird immer autoritärer und will die partizipative und protagonistische Demokratie durch eine simulierte Demokratie ersetzen.

Was meinen Sie mit simulierter Demokratie?
Die Kunst besteht darin, eine breite Partizipation vorzugaukeln, obwohl die Regierungspartei PSUV alle Fäden in der Hand hält. Während Referenden behindert und die Regionalwahlen verschoben werden, will Maduro eine Verfassunggebende Versammlung gegen die offensichtliche Mehrheit der Bevölkerung durchsetzen (siehe Kasten). Aber es geht ihm nicht darum, mit der Revolution voranzukommen und die Rechte der Bevölkerung auszuweiten. Vielmehr soll die Verfassung von Chávez demontiert werden. Denn obwohl die Regierung ständig dagegen verstößt, stellt diese eine gewisse Bremse auf dem Weg in den Autoritarismus dar. Die vom Nationalen Wahlrat beschlossenen Regeln für die Wahl der Verfassunggebenden Versammlung verschaffen der Regierung einen klaren Vorteil und die Bevölkerung darf nicht einmal in einem Referendum darüber entscheiden, ob sie überhaupt eine neue Verfassung will. All dies nimmt dem Vorhaben die Legitimität.

Die rechte Opposition lehnt die Verfassunggebende Versammlung mit ähnlichen Argumenten ab …
… aber sie war es, die während des Putsches 2002 die aktuelle Verfassung abgeschafft hat! Erst der Autoritarismus der Regierung hat sie dazu gebracht, auf die demokratische Karte zu setzen, das ist opportunistisch und verlogen. Wir haben heute eine klassische Rechte, die sich im „Tisch der demokratischen Einheit“ (MUD) organisiert und eine neue Rechte, die in der Regierung sitzt. Natürlich sind sie nicht identisch, aber beide konkurrieren um Geschäfte und die Macht, manchmal überlagern und kreuzen sich die Interessen dabei. Die Regierung setzt längst eine Strukturanpassung durch, aber mit chavistischen Symbolen und sozialer Kontrolle.

Wie äußert sich dies?
Maduro führt die Versorgungskrise auf einen Wirtschaftskrieg zurück. Ich bestreite nicht, dass es diesen gibt. Aber es ist eine freiwillig getroffene Entscheidung der PSUV-Regierung, die Importe, auch von Lebensmitteln und Medizin, extrem zu beschränken, und gleichzeitig illegitime Schulden zu bedienen, die vermutlich zu einem großen Teil durch Korruption entstanden sind. Dies über die Bedürfnisse der Bevölkerung zu stellen, hat nichts mit Sozialismus zu tun. Viele Leute aus dem Umfeld der Regierung besitzen prall gefüllte Bankkonten, Luxusanwesen und Landgüter in den USA. Transnationalen Bergbaukonzernen stellt Maduro im Süden Venezuelas ein Gebiet von der Größe Portugals zur Verfügung. Wirtschaftliche Ansätze, von denen Chávez gesprochen hat, wie „endogene Entwicklung“ oder „Ernährungssouveränität“ wurden hingegen größtenteils zerstört.

Trägt dafür denn alleine die aktuelle Regierung die Verantwortung?
Sowohl den Privatunternehmern als auch den Bürokraten der Regierung geht es in erster Linie darum, schnelle Profite zu machen, zum Beispiel, indem sie das System der unterschiedlichen Wechselkurse auf betrügerische Art und Weise ausnutzen. Die Regierung Maduro tut nichts dagegen. Die Ansätze der Arbeiterkontrolle, die Chávez in einigen verstaatlichten Unternehmen eingeführt hat, sind verkümmert, Funktionäre und Militärs führen die Unternehmen, als seien sie ihr Privatbesitz.
Chávez hat diese bürokratisierenden Prozesse zwar bekämpft, aber nicht ausreichend. Kurz vor seinem Tod forderte er in einer programmatischen Rede, „das Steuer herumzureißen“, das heißt, den Beginn eines neuen Zyklus der Revolution einzuleiten. Maduro hat sich davon abgewendet.

