GUTE ESSGESCHICHTEN

Köstlichkeiten brauchen keine Sterne. Sie benötigen auch kein Restaurant. Doch ohne die nötigen Zutaten wird es schwierig. Und es wurde schwer, als Anfang der 1990er Jahre der Handel von Zuckerrohr gegen lebensnotwendige Importgüter mit der Sowjetunion wegbrach, weil sich diese auflöste. Kuba erlebte eine Zeit extremer Entbehrung, die den meisten Menschen die tägliche Versorgung mit Lebensmitteln zur beschwerlichen Hauptaufgabe machte.

Mit einer Einführung in die kubanische Geschichte der „Sonderperiode“ beginnt der Film Cuban Food Stories des inzwischen in New York lebenden Regisseurs Asori Soto. In neun Episoden führt er als heimkehrender Besucher die Zuschauer*innen durch die Kochtöpfe und offenen Feuer der Insel. Die Knappheit von Nahrungsmitteln in den 1990er Jahren führte zum teilweisen Verschwinden kulinarischer Fertigkeiten, was noch heute spürbar sei, so der Regisseur mit englisch sprechender Stimme aus dem Hintergrund. Beispielsweise muss der Gastgeber in Trinidad stundenlang durch mehrere Läden laufen, um die Zutaten für seine Gäste zu besorgen. Die bereiteten Speisen sind wiederum das Beste, was man sich wünschen kann bei Gedanken an Frische, Hingabe und Natürlichkeit. Zu entdecken gibt es in den recht kurzen Episoden vor allem Hausmannskost, oft draußen zubereitet, auf dem Boot oder am Strand. Keineswegs Küche, mit der Köche um Sterne kochen, dafür charmantes Essen am Herkunftsort.


Die Zuschauer*innen staunen nicht nur über die kulinarische Vielfalt, sondern werden gepackt von der Leidenschaft und dem Herzblut der Kubaner*innen an ihren Kochtöpfen. Gerade die alltäglichen Herausforderungen, welche das Leben für viele beschwerlich machen, bringen die Menschen am Esstisch zusammen. Sie teilen gemeinsam – sowohl das Essen als auch die Probleme. Eine lukullische Reise durch die Insel. Ein Dokumentarfilm der Sehnsüchte.

 

Cuban Food Stories waren 2018 im Berlinale Special zu sehen.

EIN GEWISSER BLUES

„Du trägst das Abbild der Nostalgie im Gesicht“ heißt es, als sich zwei Menschen in einem Hauseingang begegnen. Habana Light von Lien Carrazana Lau ist eine von sieben zeitgenössischen Erzählungen aus Kuba, die gerade in der zweisprachigen Ausgabe Unbekanntes Kuba erschienen sind.

Ein gewisser Blues entspringt der Sammlung zweifellos. Mal geht es um ein Havanna, das vom dichten Qualm einer Zigarette verschleiert wird, mal um das Havanna eines Exil-Kubaners, der zurückkehrt, einen „Friedhof vorsintflutlicher Saurier“ vorfindet und eben jenen Schleier der Nostalgie verzweifelt sucht.

Surreales und Realität mischen sich, wobei sich fragen lässt, was von beidem mehr Absurdität beinhaltet. In jeder der Erzählungen taucht Gesellschaftskritik auf, mal mehr, mal weniger subtil, nicht zuletzt jedoch häufig mit einem gewissen Witz. „Als vorbeugende Maßnahme gegen eine starke Reizung meiner Kopfhaut, meiner ach so empfindlichen Epidermis, schlafe ich an den Nationalfeiertagen“ heißt es zum Beispiel bei Lia Villares in Eine halbe Minute westlicher Stille. Oder so werden in Erick J. Motas Erzählung nach und nach ganze Stadtviertel von funktionierenden Zombies bevölkert, die man nur noch als Expert*in des „Zentrums für die Erforschung und Entwicklung der Zombies“ von Normalsterblichen unterscheiden kann.

Aus den Erzählungen sprechen Kummer, Perspektivlosigkeit und politischer Verdruss, aber auch Komik und Erotik. Wenn beispielsweise über mehrere Seiten hinweg der gewaltige Hintern einer Liebhaberin beschrieben wird. Oder die uralte Großmutter den Zombie, der sich als Beamter ausgegeben hat, wortlos mit einem gezielten Schlag ihres berüchtigten Spazierstocks erschlägt, um sich sogleich wieder, ebenso stumm, in den Fernsehsessel fallen zu lassen.

Alle Geschichten handeln von persönlichen und gesellschaftlichen Grenzen, vom Stagnieren eines politischen Systems und dem damit verbundenen Stillstand der Protagonist*innen. „Ein Engel, gefangen in einem Gesellschaftssystem ohne Himmel (Die Justiz ist menschlich, allzu menschlich in Kuba)“. Obgleich sie fiktiv sein mögen, könnten alle Figuren genauso existieren: Der Exil-Kubaner, der auf seinem Rückflug nach New York feststellt, dass er das verhasste Kuba liebt. Die Studentin, die über den Dächern von Havanna eine Stadt im Rauch ihrer Zigarette verschwinden lässt, und deren Freund, der der „Krankheit der Nostalgie“ zum Opfer fällt.

Dtv hat die Ausgabe mit „Texte für Könner“ betitelt, was durchaus zutrifft. Praktisch sind die beigefügten Anmerkungen und Kurzbiographien zu den Autor*innen. Aber nicht nur um Spanischkenntnisse aufzufrischen, sondern vor allem der Poesie wegen ist diese Sammlung zu empfehlen. Ein lesenswertes Nachwort des Übersetzers Enno Petermann rundet den Band ab.

ZURÜCK ZUR RHETORIK DES KALTEN KRIEGES

Die Beziehungen zwischen den USA und Kuba verschlechtern sich wieder zunehmend. Anfang November gab die US-Regierung neue Reise- und Geschäftsbeschränkungen für Kuba bekannt, die sowohl US-Bürger*innen als auch US-Unternehmen betreffen. Sie setzt damit ein von Donald Trump im Juni verkündetes präsidiales Memorandum um.

Beste Aussicht Zur Erinnerung an die kubanische Unabhängigkeit wehen Fahnen direkt vor der US-amerikanischen Vertretung in Havanna (Foto: Robert Swoboda)

Das US-Außenministerium veröffentlichte eine Liste von 179 kubanischen Firmen und Behörden, mit denen US-Amerikaner*innen keine Geschäftsbeziehungen unterhalten dürfen, da sie dem kubanischen Militär oder Innenministerium unterstehen. Darunter sind Hotels, Reisebüros, Busunternehmen, Rumhersteller und sogar ein Fotoservice. Ein Hotel der US-amerikanischen Sheraton-Kette fehlt jedoch auf der Liste, obwohl die vom kubanischen Militär kontrollierte Gaviota-Gruppe daran beteiligt ist. Künftig dürfen US-Unternehmen auch keine Verträge mehr schließen, um Waren in der Sonderwirtschaftszone in Mariel herzustellen. Bereits geschlossene Geschäftsverträge fallen nicht unter die neuen Regularien.

Darüber hinaus wird der faktisch seit Ende 2015 erlaubte US-amerikanische Individualtourismus wieder beschränkt. In Zukunft müssen US-Reisende wieder Gruppenreisen buchen und dabei von mindestens einer Vertretung des Reiseveranstalters begleitet werden.

Mit den Restriktionen macht Trump einige Maßnahmen der Obama-Administration rückgängig. Ende 2014 hatte der damalige US-Präsident Barack Obama eine Neuausrichtung der US-Kuba-Politik verkündet und dies mit dem Scheitern der US-Blockadestrategie begründet. „Wir können nicht weiterhin dasselbe machen und ein anderes Resultat erwarten.“ (siehe LN 488)

Trump scheint hier anderer Ansicht. Unter dem neuen US-Präsidenten sind die Beziehungen zwischen Kuba und den USA rapide abgekühlt. Zumindest rhetorisch herrscht wieder Kalter Krieg. Mitte Juni hatte Trump in Miami die künftige Kuba-Politik seiner Regierung umrissen. Mit aggressiver Sprache griff er die kubanische Regierung an und warf ihr Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen vor. Obamas Politikwechsel bezeichnete er als „komplett einseitigen Deal“, den er „vollständig“ aufheben werde.

Die nun konkretisierten Verschärfungen bedeuten jedoch keine „komplette Rücknahme“ der Annäherungspolitik. Die von Obama beendete Vorzugsbehandlung kubanischer Migrant*innen, die sogenannte „Wet foot, dry foot“-Regelung (siehe LN 516), wird nicht wieder eingeführt; Geldüberweisungen aus den USA nach Kuba werden nicht beschnitten; US-Kreuzfahrtschiffe und -Airlines dürfen weiterhin die Insel ansteuern; und die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Kuba wird nicht rückgängig gemacht. Beide Länder hatten erst Mitte 2015 nach über einem halben Jahrhundert Eiszeit wieder diplomatische Beziehungen aufgenommen.

Allerdings zogen die USA Ende September einen Großteil ihres Botschaftspersonals aus Havanna ab und wiesen wenige Tage später 15 kubanische Diplomat*innen aus. Als Begründung dienten mutmaßliche „akustische Attacken“ gegen US-Diplomat*innen auf Kuba. Bei mindestens 24 auf der Karibikinsel stationierten Botschaftsmitarbeiter*innen und deren Angehörigen waren in den vergangenen Monaten Migräne, Übelkeit, Gedächtnislücken und Taubheitssymptome bis hin zum Verlust der Hörkraft aufgetreten. Die ersten Gesundheitsschäden gab es wohl bereits im November 2016, aber erst Ende Februar 2017 informierte Washington das kubanische Außenministerium über die Vorfälle. An die Öffentlichkeit kam der Fall im August, als bekannt wurde, dass die USA Ende Mai zwei kubanische Diplomat*innen ausgewiesen hatten. Die genauen Ursachen sind unklar; von US-Seite wird über wie auch immer geartete „Schallwaffen“ spekuliert.

Die kubanische Regierung weist jede Verwicklung zurück. In einer halbstündigen Fernsehdokumentation zur besten Sendezeit stellten Ende Oktober die kubanischen Behörden die Zwischenergebnisse ihrer Untersuchungen zu den Vorkommnissen dar. Fazit: „Es hat sich gezeigt, dass es keine Beweise gibt, die darauf deuten, dass es die angeblichen akustischen Attacken gegeben hat.“ Mehr als 2.000 Personen waren an den Untersuchungen beteiligt, darunter Kriminolog*innen, Akustik-Expert*innen und Mathematiker*innen. „Es konnten weder mögliche Täter*innen noch Personen mit einer entsprechenden Motivation, Intention oder den notwendigen Mitteln, um solch eine Aktion durchzuführen, lokalisiert werden.“

Mitte Oktober hatte US-Präsident Donald Trump erstmals die kubanische Regierung direkt für die Gesundheitsschäden der US-Diplomat*innen auf der Insel verantwortlich gemacht. „Die Behörden der Vereinigten Staaten haben Kuba die Verantwortung für die Untersuchung, Feststellung und Beseitigung dieser Vorfälle gegeben“, sagte Oberstleutnant Estrada Portales, Leiter der kriminalpolizeilichen Abteilung des kubanischen Innenministeriums. „Sie haben keinen Zugang gewährt, weder zu den Ermittlern noch zu dem Geschehen, über das sie uns erst Monate, Tage und Stunden nach Eintreten informierten; auch zu den Opfern, oder den Zeugen nicht. Es gibt keine Möglichkeit zu wissen, was ein Opfer beitragen kann, ohne es zu befragen“, beklagte er die mangelnde Kooperation der US-Ermittler*innen.

Kuba selbst hatte – das ist ungewöhnlich und Zeichen dafür, wie ernst der kubanischen Regierung die Angelegenheit ist – mehrmals FBI-Teams ins Land gelassen, um vor Ort zu ermitteln. Die von den US-Behörden übergebene Krankenakte der mindestens 20 Geschädigten war nur eine Seite lang und sehr allgemein gehalten. „Wir hatten nicht wirklich eine Information, die wissenschaftlich und zuverlässig ist, um in irgendeiner Weise zu einer Schlussfolgerung zu gelangen“, so Dr. Manuel Jorge Villar Kuscevic, kubanischer Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde und Hals-Nasen-Chirurgie.

Am Tag vor der Ausstrahlung der TV-Dokumentation hatten vier hochrangige kubanische Offizielle in einem auf NBC ausgestrahlten Exklusivinterview jede Beteiligung ihrer Regierung zurückgewiesen: „Es ist unmöglich. Wir sprechen über Science-Fiction“, sagte Oberstleutnant José Alazo, Leiter der Abteilung für strafrechtliche Ermittlungen des kubanischen Innenministeriums. Man habe auch Luft- und Bodenproben analysiert, untersucht, ob Insekten die Übeltäter sein könnten, sowie eine Reihe giftiger Chemikalien und die Möglichkeit elektromagnetischer Wellen betrachtet, sagten die Beamt*innen. Akustische Waffen wären aufgefallen oder hätten Dritte geschädigt, so die kubanischen Ermittler*innen. Es falle auf, dass die Nachbar*innen der Umgebung der Attacken weder betroffen waren noch die vermeintlichen Geräusche zumindest wahrnahmen.

Zudem stellt sich die Frage: Welches Interesse sollte die kubanische Regierung an Attacken gegen US-amerikanisches Botschaftspersonal haben? Ende 2016, als die ersten Fälle auftraten, war die unter dem damals noch amtierenden US-Präsidenten Obama begonnene Annäherung zwischen Kuba und den USA in vollem Gange. Sie lag und liegt im Interesse Kubas. In US-Medien wurde spekuliert: Sind vielleicht Exilkubaner*innen verantwortlich, die die Annäherung zwischen Kuba und den USA torpedieren wollen? Oder ein Drittstaat wie Russland oder Nordkorea? Oder ein defektes oder schlecht eingestelltes Abhörsystem? Aber vielleicht gab es die wie auch immer gearteten „Schallangriffe“ überhaupt nicht.

