Mit dem Freundbild war es nichts

Kaum jemand hat vor zwei Jahren nach der Wahl Bill Clintons zum Präsidenten der USA vorauszusagen gewagt, daß er in so vielen Punkten seiner Politik erfolg­reich sein würde. Die USA haben in diesen beiden Jahren ein Wirtschafts­wachstum gehabt, um die sie alle anderen Industrienationen beneidet haben. Dabei ist die Inflation gesunken, die Zahl der Arbeitslosen ziemlich rapide zurückge­gangen. Vor allem konnte Clinton durch eine Haushaltsführung des rigorosen Spa­rens das unter seinen Vor­gängern Bush und Reagan gewaltig angestiegene Defizit erheb­lich reduzieren, und das, obwohl nur die reichsten 1,2 Prozent der Bevölkerung höhere Steuern zahlen mußten. Der stän­digen Aufrüstung nach innen und nach außen wurde die Spitze ab­gebrochen; stattdessen wurde der Akzent auf natio­nale Schul­reform und Studienförderung gelegt.
Erfolge über Erfolge
Selbst wenn die von Hillary Clinton koor­dinierten Bemühungen um die geplante Gesundheitsreform nicht richtig vom Fleck ge­kommen sind, gibt es in der jün­geren Geschichte der USA kaum einen Präsidenten, der mit seinen gesetzgebe­rischen Be­mühungen gegenüber einem zwar demokratisch beherrschten, aber doch widerspenstigen Kongreß so erfolg­reich gewesen ist. Haushaltsreform, Steuerreform, Verwaltungsreform, Ver­brechensbekämpfungsgesetz, Ratifizie­rung des Nordamerikani­schen Freihan­delsabkommens und manches wichtige Gesetz mehr hat er mit äußerster Mühe und viel Hängen und Würgen eben doch durchgekriegt.
Und wer hätte schon vor zwei Jahren er­wartet, daß schwerbe­waffnete und schwerbepackte US-Marine-Infanteristen auf einer vom Imperialismus schwer ge­plagten Karibik-Insel wie Haiti von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung umjubelt werden, weil sie – auch noch ohne Invasion und den üblichen Blutzoll – einen Präsidenten ins Land und in sein Amt zurückbringen, der vorher von der CIA nach allen Kräften als gefährlicher Feind der USA diffamiert worden war? Wer hätte noch vor we­nigen Jahren pro­phezeien wollen, daß sich im Weißen Haus Aristide und Nelson Mandela und Yassir Arafat und mancher andere aus der Reihe der Weltrevolutionäre praktisch die Klinke in die Hand geben, sodaß am Ende nur noch Fidel Castro fehlt? Wer hätte dem jungen Präsidenten zugetraut, daß er die Verhandlungen über einen GATT-Kompromiß über die Runden kriegt, sich aus Somalia ohne schweren Gesichtsver­lust zurückziehen kann, mit Nordkorea und Kuba Regelungen findet, die einen Zusammenstoß vermeiden, als Friedens­garant zwischen Israel, Palästina, Jorda­nien, Syrien und sogar dem Irak auf­treten kann?
Früher galt in den USA, daß nichts so er­folgreich ist wie der Erfolg. Danach müßten Clintons Gefolgsleute die Wahlen 1994 haushoch gewonnen haben. Tat­säch­lich ist das Gegenteil einge­treten. Der Republikanischen Partei ist es gelungen, wahrheits­widrig den Zustand der Wirtschaft als fortwährende Rezession darzustellen, die der unerfahrene Präsident als unermüdlicher Steuereintreiber und Verschwender auch noch tatkräftig för­dere. Und die Massen glaubten das. Kleine Affairen, über die man bei Ronald Reagan die Achseln gezuckt hätte und die sich neben dem systematischen Betrug durch den Bankrott der Sparkassen unter Reagan oder dem Iran-Contra-Skandal von Reagan-Bush wie ein Mäusefurz aus­nehmen müßten, wurden ge­waltig aufge­bauscht und nahmen die Regierung ziem­lich in An­spruch.
Das müde Wahlvolk und die wache Grand Old Party
Erstaunlich ist nicht, daß die Kandidat­innen und Kandidaten der Republikani­schen Partei in dem schmutzigsten und eklig­sten Wahlkampf, an den man sich erinnert und in dem das Ver­sprechen möglichst häufiger Vollstreckung der To­desstrafe zu den stärksten Argumenten zählte, so oft die relative Mehrheit der Stimmen erhalten haben. Erstaunlich ist vielmehr, daß die große Masse der Leute, zu deren Gunsten die geplanten und durchgeführten Reformen sich auswirken sollten und auswirken werden, den Präsi­denten in keiner Weise unterstützt hat, son­dern sich dem Ressentiment gegen Politik im allgemeinen und gegen Kon­greß und Regierung im besonderen voll hingegeben hat und entweder gar nicht oder bewußt gegen Clinton wählte.
Die Grand Old Party (Republikaner) bringt es fertig, den Mas­sen die Zeiten ihrer Präsidenten Reagan und Bush, in denen die Steuern der Reichen gesenkt wurden und wahnsinnige Rüstungspro­jekte aus immer höheren Schulden finan­ziert wur­den, als Glanzzeiten des Imperi­ums zu verkaufen, in denen die Marine-Infanteristen der Welt noch – wie in Gre­nada oder Panama oder im Golfkrieg – klarmachten, wo der Feind steht.
Und alle sozialen Bewegungen sehen zu, nicht einmal voller Mitleid, eher hämisch. Von einer machtvollen Umweltbewegung, die den Vizepräsidenten Al Gore stützt, ist kaum etwas zu spü­ren. Die Frauenbewe­gung ist in der Abtreibungsfrage in der Defensive und identifiziert sich möglichst nicht zu sehr mit Hillary Clinton. Die Friedensbewegung scheint sich überhaupt aufgelöst zu haben. Und die internationale Solidaritätsbewegung ist ganz damit be­schäftigt, nachzuweisen, daß es sich in Haiti doch um eine Invasion mit imperia­listischen Hintergedanken handelt.
Erst wenn die führenden republikanischen Senatoren die Schlüsselstellungen im Kongreß besetzt haben und die Innen- und Außenpolitik maßgeblich mitbestimmen, wird das alte Feindbild wieder stimmen. Lateinamerika kann dabei nur verlie­ren: Ein neuer Aufrüstungs- und Verschul­dungsschub würde das internationale Zinsniveau wieder kräftig anheben und die zeitweilig fast vergessene Verschul­dungskrise der lateinameri­kanischen Län­der neu ankurbeln. Die in Kalifornien in einer Volksabstimmung angenommene sogenannte Proposition 187 zeigt, wohin die Reise im Verhältnis zu den Latinos geht, die – großenteils illegal – in den USA leben: Sie sollen benachteiligt, ausge­grenzt und vertrieben werden.
Mit Jesse Helms wird jetzt der reaktionär­ste Mann, den es überhaupt in den letzten 20 Jahren im Kongreß gegeben hat, zum einflußreichsten Außenpolitiker des Se­nats werden. Er hat nie einen Hehl daraus gemacht, daß nach seiner Meinung an­ständige US-amerikanische Soldaten Leute wie Allende oder Castro oder Aristide zum Teufel jagen sollten. Mittel­amerika und die Karibik sollen wieder wie der Hinterhof der USA be­handelt werden. Mit Leuten wie Jesse Helms wird Clinton in Zu­kunft gelegentlich einen Deal machen müssen, um andere Pro­jekte durchsetzen zu können. Dann wird er endlich entlarvt sein, werden manche denken. God bless Latin America!