Wie ließe sich die schwere Wirtschaftskrise lösen?
Das ist in diesem Stadium alles andere als einfach, da die Krise eine gewisse Eigendynamik angenommen hat, die im völligen Chaos zu enden droht. Aber es gibt ein paar Elemente: Zuallererst brauchen wir einen Dialog. Dieser darf sich aber nicht auf die Parteiführungen von PSUV und MUD beschränken, da diese einen Großteil der Bevölkerung nicht repräsentieren. In diesem Rahmen muss die Gewalt beendet werden und zwar sowohl seitens der Opposition, als auch der Sicherheitskräfte und regierungsnaher Gruppen. Das Recht auf freie Wahlen und die Einhaltung der Verfassung von 1999 müssen garantiert und die Verfassunggebende Versammlung zurückgenommen werden, es sei denn, die Bevölkerung entscheidet über deren Einberufung per Referendum.
Und die Regierung muss dringend Notfallmaßnahmen ergreifen, um die tragische Unterversorgung bei Lebensmitteln und Medikamenten abzumildern. Dazu sollte sie die Zahlung illegitimer Schulden einstellen und die Vermögen, die durch Korruption entstanden sind, konfiszieren, so wie es unsere Verfassung ermöglicht. Das alles muss umgehend geschehen, aber was wir dann brauchen, ist ein politisches Projekt. Wir müssen aus dem extraktivistischen Erdöl- und Bergbaumodell ausbrechen, die Landwirtschaft stärken und die Lebensmittelproduktion erhöhen.

Wie gelingt es Maduro in dieser schwierigen Situation sich weiterhin an der Macht zu halten?
Zu einem guten Teil hat das mit der Chávez-Nostalgie zu tun und der Hoffnung, die bolivarianische Revolution wiederzubeleben. Die Regierung macht sich die in weiten Teilen der Bevölkerung verbreitete Angst vor der klassischen Rechten und den Wunsch zunutze, die sozialen Errungenschaften der Chávez-Ära zu erhalten. Die Sozialprogramme etwa sind zwar deutlich weniger ausgeprägt als früher, dienen aber noch immer als Stoßdämpfer gegenüber der katastrophalen Lage.
Ein weiterer Grund ist das klientelistische Netz von Staatsangestellten und anderen Personen, die direkt von der Regierung abhängen. Dies betrifft auch die Führung vieler Organisationen und Bewegungen sowie das Militär. Und das Gespenst des Putsches von 2002 und der Erdölsabotage 2003/2004 führt dazu, dass viele Venezolaner und Venezolanerinnen, die mit der Regierung brechen, sich nicht der rechten Opposition anschließen. Laut Umfragen und Analysen verortet sich die Mehrheit der Bevölkerung mittlerweile in keinem der großen Lager mehr.

Dennoch erscheint die politische Landschaft noch immer stark polarisiert. Warum hat sich bisher keine politische Alternative herausgebildet?
Das hat zum einen mit der geringen Sichtbarkeit der Personen zu tun, die diese Alternative verkörpern könnten, mit dem langwierigen Prozess, eigene Organisationsstrukturen aufzubauen und den Hindernissen seitens des Autoritarismus. Unsere Partei Marea Socialista hat zum Beispiel keine Zulassung bekommen. Viele Bewegungen sind von der Regierung kooptiert und die Leute verbringen viel Zeit damit, ihr Überleben zu sichern und in Schlangen für Lebensmittel anzustehen. Die Bevölkerung wartet ab und könnte früher oder später auf den Plan treten, sofern Regierung und Opposition uns nicht vorher erdrücken.

Welche Rolle spielt in diesem Kontext der so genannte kritische Chavismus, dem sich auch Marea Socialista zugehörig fühlt?
Es geht uns zunächst vor allem darum, die Demokratie zu verteidigen und zu verhindern, dass die Gewalt überhand nimmt. Wir haben zum Beispiel schon im vergangenen Jahr eine Plattform zur Verteidigung der Verfassung und eine weitere zur Aufhebung des Bergbaudekretes gegründet. Obwohl wir uns weder an den Demonstrationen für noch gegen die Regierung beteiligen, erkennen wir an, dass es auf beiden Seiten Sektoren gibt, mit denen wir ins Gespräch kommen können. Wir wollen eine demokratische, antibürokratische und antikapitalistische Alternative aufbauen, die das Positive der Revolution rettet und die Fehler über Bord wirft. Daran arbeiten wir bei Marea Socialista gemeinsam mit einer Reihe chavistischer Ex-Ministerinnen und Ministern, Aktivistinnen und Aktivisten, Intellektuellen und Militärs im Ruhestand, die an Chávez’ Putschversuch 1992 teilgenommen haben.

Anhänger*innen der Regierung werfen Marea Socialista und anderen kritischen Chavist*innen häufig vor, der Rechten in die Hände zu spielen. Wie reagieren Sie auf solche Kritik?
Es kommt darauf an, wer so etwas äußert. Ich kann nachvollziehen, dass einige chavistische Sektoren eine Machtübernahme der Rechten fürchten. Wir debattieren darüber, wie man verhindern kann, dass die Oligarchie die Überbleibsel der Revolution zerstört. Aber was sollen wir schon jenen sagen, die uns als Agenten der CIA bezeichnen, weil wir innerhalb der Revolution Kritik üben, die sich aber gleichzeitig gemeinsam mit kapitalistischen Sektoren illegal bereichern?
So etwas anzuprangern ist notwendig und positiv für die Revolution. Wir dürfen nicht in die Falle tappen, dass wir Autoritarismus und Korruption akzeptieren, um uns gegen den Imperialismus zu verteidigen. Nicht die Kritik, sondern die schlechte Regierung gibt der Rechten Auftrieb. Darüber sollte auch ein Teil der internationalen Linken einmal nachdenken.