„Als dies [die Schallangriffe, Anm. d. Autors] zum ersten Mal herauskam, sagte ich: ,Das ist eine Erfindung, ich weiß nicht, was der Zweck sein soll“, so der Physikprofessor der Universität Havanna, Daniel Stolik in einem Interview mit der Tageszeitung Juventud Rebelde. „Als die Maßnahmen ergriffen wurden, um die Beziehungen zu Kuba zu verringern, habe ich verstanden, was der Zweck ist.“

Tatsächlich hat der mysteriöse Fall zu einer rapiden Verschlechterung der bilateralen Beziehungen und neuem Misstrauen geführt.
Ein weiteres Zeichen für die sich abkühlenden Beziehungen war die UN-Abstimmung zur US-Kuba-Blockade am 1. November. 193 von 195 Staaten votierten für eine Aufhebung der Blockadepolitik. Hatte sich die US-Regierung unter Obama im vergangenen Jahr noch der Stimme enthalten, stimmte sie in diesem Jahr zusammen mit Israel wieder gegen die Vorlage.

Die neuen Reise- und Geschäftsbeschränkungen sind also nur das neueste Kapitel einer sich seit Monaten vollziehenden Entwicklung. Kubanisch-amerikanischen Kreisen in Miami geht die Verschärfung der US-Kuba-Politik dabei noch nicht weit genug. Politiker*innen wie der Senator Marco Rubio oder der Kongressabgeordnete Mario Díaz-Balart zeigten sich enttäuscht, dass die Beamt*innen in den Ministerien Trumps Kuba-Politik „nicht vollständig“ umsetzten. Ben Rhodes, der frühere Berater von Obama und einer der Architekt*innen von dessen neuer Kuba-Politik, twitterte dagegen: „Trump beschränkt nicht die Art von Sturmwaffen, die US-Amerikaner erwerben können, schreibt ihnen aber vor, welche Erfrischungsgetränke sie auf Kuba kaufen dürfen.“

Harsche Kritik an den Maßnahmen gab es auch aus Kuba. Die neuen Reise- und Geschäftsbeschränkungen bedeuten „einen ernsten Rückschritt der bilateralen Beziehungen“ und eine Verschärfung der Blockade, sagte Josefina Vidal, die für Nordamerika zuständige Direktorin im kubanischen Außenministerium, gegenüber der Presse in Havanna. Die Maßnahmen würden nicht nur der kubanischen Wirtschaft schaden, sondern auch der kubanischen Bevölkerung und US-amerikanischen Wirtschaftsinteressen. „Hat es in 55 Jahren funktioniert?“, fragte sie in Anspielung auf die mehr als ein halbes Jahrhundert bestehende Blockade. „Es ist der alte Diskurs, sanktionieren wir Kuba, setzen wir seine Regierung unter Druck, um Veränderungen zu erzwingen’. Es funktioniert nicht und wird niemals funktionieren.“

KUBA TROTZT IRMA

Sie sind nach Deutschland gereist, unmittelbar, bevor der Hurrikan „Irma“ Anfang September unter anderem über Kuba hinwegfegte. Wie ist die Lage inzwischen in ihrer Heimatregion Pinar del Río und darüber hinaus?
Ich bin in der Tat am 7. September nach Deutschland losgeflogen. Am Tag darauf traf „Irma“ auf Kuba. Der Hurrikan hat die Insel schwer getroffen. Trotz Evakuierungsmaßnahmen sind zehn Tote zu beklagen. Die Infrastruktur wurde stark in Mitleidenschaft gezogen: Das betrifft den Tourismus, die Hotels, Wohnhäuser, Straßen, die Landwirtschaft. Es betrifft das ganze Land, aber in unterschiedlichem Ausmaß. In Pinar del Río sind wir mit einem blauen Auge davon gekommen. Allerdings gab es indirekte Auswirkungen. Telefon und Strom fielen von Havanna bis Pinar del Río aus. Eine Woche musste ohne Strom mit einem Minimum an Kommunikation klargekommen werden. Allerdings gelang es recht schnell, die Stromversorgung wieder herzustellen, auch indem auf Elektrizitätswerke anderer Provinzen zurückgegriffen wurde.

Gab es Auswirkungen auf die Wasser- und Lebensmittelversorgung?
Es gab zeitweise Unterbrechungen in der Wasserversorgung und auch geschlossene Lebensmittelläden. In den am schwersten betroffenen Zonen wurden Verkaufsstellen eingerichtet, an denen zubereitete Lebensmittel preiswert verkauft wurden. Denn die meisten Kubaner kochen elektrisch und das ging nicht mehr.

Der Tourismus ist eine der wichtigsten Devisenquellen für Kuba. Wie gravierend ist der Hurrikan für diesen Sektor?
Man muss sich vor Augen halten, dass 14 der 16 Provinzen in Kuba von „Irma“ betroffen wurden. Damit auch der Tourismussektor. Vor allem die Provinz Havanna und die anderen nördlichen Provinzen wurden von starken Sturmschäden betroffen. Auch Hotels wurden zerstört. Der Wiederaufbau ist allerdings schon im Gange. Fast alle touristischen Zentren sind schon wieder auf Normalbetrieb und bis zum Beginn der Hauptsaison Mitte November bleibt noch Zeit. Da Kuba Jahr für Jahr von Hurrikans betroffen ist, gibt es Erfahrung mit Wiederaufbau von Gebäuden und der Wiederherstellung von Elektrizität. Daran arbeiten wir mit allen Mitteln, die uns dafür zur Verfügung stehen. So wird Personen, deren Wohnungen beschädigt wurden, bevorzugt und verbilligt Baumaterial zur Verfügung gestellt. Die Vorräte an Baumaterial und an Gütern des täglichen Bedarfs wie Toiletten- und Körperpflegeartikel, Kochgeräte und Haushaltswäsche wurden in den Handel gegeben und sind dort verbilligt zu erhalten. Besonders bedürftige Personen werden gratis bedacht.

Wie steht es um ausländische Hilfe? Aus welchen Ländern kommt welche Unterstützung und welche Rolle spielt Deutschland?
Es gibt zweifellos internationale Unterstützung. Das Welternährungsprogramm (WFP) der UNO hat Lebensmittel geliefert. Viel Unterstützung kam auch aus lateinamerikanischen Ländern, allen voran Venezuela. Die Hilfe unter lateinamerikanischen Ländern ist quasi eine Selbst-verständlichkeit, da alle Erfahrung mit Notlagen haben und sich dann immer wieder gegenseitig helfen. Auch aus Deutschland kam Unterstützung. Das gilt vor allem für die Solidaritätsgruppen rund um das Netzwerk Cuba und Cuba Sí. Die Kooperation zwischen den Solidaritätsgruppen und Kuba hat ja eine lange Geschichte und sie funktioniert auch in Krisenfällen. Und die Spenden werden über die staatlichen Verteilungssysteme wie üblich gratis an die Bedürftigen weitergegeben.

Sie haben in Deutschland an einigen Veranstaltungen teilgenommen. Wie haben Sie die Sicht hierzulande auf Kuba wahrgenommen?
Nun, ich hatte das Glück, auf die „International Urban Farming Konferenz“ der Grünen Liga nach Berlin eingeladen worden zu sein. Die städtische Landwirtschaft spielt in Kuba ja eine große Rolle. Ich habe in meinem Beitrag die Strategie Kubas vorgestellt, mit städtischer Landwirtschaft zur Ernährungssicherung beizutragen. Dabei ging es darum, die Entwicklung der städtischen Landwirtschaft in Kuba seit den 1990er Jahren bis heute nachzuzeichnen. Nach dem Zusammenbruch des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe und dem Einbruch an Importen bei Lebensmitteln und Agrarchemikalien musste sich Kuba in den 1990er Jahren quasi neu erfinden und die Landwirtschaft radikal umbauen. Dazu gehörte das Besinnen auf die eigenen Kräfte, Biolandbau und städtische Landwirtschaft. Und über die Bedeutung der städtischen Landwirtschaft von damals bis heute im Konzept der Ernährungs-mittelsouveränität referierte ich. Für die deutschen Zuhörer war es schon ein wenig schwierig, sich in die Lage in Kuba hineinzuversetzen, beispielsweise die unterschiedliche Rolle des Staates in der Ernährungssicherung nachvollziehen zu können. In Deutschland ist die Landwirtschaft größtenteils in privaten Händen, in Kuba ist viel staatlich und kooperativ organisiert und der Staat der entscheidende Lenker. Als in den 1990er Jahren die kubanische Bevölkerung begann, in den Städten für den Eigenbedarf Gemüse und Lebensmittel zu produzieren, gab es staatliche Hilfe, wissenschaftliche Expertise und praktische Ratschläge, wie sich das am besten anstellen ließe. Der Staat hat das Programm für städtische und vorstädtische Landwirtschaft aufgelegt, um die Selbstversorgung mit Lebensmitteln zu verbessern. 75 Prozent der Kubaner leben in diesen Regionen, nur 25 Prozent auf dem Land. Dass der Staat auf allen Ebenen von lokal bis staatlich mitmischt, ist für deutsche Zuhörer gewöhnungsbedürftig.

Welche Rolle spielt nachhaltige Entwicklung in diesem Konzept?
Nachhaltige Entwicklung ist ein wichtiges Paradigma in Kuba. Dafür sorgt der Klimawandel und seine Folgen wie das vermehrte Auftreten schwerer Wirbelstürme. Kuba hat alle internationalen Umweltschutzabkommen unterzeichnet. In Kuba wird das Nachhaltigkeitsprinzip überall berücksichtigt, es gibt eine übergreifende nationale Strategie, die nicht nur bei der Nahrungsmittelproduktion greift, sondern auch in Bildung und Hochschulbildung zum Beispiel.

Die große Herausforderung bleibt, sich so gut wie möglich an den Klimawandel anzupassen?
Ja. Zweifellos. Es ist fundamental und unvermeidlich, sich dem Klimawandel anzupassen. Deutschland hat ein außergewöhnlich regenreiches Jahr hinter sich, hat man mir erzählt. Der Klimawandel ist global, aber Inseln wie Kuba sind ihm stärker ausgesetzt. Wir versuchen uns, so gut wie möglich gegenüber den Klimawandelfolgen zu wappnen. Eindämmen lässt sich der Klimawandel nur global.

IM WIRBELSTURM

Alexey Rosales Piedra schnauft durch. Endlich kann er seine Ferien antreten, nachdem er drei Wochen mehr oder weniger durchgearbeitet hat. Seit mehr als zwanzig Jahren ist der 42-Jährige aus Havannas zentralem Stadtteil Centro Habana bei dem staatlichen Bauunternehmen Secon angestellt. Seine sechsköpfige Brigade ist für den Abriss baufälliger Gebäude zuständig. Ein gefährlicher Job. Und ob der maroden Bausubstanz der kubanischen Hauptstadt gibt es eigentlich ständig etwas zu tun. Doch in den vergangenen Wochen ist viel Arbeit hinzugekommen.
Rosales war gerade im Urlaub, als Anfang September Hurrikan „Irma“ mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 300 km/h Kuba heimsuchte. „Mit dem Urlaub war es da natürlich vorbei“, sagt er, mit einem Lachen.

Zwar wurde Havanna von „Irma“ „nur“ gestreift; am nächsten Morgen bot sich dennoch ein Bild der Verwüstung: umgekippte Bäume, beschädigte und abgeknickte Strommasten; mehrere Tage waren weite Teile der kubanischen Hauptstadt ohne Strom; der Flughafen blieb geschlossen. Allein in Havanna beschädigte „Irma“ rund 4.300 Häuser; 157 Gebäude wurden komplett zerstört.

Rosales und seine Männer arbeiteten zunächst anderthalb Wochen in der Calle San Lázaro, einer der am stärksten betroffenen Gegenden in Havanna. Windböen zwischen 65 und 120 km/h, starke Regenfälle und fünf bis acht Meter hohe Wellen hatten für großflächige Überschwemmungen in den Gebieten in Nähe der Malecón, der acht Kilometer langen Uferpromenade der kubanischen Hauptstadt, gesorgt. „Das Wasser stand bis zur Kreuzung Ánima y Virtudes, also mehr als einen halben Kilometer landeinwärts“, erinnert sich Rosales. Ganze Straßenzüge in den Stadtvierteln Centro Habana und Vedado standen am Tag nach dem Wirbelsturm hüfthoch unter Wasser. „Dieses hier ist ein tiefgelegenes Gebiet, das überschwemmt wird, wenn es regnet, aber das Wasser hat sich hier noch nie auf diese Weise gesammelt“, sagte Javier Martínez Díaz, Parteibüromitglied der PCC in Centro Habana. Mehr als zwanzig Familien mussten in Centro Habana in letzter Minute evakuiert werden. Andere blieben in ihren Häusern eingeschlossen – in Sicherheit, aber ohne die Möglichkeit herauszukommen. Insgesamt wurden in Havanna rund 10.000 Menschen in Sicherheit gebracht.

„Die Schäden waren enorm“, sagt Rosales. „In San Lázaro mussten wir zum Teil alle Balkone abreißen – wegen Einsturzgefahr.“ An manchen Tagen habe er 24 Stunden durchgearbeitet. Zwischendurch ist er ab und zu zum Duschen kurz nach Hause – er wohnt in der Nähe –, um nicht einzuschlafen.

Die Wasserstände erreichten zum Teil nie zuvor gemessene Höhen.

Die Wasserstände erreichten zum Teil nie zuvor gemessene Höhen. Viele Familien verloren ihr gesamtes Hab und Gut: Kühlschränke, Fernseher, Möbel; andere darüber hinaus auch ihr Haus.
Noch schlimmer waren das Zentrum des Landes und die Küstenregionen betroffen. Auch hier kam es zu schweren Überschwemmungen; Telefon- und Stromleitungen wurden praktisch im ganzen Land beschädigt, Dächer abgedeckt, Bäume entwurzelt. Hunderttausende verbrachten das Wochenende in Notunterkünften. Hunderte Häuser sind eingestürzt, landwirtschaftliche Nutzflächen wurden zerstört, in weiten Teilen brach die Energieversorgung zusammen.

Auf dem kleinen vorgelagerten Cayo Romano in der Provinz Camagüey, im Zentrum des Landes, war „Irma“ am Nachmittag des 9. September auf Land getroffen. Auch historische Ortschaften wie Remedios und Caibarién, 320 km östlich von Havanna gelegen, wurden in Mitleidenschaft gezogen. Der Wirbelsturm wütete dort zehn Stunden lang. „Es hat aufgehört zu regnen, aber während der gesamten Nacht herrschte ein fürchterlicher Sturm“, so die Bewohnerin Gisela Fernández gegenüber AFP. Zahlreiche Gebäude wurden komplett zerstört. Die Behörden der Provinz Camagüey meldeten „signifikante Schäden“, vor allem im Küstenstreifen.