Verraten und verkauft

Am 6. November versuchten etwa 100 der in Guantánamo internierten KubanerInnen die Flucht Richtung Heimat. Sie überwan­den den doppelten Stacheldrahtverhau, von dem alle Camps umgeben sind, und sprangen von den nahen Klippen ins Meer. 39 gelang es, schwimmend kubani­sches Hoheitsgebiet zu erreichen, die an­deren wurden von den Wachposten wieder eingefangen. Ob sie anschließend abge­straft, in die berüchtigten “Gefängnisse im Gefängnis” gesteckt wurden, ist nicht be­kannt. Bereits eine Woche zuvor waren 21 KubanerInnen aus der “Howard Base” in der Panamakanalzone entwichen, wo in vier Lagern ebenfalls Tausende Flücht­linge interniert sind.
Nimmt man die wiederholten Hunger­streiks von “Balseros” hinzu, ergibt sich ein Bild, das die Nachrichtenagenturen mit “wachsende Unzufriedenheit mit der Lage in den Camps” beschreiben. Die Diagnose stimmt – und doch ist die Situa­tion weit verwickelter. Schon die beiden äußerlich so ähnlichen Fluchtversuche las­sen sich keineswegs miteinander verglei­chen. Aber gehen wir etappenweise vor.
Handschellen für HaitianerInnen?
Verweilen wir zunächst noch bei den “längstgedienten” Lagerinsassen in Guantánamo: den haitianischen Boat Peo­ple, von deren Schicksal die internationale Öffentlichkeit spätestens nach der An­kunft der kubanischen Flüchtlinge kaum noch Notiz nahm. Ihre Zahl, die zeitweilig über 20.000 lag und in der Woche vor der Rückkehr von Präsident Aristide nach Port-au-Prince noch 11.700 betrug, ist mittlerweile auf unter 6.000 gesunken. State Department und Lagerbehörden er­klären übereinstimmend, die Rückführung der HaitianerInnen in die Heimat erfolge ausschließlich freiwillig.
Im scharfen Gegensatz dazu stehen Aus­sagen von Flüchtlingen selbst, denen zu­folge die US-Militärs gedroht haben sol­len, jedem Handschellen anzulegen, der nicht von sich aus an Bord der Rück­kehrer-Schiffe gehen wollte. Auch wenn ich diese Berichte bei einem Besuch vor Ort nicht überprüfen konnte: Für mich be­steht kein Zweifel daran, daß zumindest ein Teil der haitianischen Boat People lie­ber noch eine Zeitlang in Guantánamo bleiben würde, als sofort in die Heimat zu­rückzukehren, wo auf sie eine ungewisse Zukunft wartet.
Gleichbehandlung angestrebt
Von haitianischen Exilgruppen war in den letzten Monaten wiederholt der Verdacht geäußert worden, die Flüchtlinge aus Haiti müßten unter schlechteren materiellen Bedingungen leben als die KubanerInnen. Dafür konnte ich keinen Beleg finden, im Gegenteil: Die Zelte der HaitianerInnen stehen “privilegiert” auf dem Beton des McCalla-Flugfeldes, die der Kubaner­Innen auf (nicht weniger ödem) planier­tem Boden, der von Steinen übersät ist. Dort schwebt aber ständig eine riesige rötliche Staubwolke über den Lagern, die die ohnehin prekären hygienischen Bedin­gungen zusätzlich verschlimmert und zu zahlreichen Erkrankungen der oberen Atemwege geführt hat, wie Ärzte unter den “Balseros” berichten.
Zumindest die oberen Chargen in der Mi­litärhierarchie der Basis achten meinen Beobachtungen nach streng auf die Gleichbehandlung von HaitianerInnenn und KubanerInnenn. So ist die Verpfle­gung für beide Flüchtlingsgruppen gleich gut bzw. gleich schlecht (zumeist Fer­tignahrung aus Armeebeständen oder “Humanitärer Hilfe”, zumindest für die mehreren hundert Kleinkinder ungenießbar). Eintreffende Spenden werden pro­portional aufgeteilt. Davon profitieren wiederum eher die HaitianerInnen, da die (vermögende) kubanische Exilgemeinde in den USA größere Mittel für ihre inter­nierten Landsleute aufbringen kann als die (ungleich ärmere) haitianische.
Und damit zu den KubanerInnenn in Guantánamo. (Da ich mich strikt auf das beschränken will, was ich selbst gesehen bzw. gehört habe, lasse ich Panama bei­seite. Ich gehe allerdings davon aus, daß dort prinzipiell die gleichen Probleme herrschen dürften.)
Heimkehrwillige diskriminiert
Zunächst ist eine strikte Unterscheidung nötig zwischen dem Camp “November 2” einerseits und den übrigen 19 Lagern an­dererseits. In “November 2” waren Mitte Oktober 647 Flüchtlinge untergebracht, (647 von 26.471, um die Größenordnun­gen im Auge zu behalten) und zwar Män­ner, die explizit den Wunsch geäußert hatten, zu ihren Familien nach Kuba zu­rückzukehren. Ihre Diskriminierung durch die Behörden der Basis war nicht zu über­sehen. Nur um ihr Lager marschierten die Wachposten mit der MPi auf dem Rücken (überall sonst praktisch unbewaffnet) und nur hier waren bis zum Zeitpunkt meines Be­suchs weder feste Waschplätze noch Du­schen noch Telefonapparate für R-Ge­spräche in die USA installiert worden.
Die Verantwortung dafür, daß den Insas­sen von “November 2” die Heimkehr ver­wehrt wird, liegt eindeutig nicht auf Seiten der kubanischen Regierung. Sie hat allen Flüchtlingen die Rückkehr in die Heimat und sogar ihren alten Arbeitsplatz ange­boten. Mag man an letzterem auch seine Zweifel hegen: Schon allein der Sinn der Führung in Havanna für propagandistische Effekte scheint Bürgschaft genug, um jede Gefahr der Heimkehrer für Leib und Le­ben auszuschließen.
Die Chancen der Bewohner von “November 2” auf baldige Heimkehr er­hielten jedoch mit einem Gerichtsurteil vom 31. Oktober einen Dämpfer. Bundes­richter Clyde Atkins aus Miami stellte sich hinter den Antrag einer Gruppe von Anwälten um Xavier Suarez, Ex-Oberbür­germeister von Miami, um jede Rück­führung von “Balseros” nach Kuba zu verbieten. Begründung: Es könne nicht ausgeschlos­sen werden, daß die Flücht­linge zu diesem Schritt genötigt würden, was den Men­schenrechten widerspräche. (Verschiedene Indizien weisen darauf hin, daß der ein­gangs geschilderte Flucht­versuch von “November 2” ausging und eine Reaktion auf genau dieses Urteil darstellte.)
Schatten des Gipfels
Das Rückführungsverbot wurde wenig später wieder aufgehoben, ohne daß den Insassen von “November 2” eine Frist für die – wie ich bezeugen kann: von ihnen aus freien Stücken angestrebte – Heimkehr gesetzt wurde. Der Grund dafür, daß Washington sich querstellt, dürfte im be­vorstehenden “Amerika-Gipfel” zu suchen sein, zu dem Kuba als einziges Land des Kontinents nicht eingeladen wurde. Viel­mehr soll die Insel dort wegen ihrer Men­schenrechtspolitik an den Pranger gestellt werden. Herausragendes Beweisstück der Anklage: die Massenflucht vom Au­gust/September. Was könnte da den USA ungelegener kommen als die Zeugenaus­sagen ehemaliger Bootsflüchtlinge, die sich über ihre Erlebnisse unter dem Sternen­banner beschweren und gar die Rückkehr ins “Gefängnis Kuba” den spärlichen Seg­nungen der “freien Welt” in Guantánamo vorziehen?
Völlig anders als in “November 2” ist die Stimmung in den übrigen Camps. Dort ist die Bereitschaft, nach Kuba zurückzukeh­ren, gleich Null. Die Euphorische Hoff­nung, vielleicht schon morgen zu den Ver­wandten nach Miami zu gelangen, wech­selt mit tiefer Verzweiflung über die als Haft empfundene Internierung in diesem (Originalton) “Konzentrationslager”. Die “Balseros” weigern sich zu begreifen, daß sie plötzlich in den USA nicht mehr will­kommen sein sollen, nachdem doch jahr­zehntelang jeder Castro-Gegner mit offe­nen Armen aufgenommen wurde.
Kaum jemand ist bereit oder fähig, sich in die Logik der US-amerikanischen Migra­tionspolitik hineinzudenken. Die Flücht­linge fühlen sich verraten und verkauft. Sie wollen nicht wahrhaben, daß sie nicht nur von der kubanischen Regierung, son­dern selbstverständlich auch von den USA als Schachfiguren in einem größer ange­legten Spiel mißbraucht werden.
Nur Einreise wäre eine Lösung
Clintons Angebot, die Flüchtlinge sollten von Havanna aus einen Antrag auf ein Einreisevisum für die USA stellen, stößt hier auf taube Ohren. Schon die Verle­gung nach Panama, wo die Lebensbedin­gungen dem Vernehmen nach besser sein sollen als in Guantánamo, lehnen die mei­sten strikt ab. Nur die Einreise in die USA wird von den “Balseros” als Lösung ak­zeptiert. Auch ihre einhellige, durch wie­derholte Hungerstreiks untermauerte For­derung, als politische und nicht etwa als Wirtschaftsflüchtlinge anerkannt zu wer­den, zielt in diese Richtung.
Überraschende Hilfe hat diese (gegenüber den Bewohnern von “November 2” unver­gleichlich größere) Gruppe von Balseros vom bereits genannten Richter Atkins er­halten. Er stellte im erwähnten Urteil die Behauptung auf, Guantánamo sei souver­änes Gebiet der USA, auf dem US-ameri­kanische Gesetze gälten. Nun ist diese These zwar völkerrechtlich unhaltbar und widerspricht auch Artikel 3 des von den USA erzwungenen “Pachtvertrages” für Guantánamo aus dem Jahre 1903. Doch ehe ein Gericht in nächster Instanz genau dies feststellt, hat sich auch Washington an das Urteil zu halten. Daraus aber erge­ben sich unabsehbare Konsequenzen.
Wäre die Flottenbasis tatsächlich US-Ge­biet, träten sofort verschiedene Gesetze zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der Flüchtlinge in Kraft. Um beim primitiv­sten zu beginnen: Sie hätten dann An­spruch auf anwaltliche Betreuung, wo­durch sie endlich stabilen Kontakt zur ein­flußreichen kubanischen Exilgemeinde und deren Organisationen erhielten und weit effektiver als “pressure group” einge­setzt werden könnten. Zweitens dürften sie nur eine begrenzte Zeit festgehalten werden und müßten danach freigelassen werden – in die USA, versteht sich.
Doch Anspruch auf Asyl?
Drittens könnten die “Balseros” politi­sches Asyl beantragen, wenn sie mit Guantánamo bereits US-Territorium er­reicht hätten. Damit ließe sich ihre Ein­reise nur noch minimal verzögern, aber nicht mehr aufhalten. Und viertens träte der “Cuban Adjustment Act” von 1967 in Kraft. Dieses Gesetz aus dem Kalten Krieg stuft alle KubanerInnen, welche die USA erreichen, automatisch als politische Flüchtlinge ein und verschafft ihnen inner­halb kürzester Zeit Aufenthalts- und Ar­beitsgenehmigungen, ja sogar die Staatsbür­gerschaft.
Daß Atkins’ Entscheidung auch den recht­lichen Status der haitianischen Flüchtlinge grundlegend verbessern würde, sei hier nur am Rande bemerkt. Schon was die KubanerInnen betrifft, stellt jede der ge­nannten Optionen für Washington ein Horrorszenarium dar. Die Regierung will aus innenpolitischen Zwängen heraus un­bedingt vermeiden, der generalisierten Angst vor einer unkontrollierten Einwan­derung neue Nahrung zu geben. (Das Anti-Einwanderungs-Referendum in Kali­fornien am 6. November zeigt, welche Sprengkraft in dieser Frage steckt.) Und außenpolitisch hat sie kein Interesse daran, abermals Zehntausende unzufrie­dene KubanerInnen zur selbstmörderi­schen Flucht gen Norden zu ermutigen – Regimegegner, die sie viel lieber als poli­tische Manövriermasse gegen Fidel Castro auf der Insel selbst einsetzen würde.
Wie also wird die US-Regierung auf die Herausforderung durch Richter Atkins re­gieren? Und viel dringlicher als dieser “sportliche” Wettstreit: Wann wird das menschliche Leiden der Internierten ein Ende haben? Das Schicksal der von (fast) allen Seiten (fast) beliebig zu instrumen­talisierenden “Balseros” in Guantánamo ist eine Zeitbombe, die größere Aufmerk­samkeit verdient – gerade im Vorfeld des Dezember-Gipfels in Miami.

Schwarze Tränen des Bolero, ay!