Im Jahr 2002 haben Sie das chavistische Internetportal Aporrea.org mitbegründet. Heute fällt auf, dass dort sowohl Befürworter*innen als auch Gegner*innen der Regierung publizieren. Welche Rolle kann Aporrea künftig spielen?
Man könnte meinen, Aporrea habe sich verändert, aber tatsächlich haben sich das Land, der Chavismus und die Haltung der Bevölkerung verändert. Als wir uns in Verteidigung der legitimen Regierung von Chávez 2002 gründeten, war unser Slogan: „¡Rompiendo el cerco mediático!“ – „Die mediale Belagerung durchbrechen“. Heute verwenden wir den Plural und sprechen von „Belagerungen“. Denn zusätzlich zur privat-kapitalistischen medialen Hegemonie gibt es eine bürokratisch-staatliche. Die staatlichen Sender haben nicht mehr die Durchlässigkeit, die sie für die sozialen Bewegungen zu Chávez’ Zeiten hatten. Daher ist unsere Rolle nun mehr denn je, Meinungen und Debatten Raum zu geben, die in den privaten wie staatlichen Sender kaum vorkommen. Wir bilden die Widersprüche des Chavismus und der bolivarianischen Revolution ab.


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DIE MACHT DER MAFIA

Er war einer der Bekanntesten und einer der Mutigsten. „Einer, der uns vom Territorium El Chapos aus gelehrt hat, wie man über die Drogenmafia berichtet“, schrieb die Reporterin Marcela Turati auf ihrer Facebook-Seite über ihren Kollegen Javier Valdez. Kurz zuvor war der Redakteur der Wochenzeitung Riodoce in seiner Heimatstadt Culiacán im nordmexikanischen Bundesstaat Sinaloa erschossen worden. Wie kein anderer hatte er über die Geschäfte des „Sinaloa-Kartells“ berichtet, dessen Chef Joaquín „El Chapo“ Guzmán in den USA im Gefängnis sitzt. Wenige Stunden später starb Héctor Jonathan Rodríguez Cordova. Unbekannte feuerten auf den Journalisten, der im Bundesstaat Jalisco tätig war. Dort, wo das Kartell „Jalisco Nueva Generación“ das Sagen hat.

Die beiden Morde vom 15. Mai stellten den traurigen Höhepunkt einer Serie von Angriffen dar, die Mexiko in den ersten Monaten des Jahres erlebte. Innerhalb von acht Wochen wurden sieben Medienschaffende ermordet und weitere entführt oder überfallen. So raubten etwa 100 Wegelagerer eine Gruppe von sieben Reportern aus, die im südlichen Bundesstaat Guerrero in der von der kriminellen „Familia Michoacana“ kontrollierten Region Tierra Caliente recherchierten.

Vor allem der Tod des preisgekrönten Journalisten Valdez rief eine Welle des Protests hervor. In vielen Städten gingen Pressevertreter*innen auf die Straße, auch in Chile und Spanien fanden Aktionen statt. 186 internationale Korrespondent*innen, die in Mexiko tätig sind, forderten von der Regierung, die Pressefreiheit zu garantieren und die Täter*innen zur Rechenschaft zu ziehen. Vertreter*innen der UNO sowie der Interamerikanischen Menschenrechtskommission beantragten einen offiziellen Besuch. Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel, der gerade in Mexiko zu Gast war, sprach mit der kritischen Moderatorin Carmen Aristeguí und stellte Hilfe für die Angehörigen in Aussicht.

Angesichts des politischen Drucks berief Präsident Enrique Peña Nieto zwei Tage nach den Morden eine Sondersitzung seines Kabinetts mit Gouverneuren mehrerer Bundesstaaten ein. Es sei der Tag gewesen, an dem der Staatschef festgestellte, dass in Mexiko Journalist*innen getötet werden, merkte Marcela Turati zynisch an. Erstmals trauerte Peña Nieto öffentlich um einen ermordeten Medienschaffenden, obwohl mindestens 35 gewaltsam starben, seit er 2012 sein Amt übernommen hat. Seit 2000 sind es nach Angaben der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) 126 ermordete Journalist*innen. Laut Reporter ohne Grenzen ist Mexiko damit nach Syrien das Land mit den meisten getöteten Medienschaffenden. Praktisch keines der Verbrechen wurde aufgeklärt.