Es war das erste Mal seit 1932, dass das Zentrum eines Hurrikans der höchsten Kategorie Fünf in Kuba auf Land traf. Mindestens 25 Menschen waren bei „Irmas“ Zug der Verwüstung durch die Karibik zuvor ums Leben gekommen. Auf den Inseln Barbuda und St. Martin hatte „Irma“ nahezu alle Gebäude dem Erdboden gleichgemacht. Nachdem der Wirbelsturm Kuba erreichte, schwächte er sich auf Kategorie Vier und Drei ab, erreichte aber weiterhin Windstärken von um die 200 km/h.

Während der Osten Kubas, der im vergangenen Jahr vom Wirbelsturm Matthew und 2012 von Sandy heimgesucht worden war, diesmal vergleichsweise glimpflich davonkam, waren neben Camagüey die zentralen Provinzen Ciego de Àvila, Villa Clara und Matanzas von „Irma“ besonders betroffen. Ein Großteil der wirtschaftlichen, landwirtschaftlichen und touristischen Infrastruktur Kubas ist in diesen Provinzen angesiedelt: fünf von sieben Kraftwerken, Nickelminen sowie Gas- und Ölförderanlagen, darüber hinaus einige der wichtigsten Tourismuszonen wie Varadero und die Cayos.

In den Tagen danach erreichten Kuba Hilfslieferungen aus aller Welt. Neben Venezuela leisteten Länder wie Russland, China, Vietnam und Japan Hilfe; aber auch kleinere Länder wie die Dominikanische Republik, Suriname, Ecuador und Bolivien ließen Kuba Unterstützung zukommen.
„Die Sachen werden an die Betroffenen verteilt“, sagt Rosales. „Matratzen, Reiskocher, Bettwäsche, Schnellkochtöpfe… Das klappt sehr gut, soweit ich das beurteilen kann. Die Leute sind zufrieden.“

Kuba wiederum hat selbst Helfer*innen auf die Karibikinsel Dominica geschickt.

Kuba wiederum hat selbst Helfer*innen auf die Karibikinsel Dominica geschickt, das vom Hurrikan María schwer verwüstet wurde. Zudem wurden rund vierzig Ärzt*innen und Pfleger*innen der Brigade Henry Reeve mit über zehn Tonnen medizinischem Gerät und Medikamenten in den mexikanischen Bundesstaat Oaxaca entsandt, um dort nach der jüngsten Erdbebenkatastrophe Nothilfe zu leisten.
Nach dem Einsatz in San Lázaro ging es für Rosales’ Brigade in der Straße Galeano weiter. Hier musste ein Haus abgerissen werden, von dem ein Teil der Fassade auf einen Linienbus gestürzt war. Eine junge Frau, ihr kleines Kind und der Busfahrer waren dabei gestorben.
Insgesamt forderte „Irma“ auf Kuba zehn Menschenleben, sieben davon in Havanna. Die drei Opfer in anderen Teilen des Landes hatten zum Teil den Aufforderungen zur Evakuierung nicht Folge geleistet, wie staatliche Medien berichteten.

Neben dem Abriss der von „Irma“ beschädigten Gebäude waren Rosales und seine Brigade auch damit beschäftigt, Möbel und andere Gegen-stände der evakuierten Personen aus den Häusern zu holen, wie er sagt, auch, um Plünder-ungen zu verhindern.
In den Malecón-nahen Gebieten war es vereinzelt zu Plünderungen von staatlichen Läden gekommen, weshalb die Polizeipräsenz vertärkt wurde. Die meisten der Plünderer*innen konten festgenommen werden und erwarten nun wohl lange Haftstrafen.

In den Tagen vor „Irma“ hatte der kubanische Zivilschutz mehr als eine Million Menschen aus den Gefahrengebieten evakuiert, darunter mehr als 30.000 Tourist*innen, in ihrer Mehrzahl Kanadier*innen. Das kubanische Wirtschaftsministerium hatte Mittel mobilisiert, um die Gesundheitseinrichtungen zu schützen sowie landwirtschaftliche Gerätschaften und die Ernten zu sichern. Kommunikationsverbindungen wurden geschützt, Evakuierungszentren vorbereitet, Trinkwasser und Lebensmittel bereitgestellt, Regenabflüsse und Abwasserkanäle freigemacht, gefährliche Bäume auf Haupstraßen beschnitten, Solarparks gesichert, Dächer, Leuchttafel, Ampeln und Verglasungen ge-schützt; Schulen und Universitäten setzten ihren Unterricht aus.

Kubas Hurrikanschutz und Vorwarnsystem gelten als beispielhaft. Im Fall eines Hurrikans übernehmen die uniformierten Chef*innen des Zivilschutzes das Kommando über ihr jeweiliges „Territorium“, das heißt die Fahrzeuge der Staatsbetriebe, öffentliche Busse, Unterkünfte, medizinisches Personal, Lebensmittel werden ihrer Verfügungsgewalt unterstellt. Nur so lassen sich die Evakuierungen in der Größenordnung von mehr als einer Million Menschen relativ reibungslos bewerkstelligen. Angesichts der Hurrikans gibt es eine sonst in Kuba selten gesehene Effektivität.

Und auch der Wiederaufbau läuft seit Wochen auf Hochtouren. Die Strom- und Wasserversorgung ist mittlerweile fast überall wiederhergestellt. Die Regierung legte ein Subventions-programm auf, um betroffenen Familien zu helfen, die zerstörten Wohnhäuser rasch wieder aufzubauen. So wird der Staat die Hälfte der Kosten für die Baumaterialien der Hurrikangeschädigten übernehmen. Zudem sollen günstige Kredite vergeben werden. Darüber hinaus soll die Produktion und Verteilung von Baumaterialien in den verschiedenen Provinzen schnell wieder aufgenommen werden.

Priorität genießt die Wiederherstellung der touristischen Infrastruktur, eine der Haupteinnahmequellen des kubanischen Staats. Bis zu Beginn der Hauptsaison im November sollen alle Hotels wieder einsatzbereit sein. Tourismusminister Manuel Marrero Cruz erklärte, dass bis zum 1. November alle Schäden beseitigt sein sollen und versicherte: „Der kubanische Tourismus wird für die Hochsaison bereit und völlig wiederhergestellt sein.”
Gerade in der kubanischen Hauptstadt herrschte vor allem Erleichterung, doch relativ glimpflich davongekommen zu sein. „Wir sind mit einem blauen Auge davongekommen“, sagt Taxifahrer Roberto Herrera. „Wenn Irma hier mit voller Wucht rübergefegt wäre, wäre von Havanna nicht viel übrig geblieben.“ Dann wären Rosales und sein Team wohl vor allem mit dem Abtragen von Bauschutt beschäftigt gewesen. So werden sie versuchen, in den kommenden Wochen so viele Häuser wie möglich zu retten und wiederherzustellen. Ein paar Tage Urlaub hat Rosales aber erst mal noch.

GEPLATZTE TRÄUME

Pavel Rodríguez’* Traum platzte im Januar. Vorerst. Wie so viele Kubaner*innen hatte er seinen Besitz verkauft, um mit dem Geld in die USA auszureisen, wo sein Bruder bereits auf ihn wartete. Nach dem 1966 verabschiedeten Cuban Adjustment Act gewährte Washington allen kubanischen Migranten umstandslos politisches Asyl und eine schnelle Einbürgerung. Im Jahr 1995 war dieses Gesetz durch die sogenannte „Wet foot, dry foot“-Bestimmung eingeschränkt worden. Demnach kamen nur noch Kubaner*innen, die es auf eigene Faust auf US-Boden schafften, in den Genuß dieser Regelung und erhielten dauerhaftes Bleiberecht. Diejenigen, die von der US-Küstenwache abgefangen wurden, mussten nach Kuba zurückkehren. Diese Einwanderungspolitik sorgte dafür, dass Jahr für Jahr einige tausend Kubaner*innen ihr Hab und Gut veräußerten und auf oftmals kaum seetüchtigen Vehikeln den gefährlichen Weg über die Meerenge zwischen Kuba und Florida wagten. Jahrzehntelang sorgten kubanische Bootsflüchtlinge, die auf Flößen und Autoreifen versuchten, die Südküste Floridas zu erreichen, für dramatische Bilder.

Dies hat sich deutlich geändert. „April war der erste Monat seit sieben Jahren, in dem wir keine kubanischen Migranten hatten, nicht einen“, so der Kommandeur der Küstenwache, Paul F. Zukunft, gegenüber der US-Tageszeitung Wall Street Journal. „An einem gewöhnlichen Tag in dieser Zeit des Jahres vor einem Jahr hätten wir zwischen 50 und 150 kubanische Migranten aufgegriffen.“ Insgesamt waren im vergangenen Jahr 5.396 kubanische Migrant*innen von der US-Küstenwache auf hoher See festgesetzt worden.

Der drastische Wandel hat vor allem mit einer der letzten Entscheidungen Barack Obamas als US-Präsident zu tun. Am 12. Januar, wenige Tage vor der Machtübergabe an seinen Nachfolger Donald Trump, hob Obama die Vorzugsbehandlung kubanischer Einwanderer auf, indem er die seit 1995 geltende Regelung für beendet erklärte. Ebenfalls hob Obama das 2006 vom damaligen US-Präsidenten George W. Bush erlassene „Cuban Medical Professional Parole Program“ (CMPP) auf, wonach „desertierte“ kubanische Ärzt*innen und Mediziner*innen umstandslos in die USA einreisen durften und Aufenthaltsgenehmigungen erhielten. „Kubaner, die illegal in die Vereinigten Staaten kommen und die kein Anrecht auf humanitären Beistand haben, werden von nun an zurückgeschickt“, bekräftigte Obama.

Die kubanische Regierung hatte wiederholt die Beendigung dieser speziell für Kubaner*innen geltende US-Einwanderungspolitik gefordert. „Die Politisierung der Einwanderungspolitik der Vereinigten Staaten gegenüber Kuba muss sich ändern; sie muss aufhören, eine illegale, unsichere und ungeordnete Auswanderung anzufachen“, so ein Mantra der kubanischen Regierung.

Und sie scheint tatsächlich Recht zu behalten. „Es ist eindeutig, dass die Aufhebung der ‘Wet foot, dry foot’-Politik dafür verantwortlich ist“, stellt auch Paul F. Zukunft den kausalen Zusammenhang zum zahlenmäßigen Rückgang der Bootsflüchtlinge her.

Ein ähnliche Entwicklung lässt sich auch an der Grenze zwischen den USA und Mexiko ablesen. Im April wurden nur 191 Kubaner*innen registriert, deren Einreise von den US-Grenzbehörden als „unzulässig“ eingestuft wurden. Im Februar und März waren die Zahlen sogar noch niedriger.
Mit Beginn der Annäherung zwischen den USA und Kuba im Dezember 2014 war in Erwartung eines Endes der US-amerikanischen Vorzugsbehandlung die Zahl ausreisender Kubaner*innen sprunghaft angestiegen. Die Zahlen kubanischer Einwander*innen in die USA wuchsen von 23.740 im Jahr 2014 auf 54.000 im Jahr 2016. Der Großteil wählte die Route durch Zentralamerika beziehungsweise Mexiko.

Das wiederum sorgte Ende 2015 für eine Migrationskrise in der Region. Sichtbar wurde die Krise, als Nicaragua Mitte November 2015 seine Grenze zu Costa Rica für Kubaner*innen schloss und Tausende von ihnen plötzlich in dem zentralamerikanischen Land festsaßen (siehe LN 500). Nach wochenlangen Verhandlungen einigten sich die betroffenen Staaten auf einen Plan zur Bewältigung der Migrationskrise. Die kubanischen Migrant*innen wurden per Luftbrücken von Costa Rica und Panama nach El Salvador und Mexiko ausgeflogen, von wo sie weiter in die USA reisten. Gleichzeitig führte Ecuador ab 1. Dezember 2015 die Visapflicht für Kubaner*innen wieder ein. Bis dahin war das südamerikanische Land Ausgangspunkt der kubanischen Odyssee durch Zentralamerika. Rund 8.000-10.000 US-Dollar wurden für den Weg von Havanna über Ecuadors Hauptstadt Quito bis in die USA fällig. Von dem Geld wurden vor allem Schleuser*innengruppen bezahlt und Grenzbeamt*innen bestochen.

Kern der Migrationskrise war allerdings die unterschiedliche Behandlung kubanischer Migrant*innen gegenüber denen anderer Nationen durch die US-Einwanderungspolitik.

Kern der Migrationskrise war allerdings die unterschiedliche Behandlung kubanischer Migrant*innen gegenüber denen anderer Nationen durch die US-Einwanderungspolitik. Erstere wurden als politische Flüchtlinge eingestuft und erhielten großzügige Aufenthaltsgenehmigungen, während Migrant*innen aus den zentralamerikanischen Staaten nicht selten abgeschoben oder in die Illegalität gedrängt werden. Dabei unterscheiden sich die Auswanderungsmotive der Kubaner*innen – in der Regel wirtschaftlicher Natur – kaum von denen der zentralamerikanischen Migrant*innen.

Von der Entscheidung Obamas wiederum wurden Hunderte Kubaner*innen, die sich bereits „auf dem Weg“ Richtung USA befanden, überrascht und saßen plötzlich in Panama, Kolumbien, Costa Rica oder Mexiko fest.
Ein Großteil kubanischer Ausreisewilliger dürfte künftig bemüht sein, auf regulärem Wege in die USA zu gelangen. Mindestens 20.000 Kubaner*innen erhalten jedes Jahr dauerhafte Einreisegenehmigungen in die Vereinigten Staaten aufgrund von Familienzusammenführung oder wegen anderer Gründe. Auf diese Zahl hatten sich die Regierungen in Washington und Havanna während der Ausreisewelle 1994 geeinigt. Hinzu kommen jährlich rund 30.000 Besuchs- und Geschäftsvisa für Kubaner*innen. Oft handelt es sich dabei um Fünf-Jahres-Visa, die mehrmalige Ein- und Ausreisen erlauben. Anfang 2013 hatte die Regierung Raúl Castro ihrerseits eine Migrationsreform beschlossen. Seitdem benötigen Kubaner*innen keine Ausreisegenehmigung (carta blanca) mehr. Auch dürfen sie nun zwei Jahre außer Landes bleiben (vorher elf Monate), ohne bestimmte Rechte auf Kuba, zum Beispiel ihren Immobilienbesitz, zu verlieren.