Die langgezogenen Sirenen der Schiffe im Hafen hören sich an wie klagende Trompeten. Die Avenida del Puerto ist wie die Staffage eines film noir , düster und verlassen. Havanna erliegt der unge­wissen Nacht: vereinzelte Rad­fahrer ohne Licht (der Dynamo zehrt Kräfte), schnaufende Busse bulgarischen Fabrikats kommen neben dem Hotel Bruzón zum Sterben, das Neonlicht eines Tangolokals blinkt grün und rot, jineteras, die Touristenliebchen, begeben sich auf den Weg zur Marina Heming­way (“Ay, la culebra!”) oder in ihr Wohnviertel (La Víbora). Havanna wirkt wie die Ruine einer Stadt, wie die verfallene Alt­stadt von Panama City nach der Invasion der yanquis, aber mit mehr Schwüle und Schwermut. Havanna wirkt wie der Nachhall einer seuf­zenden Trompete, wie der letzte Schluck Rum oder Kaf­fee, pura ago­nía, während zu vorgerückter Stunde in den luftge­kühlten Bunkern der Stadt die Machete geschliffen wird (Raúl Ca­stro) – und die Fe­der: Roberto Fernández Retamar, stets in seinem aus der Mode ge­kommenen Anzug und zu kurz gebundener Krawatte (out ist in), be­schwört José Martí und die Zeit der Mambises. Aber die Sierra Mae­stra bringt keine Helden und große Taten mehr hervor, sondern San­tería, Bauern­markt und Boleros: Oriente, ay, yo me voy a morir… (Cheo Mar­quetti). Vorbei sind die Zeiten, als der Troubadour Sindo Garay die Bucht von Santiago de Cuba durchschwamm, um den aufstän­dischen Truppen Maceos als Bote zu dienen: Sindo Garay schüttelte die Hand von Martí und Fidel (so zu lesen bei Carmela de León/Letras Cuba­nas) und komponierte eine eigene Bayamesa. Natür­lich hinterließ Sindo Garay, coño, nicht nur Lieder, sondern auch im Alter noch zerbrochene Herzen und einige Kinder. Geblieben sind Oriente (immer wieder Oriente, aber immer anders) und die lágrimas ne­gras, die schwarzen Tränen von Matamoros: ewi­ger Seufzer des Son und der Salsa, von Matamoros, wie gesagt, er­dichtet, später inter­pretiert von Abe­lardo Barroso, Henry Fiol (der die Stimme Barrosos in Spa­nish Harlem wiederentdeckt) oder Roberto Torres. Die schwar­zen Tränen beweinen die Selbstverloren­heit nach der Be­gegnung mit der Femme fatale oder der idealen Frau, sie erzählen vom Leiden nach der Trennung, sie sind schwarz vor Kummer, vor Haß und vor Ver­zweif­lung. Die schwarzen Tränen vermischen sich mit li­cor, dem Balsam der Verlassenen, und der Un­glückliche lehnt an der Bar, voller Schmerz, im Zwiegespräch mit dem Wirt: Tabernero, sag mir, coño, was von beidem ist grausamer – der unheilvolle Schnaps oder die Unehr­lichkeit der Frau? Das ist die Lektüre des Le­bens auf “Macho” (etwa so, wie man Cortázars Le­bensbuch Rayuela lesen muß). Die schwarzen Tränen gehorchen der Logik des caballero und verach­ten das Weib, die hembra (der not­wendige Gegenpart zum Macho), aber zugleich lieben sie die Frau: Te odio, sin embargo te quiero. Schwarze Tränen sind ambivalent. Sie sind das männliche Stoff­wech­sel­produkt von Verlangen und Re­signation, von Todestrieb, feu­riger Leidenschaft und Wimmern nach Geborgenheit, vielleicht auch die Trauer um eine nicht geglückte Sado-Maso-Kiste oder, wie Sozial­wissenschaftler sagen würden, eine nicht symme­trisch gestal­tete Beziehung. So gesehen ist auch die Losung Fidels, “Sozia­lis­mus oder Tod”, eigent­lich ein Bolero mit pechschwarzen Tränen, aber mit dem Beiklang eines Kriegs- oder Notrufes und den entspre­chenden In­strumenten. Kuba, so scheint es Fidel, verkommt zur Hure, durch den Einfluß Miamis, westlicher pluriporquerías (Fidels Be­zeichnung für “Mehrparteiensystem”) und Oppositioneller im eige­nen Land. Doch schwarze Tränen gibt es in Kuba überall, denn fast je­der fühlt sich betrogen: die naiven Tou­risten von den ausge­fuchsten jineteras (“Ay, la culebra!”), die Parteimitglieder von den eigenen Losun­gen, die Gesellschaft vom Staat, die dialog­bereite gemä­ßigte Oppo­sition von Robertico Ro­baina, der die Ge­spräche seit Ma­drid nicht mehr fortgeführt hat, und Fidel, ay, von dieser Mulat­tin, die in die Hoheits­gewässer des Feindes abzudrif­ten droht. Sindo Garay hatte bei seinen Frauen noch die Oberhand, auch im Al­ter, wie ge­sagt, aber das ist hundert Jahre her. Fidel schützt sich vor Be­trug oder Emanzipation mit seinen traditionel­len Insi­gnien: Sierra-Maestra-Bart, Kampfanzug (ebenso sympathisch wie der Anzug von Retamar) und schußsichere Weste. Aber während die alten Bole­ros die Geliebte durch Text und Musik oder durch Schmalz und Un­terwürfigkeit erneut gewinnen wol­len, versucht es Fidel mit einer Drohung. Fidel nimmt in seiner Losung Socialismo o muerte nur das tragisch-dramatische Element des Bolero auf. Der Bolero dage­gen besingt trotz aller erlittenen Schmach und aller schwarzer Tränen ein starkes Gefühl der Zunei­gung, das den Sänger mit der Geliebten verbindet, auch wenn diese schon längst ver­schwunden ist, denn darin liegt die Großmut und das feeling des Kava­liers. Barbarito Diez verwandelt Aurora, diesen populären Bo­lero, in einen Danzonete, und Celina González, die Muse des guate­que campesino, singt ihn als Son. Aurora ist die Geliebte/Mor­gen­röte, die uns immer einen Schritt voraus ist, ay.
Roman Rhode

Aurora Morgenröte

Ay Aurora, me has echado al abandono, Ach, Aurora, du hast mich
in die Verbannung geworfen,
Yo que tanto y tanto te he querido, Mich, der dich so sehr geliebt hat,
Con tu negra traición me has engañado, Mit deinem schwarzen Verrat hast du mich betrogen,
En el fondo del alma me has herido. Tief in meinem Herzen hast du mich
verwundet.

Has tratado de engañar el alma mía, Du hast versucht, mein Herz zu betrügen,
Castígala gran Dios con mano fiera, Gro゚er Gott, strafe sie mit eisener Hand,
Que sufra mucho pero que no muera, Sie soll viel leiden, doch sie soll nicht
sterben,
Ay Aurora, yo te quiero todavía. Ach, Aurora, ich liebe dich noch immer.

Haiti geballt

The Haiti Files – das ist ein Sammelung aus Be­richten, Dokumenten, ver­traulichen Memos, Nieder­schriften und Reportagen. Das Gerüst für die vielen, kurzen Kapitel bilden vier Hauptteile – die Schilde­rung der Ausgangslage, die Ak­teure und die Krise nach dem Militär­putsch im Sep­tember 1991 – komplettiert durch eine Chronologie der Ereignisse.
Eine Ikone des Internationalismus führt in die Tragik des Karibikstaates ein. Noam Chomsky versucht, den roten Faden von der Conquista bis zum heutigen Tag auf­zunehmen – leider gleitet er ihm immer wieder aus den Händen. In der Tradition linker Analyse erscheint Haiti als Tum­melplatz von Kolo­ni­al­mäch­ten und den strategischen Interessen der USA. Die Be­völkerung bleibt in Chomskys Beitrag – entgegen aller Erkenntnisse der Sozialge­schichte – nur in der Rolle des Opfers. Gelungener, weil authentischer, ist ein Beitrag über den Diktator Francois “Papa Doc” Duvalier. “Unser Doc, der Du bist lebenslang im Nationalpalast, geheiligt sei Dein Name jetzt und für alle Zukunft … gib uns heute unser neues Haiti und vergib niemals die Sünden der Anti-Patrioten, die täglich auf unser Land spucken.” Keine Parodie, sondern der Schluß einer von der Diktatur vertriebenen Broschüre mit dem Titel “Katechismus der Revo­lution”.
Haiti – mehr als Militär
und Aristide
Im zweiten Teil des Buches gelingt der Versuch ein Bild von den Kräften zu zeichnen, die in den vergangenen Jahren die Politik in Haiti bestimmt haben: mächtige Familien­clans, das Militär, die haitianische Exilgemeinde in den USA, die Volksbewegungen und na­tür­lich Jean Bertrand Aristide.
In der Weltöffentlichkeit erschien die Krise Haitis seit dem Militärputsch vor drei Jahren als ein Machtkampf zwischen reaktionären Militärs und einem un­gewöhnlichen Präsidenten im Exil. Das wurde dem Einfluß der großbürgerlichen Clans auf Haiti nicht gerecht. Nicht nur, daß die Brandts, die Mevs, die Accras und einige andere den Militärputsch im Sep­tember 1991 unterstützt hatten; sie haben auch bis zur Invasion der USA durch ge­schickte Lobby-Arbeit in Washington die Rückkehr von Aristide hinter­trie­ben. Da­bei stießen sie sogar in höchste Regie­rungskreise vor. Ron Brown, Handelsmi­nister im Kabinett von Bill Clinton, wühlte lange Jahre als Lobbyist für “Baby Doc”, Sohn und Nachfolger von “Papa Doc” Duvalier, in der Machtzentrale Wa­shing­ton. Fast jede Familie hat eine solche Wühlmaus in Washington – Juri­sten, die mit vertraulichen Memos und so­genannten Hintergrund­in­formationen Ein­fluß auf die US-Administration und Kon­greßabge­ord­ne­te nehmen. Detailliert und substantiell wer­fen die Haiti Files Licht auf diese dezent und im Dunklen arbei­tenden Kräfte.