Die Straflosigkeit sei fehlender Schulung, mangelnder Infrastruktur und der Gleichgültigkeit der Behörden geschuldet.

Die Straflosigkeit sei fehlender Schulung, mangelnder Infrastruktur und der Gleichgültigkeit der Behörden geschuldet, erklärte der CNDH-Präsident Luis Raúl González Pérez und sprach von schweren Versäumnissen. Journalist*innen würden diffamiert, Beweise nicht gesichert, Ermittlungen verschleppt. Bereits 2012 hat die Regierung deshalb eine Sonderstaatsanwaltschaft für Delikte gegen die Pressefreiheit ins Leben gerufen, seit demselben Jahr existiert auch ein Gesetz, das Mechanismen zum Schutz von Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen vorsieht.

Beiden Einrichtungen versprach Peña Nieto nach der Sondersitzung mehr Unterstützung. Ob aber tatsächlich eine Abkehr von der staatlichen Ignoranz gegenüber den Angriffen stattfindet, muss sich erst noch zeigen. In den vergangenen Jahren mussten die Sonderstaatsanwält*innen mit weniger Mitteln auskommen. Ihr Budget wurde trotz der Zunahme an Überfällen von 2014 auf 2016 um die Hälfte gekürzt. Die Konsequenz: Bei 743 Vorermittlungen gab es drei Verurteilungen. „Sie führen politische Diskurse mit uns, obwohl es eigentlich darum geht, die Straflosigkeit zu beenden“, resümiert Edgar Cortez vom Mexikanischen Institut für Menschenrechte und Demokratie.

Auch die Schutzmechanismen sind umstritten. Nottelefone, Kameras und hohe Zäune sollen für mehr Sicherheit sorgen, doch häufig, so kritisieren die Betroffenen, käme die konkrete Hilfe dann viel zu spät. Vor allem aber will kaum ein*e Reporter*in die angebotene Polizeibegleitung wahrnehmen. Nicht nur, weil nach Angaben der Organisation Artículo 19 die Hälfte aller Angriffe auf Journalist*innen von Sicherheitskräften ausgeht. Wer mit einem Polizisten oder einer Polizistin unterwegs ist, wird kaum einen Interviewpartner oder -partnerin finden, der oder die mit ihm oder ihr spricht. Zu groß ist das Misstrauen, da viele Sicherheitskräfte mit den Banden der organisierten Kriminalität zusammenarbeiten.


Die Hoffnung, dass die Regierung die zunehmende Gewalt gegen Medienschaffende in den Griff bekommt, ist gering.

Die Hoffnung, dass die Regierung die zunehmende Gewalt gegen Medienschaffende in den Griff bekommt, ist gering. Deshalb haben sich nach dem Mord an Valdez Journalist*innen in verschiedenen Gruppen zusammengetan und wollen über eigene Maßnahmen beraten. Die einen planen für Ende Juni große Foren und Diskussionsveranstaltungen, andere – politisch sehr unterschiedlich ausgerichtete Medien – verkündeten in einer gemeinsamen Großanzeige: „Es reicht.“ Rogelio Hernández Lopez von der Union der Journalisten ist optimistisch: „Wenn wir alles umsetzen und uns für gemeinsame Aktionen zusammenschließen, können wir diesem unglückseligen Zyklus, der uns alle und Mexiko so verletzt, etwas entgegensetzen.“

Doch der Feind erscheint übermächtig: Ob das Sinaloa-Kartell, die Nueva Generación Jalisco oder die Familia Michoacana, alle Banden der organisierten Kriminalität arbeiten mit Polizei, Staatsanwaltschaft, Bürgermeisterämtern und auch Gouverneur*innen zusammen. Ihre Kontrolle ist fast total. In Sinaloa, Guerrero, Michoacán und vielen anderen Bundesstaaten können Journalist*innen deshalb nicht frei berichten. Die Macht kommt dort aus den Gewehrläufen, ein Auftragskiller ist angesichts der Armut für wenige Pesos zu haben, und kaum ein*e Richter*in würde sich trauen, eine*n Mörder*in zu verurteilen. Wer sich nicht an die Regeln der Mafia hält, muss mit dem Schlimmsten rechnen. Die Tageszeitung El Norte de Juárez aus dem nordmexikanischen Bundesstaat Chihuahua hat daraus eine deprimierende Konsequenz gezogen: Nachdem deren Korrespondentin Miroslava Breach ermordet worden war, stellte das Blatt am 2. April sein Erscheinen ein. „Es gibt keine Garantien und keine Sicherheit für einen kritischen und ausgewogenen Journalismus“, erklärte der Eigentümer von El Norte, Oscar A. Cantú Murguía, auf der Titelseite der letzten Ausgabe.