Auch Pavel Rodríguez hofft, dass sich sein Traum von den USA doch noch erfüllt. Immerhin hat er ein Visum für Mexiko erhalten. Vor Obamas Entscheidung wäre dies wohl das Sprungbrett gewesen, über die Grenze zu gelangen, in den USA „Asyl“ zu beantragen und die Vorzüge der „Wet foot, dry foot“-Regelung in Anspruch zu nehmen. Stattdessen hat er sich nun eine mexikanische Aufenthalthaltsgenehmigung „gekauft“. „Mit Geld lässt sich in Mexiko alles regeln“, sagt Rodríguez mit einem breiten Grinsen. Damit kann er nun immerhin zwischen Mexiko und Kuba hin- und herreisen. „In einigen Monaten beantrage ich dann ein Besuchsvisum für die USA. Ich will gar nicht dort bleiben. Die Leute denken, das da draußen wäre das Paradies; aber mir gefällt Kuba. Doch ich will meine Famile sehen – und ab und zu mal eine Luftveränderung tut auch gut.“

* Name geändert

BERLINALE – NUR NOCH GROßES KINO?

Der Reiz eines bedeutenden Filmfestivals besteht auf den ersten Blick aus den großen Momenten. Stars auf dem roten Teppich, große Gefühle auf der Leinwand, Namen von Schauspieler*innen, und Regisseur*innen mit Wiedererkennungswert begründen den internationalen Ruf eines Festivals. Auch die Berlinale kann sich deshalb selbstverständlich nicht alleine auf ihr Markenzeichen des „politischsten aller großen Filmfestivals“ verlassen und muss mit großen Namen aufwarten.

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Foto: Rodrigo Migliorin

Und das, soviel kann man schon vor Beginn der 67. Ausgabe verraten, ist diesmal hervorragend geglückt: Catherine Deneuve, Aki Kaurismäki, Ethan Hawke, Bruno Ganz, Geoffrey Rush, Robert Pattinson, Sienna Miller, Alex de las Iglesias und Ewan Mc Gregor (zu sehen im zweiten Teil von „Trainspotting“) sind nur eine kleine Auswahl der Filmgrößen, die sich rund um den Berlinale-Palast am Potsdamer Platz die Klinke in die Hand geben werden. Positive Schlagzeilen sind also garantiert.
Interessant ist ein Festival wie die Berlinale für viele aber auch deshalb, weil es die Möglichkeit bietet, in der kurzen Zeit von 10 Tagen einen Ausschnitt von künstlerischen Perspektiven und filmischen Abbildungen aus der ganzen Welt zu erhaschen. Ein Stempel, eine Vergleichsmöglichkeit davon, was Menschen, die die Realität beobachten und sie festzuhalten versuchen, bewegt. Sind sich Fragen, Standpunkte und künstlerische Herangehensweise rund um den Globus ähnlich oder driften sie auseinander? Ein Kriterium für die Auswahl von Festivalfilmen sollte deshalb sein, ein möglichst großes Potpourri verschiedener Realitäten anzubieten. Über Lateinamerika sagte der Sänger Manu Chao diesbezüglich einmal, um es kennenzulernen, bräuchte man mindestens zwei Leben.

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Foto: Rodrigo Migliorin

Und die Filmauswahl der Berlinale in den vergangenen Jahren hat gezeigt, dass die Regisseur*innen des Subkontinents die Kunst beherrschen, die unterschiedlichen Facetten ihrer Umgebung auf die Leinwand zu bringen. Auch dieses Jahr kann man sich deshalb auf die 21 Lang- und neun Kurzfilme sowie die drei Dokus über lateinamerikanische Künstler*innen freuen, die auf dem Festival zu sehen sein werden. Allerdings sticht ins Auge, dass die Auswahl geographisch sehr stark fokussiert ist.  Über die Hälfte der Filme stammt aus Brasilien (acht Lang-, drei Kurzfilme) und Argentinien (fünf/drei). Ansonsten sind nur noch Mexiko (vier/zwei), Chile (drei/-), Peru (ein/-), Kuba (ein/-) und Kolumbien (ein/ein) vertreten. Ob es nur am mangelnden Angebot liegt oder die auch im Independent-Bereich einflussreichen Filmgroßindustrien aus Brasilien und Argentinien ihre Produktionen einfach geschickter zu platzieren wissen, lässt sich aus der Ferne nur schwer beurteilen. Fakt ist, dass es auch 2017 wieder einige weiße Flecken auf der Berlinale-Landkarte Lateinamerikas gibt: Aus Zentralamerika ist  kein  einziger Beitrag vertreten, auch der Andenraum spielt diesmal fast keine Rolle. Das soll und wird den Genuss der anderen Filme natürlich nicht schmälern. Aber um die Welt (filmisch) verstehen zu können, wäre es schön, auch Eindrücke aus diesen Regionen etwas deutlicher wahrzunehmen – wenngleich sie vielleicht nicht den gleichen Glanz und Glamour versprechen, wie eine Fortsetzung von Trainspotting.

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Lateinamerikanische Filme auf der Berlinale

Wettbewerb: Zwei lateinamerikanische Produktionen haben es in den Wettbewerb geschafft. Joaquím (Brasilien) von Regisseur Marcelo Gomes ist ein Biopic über den brasilianischen Nationalhelden Tiradentes, der für die Unabhängigkeit Brasiliens von Portugal und die Abschaffung der Sklaverei kämpfte. In Una mujer fantástica (Chile) wird die transsexuelle Kellnerin Marina vom Tod ihres Freundes aus der Bahn geworfen. Bereits 2013 nahm der Regisseur und Wahl-Berliner Sebastián Lelio mit Gloria am Wettbewerb teil. Die Darstellerin Paulina García gewann damals einen silbernen Bären als beste Darstellerin.

Berlinale Special: Últimos Dias en La Habana (Kuba) verfolgt die Beziehung zwischen dem introvertierten Miguel und dem extrovertierten Diego, der HIV-positiv ist. Die Dokumentation La libertad del Diablo (Mexiko) gibt Menschen, die vom Drogenkrieg in Mexiko betroffen sind, eine Stimme.

Panorama: Gleich vier brasilianische Filme finden sich in der Arthouse/Autor*innenkino-Abteilung der Berlinale wieder. Como nossos pais befasst sich mit den alltäglichen Existenzlügen einer Familie in São Paulo. Pendular erforscht die Beziehung zwischen einer Tanzkünstlerin und einem Bildhauers anhand von deren kreativen Schaffens. Vazante spielt im Jahr 1821 und befasst sich mit den Macht- und Geschlechterverhältnissen auf der Farm des Sklaven- und Viehhändlers Antonio im brasilianischen Hinterland. Die Dokumentation No intenso agora ist eine essayistische Collage verschiedener weltweiter Umbruchsbewegungen der 1960er Jahre. Eine weitere Dokumentation kommt aus Chile: In El pacto de Adriana entdeckt Regisseurin Lissette Orozco, dass ihre Lieblingstante unter Augusto Pinochet für den chilenischen Geheimdienst DINA gearbeitet hat. Nicht von lateinamerikanischen Regisseur*innen, aber mit lateinamerikanischen Künstlerinnen als Protagonistinnen sind die Dokumentationen Tania Libre über die kubanische Dissidentin und Performancekünstlerin Tania Bruguera, die sich 2018 um die kubanische Präsidentschaft bewerben möchte sowie Chavela über das Leben der legendären mexikanischen Sängerin Chavela Vargas.

Forum: In der experimentellen Forum-Sektion ist Argentinien mit Cuatreros, einer Annäherung an Zeit und Lebensumstände des „argentinischen Robin Hood“ Isidro Velázquez (Siehe Rezension auf S. 52) und der argentinisch/kolumbianischen Co-Produktion Adiós entusiasmo vertreten, in der vier Geschwister ihre Mutter in ihrer Wohnung einsperren. Die chilenisch-mexikanische Dokumentation Casa Roshell zeigt einen ungewöhnlichen Ort in Mexico City, an dem Männer lernen, sich in Frauen zu verwandeln. Rifle ist ein moderner Western aus Süd-Brasilien, in der ein Ex-Soldat einen Kleinbauern vor Großgrundbesitzern schützen soll. Rio Verde: El tiempo de los Yakurunas ist eine Dokumentation über das Leben einer indigenen Gemeinschaft im peruanischen Amazonasgebiet. Der deutsche Beitrag Dieste mit Bezug zu Uruguay untersucht die Bauwerke des mehrfach ausgezeichneten uruguayischen Architekten Eladio Dieste.

Generation: Auch bei den häufig sehr sehenswerten Beiträgen aus der Jugendfilmreihe der Berlinale ist Brasilien gleich dreifach vertreten. In As duas Irenes entdeckt die 13-jährige Irene, dass ihr Vater eine Tochter von einer anderen Frau hat, die ebenfalls Irene heißt und genauso alt ist wie sie. In Não devore meu coração verliebt sich der 13-jährige Joca in die Guaraní Basano und gerät dadurch in Konflikte um Landraub und kulturelle Identität an der Grenze zwischen Brasilien und Paraguay. Mulher do pai erzählt die Geschichte der Jugendlichen Nalu, die sich nach dem Tod des Großvaters um ihren blinden Vater kümmern muss. Der argentinische Beitrag Primero enero zeigt das schwierige Verhältnis zwischen dem kleinen Valentino und seinem Vater, der sich scheiden lassen will. Ebenfalls aus Argentinien kommt Soldado, in dem ein junger Mann 30 Jahre nach der Militärdiktatur in der argentinischen Armee erwachsen werden möchte. Schließlich gehen die Geschwister Dylan und Andrea in der mexikanischen Produktion Tesoros auf die Suche nach einem Piratenschatz, finden am Ende jedoch etwas viel Wertvolleres.

Retroperspektive: Die Berlinale zeigt eine restaurierte Fassung des mexikanischen Klassikers Canoa von 1975, in der eine Gruppe junger Mitarbeiter der Universität Puebla im Dorf San Miguel Canoa für Kommunisten gehalten und von einem wütenden Lynchmob der Bewohner*innen angegriffen wird (siehe Rezension S. 54)

Kurzfilme: Vênus – Filó, a Fadinha Lésbica (Brasilien, Panorama); Centauro (Argentinien); Ensueño en la pradera (Mexiko); Estás vendo coisas (Brasilien); Fuera de temporada (Argentinien); Libélula (Mexiko, Generation); La prima sueca (Argentinien, Generation); The jungle knows you better than you do (Kolumbien; Generation); Em busca da terra sem males (Brasilien, Generation)

In dieser Ausgabe erscheinen zwei Filmrezensionen, die von der Redaktion bereits vor Beginn des Festivals gesehen werden konnten. Weitere Rezensionen lateinamerikanischer Filme  werden wir während der Berlinale  fortlaufend auf unserer Homepage (www.lateinamerika-nachrichten.de) veröffentlichen.

EIN SONNTAG WIE JEDER ANDERE

Es ist der sechste November, Präsidentschaftswahlen in Nicaragua: Die Straßen Nueva Guineas, der kleinen Bauernprovinz im Osten des Landes, sind wie jeden Sonntag nahezu leer gefegt. Am Morgen sieht man hier und da fein angezogene Menschen auf dem Weg zum Gottesdienst. Man verbringt den Tag zu Hause, lässt die Woche gemütlich im Kreise der Familie ausklingen, erledigt Hausarbeiten. Zur Wahl gehen? Lohnt nicht des Gangs; das Ergebnis ist schon lange bekannt.
Und wenige Tage später ist es dann Gewissheit. Der 70-jährige Ex-Guerillero Daniel Ortega wird seine dritte Amtszeit in Folge antreten: gewählt mit 71,3Prozent der Stimmen. Die eigentliche Nachricht ist eine andere. Die Wahlbeteiligung ist mit knapp über 65 Prozent eine der niedrigsten seit Jahrzehnten – und das selbst nach den offiziellen Zahlen des Wahlrates. Ob diese stimmen, darf angezweifelt werden. Die Wahllokale waren in den meisten Teilen des Landes ebenso leer wie in Nueva Guinea, das konnten selbst die staatlichen Medien nicht verbergen. Wie viele der 3,8 Millionen Wahlberechtigten wirklich ihre Stimme abgegeben haben, bleibt ungewiss; die wenigen verbliebenen unabhängigen Medien schätzten gerade einmal 28 Prozent.

Revolutionsmüdes Nicaragua: Zur Wahl gehen lohnt sich nicht (Foto: Hermann Kuemmel)