Die sauber recherchierte Information über Struk­tu­ren und Hierarchie ist auch die Stärke des Abschnitts über das haitiani­sche Militär. Gerade auf dem Land, auf dem 75 Prozent der Bevölkerung leben, hatte die Junta durch ein feingesponnenes Netz sogenannter chefs de section eine fe­ste Basis. Brutal und ohne Legitimation durch die Verfassung regierten sie im Stile kleiner Diktaturen ihre Bezirke. Die be­rüchtigten Attachés waren ihre Scher­gen, die sie durch ein ausgeklügeltes Sy­stem von Korruption und Postenschieberei an sich banden. Besonders ein Bericht des in New York ansässigen Lawyers Com­mittee for Human Rights veranschaulicht die Effizienz und Kaltschnäuzigkeit mili­tärischer Hierarchie.
Die unter den Duvalier-Diktaturen be­rüchtigten Tonton Macoutes, eine Art Pri­vatarmee der Duvaliers, waren den Mili­tärs nach dem Sturz von “Baby-Doc” ein Dorn im Auge und wurden 1987 unter der Junta von General Namphy verboten. Wenn auch nicht mehr organisiert, blieben sie das Schreckgespenst der armen Bevöl­kerung, tauchten als Attachés wieder auf und erreichten unter dem Deckmäntelchen einer neuen Partei der Rechten, der FRAPH, beinahe wieder den alten Einfluß. Der Aufbau der Haiti Files erweist sich hier als Manko, die Informationen über Militär, Tonton Macoutes und FRAPH sind reich an Details, die Querverbindun­gen werden aber nur angerissen.
Portraits der Machtlosen
Nur wenig Raum bekommt die haitiani­sche Exilgemeinde in den USA. Nahezu 1,5 Millionen HaitianerInnen leben in der Diaspora, die meisten davon in den USA. Ein erheblicher Anteil des Bruttosozial­produkts in Haiti kommt – ähnlich wie auf Kuba – aus den Geldbeuteln von Ver­wandten und FreundInnen aus den USA. Umso bedauerlicher, daß die Heraus­geber­Innen dem Phänomen der Exil­haitianerInnen nicht einmal zehn Sei­ten wid­men. Die Darstellung bleibt in der Beschreibung von Polit-Machtkämpfen zwi­schen den unterschiedlichen Strömun­gen der Exilgemeinde stecken.
Auch der nächste Block über die Volks­bewegungen Haitis kommt nicht über strukturelle Beschreibungen hinaus. La­valas, die Sturzflut, das ist die heterogene Volksbewegung die den charismatischen Aristide fast über Nacht in den Präsiden­tenpalast geschwemmt hat. Der übrigens bereits in den LN 238 veröffentlichte Ar­tikel von Marx V. Aristide und Laurie Richardson gibt zwar einen Überblick über die strukturelle Vielfalt von Lavalas, läßt die LeserInnen aber im Stich, wenn sie die Antwort auf die Frage suchen: Lebt die Lavalas-Bewegung oder existiert sie nur noch in den Diskussionspapieren der zer­strittenen Strömungen innerhalb der Bewegung?
Der Block über die Akteur­Innen schließt mit Ari­stide selbst. Die Heraus­geberInnen haben sich für die Übernahme eines im Re­portagestil gehaltenen Portraits ent­schieden – eine glückliche Wahl. Das Cha­risma und die Ausstrah­lung des Sa­le­si­a­ner­prie­sters sind im Beitrag von Amy Wilentz greifbar, gleich einem Mes­sias scheint er über allem zu schweben. Seine Stel­lung als Antipode zur Amtskir­che wird jedoch nicht the­matisiert. Hier hätte ein kleiner Ausflug in die zweifel­haften Aktivitäten der Amtskirche wäh­rend der Zeit des Militärregimes das Bild bestimmt abgerun­det.
Der Eiertanz der US-Politik
Die AkteurInnen sind vorgestellt und im dritten Teil steigen die Haiti Files in die Krise ein. Die Krise, das ist die Zeit der Militärdiktatur, das sind die verzwei­felten Versuche von Aristide, dem New­comer auf der politischen Weltbühne, nicht im diplomatischen Ränkespiel unter­zugehen, das sind die permanenten Versu­che des US-Geheimdienstes CIA, aber auch des Pentagons, Aristide als Psycho­pathen zu diffamieren. Der Block über die Metho­den, Motive und Machenschaften der USA ist informativ und sauber geglie­dert. Insbesondere der Beitrag des US-Journali­sten John Canham-Clyne verdeut­licht, wie weit die USA in ihrem Handeln von den pathetisch formulierten Absichts­er­klä­rungen zu Freiheit und Demokratie ent­fernt waren.
Die wirtschaftlichen In­teressen der USA, das Zu­sammenspiel zwischen US-ameri­kanischer Wirt­schaftspolitik und den Empfehlungen der Weltbank nimmt der nächste Part un­ter die Lupe. Hier wagen die Haiti Files, was mensch sonst oft schmerz­lich vermißt: Den Blick in die Zukunft, auf die Weichen, die unabänder­lich gestellt scheinen. Optimi­stInnen re­deten bereits vom “Taiwan der Karibik”. Doch da ist der Wunsch eindeutig Vater des Gedan­ken; Haiti ist zwar Billig­lohnland, der US-Markt nahe, aber das gilt ebenso für jedes andere karibi­sche Eiland. Warum sich ausgerechnet Haiti, das Armenhaus der westlichen Hemi­sphäre, zum Tiger der Karibik mausern sollte, bleibt ein Rätsel.
Auch wenn die unmittelbare Verknüpfung dieses Blocks mit der politischen Situa­tion während der Militär­diktatur nicht unmit­telbar einsichtig erscheint, er­schließt sich den LeserIn­nen ein differenziertes Bild von den Zwängen, mit denen auch ein Jean Bertrand Aristide konfron­tiert sein wird.
Die Haiti-Connection – Drogenhandel und Militär
Haiti ist zunehmend als Drehscheibe im internationalen Drogenhandel ins Gerede gekommen. Mehr als Vermutungen und Gerüchte sind der Öffentlichkeit dabei noch nicht untergekommen. Die Haiti Files schaffen hier Abhilfe. Nüchtern und ohne sich nur auf Verdächtigungen zu stützen, listen sie auf, was bekannt ist und was von Untersuchungsausschüssen des US-Kongresses zusammengetragen wurde – und das belegt, daß hochrangige Vertre­ter des abgedankten Militärregimes tief in den Drogenhandel verstrickt waren. Aus einem Memo des US-Justizministeriums etwa geht hervor, daß der verhaßte Poli­zeichef von Port-au-Prince, Michel Fran­çois, im Drogengeschäft mitgemischt hat. Dabei hatte der CIA wahrscheinlich indi­rekt mitgeholfen: Mitte der 80er baute der US-Geheimdienst eine Anti-Drogen-Ein­heit im haitianischen Militär auf. Jetzt steht diese Einheit im Verdacht, eine der Schaltzentralen des Drogenhandels auf Haiti gewesen zu sein.
Der letzte Block des Krisenteils rollt die Scheinheiligkeit US-amerikanischer Men­schenrechtspolitik auf. Anhand eines Memos der US-Botschaft in Port-au-Prince wird deutlich, daß den Behörden in den USA daran lag, die Menschenrechts­situation in Haiti zu verharmlosen. Die Glaubwürdigkeit selbst solch renommier­ter und anerkannter Organisationen wie amnesty international wurde angezweifelt. Das Problem waren nicht die Menschen­rechte auf Haiti, sondern die Flüchtlinge vor der Küste der USA. Der Abschnitt verdeutlicht eindrucksvoll wie je nach po­litischer Großwetterlage in den USA, die Menschenrechte in Haiti entweder als ga­rantiert oder als verletzt betrachtet wur­den.
Ein Sammelband ist ein Sam­melband ist ein…
Der vierte und letzte Teil des Buches, die Chronologie der Ereignisse, beginnt am 15. Oktober 1990, dem Tag als Aristide seine Kandidatur für das Amt des Präsi­denten bekanntgab. Die Chronologie reißt am 11. Mai 1994, dem Redaktionsschluß für die Haiti Files ab. So sei hier der Lauf der Zeit vervollständigt. Am 15. Oktober 1994, vier Jahre nach seiner Erklärung, Präsident werden zu wollen, kehrt Aristide als solcher wieder nach Haiti zurück. Schade, daß die HerausgeberInnen nicht weiter in die Vergangenheit zurückgegan­gen sind – einige Eckdaten aus der Ge­schichte Haitis wären von großem Nutzen für die LeserInnen.
Als Nachschlagewerk für Hintergrundin­formationen über die politische Entwik­klungen der letzten Jahre hat der Sammel­band eine schmerzliche Lücke geschlos­sen. Jedoch wäre ein Register eine große Hilfe gewesen, gerade weil sich den Le­serInnen darüber die Querver­bindungen zwischen den Beiträgen er­schlossen hät­ten.
Die Haiti Files: 33 AutorIn­nen, 33 Bei­träge, 33 Ansichten, Haiti geballt – we­ni­ger ist manchmal mehr.
Das Latin American Bureau hatte sich an­gesichts der Aktualität des Themas Haiti im Frühsommer ent­schieden, das Buch früher als geplant auf den Markt zu brin­gen – zu Lasten der Aufmachung. Die Bü­cher des Londoner Verlags bestechen im allgemeinen durch ein­fallsreiche Titel­montagen und sauberen, modernen Druck; nicht so die Haiti Files. James Ferguson, Au­tor mehrerer Latin America Bureau-Titel, erklärte ge­genüber den LN auf der Frankfurter Buchmesse, dies sei der Preis für die Aktualität. Dem Verkauf des Bu­ches hat sein Äußeres offenbar nicht ge­schadet. Nach Verlagsan­gabe geht der Sam­melband sehr gut.