Javier Valdez wollte sich dem Terror nicht fügen. „Wenn man mit dem Tod dafür bestraft wird, über diese Hölle zu berichten, dann sollen sie uns eben alle ermorden“, schrieb er nach der Ermordung Breachs, die wie er auch für die linke Tageszeitung La Jornada tätig war. Über die Risiken machte er sich keine Illusionen. Es gebe immer jemanden im Apparat, der für die Kriminellen arbeite und so mancher Mafiaboss werde nur vorgeblich von der Regierung verfolgt, sagte er in einem Gespräch, das nach seinem Tod in der Wochenzeitung Proceso erschien. Darin verdeutlicht er die Macht der Mafia, die sich als Machtstruktur in der Bevölkerung etabliert habe. „Sie ist die Polizei: effektiv, aktiv, omnipräsent. Sie bestraft, tötet und foltert Vergewaltiger, Angreifer und auch einfach Leute, die ohne ihre Erlaubnis agieren.“ Es war das letzte Interview, das Javier Valdez gegeben hat.


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KUNST UND KULTURELLE REVOLUTION IN LATEINAMERIKA

Im kolumbianischen Medellín fand 1981 die „Erste Lateinamerikanische Konferenz Nicht-Objekthafter Kunst“ statt. Im Museo de Arte Moderno (Museum für moderne Kunst) hatten sich Künstler*innen und Kunsttheoretiker*innen aus vielen Ländern Lateinamerikas versammelt, um über Theorie und Praxis zeitgenössischer Kunst zu diskutieren. Es ging um die soziale Relevanz von Kunstpraktiken nach dem Modernismus, jenseits von Wandmalerei im Stil des sozialistischen Realismus auf der einen und Abstraktion auf der anderen Seite.

Wichtigster Protagonist dieser Veranstaltung war der Kunsttheoretiker Juan Acha. In Peru geboren und aufgewachsen, hatte Acha in Deutschland Chemie studiert und war in den 1950er und 1960er Jahren als Kunstkritiker in Lima tätig. Von 1972 bis zu seinem Tod lebte und arbeitete er in Mexiko. Er gilt als einer der wichtigsten spanischsprachigen Kunsttheoretiker des 20. Jahrhunderts. Im deutschsprachigen Raum ist sein mehr als 20 Bücher und zahlreiche Artikel umfassendes Werk so gut wie unbekannt. Dabei würde es sich lohnen, seine Arbeiten wiederzuentdecken. Das gilt keineswegs nur für die Kunstsoziologie, sondern für seine Beschäftigung mit Fragen kulturellen Wandels überhaupt. Künstler*innen, schreibt etwa der Kurator und Theoretiker Joaquín Barriendos, waren für Acha nicht nur als Akteur*innen innerhalb des Kunstsystems interessant. Sie waren es auch und gerade deshalb, weil sie „auf dem Terrain mentaler und sinnlicher Veränderungen arbeiteten.“ Barriendos hatte im Frühjahr diesen Jahres eine Ausstellung zu Werk und Wirken Achas organisiert. Sie lief unter dem Titel „Despertar revolucionario“ („Revolutionäres Erwachen“) im Museo Universitario Arte Contemporáneo (Universitätsmuseum für zeitgenössische Kunst) in Mexiko-Stadt.

In Medellín hatte Acha 1981 sein wohl wirkmächtigstes Konzept vorgestellt: den no-objetualismo.

In Medellín hatte Acha 1981 sein wohl wirkmächtigstes Konzept vorgestellt: den no-objetualismo. Fast unmöglich zu übersetzen, geht es dabei um künstlerische Praktiken, die nicht an Objekte gebunden sind. In seinem Vortrag stellte Acha den no-objetualismo als Bruch mit der westlichen Kunstauffassung seit der Renaissance dar, die sich mit der Abgrenzung vom Handwerk etabliert hatte: Entscheidend für diese Auffassung von Kunst war bis ins 20. Jahrhundert hinein das individuelle Schöpfertum und das objekthafte Werk. Von Marcel Duchamps readymades (künstlerisch verwertete Alltagsgegenstände, Anm. d. Red.) über die konzeptuelle, auf Ideen basierende Kunst der 1960er und 1970er Jahre, zeichnet Acha die Entwicklung nicht-objekthafter Kunst in seinem 1979 veröffentlichten Buch Arte y Sociedad: Latinoamérica. El producto artístico y su estructura (Kunst und Gesellschaft: Lateinamerika. Das künstlerische Produkt und seine Struktur) nach. Der Begriff no-objetualismo umfasst dabei mehr als den Konzeptualismus oder der Konzeptkunst. Er richtet sich einerseits gegen die Fetischisierung von Objekten. Kunst braucht demnach keine Leinwände und Skulpturen, entscheidend sind die konzeptuellen Entwürfe und ihre Wirkung auf ein Publikum: Wie das Pissoir, das Duchamp 1917 in eine Ausstellung stellen ließ, gemacht ist und wie es aussieht, ist völlig egal. Interessant ist, wieso es als Kunstwerk angesehen wird. Andererseits zielt der Begriff no-objetualismo aber trotzdem auf den Umgang mit Materialien – Duchamps readymades waren schließlich auch Gegenstände –, mit dem Bildhaften und verschiedenen Wahrnehmungsformen.