Es scheint, als habe die Opposition, die im Vorhinein von den Wahlen ausgeschlossen worden war (s. LN 507/508), mit der Kampagne “¡No hay por quien – ni para que – votar! – es gibt niemanden und für nichts zu wählen!” Erfolg gehabt.
Dabei hatte die Regierung die Anzahl der Wahlurnen gekürzt, sodass sich Schlangen vor den Lokalen bilden würden. Nicht einmal dafür reichte die Beteiligung. Internationale Beobachter*innen wurden von der Wahl verbannt. Verschiedene Organisationen allerdings, unter anderem  der einzige regierungskritische Fernsehkanal Kanal 12 schickte eigene „Wahlbeobachter“ ins Rennen, die versuchten, verdeckt mit Fotos und Videos vom Geschehen in den Wahlkammern und auf der Straße zu berichten.
„Man gab mir 200 Córdoba für Benzin, damit ich den Tag durch die Stadt fahren kann. Mein Bruder wurde gebeten, reinzugehen und die Situation drinnen festzuhalten”, berichtet Danny Rivera, erklärter Nichtwähler und am Wahltag im Auftrag von Kanal 12 unterwegs. Er will die Farce dokumentieren.
Andere Töne schlug währenddessen Ex-Präsident Paraguays, Fernando Lugo, an, der sich zu Zeit der Wahl in Nicaragua aufhielt: „Ich kenne keine Wahl, bei der man mit einer Wahlbeteiligung von 100 Prozent rechnet. Wir sehen, die Wahlen in Nicaragua sind demokratisch und legitim. Sechs Kandidaten zur Präsidentschaft, das spricht von einer pluralistischen Demokratie.” Lugo bezog sich auf die verbliebenen Parteien, die allesamt mit Ortega paktieren.
Was Lugo nicht sieht, ist offensichtlich: Die Demokratie in Nicaragua scheint schwer angeschlagen. Dabei war es sogar ein Erfolg, dass dieses Jahr überhaupt fristgerecht gewählt wurde. Im Frühjahr machten Gerüchte die Runde, Ortega wolle gar keine Wahlen durchführen – aufgrund der Unruhen wegen des geplanten Kanals. Als sich im Mai des Wahljahres die Einleitung der Wahlkampagne des Präsidenten verzögerte, mehrten sich die Befürchtungen. Um den stockenden Kanalbau wurde es ruhiger – Wahlen fanden statt.
Und damit gibt es eine zweite Gewissheit. Der Ortega-Clan wird weiter an der Macht bleiben, Ende unabsehbar. Von Daniel Ortega heißt es, er sei mittlerweile schwer krank. Sollte er die Amtszeit nicht überstehen, übernimmt seine Frau das Ruder. Rosario Murillo ist nun Vizepräsidentin.
Damit ist das Land längst tief im Orteguismus angekommen – der einstige Sandinismus ist längst verblasst. Seit der Wahlniederlage Ortegas 1990 haben sich die meisten der alten Weggefährten abgewandt. Prominente Namen wie Ernesto Cardenal, Sergio Ramirez oder auch die Schriftstellerin Gioconda Belli.
Auch breite Bevölkerungsschichten kehrten Ortegas FSLN den Rücken. Geblieben ist eine stabile Wählerbasis von ungefähr 35 Prozent. Die Zahl ist in Nicaragua zu einem Symbol der politischen Wendigkeit Ortegas geworden.
Sein größter Schachzug war sein Pakt mit dem Ex-Präsidenten Arnoldo Alemán (1997-2002). Im Jahr 1999 einigten sich die Chefs der eigentlich konkurrierenden Parteien darauf, die Posten im obersten Gericht und dem Wahlrat unter ihren Leuten aufzuteilen. Durch eine Verfassungsänderung reichten fortan eine Mehrheit von 35 Prozent der Stimmen, um das Amt des Präsidenten zu übernehmen. Im gleichen Zug wurde dem scheidenden Präsidenten ein Sitz im Parlament garantiert – damit war die Immunität gesichert, ein wichtiger Punkt für Alemán, dessen Korruption allseits bekannt war.
2006 kehrte Ortega schließlich mit 37,9 Prozent in das wichtigste Amt des Landes zurück. Seitdem hat er alle Vorkehrungen getroffen, um nicht noch einmal vom Thron gestoßen zu werden. Mit der katholischen Kirche und ihrem wichtigsten Vertreter im Land, dem Erzbischof von Managua Miguel Obando y Bravo, versöhnte sich Ortega. Für die politische Unterstützung der Kirche gab es im Gegenzug eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze des Kontinents.
Nach der umstrittenen Wahl 2011 änderte Ortegas FSLN mit einer Zweidrittelmehrheit die Verfassung, so dass die Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten auf zwei Wahlperioden aufgehoben wurde. Ortegas Machtbasis ist noch viel weiter gestrickt. Seine Söhne Maurice, Daniel und Juan Carlos kontrollieren den staatlichen TV-Kanal 6 und mehrere Privatsender. Sein Sohn Rafael ist Vorsitzender der staatlichen Erdölgesellschaft und Laureano, ebenfalls ein Sohn des Präsidenten, leitet die Behörde ProNicaragua, über die alle ausländischen Investitionen laufen. Als Präsidentenberaterinnen fungieren die Töchter Luciana und Camila.
„Es ist, als wäre die Zeit nicht vorangeschritten; die Szenerie ist dieselbe, das was sich änderte sind die Namen der Figuren, aber das Spektakel bleibt dasselbe”, sagt Luis Sánchez Sancho, Mitglied der antiautoritären „Gruppe der 27″, die sich 1974 gegen Diktator Somoza, 2016 gegen Präsident Ortega stellen.
Für Ortegas Anhänger*innen sind stabile 4,5 Prozent Wirtschaftswachstum gute Argumente. Ebenso wie Sozialprogramme für das Land: Ortega verschenkt Traktoren oder auch mal Kühe und Schweine, darüber hinaus gewährt er billige Kredite. Günstiges Erdöl aus Venezuela, sowie Lehrer*innen und Ärzt*innen aus Kuba sichern die Macht ebenso wie die Hoffnung, dass Ortega Errungenschaften wie das kostenlose Bildungs- und Gesundheitssystem bewahren wird.
Trotzdem bleibt die soziale Ungerechtigkeit in Nicaragua enorm, mit 2.000 US-Dollar pro Kopf ist das durchschnittliche Jahreseinkommen das niedrigste Mittelamerikas.
Drei von zehn Nicaraguaner*innen sind zwischen 19 und 25 Jahre alt. Das Durchschnittsalter beträgt 22 Jahre, in Deutschland ist es doppelt so hoch. Ortegas Ehefrau Murillo wusste um das Potenzial der Jugend und gründete im Zuge ihrer Politpropaganda die Sandinistische Jugend. Ein Zentrum für Freizeitangebote, Spiel und Spaß. All das unter dem Dach und Kontrolle der amtierenden Partei. Viele Jugendliche haben keine Chance auf Bildung, müssen schon im frühen Alter Geld verdienen. Freizeit ist ein Privileg. So wird den Jugendlichen durch die Sandinistische Jugend dieser Raum geschaffen; ihnen das Gefühl gegeben, mitentscheiden zu können, eine Stimme zu haben. Zur Wahl zu gehen. Dazu unterhält Ortega einen üppigen Staatsapparat, in dem die FSLN-Mitgliedschaft einen Karrierevorteil bedeuten kann.
In vielen Teilen der Bevölkerung wiederum herrscht Resignation. “Wenn Gott will” und “Was sollen wir schon tun” sind die Credos eines revolutionsmüden Nicaraguas. Und trotzdem hob Ortega nach der Wahl hervor, dass diese „ohne Hass, ohne Konfrontation und ohne Tote“ von Statten gegangen sei.
Doch unter der Fassade brodelt es. Gerüchte nehmen in einer Gesellschaft, in der große Teile der Medien gleichgeschaltet sind, an Bedeutung zu. In den Wochen der Kampagne vor der Wahl haben viele Menschen ihren Pass erneuern lassen, um bei einer Eskalation schnellstmöglich nach Costa Rica zu desertieren, heißt es.  Schon länger machen unbestätigte Nachrichten von organisierten und bewaffneten Bauernaufständen, die sich in den beiden östlichen Regionen gegen den Kanalbau formieren, die Runde.
Ein weiterer Machtfaktor Ortegas droht zu kippen. Seit dem Tod von Obando wendet sich die katholische Kirche der Opposition zu. Teile der Bischofskonferenz riefen ebenfalls zum Wahlboykott auf. Die von Intellektuellen getragene ortegakritische Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS) scheint langsam aus ihrer Schattenexistenz hervorzutreten. Auch die USA wendeten sich vor der Wahl von Ortega ab, der Kongress beschloss den NicaAct, um die Kreditvergabe für Ortegas Nicaragua zu blockieren.
In den Tagen nach der Wahl blieb es ruhig in Nicaragua. Ganz im Sinne von Daniel Ortega. Der alte Revolutionär hat eine neue Domäne: Der politische Stillstand.

TRANSIT HAVANNA

Unfertig sein. Jemand zu viel, jemand anderes zu wenig sein. Drei Menschen berichten von ihrem Kampf um einen Körper, der ihnen Glück ermöglichen soll.
Sehr offen sprechen Malú, Odette Giselle und Juani von sich, von der Sehnsucht nach einer Wandlung, die endlich endgültig ist. In dem mitreißenden und empathischen Dokumentarfilm Transit Havanna wird uns Einblick gewährt in ihr Bemühen um Verständnis in der Familie und um Anerkennung und Unterstützung in der kubanischen Gesellschaft. Die Protagonist*innen müssen lange auf den Tag warten, der die ungewünschten oder ersehnten körperlichen Merkmale mittels einer Operation verschwinden, oder hinzukommen lässt. Denn die beiden Ärzte aus den Niederlanden und Belgien kommen nur einmal im Jahr, um die Umwandlung vorzunehmen.
Malú weiß genau, wer sie ist und dass sie es noch nicht ist – worin allerdings nicht der Widerspruch besteht. Der liegt darin, dass die Ärzte entscheiden, wann sie an die Reihe kommt und nicht sie selbst. In ihrer Kindheit hat es mit dem Vater aufgrund ihrer Veranlagung viele Konflikte gegeben. Mit elf Jahren zog sie von zu Hause aus. Seither habe sie sich zu einem anerkannten Mitglied des Dorfes und der Gesellschaft entwickelt, wie ihr ein Freund versichert.
Odette Giselle führt ihren Kampf mit ihrer Familie bis heute. Ihre Zweifel an ihrer sexuellen Identität führten sie zum Glauben und in die katholische Kirche. Lässt die Kirche ihre Mitglieder darüber bestimmen, wer sie sein möchten? Als Odette noch Osmani genannt wurde, war er in der kubanischen Armee einer der besten Panzerfahrer, wie sie selbstbewusst mitteilt. Bestens ausgebildet für die Verteidigung des Platzes der Revolution in Havanna. Sie fragt, wie wohl die Reaktion ihrer ehemaligen Kamerad*innen wäre, wenn diese sie jetzt sehen könnten. Sie zeigt sogar Verständnis für das Unverständnis ihrer Mitmenschen und vergleicht es mit einem fehlenden Besen: Fehlt die Information zu dem Thema, fehlt auch das Interesse und das Begreifen – so, wie ohne den Besen nicht gefegt werden kann.
Juani geht seinen Weg bereits seit den 1970er Jahren. Als erster, wie er sagt, führte er den Kampf in Kuba. Unterstützung fand er wie auch andere Trans* in der engagierten Mariela Castro, Direktorin des nationalen Zentrums für sexuelle Aufklärung und Tochter des amtierenden Präsidenten Raúl Castro. Auf karibisch offene Art erzählt Juani, es gehe im letzten Schritt darum, seinem „Pancho“ Leben einzuhauchen. Alles andere hat er in den vielen Jahren an sich schon komplettiert. Jetzt fehle nur noch die richtige Frau.
Manche Frage bleibt offen. Zum Beispiel die nach dem System der Auswahl zur Operation betreffender Trans* – welches auch die Protagonist*innen nicht genau zu kennen scheinen. So fühlt man sich ganz als Tourist*in, welche*r nach Ende der Reise mit Eindrücken und dem Interesse an den Menschen zurückkehrt, die man in diesem bildschönen Film „getroffen“ hat. Ein gehaltvoller wie nachklingender Kinofilm!

EINSEITIG KRITISCH

Zu Beginn formuliert Hannes Bahrmann einen lobenswerten Anspruch: „Das vorliegende Buch ist keine rein subjektive Sicht auf die Dinge, es ist auch keine wissenschaftliche Arbeit. Mein Ziel war es, zusammenzutragen, was sich ereignet hat und warum es so gekommen ist. Ich betrachte die Dinge von außen und bemühe mich, keine Schuld zuzuweisen. Jede der beteiligten Seiten hatte Gründe für ihr Handeln….“ Bereits einige Zeilen danach wird allerdings schon die eindeutige Meinung vertreten: „Die Utopie einer neuen Gesellschaft hielt nur wenige Jahre“.
Das als „kritische Bilanz“ untertitelte Buch Abschied vom Mythos. Sechs Jahrzehnte kubanische Revolution trägt im Laufe der elf kleinen Abschnitte fast ausschließlich Probleme, Defizite und Skandale der Geschichte Kubas seit 1959 zusammen. Diese werden lediglich im Modus westlicher Interpretationen dargestellt.
Ein wesentlicher Aspekt, den Bahrmann hervorhebt, ist die vorbildliche Lage Kubas vor der Revolution von 1959: „Die USA investierten zwischen der Unabhängigkeit und der Revolution drei Mal so viel in Kuba wie in ganz Lateinamerika.“ Nicht erläutert wird allerdings, aus welcher Art Geschäfte diese Finanzmittel kamen, in welche Bereiche investiert wurde, wer profitierte und was dies für die Entwicklung Kubas eingebracht hat. In der Verlagsankündigung ist der negative Grundtenor deutlich artikuliert: „Früher war Kuba ein vergleichsweise reiches Land. Das Bruttosozialprodukt lag über dem Mexikos, die Ärzt*innendichte über der in den Vereinigten Staaten, das Bildungswesen war auf dem Niveau Westeuropas. Sechs Jahrzehnte nach dem Sieg der Revolution kann sich das Land nicht mehr selbst ernähren, die Produktivität in der Wirtschaft reicht nur für Löhne von durchschnittlich 25 Euro im Monat. Die Ideale einer sozialistischen Gesellschaft mit großer Gleichheit sind dahin, die sozialen Unterschiede wachsen unaufhörlich.“
Die unzähligen Einflussversuche und subversiven Maßnahmen der USA, um in Kuba „Regime Change“ nach ihrem Geschmack zu erreichen, der Kalte Krieg, strukturelle und kulturelle Faktoren werden lediglich nebenbei erwähnt. So werden beispielsweise die 638 Attentatsversuche auf Fidel Castro kommentarlos aufgelistet und interessanterweise den einzelnen US-Präsidentschaften zugeordnet. (58, leider ohne Quellenangabe). Informativ sind auch Details wie zum Beispiel kurze biografische Anmerkungen zum derzeitigen stellvertretenden Staatspräsidenten Miguel Diaz-Canel.
Die von westlichen Autor*innen als „Kubakrise“ titulierte weltpolitische Zuspitzung wird von Bahrmann so thematisiert, als sei die kubanische Regierung Schuld an der Eskalation, die von US-Militärs vorangetrieben wurde. Dabei diente die Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba auch dem Schutz Kubas vor einem erneuten militärischen Angriff der USA.
In den knappen Absätzen über den militärischen Einsatz der kubanischen Armee in Angola lautet die Überschrift „Abenteuer in Afrika“. Lapidar wird nebenbei erwähnt, dass Kuba auf Bitte der legitimen Regierung Angolas zu Hilfe kam, um gegen die von den USA unterstützten brutalen Rebellen und die südafrikanische Armee zu kämpfen. Dass Kuba damit am Ende des rassistischen Apartheidsystems von Südafrika entscheidenden Anteil hatte, bleibt unerwähnt, genauso wie die Tatsache, dass Nelson Mandela seine erste Auslandsreise als Staatspräsident nach Kuba unternahm, um dem Land zu danken.
Über die jüngsten Entwicklungen in Venezuela schreibt Bahrmann: „15 Jahre später ist auch dieses Land […] durch allzu großzügige Hilfen an Kuba […] selbst kurz vor der Pleite.“
Als Gewährsperson für die Lage in Kuba benutzt Bahrmann in mehreren Zitaten die von westlichen Kräften aufgebaute und mit immensen Finanzmitteln ausgestattete Vorzeigedissidentin Yoani Sánchez.
Insgesamt wird das Buch dem selbst gestellten Anspruch, eine kritische Bilanz der kubanischen Entwicklung seit 1959 zu bieten, nicht gerecht. Denn eine Bilanz bedarf einer Benennung der wesentlichen positiven und negativen Aspekte, einer Klärung der Maßstäbe und historischen Entwicklungen und wesentlicher Kontextbedingungen.
Was Bahrmann in dem Buch allerdings abliefert, ist eine Sammlung von Negativklischees, wie sie in den konservativen und profitmaximierenden Massenmedien westlicher Staaten kolportiert werden und wie sie die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung nicht besser hätte zusammenstellen können.
Hier mag die Geschäftsphilosophie der Unternehmensberatungsfirma durchschimmern, die der Autor mitbegründete, wo es heißt: „Die Grundlage für eine erfolgreiche und ansprechende Positionierung Ihrer Organisation in der Öffentlichkeit bildet […] der enge Kontakt und die ergebnisorientierte Ansprache von Meinungsführern in Ihrem Tätigkeitsfeld.“ Und die Meinungsführer*innen in Sachen Kuba in der BRD sind mit diesem Buch ganz sicher zufrieden. Die Sammlung von Eindrücken und Einschätzungen entstammt einem stark ausgeprägten Individualismus, einem Eurozentrismus und stark konsumistisch-materiellen Standpunkt. Hier hat sich ein Ossi zu einem Besserwessi gemausert.
Was in dem Buch fast völlig unterlassen wird, sind tiefergehenden Analysen und einigermaßen fundierte Erläuterungen für bestimmte Entwicklungen und Fehlentwicklungen. Stattdessen wird fast durch und durch personalisiert (Motto: Schuld hat Fidel Castro). Daher dürfte dieses Buch für viele entbehrlich sein. Es reiht sich allerdings ein in die verstärkte ideologische Offensive gegen eine souveräne und eigenständige Entwicklung Kubas.
Eine schwerwiegende Unterlassung des Autors ist, dass Zahlenangaben, Zitate und anderes völlig ohne Literaturhinweise und Quellenangaben vorgebracht werden. Hingegen werden häufig Episoden und Anekdoten so beschrieben, als stünden sie für das Ganze. Der Schreibstil ist insgesamt sehr locker, das Buch leicht lesbar, die Beschreibungen sind unterhaltsam und gefällig. Der Text wird durch 21 Schwarz-Weiß-Fotos ergänzt. Wer allerdings an einem kenntnisreichen Blick auf die aktuellen Entwicklungen in Kuba und deren Zusammenhänge interessiert ist, sollte auf andere aktuelle Bücher zurückgreifen.