The Haiti Files: Decoding the Crisis, hrsg. v. James Ridgeway; Essential Books, Washington D.C., 1994. Latin America Bu­reau, London, 1994. Bezug: LN-Vertrieb, Gneisenaustraße 2, 10961 Berlin. 16,80 DM

Warten auf Godot in Guantánamo

Symptomatisch ist ein Zwischenfall vom 13. August. In den Morgenstunden for­mierte sich nach Angaben von US-Mili­tärs in einem der sieben Lager ein Protest­zug. Die Stimmung sei anfangs eher ge­dämpft gewesen. Mal still, mal singend, mal Parolen rufend wuchs der Zug rasch. Andere Lager schlossen sich der Aktion an. Zu einer Eskalation sei es erst ge­kommen, als etwa 120 Flüchtlinge began­nen die Stacheldrahtrollen, die die Lager umschließen, zu überspringen, ins Meer stürzten und schwimmend versuchten, ku­banisches Territorium zu erreichen.
“Die Menschen Haitis haben die Insel aus politischen Gründen verlassen und jetzt haben wir das Gefühl, in einem Gefängnis zu leben.” So beschrieb Henry Claude Delva, der Sprecher von Camp 5, den Frust, der sich unter allen Lagerbewohner­Innen breit gemacht hatte. An diesem Punkt griffen nach Angaben des Informa­tionsdienstes “Haiti Progrès” US-Militärs ein und versuchten, eine Massenflucht von Flüchtlingen zu verhindern – angeblich unter einem Hagel von Steinen, Dosen und Zeltstangen.
Unabhängige BeobachterInnen haben starke Zweifel an dieser Version und ver­muten, daß die Flüchtlinge sich nur gegen einen massiven Einsatz der US-SoldatIn­nen wehrten. In der Vergangenheit wäre die Gewalt immer von brutal vorgehenden US-Militärs ausgegangen. In ähnlich ge­lagerten Fällen hätten die Militärs, so “Haiti Progrès”, relativ schnell Wasser­werfer und Hunde, ja sogar Panzer und Flugzeuge eingesetzt.
Am Ende eines hitzigen Tages zogen die US-Behörden Bilanz: 45 verletzte Flücht­linge und 20 verletzte SoldatInnen. Ge­rüchte sprechen von drei Lagerbewohner­Innen, die beim Fluchtversuch ertranken. 330 Flüchtlinge sollen danach in einen gesondert bewachten Abschnitt auf Guantánamo gebracht worden sein. Die Ereignisse vom 13. August sind kein Ein­zelfall. Nur vier Tage später soll es wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen gekommen sein. Und am 22. August ver­haftete die US-Militärpolizei nach eigenen Angaben über 700 LagerbewohnerInnen nach einem zunächst friedlich verlaufenen Protestmarsch gegen die Zustände in den Lagern. Alle Festgenommenen, darunter Kinder und Frauen, seien danach in unterirdische Bunker gebracht worden, in denen sie nach Angaben von “Haiti Progrès” vier Tage lang von allen anderen getrennt unter schlimmen Bedingungen eingesperrt waren.
Briefe, die aus den Lagern geschmuggelt wurden, sprechen davon, daß US-Soldaten Frauen aus den Lagern sexuell belästigt und vergewaltigt haben. Nachdem die US-Küstenwache Kleider und Schuhe der Bootsflüchtlinge zum Teil verbrannt habe, fehlt es nun selbst daran.
Politik der schleichenden Desillusionierung zeigt Wirkung
Die Politik der USA, es den Flüchtlingen so unangenehm wie möglich zu machen, zeigt erste Erfolge: In den Monaten Juli und August sind weit über 5.000 Men­schen nach Haiti zurückgekehrt – frustriert, ohne Hoffnung. “Repatriierung” ist der Technokratenterminus für das System der schleichenden Desillusionie­rung. Die Stimme von Stanley Schrager, US-Botschaftssprecher in Port-au-Prince, kennen die meisten in Haiti. In Radiosen­dungen warnt er die HaitianerInnen die Insel per Boot zu verlassen: “Die US-Küstenwache wird Dich auf dem Meer ab­fangen. Du wirst nicht in die USA ge­bracht. Sie werden Dich in ein Flücht­lingslager in einem anderen Land bringen, in dem Du sechs Monate, ein Jahr darauf warten kannst, bis die Krise zu Ende ist und Du nach Haiti zurück kannst. Mein Freund, wenn Du in Erwartung eines bes­seren Lebens aufs Meer gehst, zerstörst Du Dein Leben.”
Um in den Lagern ein Klima des Frustes zu begünstigen, scheuen sich die US-Behörden nach Angaben von “Haiti Progrès” auch nicht, Tontons-Macoutes, die Schergen des Geheimdienstes von Ex-Diktator Baby-Doc Duvalier, als Überset­zer in den Lagern anzustellen. Täglich fänden sogenannte Lagerbegehungen statt, bei denen versucht werde die Flüchtlinge zur Rückkehr nach Haiti zu bewegen.
Dort wissen mittlerweile fast alle, daß die Chancen auf Asyl in den USA minimal sind. Nur noch wenige verlassen ihre Heimat. Brachte die US-amerikanische Küstenwache im Juli noch mehr als 16.000 haitianische Flüchtlinge auf, waren es im August nicht mehr als 500. Aller­dings stieg die Zahl von Bootsflüchtlingen Ende August wieder an, aus Furcht vor den Konsequenzen einer möglichen Inva­sion der USA und alliierter karibischer Staaten.
In Haiti selbst schloß die US-Botschaft im August zwei “Abwicklungszentren” für Flüchtlinge und gab anschließend be­kannt, daß sie sich außerstande sähe, 1.000 Menschen aus Haiti auszufliegen – Flüchtlinge, denen die USA bereits offizi­ell Asyl gewährt hatte. Irgendwo auf Haiti versteckt warten sie in ständiger Angst vor dem brutalen Repressionsapparat des Mi­litärregimes immer noch auf ihre Aus­reise. Neue Berichte sprechen davon, daß sich das Militärregime in Port-au-Prince einverstanden erklärt habe, diese Men­schen in einem “regelmäßigen Rhythmus” über den Landweg in die Dominikanische Republik ausreisen zu lassen.
Kubanischer Flüchtlingsstrom verschärft Situation
Die Entscheidung der Clinton-Regierung auch die kubanischen Flüchtlinge erst einmal auf Guantánamo zu internieren, hat zusätzlich Öl ins Feuer gegossen. Die in­ternierten HaitianerInnen sind, so “Haiti Progrès”, der festen Überzeugung, daß die US-Behörden und -Militärs auf Guantá­namo ein Zweiklassensystem für Flücht­linge etablieren. Kleinigkeiten reichen, um dem neue Nahrung zu geben. Zwischen den Lagern der KubanerInnen und der HaitianerInnen gibt es nicht einmal Sicht­kontakt. Die HaitianerInnen sind sich si­cher: Flüchtlinge aus Kuba werden weit besser versorgt als sie selbst. Das Essen für die KubanerInnen sei nahrhafter, auch seien Baseball-Spielfelder angelegt wor­den. Sie selbst warteten immer noch auf ein Fußball-Feld.
Bei der haitianischen Exilgemeinde in den USA besteht kein Zweifel über den Wahr­heitsgehalt solcher Anschuldigungen. Sie tut sich schwer, angesichts einer fast übermächtig erscheinenden Lobby von Exil- KubanerInnen mit dem “Haiti-thing” nicht in Vergessenheit zu geraten. Zudem sind viele kubanische Bootsflüchtlinge weiß, die schwarzen HaitianerInnen haben da einfach die falsche Hautfarbe.
Kuba befürchtet Eskalation
Jetzt wird auch die kubanische Armee nervös. Sie befürchtet einen Gewaltaus­bruch in Guantánamo. 14.000 haitianische und 23.000 kubanische Flüchtlinge quet­schen sich in den Lagern Guantánamos, umgeben von 8.000 stationierten US-Sol­datInnen. Es bestehe die Gefahr eines gewaltsamen Massenausbruches mit To­desopfern, so ein kubanischer General – Guantánamo ist von kubanischen und US-amerikanischen Tretminen eingekreist.
Wie sich die Entscheidung der USA, jähr­lich 20.000 KubanerInnen einreisen zu lassen, auf die Lage in Guantánamo aus­wirkt, ist noch offen.
Für die haitianischen Bootsflüchtlinge ge­staltet sich die Sache schwieriger. Suri­nam erklärte sich im August bereit, 2.500 Flüchtlinge aufzunehmen – widerwillig und mißtrauisch von der eigenen Bevölke­rung beäugt.