Quer zu etablierten Kategorien wie Figuration, Abstraktion und Konzeptualismus kategorisiert Acha so die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts neu. Und zwar nicht nur diejenige Lateinamerikas. Während er einerseits alle wichtigen Personen und Stationen der nordamerikanisch-westeuropäisch geprägten Kunstverhältnisse reflektiert, weiß er – im Unterschied zu vielen seiner westlichen Kolleg*innen – zugleich um die eingeschränkte, eurozentrische Perspektive dieser Vorgehensweise. Schon die Unterscheidung in bildende Kunst, angewandte Kunst und Kunsthandwerk sei ein Effekt der kapitalistischen Entwicklung des Westens gewesen. Und die „bürgerliche Überbewertung der [bildenden] Kunst“, schreibt er in La apreciación artística y sus efectos („Die Kunstbewertung und ihre Effekte“) 1988, gründet demnach „auf der ideologischen Macht der westlichen Kultur.“ Diese werde abgesichert und reproduziert durch „institutionelle Kunstapparate“ wie Museen, Galerien, aber auch Kunstakademien und Kunstmessen.

Acha verknüpft in seinen kunst- und kulturtheoretischen Arbeiten marxistische Grundannahmen mit (post-)strukturalistischer Theorie.

Acha verknüpft in seinen kunst- und kulturtheoretischen Arbeiten marxistische Grundannahmen mit (post-)strukturalistischer Theorie. So geht er von einer ökonomischen Hegemonie aus, die auch Werte und Einstellungsmuster prägt. Zugleich zeichnet er aber auch die strukturellen Besonderheiten der Entwicklungen innerhalb der Kunst nach. Er untersuchte sowohl die Frage, auf welchen ideellen und materiellen Grundlagen ihre Produktion gründet, als auch die nach ihren kognitiven, sensorischen und gefühlsmäßigen Rezeptionsweisen. Schließlich ist es durchaus grundsätzlich erklärungsbedürftig, warum bestimmte Objekte als Kunst behandelt und konsumiert werden und andere nicht. Der Konsum stellt für Acha ohnehin einen zentralen und unterschätzten Bereich der Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur dar. Um den Prozess des Kunstkonsums und seine Effekte zu verstehen, bedürfe es also soziologischer, nicht nur philosophischer Instrumente. Es könne nicht nur um die Wahrnehmung der Betrachtenden allein gehen, schreibt er in Crítica del Arte („Kunstkritik“) im Jahr 1992. Man müsse auch ihre Erwartungen und Befähigungen mit einbeziehen, die, wie die künstlerischen Arbeiten selbst auch, nicht von dem sozialen Kontext zu lösen seien, in dem sie entstehen. Bei all dem geht er extrem systematisch vor, kaum eines seiner Bücher kommt ohne Schaubilder und Diagramme aus, die diese Systematik verdeutlichen sollen.

Acha war aber nicht nur Kunstexperte, sondern auch ein maßgeblicher linker Intellektueller. Die zeitgenössische Kunst nahm er häufig zum Anlass, um Fragen der „Unterentwicklung“ und der Folgen des Kolonialismus zu thematisieren. Dass ökonomische Herrschaft durch Wertvorstellungen abgesichert und vertieft wird, war eine seiner zentralen Thesen. Daher legte er auch so viel Wert auf kulturelle Veränderung: Kultur verstand er als Terrain, auf dem Sinn und Bedeutung hergestellt und verkörperlicht werden, sozusagen in Fleisch und Blut übergehen. Nach den Revolten von 1968 setzte er große Hoffnungen auf eine „kulturelle Revolution“, zu der auch Kunstschaffende beitragen sollten. Er begriff sie als „kulturelle Guerilla“ und verstand die oftmals aktivistische Kunst der 1970er Jahre als Teil eines sozio-politischen Transformationsprojektes.