VORPROGRAMM FÜR DIE STONES

Am Ende schien sich alles in Wohlgefallen aufzulösen. Während der Baseballpartie zwischen den Tampa Bay Rays und der kubanischen Auswahl im generalüberholten Estadio Latinoamericano in Havanna sah man US-Präsident Barack Obama und Kubas Staatschef Raúl Castro sich mehr als eine Stunde lang angeregt unterhalten. Eine Reihe dahinter waren die beiden Außenminister John Kerry und Bruno Rodríguez ebenfalls in ein lebhaftes Gespräch vertieft. Einträchtige Bilder zum Ende des dreitägigen Obama-Besuchs in Kuba, der mehr kühle Gesten, ernste Gesichter und angespannte Treffen produziert hatte als erwartet worden war.
Nur wenige Stunden zuvor hatte Obama am 22. März in seiner mit Spannung erwarteten Rede an das kubanische Volk im Gran Teatro von Havanna die Kubaner zu Veränderungen aufgerufen. Er sei „hergekommen, um die Überreste des Kalten Krieges zu begraben“, sagte Obama. Die Politik der Anfeindungen und Blockade der Vergangenheit habe nicht funktioniert. „Wir müssen den Mut haben, das anzuerkennen und dürfen keine Angst vor Veränderungen haben.“ Er bezog sich dabei wohl nicht nur auf die USA. „Ich glaube an das kubanische Volk“, so Obama weiter. Er hob die Unternehmer*innen auf eigene Rechnung hervor, lobte das Improvisationstalent und die Kreativität der Kubaner*innen.
Erneut forderte er ein Ende der Blockade. „Das Embargo ist eine überkommene Belastung für das kubanische Volk“, sagte er und erntete dafür heftigen Applaus vom kubanischen Publikum. Aber es seien auch Veränderungen in Kuba nötig, mahnte er. Es müsse einfacher werden, Unternehmen zu eröffnen, er insistierte auf den Ausbau des Internets als Weg für die Entwicklung der Wirtschaft und des freien Austauschs von Ideen. „Ich glaube, dass Bürger frei sein sollten, ohne Angst ihre Meinung zu sagen, sich zu versammeln und ihre Regierung zu kritisieren.“ An Kubas Präsidenten Raúl Castro gewandt bemerkte er: „Ich sage Präsident Castro, dass er keine Bedrohung durch die Vereinigten Staaten befürchten muss. Die Veränderungen hängen vom kubanischen Volk ab. Wir werden nicht unser politisches oder wirtschaftliches System aufdrängen.“
Gleichzeitig gab sich Obama überzeugt, dass die Demokratie die beste Form sei, um die Probleme der Gesellschaft zu lösen. Dabei verkaufte er die USA jedoch nicht als Paradies, sondern als eine Gesellschaft mit vielen Problemen, die aber in der Lage ist, sich zu entwickeln. „Es gibt noch viel zu tun in beiden Ländern. Wir werden weiter Differenzen haben“, so Obama. Er rief zur Versöhnung zwischen den Kubaner*innen in Miami und auf der Insel auf. Diese sei fundamental für die Zukunft. „Es ist Zeit, die Vergangenheit zu vergessen und in die Zukunft zu schauen“, so Obama.
Von den Kommentator*innen des kubanischen Fernsehens wurde Obamas Rede kritisch aufgenommen. Man könne nicht, wie von Obama gefordert, die Vergangenheit einfach vergessen, zumal die USA für zahlreiche Missstände verantwortlich seien. Bemängelt wurde auch, dass Obama sich nicht für die Schäden durch die US-Blockadepolitik entschuldigt habe. Immer wieder schimmerte das weiterhin bestehende Misstrauen gegenüber den Absichten der USA durch. Letztlich gehe es den Vereinigten Staaten um Hegemonie: Die Taktik sei neu, die Ziele aber dieselben. Es wurde daran erinnert, dass, wenn Obama die Geschicke in die Hände der Kubaner*innen legen wolle, er die Finanzierung der gegen Havanna gerichteten TV- und Radioprogramme beenden und die Schaffung von dissidenten Journalist*innennetz-werken und Zahlungen an Systemoppositionelle einstellen müsse.
In der Bevölkerung dagegen stieß Obamas Rede auf viel Zustimmung. „Ich habe das Gefühl, die kubanische Regierung ist nun in der Defensive“, sagt Carlos Castañeda, der als Fassadenkletterer arbeitet, seinen richtigen Namen aber nicht in der Zeitung lesen will. Die Rede des US-Präsidenten hat er zuhause am Fernseher verfolgt. „Obama hat wichtige Dinge angesprochen und viele Wahrheiten gesagt.“ Auch der Mediziner Rubén Vazquez zeigte sich zufrieden mit der Obama-Rede. „Er hat den richtigen Ton getroffen.“ Sein Vater Ramón dagegen bemängelte, dass der US-Präsident Guantanamo nicht erwähnt habe. Auch könne man die Geschichte nicht einfach beiseite schieben. „Ich habe aber das Gefühl, Obama meint es ehrlich.“
Große Wendungen im Annäherungsprozess hat die Obama-Reise nicht gebracht, aber das war auch nicht zu erwarten gewesen. Die erste Reise eines US-Präsidenten auf die Insel nach 88 Jahren war ein wichtiges Zeichen an die US-Öffentlichkeit, dass der Annäherungsprozess unumkehrbar ist und auch von seinem Amtsnachfolger nicht zurückgedreht werden kann. Die kubanische Regierung wiederum machte klar, dass das politische System nicht zur Disposition stünde und hob die weiterhin bestehende Differenzen hervor.
So war es vor allem eine Reise der Zeichen und Gesten. Das ging damit los, dass am Freitag vor der Obama-Visite überraschend Venezuelas Präsident Nicolás Maduro nach Havanna gekommen war. Von Raúl Castro bekam er den José-Martí-Orden, die höchste Auszeichnung Kubas verliehen; Fotos seines Besuches bei Revolutionsführer Fidel Castro gingen um die Welt. Demonstrativer Schulterschluss.
Obama und seine Familie wurden zwar freundlich, aber ohne offizielle Zeremonie begrüßt. Dass weder Präsident Raúl Castro noch sein Vize Miguel Díaz-Canel zum Flughafen gekommen waren und Obama stattdessen von Kubas Außenminister Bruno Rodríguez empfangen wurde, sorgte für Gesprächsstoff. Auch die Festnahme von rund 60 Systemoppositionellen beim sonntäglichen Marsch der „Damen in Weiß“ am 20. März nur wenige Stunden vor Obamas Ankunft brachte Aufregung und unschöne Bilder. Die Dissident*innen bekamen durch die Festnahmen – wenig später wurden sie wieder freigelassen – die erhoffte Aufmerksamkeit der internationalen Medien; die kubanische Regierung wiederum machte klar, dass sie sich von den USA in Menschenrechtsfragen nicht unter Druck setzen lassen würde.
Ein bemerkenswerter Moment war die gemeinsame Pressekonferenz von Raúl Castro und Barack Obama am Montag. Dabei musste sich Kubas Präsident Raúl Castro kritische Fragen zur Menschenrechtssituation auf Kuba gefallen lassen. Auf die Frage eines CNN-Reporters nach politischen Gefangenen entgegnete Castro aufgebracht: „Welche politischen Gefangenen? Geben Sie mir Namen. Noch vor heute abend werden sie freigelassen.“ Eine entsprechende Liste blieb der Fragesteller jedoch schuldig. Obama seinerseits blieb von Fragen zu politischen Gefangenen der USA in Guantanamo verschont. Kuba wird immer wieder wegen Festnahmen von Systemoppositionellen kritisiert. In ihrem Menschenrechtsreport von 2015/16 verzeichnet Amnesty International keine politischen Gefangenen in Kuba; Kritiker*innen der kubanischen Regierung sprechen dagegen von bis zu 90 politischen Häftlingen. Die kubanischen Behörden verweisen jedoch darauf, dass diese wegen allgemeiner Delikte verurteilt wurden. Auch wenn viele Kubaner*innen die Schwierigkeiten im täglichen Leben beklagen: Mangelwirtschaft, Korruption, niedrige Einkommen, genießen die Systemoppositionellen in der kubanischen Bevölkerung kaum Sympathien.
Und auch die USA scheinen immer weniger auf die Dissident*innen zu setzen und ihre Aufmerksamkeit auf andere Sektoren der kubanischen Gesellschaft zu richten, die als Motoren der Veränderung in Frage kommen. In seinen Reden erwähnte Obama die Dissident*innen kaum. Auch das Treffen mit ausgewählten Vertreter*innen systemkritischer Gruppen verlief eher diskret. Stattdessen betonte Obama immer wieder den Ausbau des Internets, den freien Austausch von Ideen sowie die Bedeutung der Arbeiter*innen auf eigene Rechnung, wie die kubanischen Kleinunternehmer*innen bezeichnet werden.
Obama versprach während seines Besuches mehrfach, die künftigen Geschicke Kubas lägen in den Händen des kubanischen Volkes. Mit der Kranzniederlegung am Ehrenmal des kubanischen Nationaldichters José Martí bezeugte er Respekt vor der kubanischen Unabhängigkeit und setzte ein wichtiges Zeichen, dass er die Souveränität Kubas und das Prinzip der Nichteinmischung respektiert.
Begleitet wurde Obama auf seiner Reise von US-Außenminister John Kerry, US-Landwirtschaftsminister Tom Vilsack, US-Handelsministerin Penny Pritzker, der Nationalen Sicherheitsberaterin Susan E. Rice sowie vierzig Kongressabgeordneten beider Parteien.
Vilsack und sein kubanischer Amtskollege Gustavo Rodríguez Rollero unterzeichneten ein Memorandum zur Kooperation in der Landwirtschaft. Zudem kündigten eine Reihe von US-Unternehmen künftige Geschäfte auf Kuba an. Bereits am Samstag vor der Obama-Visite hatte Starwood Hotels, das unter anderem die Hotel-Ketten Westin und Sheraton betreibt, eine millionenschwere Vereinbarung zum Betrieb von zwei Luxushotels in Havanna bekannt gegeben. Das Reiseportal Airbnb wiederum darf künftig Reisenden aus aller Welt Privatunterkünfte in Kuba anbieten. Bisher galt dies ausschließlich für US-Reisende. Beide Unternehmen erhielten spezielle Genehmigungen durch die US-Regierung. Darüber hinaus kündigte US-Präsident Obama an, dass Google Breitbandinternet auf der Insel ausbauen werde, ohne jedoch weitere Details zu nennen. Das zur Priceline-Gruppe gehörende Webportal booking.com wiederum wird künftig Online-Hotelreservierungen für Kuba managen und Western Union erlaubt künftig Geldüberweisungen aus aller Welt nach Kuba, nachdem die US-Regierung Restriktionen auf Transaktionen in US-Dollar aufgehoben hatte.
Raúl Castro wiederholte die kubanische Position, dass die Aufhebung der Blockade und die Rückgabe von Guantanamo essenziell für eine Normalisierung der Beziehungen seien. Der kubanische Intellektuelle Luis Suárez sagte gegenüber der spanischen Tageszeitung Público, man müsse eine „Anormalisierung“ statt der „Normalisierung“ der bilateralen Beziehungen suchen, da in der Vergangenheit die USA sich das Recht anmaßten, sich in die inneren Angelegenheiten Kubas einzumischen.
So oder so liegt ein langer Weg vor beiden Ländern – es wird wohl einer der kleinen Schritte werden, das hat der Obama-Besuch klargemacht. Das jahrzehntelange Misstrauen auf beiden Seiten verschwindet eben nicht über Nacht.