Der Irrsinn nimmt seinen Lauf

Die Dramaturgie wiederholt sich: Der UNO-Generalsekretär Boutros Ghali un­ternimmt einen “letzten Versuch”, die Haiti-Krise auf diplomatischem Wege zu lösen. Zu diesem Zweck wird ein schwe­discher UN-Emissär auf die Insel ge­schickt, um die technischen Absprachen für ein erneutes Treffen zwischen dem OAS-Vermittler Dante Caputo und den Militärs vorzunehmen. Während dieser vergeblich auf einen Gesprächstermin mit der de-facto-Regierung wartet, strecken MG-Salven einen engen Freund Aristides, den Priester Jean Marie Vincent, vor sei­nem Ordenshaus nieder. Wer denkt bei dem Attentat auf Vincent nicht an die un­gesühnten Morde an Antoine Izméry und Guy Malary, die vor knapp einem Jahr, als die Rückkehr Aristides unmittelbar bevor­stand, unter den Augen der UNO-Beob­achter begangen wurden? Mit Vincent wurde eine weitere wichtige Stütze für den demokratischen Wiederaufbau des Landes ausgeschaltet. Der UN-Gesandte kehrte unverrichteter Dinge wieder nach New York zurück. Was soll noch alles passieren, damit dieses entwürdigende Schauspiel endlich ein Ende hat?
Da sitzt ein mit überwältigender Mehrheit gewählter Präsident, überzeugter Katholik und konsequenter Pazifist, seit Jahren in den USA – also gewissermaßen in der Höhle des Löwen – und muß mitansehen, wie dieser in aller Seelenruhe seine Kral­len wetzt, um dem haitianischen Regime einen Hieb zu versetzen. Dieses hält den US-Löwen offenbar eher für einen kläf­fenden Hund, der bekanntlich nicht beißt, und zeigt sich daher relativ unbeeindruckt von den offiziellen Verlautbarungen aus dem Weißen Haus oder dem UN-Haupt­quartier.
Mörderbuben als Hätschelkinder des Heiligen Vatis
Und dennoch, die Zeit der Junta scheint endgültig abgelaufen. Die mit päpstlichen Weihen ausgestatteten haitianischen Narko-Gorillas haben länger als genug zu erkennen gegeben, daß sie dem völlig verwüsteten, wirtschaftlich herunterge­kommenen Land auch nicht den Schim­mer einer Perspektive zu bieten vermögen. Die Militärs und ihre mittlerweile dritte zivile Marionettenregierung sind seit drei Jahren von allen offiziellen politischen und wirtschaftlichen Handelskanälen ab­geschnitten, bis auf einen, den zum Vatikan. Der Heilige Vati kann es sich immer noch leisten, intime Beziehun­gen zu weltweit kompromittierten Mör­derbuben zu pflegen, ohne daß ein Auf­schrei durch seine internationale Fan-Ge­meinde geht. Haiti ist hierfür jedoch nicht das einzige Beispiel. Zu Pinochet in Chile bestanden und bestehen ebenfalls sehr herzliche Beziehungen. Der apostolische Nuntius in Mexiko betreibt offene Hetze gegen den äußerst populären Bischof Sa­muel Ruiz und empfängt gleichzeitig zwei der meistgesuchtesten Drogenkartell-Häuptlinge, um ihnen die Absolution zu erteilen beziehungsweise diplomatischen Schutz zu gewähren.
Eine Politik des Vatikans, die weniger auf das Wohl seiner Schafe, als vielmehr auf das seiner Hirten und Oberhirten bedacht ist, hat besonders in Lateinamerika eine lange Tradition. Im Falle Haitis jedoch hat sie Formen angenommen, die jeglichen, wenn auch noch so dürftigen Rechtferti­gungsversuchen bitter Hohn sprechen. Die von Rom protegierten Militärs gehen so­gar so weit, sich die internationalen UN-Hilfsgüter – Treibstoff, Lebensmittel, Me­dikamente – unter den Nagel zu reißen, mit denen die verheerenden Auswirkun­gen des “totalen” Handelsembargos zu­mindest für einen Teil der Bevölkerung abgefedert werden sollten.
Die Schmerzgrenze für die Gottesmänner in Rom dürfte aber nun überschritten sein, da selbst vor einem geweihten Priester nicht Halt gemacht wurde. Der kaltblütige Mord an dem Ordenspriester und ehema­ligen Caritas-Repräsentanten von Cap Haitien, Jean Marie Vincent, ist ein Indiz dafür, daß die Machthaber entweder im Begriff sind, eine neue Stufe der Repres­sion zu beschreiten, oder daß sie die Kon­trolle über ihre selbstgeschaffenen Mord­werkzeuge verloren haben. Beides wiegt gleich schwer. Jegliche Beileidsgeste von Seiten des Papstes oder auch der haitiani­schen Bischofskonferenz – deren Vorsit­zender der frühere Vorgesetzte von Vin­cent im Caritas-Verband ist – wirkt eher wie eine heuchlerische Pflichtveranstal­tung denn als aufrichtig gemeinte Äuße­rung der Betroffenheit.
Nach drei Jahren Schweigen zu den Ver­brechen gegen die Menschlichkeit hat die katholische Amtskirche jeglichen Kredit beim haitianischen Volk verspielt.
Die internationalen “Freunde” haben ihren Kredit verpokert
Aber gibt es überhaupt noch irgendeine Instanz, die der Bevölkerung gegenüber kreditwürdig ist? Die UNO etwa, die als säkuläre Repräsentanz der internationalen Gläubiger-Gemeinschaft seit drei Jahren ihren unerschütterlichen Willen und ihre Entschlossenheit bekundet, mit dem Un­rechtsregime aufzuräumen und die legi­time, demokratisch gewählte Regierung Aristide wieder in ihr Recht zu setzen? Oder gar ihr kontinentaler Ableger, die OAS, die seit ihrem Bestehen nichts als Machtlosigkeit dokumentiert? Die, wenn überhaupt, nur als Feigenblatt-Organismus für nordamerikanische Interessen in Er­scheinung tritt? Die “vier Freunde” etwa – USA, Kanada, Frankreich, Venezuela – von denen die drei Letztgenannten nur so lange etwas zu sagen haben, wie sie nicht mit eigener Stimme sprechen? Niemand spricht mehr von diesem Kreis. Und was ist mit den USA, dem angeblich aller­größten Freund?
Wer traut dem unaufhörlich grinsenden US-Präsidenten Clinton noch die Fähig­keit zu, einen überzeugenden Plan anzu­bieten, um zumindest sein Gesicht zu wahren? Clinton scheint rettungslos über­fordert in seinem Amt, weiß angesichts der wachsenden Anzahl von Flüchtlingen aus Haiti und Kuba weder ein noch aus. Innenpolitisch gerät er zunehmend unter Handlungsdruck – schließlich sind bald Halbzeitwahlen in den USA.
Überhaupt scheint in Washington ein wil­des Durcheinander zu herrschen: Stel­lungnahmen verschiedener Regierungs­funktionäre widersprechen sich teilweise diametral, von dem Haiti-Sonderbeauf­tragten William Gray ist seit Wochen nichts mehr zu hören. Der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses im Reprä­sentantenhaus, der Demokrat Lee Hamil­ton, sagt, das Parlament folge den Plänen der Entsendung einer 10.000 Mann star­ken Invasionstruppe nur sehr widerwillig und skeptisch. Der republikanische Sena­tor Richard Lugar bezeichnet ein bewaff­netes Eingreifen als einen “historischen Irrtum”. – Der “historische Irrtum” kann doch allenfalls darin liegen, Mr. Lugar, daß die von US-Streitkräften ausgebilde­ten haitianischen Militärs überhaupt je­mals so viel Macht und Einfluß erhalten haben. – Vielleicht dient das ganze wortreiche Geplänkel in den Vereinigten Staaten auch nur dazu, von ganz anderen gesamtkaribischen Überlegungen – Stich­wort Kuba – abzulenken?
Aristide: kompromißbereit bis zur Selbstaufgabe?
Und wie steht es um Aristide selbst? Ist es politisch, moralisch, ethisch noch zu rechtfertigen, daß an seiner Wiedereinset­zung mit allen Mitteln festgehalten wird? Wie kann er mit den jahrelangen Demüti­gungen, den permanenten Vertrags- und Vertrauensbrüchen von so vielen Seiten zurechtkommen? Welche Spuren in seiner Seele hinterlassen die täglichen Morde an Menschen, deren einziges Verbrechen es ist, als Sympathisanten seiner Politik zu gelten? Wie wirken Zeitungsmeldungen wie jene aus jüngster Zeit, wonach Ex-Präsident Bush in Buenos Aires vor ar­gentinischen Bankern heftig gegen eine militärische Invasion zu Felde zog, mit der Begründung, der vor drei Jahren ge­stürzte Aristide sei total unzuverlässig und zu keinerlei Kompromissen bereit? Solche und ähnliche Ungeheuerlichkeiten werden ständig unwidersprochen in den Medien verbreitet, sowohl in den USA als auch anderswo.
Gleichzeitig erscheint Aristide bis zur Selbstaufgabe zu Kompromissen bereit zu sein, um seinem vom Volk erhaltenen Auftrag bis zum verfassungsmäßigen Ende seiner Amtszeit zu erfüllen. Aber entspricht seine derzeitige Rolle, außer­halb Haitis gegen die Diktatur zu prote­stieren, noch dem vom Volk erhaltenen Auftrag? Hätte Aristide nicht längst – spätestens im Dezember ’93, nach dem of­fenkundigen Scheitern des Abkommens von Governors Island – zum militanten Widerstand des Volkes gegen seine Mör­der aufrufen beziehungsweise für dessen Bewaffnung sorgen müssen? Gibt es nicht auch ein christliches Widerstandsrecht?
Vielleicht kommt es letztendlich doch zu dem unwürdigen Moment, daß Aristide auf den Flügeln einer ausländischen Mili­tärmaschine nach Port-au-Prince segelt. Selbst wenn dies geschehen sollte, wird inzwischen so viel Zeit ins Land gegangen sein, daß er es kaum mehr wiedererkennt. Die politische Klasse Haitis wird im We­sentlichen noch dieselbe sein, wogegen die Menschen aus Aristides früherem Um­feld entweder nicht mehr da sein oder mittlerweile mit großer Zurückhaltung auf seine Wiederkehr reagieren werden.
Dem politischem Projekt Lavalas sind so tiefe Wunden geschlagen worden, daß eine Neuauflage dieses basisdemokrati­schen, transparenten und gerechten Ge­sellschaftsmodells auf Jahre hin erschwert sein wird.
Das zarte Pflänzchen Hoffnung, das da vor fast vier Jahren mit der Wahl Aristides erste Wurzeln geschlagen hatte, wurde zu lange von der brutalen Dummheit der Macht und ihren militärischen Stiefeln zertreten, als daß es sich in dem ohnehin verdörrten haitianischen Boden schnell erholen könnte. Ob dies auch für seinen Ableger, die für einen historischen Mo­ment lang wiedergewonnene Würde, gilt, wird sich in den kommenden Wochen und Monaten erweisen. Zur Zeit hat es eher noch den Anschein, als modere diese in den stinkenden Pfützen von Cité Soleil vor sich hin.