Der große Einfluss seiner Thesen und Konzepte auf die zeitgenössische Kunst und die lateinamerikanische Linke der 1970er und 1980er Jahre ist unbestritten. Als sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre diverse Künstler*innen-Kollektive zur Bewegung Los Grupos („Die Gruppen“) zusammenfanden, war Acha einer ihrer wichtigsten Mentoren. Das betont etwa auch die feministische Performancekünstlerin Maris Bustamante. In den späten 1970er Jahren Mitglied des künstlerischen Kollektivs No Grupo („Keine Gruppe“), war Bustamante 1981 auch in Medellín dabei. 1983 war sie Mitbegründerin der feministischen Performancekunst-Gruppe Polvo de Gallina Negra („Pulver der Schwarzen Henne“). Im Rückblick hält sie Acha – neben dem marxistischen Kulturtheoretiker und Aktivisten Alberto Híjar Serrano – für den wichtigsten Vermittler marxistischer Ideen im kulturellen Feld Mexikos nach 1968 überhaupt.

In letzter Instanz, beschrieb Acha seine eigene Arbeit als Kunstkritiker, ginge es darum, ein „unabhängiges visuelles Denken“ zu ermöglichen. Die Forderung nach Unabhängigkeit war hier sowohl als Abgrenzung von einer elitistischen Kunstbetrachtung gedacht, als auch als Abkehr von einem Denken, das als Effekt der sozio-ökonomischen Abhängigkeit der Länder Lateinamerikas betrachtet wurde. Die Forderung ließe sich aber auch verallgemeinern als eine, die gegen Blickregime und Sehgewohnheiten aller Art gerichtet ist.


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“VIELE ALTERNATIVEN ENTSTEHEN MITUNTER GANZ UNSPEKTAKULÄR”

Die Bilder des mit Giftschlamm verseuchten Rio Doce gingen um die Welt. Im November 2015 war der Damm eines Bergwerkdeponiebeckens im brasilianischen Bundesstatt Minas Gerais gebrochen, die Minenfirma Samarco musste sich dafür verantworten (siehe LN 504). In dem neu erschienenen Buch von Ulrich Brand und Markus Wissen ist Brasiliens größte Umweltkatastrophe ein anschauliches Beispiel für die zerstörerischen Bedingungen und Folgen unserer Produktionsweise. „Imperiale Lebensweise“ ist der Titel und zugleich der zentrale Begriff, der der kritischen Analyse der Autoren zugrunde liegt. So ist die sozial-ökologische Katastrophe vom Rio Doce exemplarisch für die verschleierten Kosten unserer Automobilität. Deutschlands Eisenerzimporte stammten 2014 zu 56 Prozent aus Brasilien. Und die deutsche Autoindustrie ist einer der größten industriellen Endverbraucher von metallischen Rohstoffen.

Mitte März berichteten zahlreiche Medien, dass im Jahr 2016 in Deutschland fast 906 Millionen Tonnen Treibhausgase freigesetzt wurden. Die Emissionen stiegen damit im Vergleich zum Vorjahr um etwa vier Millionen Tonnen laut dem Umweltbundesamt. Insbesondere der Verkehrssektor emittierte mehr: Die Emissionen liegen in dem Sektor inzwischen zwei Millionen Tonnen über dem Wert von 1990. Dabei möchte Deutschland im Jahr 2020 eigentlich 40 Prozent weniger Kohlendioxid freisetzen als 1990. Dass Industrie und Politik fundamental etwas ändern müssen, ist offensichtlich. Die Grünen-Politikerin Annalena Baerbock fordert einen Masterplan für den Verkehrsbereich: Der Warenverkehr solle von den LKWs auf die Schienen verlagert werden und Elektro-Autos müssten gefördert werden. Reicht das?

Die negativen Konsequenzen der hegemonialen Lebensweise werden ausgelagert.

Angesichts der multiplen Krisen, die uns weltweit begegnen, finden in unserer Gesellschaft zwangsläufig Veränderungen statt. Im Mainstream gewinnt die Idee einer sozial-ökologischen Transformation an Glanz. Auf den Straßen sollen zum Beispiel, so ja auch Baerbock, Elektro-Autos rollen. Brand und Wissen demaskieren die diesem Transformationsbegriff zugrundeliegende Logik: Mensch und Natur würden weiterhin zerstört und ausgebeutet. Sie sagen, unsere Lebensweise war und ist imperial. Um das deutlich zu machen, legen die Autoren in einem Kapitel den Schwerpunkt auf die „imperiale Automobilität“. Es ist aufschlussreich, was der Geländewagen-Boom in Deutschland über ungleiche Klassen- und Geschlechterverhältnisse aussagt. Aber auch eine „ökologisch modernisierte“ Automobilität mit Elektro-Autos, die an unseren Mobilitätskonzepten nichts ändert, sondern weiter Neukäufe von Privatfahrzeugen fördert, statt viel mehr aufs Fahrrad und öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen, externalisiert soziale und ökologische Kosten. Solche marktförmigen und technologischen Lösungen stellen nämlich nicht die Frage nach gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen und der notwendigen Suffizienz.