Steilvorlage für Maduro

Es klingt so martialisch wie paranoid: Anfang März stellte Barack Obama in einem offiziellen Dekret besorgt fest, dass „die Situation Venezuelas eine ungewöhnliche und außerordentliche Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA“ darstelle. Als hätte die venezolanische Luftwaffe gerade die ersten Angriffe auf das Weiße Haus gestartet, rief der US-Präsident „einen nationalen Notstand“ aus, „um mit dieser Bedrohung umgehen“ zu können. Doch weder hat sein venezolanischer Amtskollege Nicolás Maduro zum antiimperialistischen Erstschlag ausgeholt, noch Obama die Nationalgarde in Alarmbereitschaft versetzt. Vielmehr werfen die USA Maduros Regierung vor, Menschenrechte zu verletzen und oppositionelle Kritiker*innen gewaltsam zu verfolgen. In Caracas wurde die wenig schmeichelhafte Einstufung als Affront wahrgenommen. Maduro wirft der US-Regierung – angesichts der langen Tradition US-amerikanischer Einmischung in Lateinamerika nicht unbegründet – vor, die Opposition zu unterstützen, um ihn stürzen zu können (siehe Artikel S. 34).

Oberflächlich betrachtet hat die Obama-Administration zunächst „nur“ ihren Job gemacht. Bereits Ende letzten Jahres hatte der Kongress Sanktionen gegen ranghohe Militärs und Regierungsmitglieder Venezuelas beschlossen. Um die Sanktionen rechtskonform umzusetzen, muss Obama aber erst eine Bedrohung der nationalen Sicherheit feststellen. Verständlicherweise löste diese Formulierung nicht nur auf diplomatischem Parkett Unverständnis aus, auch wenn das Weiße Haus beteuert, „missverstanden“ worden zu sein.

Obamas verbale Attacke kam dem innenpolitisch angeschlagenen venezolanischen Präsidenten ziemlich gelegen. Sie lieferte ihm eine unverhoffte Steilvorlage, um von den eigenen Problemen ablenken und seine Bündnispartner*innen hinter sich gegen die „imperialistische Aggression“ aus dem Norden versammeln zu können. Neben der üblichen Rhetorik auf schnell organisierten Demonstrationen und einer Twitter- und Unterschriftenkampagne gegen die Sanktionen wandte sich Maduro in einem offenen Brief auch an die US-amerikanische Öffentlichkeit. In der New York Times klärte er in einer Anzeige darüber auf, dass Venezuela „in zwei Jahrhunderten Unabhängigkeit nie eine andere Nation angegriffen“ habe und auch weiterhin friedlich und ohne Massenvernichtungswaffen (sic!) auskommen möchte.

Was auch immer Obama genau mit seinen Drohungen erreichen wollte, bewirkt haben sie vor allem eins: Lateinamerika und die Karibik stehen nun geschlossener denn je hinter Maduro. Umgehend bekräftigen die Castro-Brüder auf Kuba ihre „uneingeschränkte Solidarität“ mit der Regierung in Caracas. Dilma Rousseff, Daniel Ortega und Evo Morales folgten gerne Maduros Aufruf, ihm den Rücken zu stärken und Obamas Dekret in einer gemeinsamen Reaktion zu verurteilen. Aber nicht nur die üblichen Verdächtigen der links regierten Länder des ALBA-Bündnisses reagierten pikiert auf die semantische Schärfe Washingtons. Von der Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (CELAC), über die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR), bis hin zur US-dominierten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) kritisierten alle regionalen Bündnisse das Vorgehen der US-Regierung.

Die regionale Integration Lateinamerikas hat ein neues Selbstbewusstsein gegenüber den USA hervorgebracht. Das zeigt sich nicht nur an Worten: Kuba nimmt im April zum ersten Mal seit 1962 an einem OAS-Gipfel teil – auf Einladung des Gastgebers Panama und auf ausdücklichen Wunsch der Lateinamerikaner*innen. Alle diplomatischen Versuche der USA vergangenen Herbst, diese Aufwertung der sozialistischen Karibikin-sel abzuwenden, schlugen fehl. Amerika verändert sich.

Obama isoliert im Hinterhof

Die USA fühlen sich bedroht. Dies allein wäre kaum eine Meldung mit Neuigkeitswert, doch lauert die Gefahr dieses Mal direkt vor der eigenen Haustür, im häufig als Hinterhof der USA bezeichneten Lateinamerika. Am 9. März erklärte US-Präsident Barack Obama die Situation in Venezuela zur „außergewöhnlichen Bedrohung der nationalen Sicherheit und Außenpolitik der Vereinigten Staaten“. Zugleich verhängte er Sanktionen gegen sieben venezolanische Funktionär*innen. Die US-Regierung wirft ihnen Verletzung von Menschenrechten bei der Unterdrückung oppositioneller Proteste sowie Korruption vor. Die venezolanische Regierung sieht sich hingegen von dem US-Vorgehen bedroht, das sie als Vorbereitung auf eine militärische Invasion wertet. Es sei „der aggressivste Schritt“, den „die USA jemals gegen Venezuela unternommen haben“, sagte der venezolanische Präsident Nicolás Maduro. Obama werde „wie Präsident Nixon in Erinnerung bleiben“, warnte er in Anspielung auf den gewaltsamen Sturz Salvador Allendes in Chile 1973.
Obamas Bedrohungsvokabular entspringt dem International Emergency Economic Powers Act, einem US-Gesetz aus dem Jahre 1977, mit dem der Präsident im Falle einer erklärten Bedrohung ohne Zustimmung des Kongresses Sanktionen verhängen kann. Neben Venezuela gelten derzeit unter anderem Iran, Syrien, Nordkorea und Russland als „außergewöhnliche Bedrohung“. Der US-Kongress selbst hatte bereits im vergangenen Dezember Sanktionen gegen venezolanische Funktionär*innen beschlossen. Ende Februar konterte Venezuela mit Gegensanktionen, nachdem Maduro die US-Regierung bezichtigt hatte, in einen kürzlich aufgedeckten mutmaßlichen Putschplan verwickelt zu sein. Es kam zur Verhaftung mehrerer Militärs und des Bürgermeisters des Großraums Caracas, Antonio Ledezma. Über gegenseitige Botschafter*innen verfügen beide Länder bereits seit eines Streits über den designierten US-Botschafter im Jahr 2010 nicht mehr.
Sollte Obama sich im Zuge der politischen Annäherung an Kuba erhofft haben, Venezuela in Lateinamerika isolieren zu können, ging der Schuss nach hinten los. Für die innerhalb wie außerhalb Venezuelas stark in der Kritik stehende Regierung Maduro wirken die Sanktionen aus Washington fast wie ein Befreiungsschlag. Nicht nur die Linke Lateinamerikas stellt sich in dem Konflikt kategorisch hinter Venezuela. Keine einzige Regierung des Subkontinents unterstützt das einseitige Vorgehen der USA. Die Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) forderte die Aufhebung des Dekretes, sprach sich deutlich gegen „äußere Einmischung“ sowie „einseitige Maßnahmen“ aus und mahnte zum Dialog. UNASUR-Generalsekretär Ernesto Samper warnte, die Sanktionen könnten in „der bereits polarisierten Situation“ dazu beitragen, „die Gemüter zu radikalisieren“. Die Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (CELAC), der alle lateinamerikanischen und karibischen Länder des Kontinents, nicht jedoch Kanada und die USA angehören, hatte im Februar bereits die Sanktionen des US-Kongresses zurückgewiesen. Die Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerikas (ALBA) forderte Obama ebenfalls dazu auf, die Maßnahmen zurückzunehmen und sprach sich für einen Dialog aus. Auch José Miguel Insulza, scheidender Generalsekretär der US-dominierten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bezeichnete Obamas präsidiale Verfügung als „sehr hart“. Selbst aus den Reihen des oppositionellen Bündnisses Tisch der demokratischen Einheit (MUD) kamen vereinzelt kritische Töne. Der Gouverneur des Bundesstaates Lara, Henri Falcón, sprach von einem „schlechten Dienst für die venezolanische Opposition“.
Maduro selbst ging in die Offensive und beantragte in der Nationalversammlung umgehend legislative Vollmachten, um „den Frieden zu sichern“. Bereits sechs Tage nach Obamas Verfügung bewilligte das Parlament das thematisch breit formulierte „antiimperialistische“ Bevollmächtigungsgesetz. Bis Ende Dezember kann Maduro nun Dekrete mit Gesetzesrang in den Bereichen „Gerechtigkeit, Freiheit, Unabhängigkeit, Souveränität, Immunität, territoriale Integrität, nationale Selbstbestimmung und Frieden“ erlassen.
Es ist bereits das zweite Mal, dass Maduro mit Vollmachten regiert, die das Parlament dem Präsidenten laut venezolanischer Verfassung verleihen kann. Ende 2013 hatte ihm die Nationalversammlung für zwölf Monate Vollmachten in den Bereichen Wirtschaft und Korruption erteilt, die er für insgesamt 50 Dekrete und Gesetzesänderungen nutzte. Spürbare positive Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage oder die Korruption konnten dadurch bisher nicht erreicht werden. Bereits auf Grundlage der alten Verfassung von 1961 nutzten verschiedene Präsidenten die Möglichkeit, sich zeitlich begrenzte gesetzgeberische Vollmachten erteilen zu lassen. Maduros Vorgänger Hugo Chávez ließ sich zwischen 1999 und 2013 viermal bevollmächtigen. Wenngleich das gewählte Parlament über präsidiale Dekrete nicht debattiert, könnte die Bevölkerung laut der Verfassung von 1999 sogenannte Aufhebungsreferenden über einzelne Gesetze und Dekrete erzwingen. Bei Gesetzen, die durch Präsidialdekrete zustande gekommen sind, müssten dies fünf Prozent der eingeschriebenen Wähler*innen per Unterschrift einfordern. Gebrauch gemacht wurde von diesem direktdemokratischen Recht bisher allerdings noch nie.
Für Maduro könnten es vorerst die letzten Vollmachten sein. Voraussichtlich Ende des Jahres wird in Venezuela ein neues Parlament gewählt. Auch wenn noch nicht absehbar ist, ob die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) und ihre Verbündeten ihre Mehrheit verlieren, so ist es zumindest wahrscheinlich, dass sie die zur Erteilung von Vollmachten nötigen drei Fünftel der Abgeordneten nicht erreichen werden.
Die Opposition wirft Maduro vor, mit den Vollmachten gegen kritische Stimmen vorgehen zu wollen und die Konfrontation mit den USA dazu zu nutzen, von internen Problemen abzulenken. Seit dem Tod des damaligen Präsidenten Hugo Chávez vor gut zwei Jahren steckt Venezuela in einer tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise. Die gesellschaftliche Polarisierung führt immer wieder zu gewalttätigen Protesten und harten Reaktionen seitens der Sicherheitskräfte. Wenngleich die Grundversorgung mit Lebensmitteln in Venezuela weiterhin sichergestellt ist, sind einige Produkte wie Milch, Kaffee, Maismehl sowie verschiedene Hygieneartikel rar und sorgen für lange Schlangen vor den Supermärkten. Die Inflation betrug im vergangenen Jahr gut 64 Prozent und bedroht mittlerweile die sozialen Errungenschaften der Chávez-Ära. Das auf mehreren parallelen Kursen basierende Wechselkurssystem und die Devisenkontrollen begünstigen kleine wie große Betrügereien. Der zurzeit niedrige Erdölpreis trägt zu einer Verschärfung der Situation bei, indem die Staatseinnahmen sinken und die für Importe nötigen Devisen weiter verknappt werden. Dringend notwendige, aber aufgrund der direkten sozialen Folgen schwierig durchsetzbare Reformen schiebt die Regierung hingegen immer wieder auf. Dazu zählt etwa eine Preisanhebung des innerhalb Venezuelas bisher beinahe gratis verteilten Benzins und eine grundlegende Überarbeitung des Wechselkurssystems (siehe LN 487). Die Regierung wirft oppositionellen Kreisen und privaten Unternehmer*innen vor, einen Wirtschaftskrieg gegen die Regierung zu führen und das Warenangebot gezielt zu verknappen. Dass viele Unternehmen die mit staatlichen Petrodollars erworbenen Produkte horten oder mit deutlich höherer Gewinnspanne über die Grenze nach Kolumbien schmuggeln, ist tatsächlich kein Geheimnis. Doch das allein kann die Krise nicht erklären. Das erdölbasierte Wirtschaftsmodell Venezuelas bleibt auch mit sozialistischem Anstrich weiterhin kapitalistisch und die extrem unterschiedlichen Wechselkurse bieten enorme Anreize für krumme Geschäfte. Wer für den Import von Lebensmitteln etwa Devisen im Wert von 6,30 Bolívares pro US-Dollar erhält, fährt durch den Verkauf zumindest eines Teils der US-Dollar auf dem Schwarzmarkt gigantische Gewinne ein. Mitte März lag der Schwarzmarktkurs mit um die 250 Bolívares pro Dollar etwa bei dem 40-fachen des günstigsten offiziellen Kurses.
In diesem Kontext scheint Obamas Schritt, Venezuela zur „Bedrohung“ zu erklären, allein dazu zu dienen, die venezolanische Krise anzuheizen. Seit dem Amtsantritt von Hugo Chávez 1999 sind die Beziehungen zwischen den USA und ihrem zuvor engen Partner Venezuela angespannt. Den gescheiterten Putsch gegen Chávez im Jahr 2002 unterstützte die US-Regierung logistisch und finanziell. Immer wieder lieferte sich der frühere venezolanische Präsident mit der US-Regierung rhetorische Auseinandersetzungen, bezeichnete Obamas Vorgänger George W. Bush öffentlich als „Esel“, „Teufel“ und „Mr. Danger“. Gleichzeitig gelang es ihm, den US-Einfluss in der Region deutlich zurückzudrängen. Die von den USA propagierte gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA scheiterte 2005. 2004 gründete sich als solidarischer Gegenentwurf das Staatenbündnis ALBA. Im Jahr 2008 folgte UNASUR und 2011 CELAC.
Bei allen politischen Differenzen bleiben die wirtschaftlichen Beziehungen jedoch intakt; mit keinem Land treibt Venezuela mehr Handel als mit den USA. Wenngleich das Handelsvolumen zwischen beiden Staaten in den vergangenen Jahren leicht zurückgegangen ist, bleibt Venezuela innerhalb Lateinamerikas nach Mexiko und Brasilien der drittgrößte Handelspartner der USA. Im Jahr 2014 flossen täglich 740.000 Barrel in den Norden. Nach China gingen 536.000 Barrel pro Tag. Nach dem Amtsantritt von Barack Obama Anfang 2009 hatte es zwischen den USA und Venezuela zunächst nach Entspannung ausgesehen. Der US-Präsident versprach Lateinamerika eine „Partnerschaft auf Augenhöhe“. Es blieb allerdings bei der Rhetorik. Heute scheint Obama in Lateinamerika isolierter zu sein, als es sein Vorgänger Bush je war. Nun liegt es an den Bemühungen der unterschiedlichen regionalen Integrationsbündnisse auf dem amerikanischen Kontinent, einen ernsthaften Dialog in Gang zu bringen. Ecuadors Außenminister Ricardo Patiño erklärte sich auf Maduros Vorschlag hin dazu bereit, eine Vermittlungsgruppe zu koordinieren. Ecuador hat zurzeit die temporäre Präsidentschaft der CELAC inne. Spätestens auf dem kommenden Amerika-Gipfel am 10. April in Panama könnten sich Vertreter*innen der US-amerikanischen und venezolanischen Regierung direkt begegnen. Den wichtigsten Beitrag zu einem Dialog müsste Obama wohl selbst leisten, indem er seine umstrittene Verfügung zurücknimmt. Die venezolanische Regierung will nun zehn Millionen Unterschriften sammeln, um ihn davon zu überzeugen. Das US-Außenministerium zeigte sich in einer ersten Reaktion grundsätzlich bereit zu einem Dialog. Dieser könne jedoch „nicht die Probleme in Venezuela lösen“. Dafür sei ein Dialog innerhalb Venezuelas nötig.