Castros Erben möchten gern noch warten

Kubas führender Dissident Elizardo San­chez hat eine Ader für bildhafte Verglei­che. Das politische System in seinem Land, erläutert er in seiner Wohnung in Havannas Nobelviertel Miramar, sei auf der Person Fidel Castros wie auf einer einzigen Säule errichtet. Zur besseren An­schaulichkeit demonstriert er seine Theo­rie mit einem Schreibblock, den er auf der Spitze eines Bleistifts balanciert: “Knickt der Stift weg, stürzt alles ein.”
Gerüchte, Gerüchte
In der exilkubanischen Gemeinde in Flo­rida se­hen viele die Dinge ähnlich. Kein Wun­der, daß Miamis Medien Anfang April vor Freude völlig aus dem Häuschen waren, als der “Graubart” einige Tage nicht in der Öffentlichkeit auftauchte. “Fi­del Ca­stro liegt im Sterben!”, frohlockten sie. Doch wie schon so oft erwies sich der Wunsch als Vater des Ge­dankens: Pünkt­lich zum Treffen mit ge­mäßigten Exilku­banern (vgl. LN 238) stand der Coman­dante wieder auf der Matte, schüttelte Hände und verteilte Küßchen. Alles nur die übli­chen Gerüchte also.
Oder doch nicht? Ein paar Tage später sickerte aus – jeder Sympathie mit Miami unverdächtigen – kubanischen Regie­rungskreisen durch, “der Alte” habe zum fraglichen Zeitpunkt einen leichten Schlaganfall erlitten. Die linke Hand sei zeitweilig gelähmt gewesen; 24 Stunden hätten die Ärzte gebraucht, um den “máximo líder” wieder herzurichten. Als ein sichtlich müder Castro dann auch noch am 26. Juli auf seine zum festen Polit-Ri­tual gehörende alljährliche Rede zur Lage der Nation verzichtete und seinen Bruder Raúl, den Verteidigungsminister, ans Mi­krofon schickte, erhielt das Gerücht neue Nahrung, die biologische Uhr des Coman­dante laufe langsam, aber sicher ab.
Daß Castro wieder voll da war, als zehn Tage später in der Altstadt von Havanna Unruhen ausbrachen, mag seine Anhänger beruhigen. Dennoch – und ob Elizardo Sánchez mit seiner Bleistift-Theorie nun recht hat oder nicht – bleibt die Frage nach der physischen und psychischen Belast­barkeit des 68-jährigen von enormer Brisanz. Man erinnere sich nur an den Sommer 1989, als Erich Honecker im Krankenhaus lag und niemand in der DDR-Politbürokratie wagte, an seiner Stelle Entscheidungen zu fällen. Wie also hat sich Havanna auf den Ernstfall einge­richtet – oder genauer: Wen hat der “Comandante en Jefe” als seine(n) Erben eingesetzt?
Kronprinz Raúl
Nach der kubanischen Partei- und Staats­hierarchie ist der Fall klar: Der “Zweite Sekretär des Zentralkomitees der Kom­munistischen Partei, Erste Vizepräsident des Staats-und des Ministerrates, Minister der Revolutionären Streitkräfte, Armeege­neral Raúl Castro” (um nur seine wichtig­sten Ämter zu nennen) wurde bereits 1972 zum Kronprinzen unter seinem regieren­den Bruder ernannt. Schon aus Gründen der Pietät gegenüber dem (derzeit noch sehr lebendigen) “máximo líder” führt bei der Nachfolge kein Weg an ihm vorbei.
Für Raúl spricht weiterhin, daß er neben Juan Almeida Bosque der letzte in der unmittelbaren Parteispitze ist, der noch die Guerilla-Legende der Sierra Maestra ver­körpert. Um abermals den schwierigen Vergleich zu deutschen Verhältnissen heranzuziehen: In der DDR konnte das halbe Politbüro bis zum Schluß auf die Nachsicht vieler Untertanen bauen, die den Antifaschisten Honecker, Axen und Keßler ihren Respekt nicht versagen wollten. Einen ähnlichen Nimbus erwarb sich die gegenwärtige Führungsgeneration Kubas im Kampf gegen Batista. Auf diese Quelle politischer Legitimität dürfte auch eine “post-fidelistische” Führung nicht freiwillig verzichten.
Raúl Castro schleppt jedoch auch eine ganze Reihe von Handicaps mit sich herum. Zunächst seine mangelnde Popula­rität: Seit den Tagen in der Sierra begleitet ihn in der Bevölkerung – angeblich sehr zu Unrecht – der Ruf eines “duro”, eines ei­senharten, gefühlskalten Typs. Geradezu vernichtend für sein Image im machisti­schen Kuba wirkt ferner der in jüngster Zeit immer wieder kolportierte Verdacht, der General sei homosexuell.
Eigene Hausmacht
Obwohl Raúl fünf Jahre jünger ist als Fi­del, hat den “erst” 63-jährigen auch die Last des Alters weit stärker gezeichnet als jenen. Schon immer ein mickriges Kerl­chen neben dessen athletischer Figur, geht ihm Fidels Charisma eines Volkstribuns völlig ab. Alles in allem miserable Vor­aussetzungen, um in einem “Fidelismo ohne Fidel” die Hauptrolle zu überneh­men.
Was ihn dennoch zum ersten Anwärter auf das Erbe seines Bruders prädestiniert, ist mehr noch als die Blutsverwandtschaft seine Kontrolle über die Sicherheitskräfte. Raúl Castro ist nicht der alleinige Chef der in Angola siegreichen Armee, die in der Bevölkerung nach wie vor hohen Re­spekt genießt. Im gefürchteten Innenmini­sterium, das auch die Staatssicherheit um­faßt, sitzen ebenfalls seine Leute: Als 1989 höchste Offiziere der dortigen Ab­teilung MC (zuständig für die Beschaf­fung von Devisen sowie die Umgehung von Embargobestimmungen und insofern bedingt mit Schalcks KoKo-Imperium vergleichbar) des Drogenschmuggels überführt und drakonisch bestraft wurden, hatten die Brüder Castro die Armeespitze als “Aufräumkommando” hinüberge­schickt. Sie blieb gleich dort, die halbe Führungsetage wurde nach Hause ge­schickt, und der Stabschef der Armee, Abelardo Colomé Ibarra, stieg zum In­nenminister auf. Die uralte Konkurrenz zwischen beiden Ministerien war damit entschieden – zugunsten Raúls, der seither auch der letzte kubanische Politiker neben dem “Comandante en Jefe” ist, der über eine ernstzunehmende eigene Hausmacht verfügt.
Eins plus drei
Trotzdem ist keineswegs entschieden, daß der ewige Zweite an einem “Tag X” alle Entscheidungsbefugnisse – und damit alle Verantwortung – in seinen Händen kon­zentrieren würde, wie gegenwärtig sein Bruder. Eine (wie auch immer konstru­ierte) kollektive Führung mit Raúl als “primus inter pares” scheint zumindest für eine Übergangszeit möglich und auch ange­bracht, um das drohende gewaltige Machtvakuum halbwegs zu füllen. Vor­bilder gibt es: In der Sowjetunion setzte sich Chruschtschow nach dem Tode des Übervaters Stalin 1953 erst nach monate­langem Machtkampf durch, und auch die chinesische “Viererbande” 1976 spiegelte nicht zuletzt die Unfähigkeit der Führung wider, den dahingeschiedenen Mao durch eine(n) einzige(n) Frau oder Mann zu er­setzen.
In Havanna sind es vor allem drei Nach­wuchspolitiker, die in den letzten drei Jah­ren im Schatten Fidel Castros an Profil gewonnen haben: der für die Ökonomie zuständige Carlos Lage, Außenminister Roberto Robaina und Parlamentspräsident Ricardo Alarcón. (Vorzeitig aus dem Rennen ausgeschieden ist hingegen “el mulato” Carlos Aldana, bis Oktober 1992 ZK-Sekretär für Ideologie, zuvor als Bü­rochef von Raúl Castro dessen rechte Hand. Als erster in der Parteispitze hatte sich Aldana mit selbstbewußten Äußerun­gen den Ruf eines Reformers erworben – mehr im Ausland als auf der Insel selbst freilich; er stolperte über ein dubioses Fi­nanzgeschäft.)
Es versteht sich von selbst, daß die drei Nachrücker durch die Bank vom “Comandante en Jefe” protegiert werden. Symptomatisch scheint, daß alle drei dem Reformflügel innerhalb der KP zugerech­net werden.
Beinahe-Premier Carlos Lage
Lage, Jahrgang 1951, gilt innerhalb des Politbüros als der entschiedenste Vor­kämpfer einer wirtschaftlichen Öffnung. Von Havannas “Denkfabriken” muß er sich zwar kritisieren lassen, er beuge sich zu schnell der “politischen Logik, die zu einem sehr vorsichtigen, schrittweisen Vorgehen führt” (Julio Carranza Valdés vom Zentrum für Amerikastudien). Den­noch ist er für die reformbereiten Kräfte der wichtigste Ansprechpartner in der Partei- und Staatsführung.
Als im Rahmen der Verfassungsänderung 1992 erwogen wurde, den Posten eines Ministerpräsidenten zu schaffen, war Lage erster Anwärter auf das Amt – ein enormer Vertrauensbeweis für den Ex-Chef des Jugendverbandes UJC, auch wenn die ent­sprechende Reform (wie so viele andere) schließlich ausblieb. Im Ausland wird der “Exekutivsekretär des Ministerrates” be­reits wie die “Nummer Zwei” hinter Fidel Castro behandelt, auf der Insel selbst ist er für die meisten eine unbekannte Größe. Sein fehlendes Charisma macht ihn un­tauglich zur Gallionsfigur, doch je mehr ideologische und politische Konzessionen die katastrophale wirtschaftliche Lage von der kubanischen Führung verlangt, desto mehr gewinnt das Wort Carlos Lages an Gewicht.
PR-Experte “Robertico”
Der ehrgeizige “Robertico” Robaina, bis vor kurzem von niemandem ernstge­nommener UJC-Chef, hat sich zum allge­meinen Erstaunen mächtig gemausert. Noch vor einem Jahr stufte ihn Carlos Al­berto Montaner, Kopf der (Exil‑)”Kubanischen Demokratischen Platt­form”, als eine “Marionette Castros” ein, die “weder genug Intelligenz noch Auto­nomie hat, um selbständig irgend­etwas zu unternehmen”. Alles, was ihm Montaner seinerzeit zugestand, war eine “gewisse Cleverness in Sachen Public Relations”.
Die hat der heute 38-jährige tatsächlich: “Robertico” tritt nicht in Uniform oder Guayabera auf, sondern mit Vorliebe in Jeans und T-Shirt. Mit den martialischen Sprüchen der Alten geht er sparsamer um, hat stattdessen die UJC auf den Kurs von “Brot und Spielen” (mit wenig Brot, aber viel Tanzmusik) gebracht und so seinen Draht zu Kubas rebellischer Jugend noch nicht völlig abreißen lassen. Sein Gesel­lenstück in seiner neuen Funktion als Au­ßenminister lieferte er, als er im April 1994 den Gastgeber des bereits er­wähnten Treffens mit moderaten Exilver­tretern spielte.
Souveränität im Auftreten bewies “Robertico” auch in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise, die den Außenminister auf einer ausgedehnten Südamerikareise überraschte. Daß er im Gegensatz etwa zu Carlos Lage das Zeug zu einem Volksred­ner hat, macht ihn für die auch als “Yummies” (“Young Urban Marxists” in Anlehnung an das einstige Modewort Yuppies) bezeichnete junge Technokra­tengeneration zu einer enorm wichtigen Figur.
Unterhändler Alarcón
Der schon etwas ältere Alarcón schließ­lich mit seiner bürgerlich-humanistischen Bildung bringt aus seiner langjährigen Er­fahrung als Diplomat ein Talent mit, das in der ans Dekretieren gewöhnten Füh­rung Seltenheitswert besitzt: die Fähigkeit zum Dialog, zur Suche nach Kompromis­sen. Für die am 1. September aufgenom­menen Verhandlungen mit den USA ist er als Verhandlungsführer allererste Wahl.
Alarcón scheint auch der geeignete Mann, den kubanischen Staatsapparat zu revitali­sieren, konkret die Volksvertretungen auf den verschiedenen Ebenen. Die gegen­wärtige, in 35 Jahren Revolution gewach­sene Hyperzentralisierung der Entschei­dungsbefugnisse ist nicht länger haltbar und wird von den sich ausbreitenden Marktstrukturen längst unterwandert; die Joint Ventures haben sich ohnehin bereits ausgeklinkt. Daß auch der Westen als Preis für mehr Wirtschaftshilfe von Ha­vanna verlangt, sich parlamentarisch-de­mokratischen Strukturen anzunähern, macht Alarcóns Aufgabe nur noch dringli­cher.
Lage, Robaina, Alarcón: Diese drei Män­ner plus Raúl Castro, der vermutlich alle Hände voll damit zu tun hätte, “Ruhe und Ordnung” im Lande zu garantieren, könnten am “Tag X” entscheidenden Ein­fluß darauf gewinnen, welchen Weg Kuba nach Castro geht. Alle vier haben bei ver­schiedenen Gelegenheiten erkennen las­sen, daß die dem “chinesischen Modell” – rasche Liberalisierung der Wirtschaft ohne gleichzeitigen Übergang zu westlichen Demokratiemodellen – positiv gegenüber­stehen; aufgeschlossener jedenfalls als Fi­del Castro, der es bisher eher mit dem Lenin-Wort von “einem Schritt vor, zwei Schritten zurück” hält.
Fidel wird noch gebraucht
Dennoch darf man davon ausgehen, daß es keinen der potentiellen Erben drängt, den “Alten” loszuwerden. Dessen Gespür dafür, welche Härten man dem eigenen Volk gerade noch zumuten kann, und seine historische Autorität, mit der er viele Zweifelnde oder Widerstrebende letztlich doch noch bei der Stange hält, sind in der gegenwärtigen Krise Gold wert. “Am mei­sten Sorgen bereitet mir, was wohl passie­ren wird, wenn wir die notwendigen Ver­änderungen nicht jetzt – und zwar un­ter Fidel – vornehmen”: Diese Raúl Castro zugeschriebene Äußerung aus dem Jahre 1991 bedarf keines Kommentars.
Eine notwendige Bemerkung zum Schluß. Damit die geschilderten Szenarien mögli­cherweise Wirklichkeit werden können, muß – last not least – eine grundlegende und keineswegs gesicherte Voraussetzung erfüllt sein: Die aus der kubanischen Re­volution hervorgegangene Regierung muß die nächsten Jahre überleben. Alle oben­stehenden Erwägungen und Spekulationen gehen von der – meines Erachtens noch immer wahrscheinlichsten – Variante aus, daß der bisherige Kurs langsamer (und keine Frage: bisher oft viel zu langsamer) Reformen “von oben” noch eine ganze Weile anhält. Die derzeit möglich schei­nenden Alternativen – eine soziale Explo­sion mit nicht absehbaren, aber garantiert blutigen Folgen; eine Verhärtung zu einer orthodoxen Diktatur à la Ceaucescu; eine bedingungslose Kapitulation vor den USA – möchte ich meinen kubanischen Freun­den jedenfalls noch weniger wünschen als die Fortschreibung des status quo, den die meisten kaum noch ertragen können. Von einer friedlichen Wende zu Demokratie, Wohlstand für alle oder auch nur sozialer Gerechtigkeit will ich gerne träumen, an sie glauben kann ich nicht.