Was steckt hinter dem Begriff „imperiale Lebensweise“? Brand und Wissen fragen sich, warum eine emanzipatorische Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse trotz der sich zuspitzenden Krisen und Konflikten so schwerfällt. Stattdessen zeigten rassistische und nationalistische Reaktionen auf Migration besonders drastisch, wie der Wohlstand des globalen Nordens, der auf Kosten anderer erreicht wurde, gegen die Teilhabeansprüche Anderer gewaltsam verteidigt wird. Diese Beständigkeit ausbeuterischer Verhältnisse versuchen die Autoren mit der imperialen Lebensweise zu erklären. Sie soll vor allem die normalerweise verschleierten Grundlagen unserer alltäglichen Handlungen sichtbar machen, das heißt, die externalisierten Kosten unser Produktions-, Distributions- und Konsumnormen. In dem Buch wird dabei vor allem die imperiale Lebensweise der Bevölkerung des globalen Nordens beleuchtet, aber auch die im globalen Süden.
Allerdings sollten Leser*innen aufgrund des Titels keine tiefgehende Auseinandersetzung mit der klassischen Imperialismustheorie erwarten. In der skizzierten Geschichte der imperialen Lebensweise wird der historische Imperialismus ab 1870 benannt. Auf die Theorie beziehen sich Brand und Wissen lediglich, wenn sie erklären, dass der Kapitalismus eines nicht-kapitalistischen Außens bedarf. „Imperial“ beschreibt bei den Autoren vor allem, dass die Grundlagen und negativen Konsequenzen der hegemonialen Lebensweise ausgelagert werden. Deren globaler und ökologischer Dimension wird im Buch besonders Rechnung getragen, die Analyse der aktuellen globalen Verallgemeinerung und Vertiefung der imperialen Lebensweise gelungen mit diversen Daten fundiert. Hierzu werden vor allem die globalen Mittelklassen betrachtet.

Zerstörung und Ausbeutung halten an: Unsere Lebensweise war und ist imperial.

Brand und Wissen zeigen, warum weder eine ausschließliche Fixierung auf strukturelle Ungleichheitsverhältnisse noch einseitige Konsumkritik für eine emanzipatorische Perspektive ausreichen. Zugleich öffnet der Fokus auf die alltäglichen Handlungen – vom Autofahren über das Essen in der Schulkantine bis zur Fürsorge für die Mitmenschen – auch den Blick für Alternativen, die mitunter ebenso ganz unspektakulär im Alltag entstehen. Die Perspektive auf sozialen Widerstand, die sich durch das Buch zieht, ist ein weiterer wertvoller Beitrag zur politischen Debatte.

Dieser Blick für die „kleinen“ Handlungen hat glücklicherweise nicht zur Folge, dass die Autoren die Strukturebene aus dem Blick verlieren. Sie erläutern, wie Transformationen dem Kapitalismus inhärent sind und warum die Logik der Transformation dafür entscheidend ist, ob Veränderungen emanzipatorisch sind. Verschiedene neue Mechanismen der Inwertsetzung und Externalisierung, zum Beispiel in Form der Bioökonomie, werden erklärt (siehe LN-Dossier Nr. 13). Somit wird klar, warum „grüne Ökonomie“ die existierenden Widersprüche herrschaftskonform bearbeitet und ein grün-kapitalistisches Projekt befeuert.
Gegenhegemonie gegen die imperiale Lebensweise bedeute, strukturelle und alltägliche Alternativen zu formulieren. Brand und Wissen appellieren, in den umkämpften gesellschaftlichen (Natur-)Verhältnissen den Konflikt zu suchen und der imperialen eine solidarische Lebensweise entgegenzusetzen. Wiederholt beziehen sie sich auf (gewerkschaftliche) Arbeitskämpfe im globalen Süden und globalen Norden, auf den Widerstand indigener Gruppen oder von Feminist*innen. Somit schließt das Buch auch mit einem Blick auf andere Logiken der sozial-ökologischen Reproduktion und Akteur*innen, die die soziale Frage stellen. Ob „Ende Gelände“ für den sofortigen Kohleausstieg, Suffizienz-Debatten auf Klimacamps oder geschlechtergerechte Reproduktionsarbeit durch die „Care-Revolution“ – das letzte Kapitel inspiriert, das Buch einzupacken und aktiv zu werden.


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