Strategische Komplizen

Guerrero brennt. Seit der Nacht vom 26. September, als die Polizei in dem südmexikanischen Bundesstaat sechs Menschen ermordet und 43 Studenten verschleppt hat, reißen die Proteste nicht ab. Wütende Menschen blockieren den Flughafen von Acapulco, besetzen reihenweise Regierungsgebäude und Parteizentralen und stecken sie teilweise in Brand. Auch in anderen Teilen Mexikos kommt es zu Angriffen auf Staats- und Parteieinrichtungen. Das Land erlebt die schwersten politischen Unruhen seit Jahrzehnten.

Der Zorn der Menschen hat das richtige Ziel: die politische Klasse Mexikos. Die enge Verflechtung von Politik, Justiz, Polizei und organisierter Kriminalität führt zu immer mehr Gewaltexzessen. Die verzweifelten Angehörigen der Studenten wissen, dass sie von den staatlichen Vertreter_innen keine wirkliche Aufklärung erwarten können, handelt es sich bei den mutmaßlich ermordeten Studenten doch um ein Staatsverbrechen. Eines von so vielen in Mexiko. Aufgrund des berechtigten vollständigen Misstrauens gegen die mexikanischen Behörden erhoffen sich die Familien der Verschwundenen und Demonstrant_innen Hilfe aus dem Ausland: Der Fall müsse von internationalen Institutionen untersucht werden, das Ausland müsse Druck auf die mexikanische Regierung ausüben. Dabei ist dieser Fall nur die Spitze des Leichenberges – bei der Suche nach den Studenten fand man bislang 19 Massengräber, 26.000 Menschen gelten in Mexiko als „verschwunden“, Massaker unter Beteiligung von Polizei oder Militär sind Normalität.

In der Tat ist die mexikanische Regierung sensibel für Druck aus dem Ausland, das neoliberale Wirtschaftsmodell ist auf ausländisches Kapital, Technologie und Märkte angewiesen. Ebenso bedarf die fortschreitende Militarisierung des Landes der Kooperation mit dem Ausland. Seit seinem Amtsantritt 2012 macht Präsident Enrique Peña Nieto auf der internationalen Bühne auf bella figura und lässt sich als großer Modernisierer feiern. Seine Bildungs- und Steuerreformen, vor allem aber die Öffnung des mexikanischen Energiesektors sind ganz nach dem Geschmack des internationalen Kapitals. Das Lohnniveau der mexikanischen Arbeiter_innen ist in manchen Bereichen bereits unterhalb der chinesischen gesunken. Die Ratingagentur Moody‘s belohnte die Reformen bereits, als sie im Februar die Bonität Mexikos in die begehrte A-Kategorie hochstufte. Auch in Deutschland reagierten Außenpolitiker_innen und Wirtschaft wohlwollend, mehrere deutsche Konzerne haben Investitionen in dem Land angekündigt.

Deutschland ist einer der wichtigsten Handels- und Kooperationspartner Mexikos. Umgekehrt ist Mexiko aufgrund seiner zuverlässig neoliberalen Ausrichtung seit langem „strategischer Partner“ der deutschen Außenpolitik, zu dem die Beziehungen intensiviert werden sollen. Das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Mexiko (das eigentlich eine Menschenrechtsklausel enthält) steht vor einer Neuauflage; im Januar soll ein Abkommen zur Kooperation deutscher und mexikanischer Polizeikräfte verabschiedet werden, das die Tür für weitere Waffen- und Sicherheitstechnologieexporte öffnet. Beide Vorhaben stehen auch nach dem Massaker von Iguala nicht zur Disposition, wie Staatssekretär Michael Roth (SPD) am 5. November in einer Fragestunde des Bundestags bekräftigte. Er sieht „keine Notwendigkeit von Konsequenzen für die Beziehungen“ – im Gegenteil. Trotz Beweisen für die Verstrickung von Politiker_innen auf allen Ebenen (inklusive Präsident Peña Nieto) in massive Menschenrechtsverletzungen, sieht die deutsche Regierung höchstens regional Probleme, während sie der mexikanischen Regierung ehrlichen Aufklärungswillen nicht nur in dem aktuellen Fall unterstellt.

Bei einer Straflosigkeit von Verbrechen von fast 100 Prozent könnte so viel Vertrauen verwundern. Doch „strategischer Partner“ ist eine Chiffre dafür, dass die wirtschaftliche Bedeutung eines Landes so groß ist, dass es quasi einen Blankoscheck für den Umgang mit seiner Bevölkerung besitzt. Wie hätte die Reaktion der deutschen Regierung wohl ausgesehen, wenn auf Kuba 43 oppositionelle Studenten vom Staat verschleppt und ermordet worden wären? Auf Unterstützung seitens der deutschen Regierung sollten die Menschen in Mexiko besser nicht hoffen.

„Des Weltfriedens wegen“

Mitte Oktober reisten Vertreter_innen aus 32 Ländern, der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie diverser regionaler Organisationen nach Havanna. In der kubanischen Hauptstadt nahmen sie an einem Treffen der Staaten der Bolivarianischen Allianz für die Völker unseres Amerika (ALBA) zur Prävention von Ebola in der Region teil. Verabschiedet wurden auf der zweitägigen Konferenz eine Reihe von Maßnahmen, um eine Ausbreitung des Ebola-Virus auf dem amerikanischen Kontinent zu verhindern. Unter anderem sollen nationale Zentren zur Bekämpfung von Ebola geschaffen werden, um die Präventionsmaßnahmen zu koordinieren und den Informationsaustausch zu verbessern; die Zusammenarbeit bei der Entwicklung neuer Impfstoffe und Medikamente soll ausgebaut, die Informationspolitik verbessert sowie einheitliche Standards zum Schutz des medizinischen Personals geschaffen werden.
Mehr als die Ergebnisse des Treffens aber machte allein die Anwesenheit zweier US-Regierungsbeamter Schlagzeilen. Nun handelte es sich bei den Herren zwar keineswegs um Top-Diplomaten, trotzdem: US-Vertreter auf einem Treffen des von Venezuela und Kuba ins Leben gerufenen Staatenbundes ALBA – das schien bisher undenkbar. Vereinzelte Empörung, etwa des kubanischstämmigen republikanischen US-Kongressabgeordneten Mario Diáz-Balart ging jedoch in den allgemein wohlwollenden Kommentaren unter. Sowohl US-Außenminister John Kerry als auch die US-amerikanische Botschafterin bei den Vereinten Nationen (UN), Samantha Power, lobten das Engagement Kubas im Kampf gegen Ebola als vorbildlich.
Nachdem zunächst vor allem die USA und Großbritannien auf den Ruf nach internationaler Hilfe für die betroffenen Länder reagierten hatten, treffen mittlerweile auch chinesische, schwedische und deutsche Ärzt_innen in der Krisenregion ein. Doch die westlichen Regierungen scheinen mehr damit beschäftigt zu sein, die Epidemie von den eigenen Grenzen fernzuhalten, als die Seuche in Westafrika direkt zu bekämpfen. So waren in den USA wie in Europa Forderungen zu hören, Direktflüge aus Westafrika zu streichen und keine Menschen aus der Region mehr einreisen zu lassen. Es war dagegen das kleine Kuba, das mit gutem Beispiel voranging. Dabei ist die Karibikinsel alles andere als ein wohlhabendes Land. Das Bruttoinlandsprodukt bewegt sich nach Zahlen der Weltbank in etwa auf dem Niveau von Weißrussland. Und doch stellt Kuba in der von der Epidemie betroffenen Region mehr Ärzt_innen als Großbritannien und Australien zusammen. Seit Anfang Oktober helfen 256 kubanische Mediziner_innen und Krankenpfleger_innen in Sierra Leone, Liberia und Guinea bei der Eindämmung des Ebola-Virus – nach Angaben der WHO das größte Kontingent an medizinischem Personal eines einzelnen Landes. Ca. 200 weitere Hilfskräfte sollen folgen. „Hoffen wir, dass das Beispiel Kubas hilft, die Furcht vor der Arbeit in Westafrika zu beseitigen. Vielleicht würden die Leute, wenn sie weniger Angst hätten, eher die Herausforderung annehmen und der afrikanischen Bevölkerung medizinische Hilfe leisten“, sagte Dr. José Luis Di Fabio von der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (Organización Panamericana de la Salud, OPS).
Sowohl Kubas Präsident Raúl Castro als auch Fidel Castro haben die Bereitschaft ihres Landes zur Zusammenarbeit mit den USA bei der Bekämpfung von Ebola geäußert. „Gern kooperieren wir mit dem US-amerikanischen Personal bei dieser Aufgabe – und das nicht im Bemühen um Frieden zwischen zwei Staaten, die so viele Jahre Kontrahenten gewesen sind, sondern in jedem Fall des Weltfriedens wegen, ein Ziel, das angestrebt werden kann und sollte“, schrieb der mittlerweile 88-jährige Fidel Castro in einer Kolumne, die von der kubanischen Tageszeitung Granma veröffentlicht wurde. Die USA und Kuba unterhalten seit 1961 keine diplomatischen Beziehungen mehr. In dem Artikel versicherte Castro, dass durch die Kooperation mit den Vereinigten Staaten die Ausbreitung des gefährlichen Virus in Lateinamerika verhindert werden könne. Die USA hatten Mitte September entschieden, 4.000 Soldat_innen nach Westafrika zu entsenden, die dort Krankenstationen errichten sollen. Die Vereinigten Staaten waren nach Spanien das zweite nicht-afrikanische Land, in dem Fälle einer Ansteckung mit Ebola bekannt wurden.
Castros Angebot war keineswegs das erste dieser Art. Bereits nach dem Hurricane Katrina, der 2005 New Orleans verwüstete, hatte Kuba den USA angeboten, medizinisches Personal zu schicken. Das war von der damaligen US-Regierung abgelehnt worden. Bei der Bekämpfung der Cholera-Epidemie nach dem Erdbeben in Haiti 2010 haben kubanische und US-amerikanische Teams dann zusammengearbeitet.
Nun bietet ausgerechnet die Ebola-Krise der US-Regierung einen Vorwand für einen pragmatischeren Umgang mit Kuba. Und nach anfänglichem Zögern scheint sie sich genau dazu durchgerungen zu haben. „Wir sind bereit, mit allen zu kooperieren, die in der Region arbeiten, um sicher zu gehen, dass wir auf globaler Ebene eine effiziente Antwort auf das Virus haben“, erklärte Arboleda, Zentralamerika-Direktor der US-Regierungsbehörde „Zentren zur Kontrolle und Prävention von Krankheiten“ (Centers for Disease Control and Prevention, CDC) bei seinem Auftritt in Havanna. „Die Ebola-Epidemie ist von weltweiter Dringlichkeit, daher sind wir bereit unsere Anstrengungen auf diesem Gebiet mit den kubanischen Missionen und Brigaden und der internationalen Gemeinschaft zu koordinieren“.
Kuba hat eine lange Tradition in ärztlicher und humanitärer Hilfe in Afrika und anderen Teilen der Welt. Seit den 1960er Jahren haben knapp 80.000 kubanische Mediziner_innen in 39 afrikanischen Staaten geholfen. Darüber hinaus exportiert das Land medizinische Dienstleistungen in alle Welt. Mehr als 50.000 kubanische Ärzt_innen und medizinisches Personal arbeiten derzeit in 66 Ländern weltweit, davon knapp die Hälfte in Venezuela. Im Gegenzug liefert Caracas Erdöl nach Kuba. Brasilien wiederum hat mehr als 11.000 kubanische Mediziner_nnen für sein Programm „Mais Médicos“ (Mehr Ärzte) angeworben. Im Rahmen der „Operación Milagro“ (Operation Wunder) führen kubanische Ärzte kostenlose Augenoperationen für Menschen aus Entwicklungsländern durch. Geschädigte des Reaktorunfalls in Tschernobyl werden in Kuba kostenlos behandelt.
Die WHO hat Kubas langfristig angelegtes Engagement wiederholt gelobt und die beeindruckenden Fortschritte Kubas im Gesundheitssektor seit der Revolution herausgestellt. Vor der Revolution im Jahre 1959 gab es auf Kuba kaum 6.000 Ärzt_innen, von denen die Hälfte nach dem Triumph der Revolution das Land verließ. Heute ist die medizinische Versorgung in Kuba kostenlos und die Lebenserwartung sowie die Kindersterblichkeit haben trotz aller Engpässe europäisches Niveau. Das staatliche Gesundheitswesen verfügt nach offiziellen Angaben über rund 77.000 Ärzt_innen, 15.000 Zahnärzt_innen und mehr als 88.000 Krankenpfleger_innen – und das bei einer Bevölkerung von knapp elf Millionen. Kuba gehört damit zu den fünf führenden Staaten mit der höchsten Ärzt_innen-pro-Kopf-Ratio weltweit. Zum Vergleich: In Liberia, das von Ebola am schlimmsten betroffen ist, gab es vor dem Ausbruch der Epidemie gerade einmal 51 Ärzt_innen für mehr als fünf Millionen Menschen.

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