“Eine große Lähmung ist spürbar”

Hinnerk Berlekamp: An schlechten Nachrichten aus Kuba herrscht derzeit kein Mangel. Wo bleibt das Positive?
Bert Hoffmann: Wenigstens eine gute Neuigkeit habe ich mitgebracht: Zum er­sten Mal seit einer halben Ewigkeit ist der Dollarkurs auf dem Schwarzmarkt nicht im Steigen, sondern er stagniert bei 1:80 bis 1:100. Das ist zwar noch immer kata­strophal, für einen Monatslohn kann man ganze drei Dollar eintauschen, aber die Abwärtstendenz ist erstmals durchbrochen worden – ein Ergebnis der Sparprogramme und der Sanierungsmaßnahmen der Regie­rung. Nun ist fraglich, ob dieses psycho­logische Signal Bestand haben kann, wenn durch Clintons neueste Maßnahmen aus dem Ausland keine Dollars mehr überwie­sen werden dürfen und entsprechend we­niger Dollar in Kuba zirkulieren. Trotz­dem: Der stabilere Wechselkurs ist ein bemerkenswerter Erfolg…
…und gleichzeitig liefern sich am 5. Au­gust Polizei und DemonstrantInnen in Havanna die erste Straßenschlacht seit dem Sieg der Revolution. Ist die vielzi­tierte “letzte Stunde Castros” ange­brochen?
Diese letzte Stunde Fidel Castros wird immer wieder beschworen und zieht sich seit Jahren endlos hin. Die Unruhen vom 5. Ausgust und die anschließende Massen­flucht sind ganz sicher eine enorme Bela­stungsprobe für die Regierung in Havanna. Paradoxerweise haben sie aber kurzfristig eher zu einer Stabilisierung des Systems geführt.
Andererseits hat aber der 5. August die lange aufgestaute Unzufriedenheit der KubanerInnen in bisher nicht dagewese­ner Weise sichtbar gemacht. Ist er also doch eine Zäsur?
Auf jeden Fall markiert dieser Tag in Kuba politisch einen Bruch. Die Reaktio­nen auf den Aufruhr – vor allem die Mas­senflucht – haben das noch einmal unter­strichen. Außerdem gibt es mit dem 5. August jetzt zum ersten Mal ein Datum, von dem die Leute sprechen. Die “Ereignisse vom 5. August” haben sich als Begriff eingeprägt, das Datum ist in ge­wisser Weise zum Symbol geworden.
Ich habe den Eindruck, daß dieser 5. August aber auch einen Schock in der Bevölkerung hinterlassen hat, der sich in die Formel pressen läßt: Alles – aber bloß keine Gewalt, bloß kein Bürgerkrieg.
Ja, die Unruhen waren ein Schock, und die Gesellschaft verdaut daran noch. Der 5. August hat gezeigt, was viele bisher nur ahnten: daß nämlich die latenten Konflikte in Kuba durchaus sehr gewaltsam ausge­tragen werden kön­nen. Hinzu kommt, daß fast jedeR in der eigenen Familie Leute kennt, die bei einer Konfrontation wie der an jenem Freitag auf der einen und auf der anderen Seite stehen würden. Bisher fun­ktionierte wunderbar diese Taktik, daß jede Familie möglichst ihren Draht zum Schwarzmarkt hatte und auch ihren Draht in die “offiziellen Systeme” wie etwa die Partei, und beides zusammen ergab eine Art Überlebensstrategie für die Familie. Jetzt aber haben sich diese verschiedenen Ele­mente zum Teil mit Knüppeln und Steinen gegenübergestanden.
Hat der 5. August die kubanische Gesell­schaft polarisiert, hat er sie in zwei Lager gespalten?
Nein, vielmehr hat er die schon vorher vorhandene Spaltung deutlich gemacht und verfestigt. Noch ist es allerdings nicht soweit, daß sich die Menschen entschei­den müssen, auf welcher Seite sie stehen. Man geht zur Arbeit und, wenn die Mas­senorganisationen rufen, auch auf die Plaza; man wurstelt sich weiter durch. Was am 5. August kurzzeitig sichtbar wurde, ist erst einmal wieder unter der Decke des Alltags verschwunden. Statt dessen ist eine große Lähmung spür­bar.
Das Problem der Gewalt ist damit aber nicht vom Tisch.
Gerade für diejenigen, die auf mehr Tole­ranz in Kuba, auf eine wie auch immer geartete Öffnung oder Demokratisierung gesetzt haben, hat der 5. August eine er­schreckende Erkenntnis gebracht: daß nämlich die Regierung auf die Sprache der Gewalt reagiert. Die Unruhen haben schlagartig zu einer deutlichen Änderung der Politik geführt. Sie waren der Auslöser dafür, daß die Grenzen geöffnet wurden. Sie haben auch – ähnlich wie die viel ver­streuteren Ausschreitungen im August 1993 – zu einer sofortigen Aufhebung der Stromsperren zumindest im Zentrum von Havanna geführt. Wochenlang gab es ohne Unterbrechung Licht, zum erstenmal seit über einem Jahr sind wieder Fleischrationen verteilt worden. Auf den Gewaltausbruch von unten hat die Regie­rung mit der Peitsche, aber eben auch mit dem Zuckerbrot reagiert. Doch wenn man immer wieder Lektionen erhält, wie un­wahrscheinlich wenig sich auf friedlichem Wege bewegen läßt in Kuba, ist diese Lehre, daß man mit Gewalt Dinge verän­dern kann, umso schrecklicher.
Machen sich die Castro-Gegner jetzt Hoffnungen, mit neuen Gewaltaktionen könnte die Regierung zu “kippen” sein?
Ich weiß es nicht. Die meisten derer, die einen Systemwechsel wollen, verspüren wenig Lust, für dieses Ziel die Rolle des Märtyrers zu übernehmen. Viele warten auf irgend etwas, von dem sie aber nicht wissen, woher es kommen könnte und wie es aussehen sollte. So tun sie auch nichts Konkretes in irgendeiner Richtung, weil sie auch nicht wissen, was sie eigentlich tun sollten. Ich würde von einer “Eindimensionalität der Regierung” spre­chen. Gerade das aber hat das Gefühl ei­ner furchtbaren Ausweglosigkeit zur Folge, die zu der jetzt spürbaren “Rette-sich-wer-kann-Stimmung” führt. Das ist auch das Fatale an der Strategie der USA: Sie setzen einzig und allein auf das Schü­ren der Krise, darauf, daß die Situation unkontrollierbar wird, ein Volksaufstand ausbricht…
…und was tatsächlich passiert, ist zunächst eine Massenflucht.
Eine soziale Explosion ist keine Perspek­tive, die die Leute für sich akzeptieren. Niemand will die Rolle der Toten spielen. Also gehen sie lieber raus, steigen auf die Flöße. Da bleibt ein Risiko, aber wenig­stens hat man damit die Hoffnung auf einen sozialen Aufstieg.
Ich will nicht die Verzweiflung der “balseros”, der Bootsflüchtlinge, klein­reden oder mir ein Urteil über ihre Mo­tive anmaßen. Aber ist nicht eine Portion Hysterie mit im Spiel, wenn Leute, die nie auch nur versucht haben, schwim­men zu lernen, sich plötzlich in einen Autoreifen setzen und hoffen, bis Florida paddeln zu können?
Ich stimme Dir soweit zu, daß da eine Dynamik am Wirken ist, ein Sog, der dazu geführt hat, daß junge Männer zwischen 17 und 35 fast schon eine Erklärung brau­chen, warum sie zu “feige” sind, um auch zu gehen.
In Havanna?
In Havanna und auch in den kleineren Orten an der Nordküste von Mariel bis Matanzas; Ortschaften wie etwa Guanabo oder Cojímar sind schon halb “entleert”. Es geht also nicht allein um ein Phänomen der Großstadt, sondern zumindest jener Bereiche, die eine geographische Nähe zum Golfstrom haben, der die Flöße in Richtung Florida treibt.
Ich würde aber behaupten wollen, daß der von Dir beschriebene Sog im Rest des Landes entschieden schwächer ausfällt.
Dazu kann ich aus erster Hand nichts sa­gen, aber sicher ist die Lage in den Pro­vinzen weniger kraß als in und um die Hauptstadt.
Glaubst Du, daß die Fluchtwelle in ab­sehbarer Zeit abebben wird?
Die Fluchtbewegung wird tendenziell abebben, und zwar aus mehreren Grün­den. Diejenigen, die am dringendsten das Bedürfnis hatten, zu gehen, sind gegan­gen. Zweitens wird es immer schwieriger, Flöße zu bauen. Immerhin sind gegen­wärtig schon 30.000 Leute losgefahren, und so leicht ist es ja nun auch nicht auf der Insel, immer neue LKW-Schläuche zu beschaffen. Die Preise für Fahrzeuge und Zubehör sind erheblich gestiegen. Es wer­den “schwarz” Überfahrten auf Booten or­ganisiert und verkauft, aber zu Preisen von bis zu fünf- oder zehntausend Dollar. Und wer erst einmal so viel Geld hat, der braucht auch gar nicht raus aus dem Land, sondern lebt auch in Kuba schon relativ bequem in den dortigen Dollarwelten. Auch die US-Politik wird natürlich dazu beitragen, da゚ die Fluchtwelle abebbt. Die drohende Internierung auf hoher See auf­gegriffener Flüchtlinge in der US-Flotten­basis Guantánamo hat bereits etli­che ab­geschreckt.
Hinzu kommt, daß sich eine Alternative anbahnt: In New York verhandeln ge­genwärtig die USA und Kuba über eine neue jährliche Einwanderungsquote, die 20.000 oder auch mehr KubanerInnen eine Chance zur legalen Übersiedlung nach Miami geben könnte.
Ein völliges Ende des Flüchtlingsstroms ist auch mit einer großzügigeren Gewäh­rung von Einreisevisa für die USA fürs er­ste nicht zu erwarten. Es herrscht zuviel Mißtrauen, daß man überhaupt nicht an ein Visum herankommt und daß die ersten Visa an die in Guantánamo Festsitzenden gehen werden, womit die Quote schon ausgeschöpft wäre. An vielen Stellen be­gegnet man einem Gefühl von Klaustro­phobie: Wir kommen hier nicht raus.
Die Ereignisse vom 5. August haben primär dazu geführt, daß sich ein Ventil geöffnet hat; daß durch die Fluchtwelle Druck abgelassen werden konnte. Wie wird es weitergehen, wer wird profitieren können von dieser Situation: Die Refor­mer innerhalb der Führung: “Wir müs­sen endlich schnellere Veränderungen durchführen, ehe der Kessel explodiert?” Oder die Konservativen beziehungsweise Orthodoxen: “Jetzt haben wir ja gese­hen, wohin die Liberalisierung führt”?
Zunächst ist die Situation für alle Seiten bedrohlich. Personen mit recht guten Kontakten zu höheren Regierungskreisen haben mir sinngemäß gesagt: Die Krise ist in der Beziehung sehr gefährlich, daß der soziale Konsens in der Bevölkerung verlo­rengeht. Zwar redet die offizielle Rhetorik weiterhin von ein paar asozialen Elemen­ten und Kriminellen, doch es wird sehr wohl wahrgenommen, daß man es nur mit der Spitze eines Eisbergs zu tun hat. Die Unzufriedenheit hat mittlerweile auch breite Teile der Bevölkerung erfaßt, die traditionell die Revolution mitgetragen haben und es zum Teil heute noch tun, wenn auch inzwischen in gebrochener Form. Und insofern, denke ich, wird die jetzige Krise zwei Konsequenzen haben. Erstens wird die Argumentation der Re­former gestärkt, die sagen: Wir müssen zuallererst die Nahrungsmittelproduktion ankurbeln. Dazu sind Veränderungen nö­tig, zumal die Nahrungsmittelernte dieses Jahr so schlecht war wie nie zuvor.
Heißt das, die freien Bauernmärkte kommen wieder, auf denen die Einzel­bauern ihre Überschüsse zu selbstge­wählten Preisen anbieten konnten, bis Fidel Castro 1986 die Märkte höchstper­sönlich dichtmachte?
Es ist davon die Rede, daß in absehbarer Zeit eine leicht abgeänderte Form von Agrarmärkten eingeführt werden soll, auf denen dann zumindest ein Teil der Pro­dukte wieder frei gehandelt werden wird – zu Preisen, die weit über denen der sub­ventionierten Rationierungskarte, aber unter denen des Schwarzmarktes liegen dürften. Andere Maßnahmen werden fol­gen. Ich denke aber, sie werden sich alle in einem engen, von der Vorsicht diktier­ten Rahmen bewegen. Einen tatsächlich freien Bauernmarkt wird es kaum geben, der Staat wird in der Rolle des Zwischen­händlers bleiben, die Preise kontrollieren und dirigieren, Mengen festsetzen und dergleichen.
Und die zweite Konsequenz?
Zweitens wird für die Regierung neben vorsichtigen Reformschritten auch die im Zweifelsfall repressive Absicherung der Macht notwendiger, sei es über die Ko­mitees zur Verteidigung der Revolution (CDR), sei es über die “Brigaden der schnellen Antwort” oder die Staatssicher­heit, die in den letzten Wochen ständig in Alarmbereitschaft waren. Der 5. August und die folgende Massenflucht können also zu einer politischen Verhärtung und gleichzeitig zu einer wirtschaftlichen Re­formöffnung führen. Im Falle eines Falles weiß man jetzt, daß man hart reagieren muß. Aber parallel dazu wird man wohl versuchen, die Unzufriedenheit halbwegs im Zaume zu halten und die wirtschaftli­che Situation durch Reformen zu verbes­sern.
Mit welcher Politik der USA gegenüber Kuba rechnest Du für die nächsten Mo­nate?
Ich denke, die Konfrontationspolitik Washingtons, die Fortführung und Ver­schärfung der Embargobestimmungen hat eine mögliche Lösung des kubanischen Dilemmas erheblich erschwert. Trotzdem scheint mir wahrscheinlich, daß zumindest über die Auswanderungsfragen ein Ab­kommen erzielt wird.
Aber an ein Umdenken bei Clinton nach den Kongreß- und Gouverneurswahlen Anfang November, an eine plötzliche Aufhebung der Blockade glaubst auch Du nicht?
Es wird schon schwer genug sein, Clinton zur Rücknahme der von ihm auf dem Hö­hepunkt der Krise zusätzlich verhängten Maßnahmen zu bringen: das Verbot von Geldüberweisungen aus dem Ausland, die Reduzierung der Flüge zwischen Miami und Havanna. Und damit bleibt die Situa­tion verfahrener denn je. Vielleicht wird es pragmatischer zugehen nach den No­vember-Wahlen. Eine echte Tendenz zu einer Lockerung oder Aufhebung des Em­bargos würde ich zwar wünschen, ich sehe sie aber nicht. Es gibt in den USA Kräfte, die in dieser Richtung arbeiten. Ich schätze sie aber als noch nicht stark genug ein, um die jetzige Politik grundsätzlich umzustoßen.

“Wake up, Castro”

Letztes Jahr noch legte mensch hin und wie­der die fünf Kilometer zur Aula zu Fuß zurück, wenn die spärlichen Busse, wieder einmal hoffnungslos überfüllt, nicht an­halten wollten. Heute ist wenigstens das besser geworden: Die Spezialperiode zu Friedenszeiten, welche seit dem Zusam­menbruch der Handelsbeziehungen mit der ehemaligen Sowjetunion herrscht, brachte für jedeN zehnteN KubanerIn ein Fahrrad. Jorge ist einer dieser Glückli­chen. Neysi soll bald schon ebenfalls ein Fahrrad erhalten. Und mit der Wohnung, die Jorge von seiner Mutter geerbt hat – der Vater lebt seit acht Jahren in den Ver­einigten Staaten – gehören sie bestimmt zu den am besten ausgestatteten kubanischen Ehepaaren, die mensch in Havanna heute kennenlernen kann – Angehörige der Poli­tikerkaste selbstverständlich ausgenom­men.
Der Nachbarin geht es da schon schlech­ter: Sie teilt sich die halb so große Woh­nung mit ihren Eltern, ihren Geschwistern und ihren eigenen beiden kleinen Kindern. Verglichen mit denen von gegenüber geht es ihr blendend: Dort wohnen vier ganze Familien auf der gleichen Fläche. Auch die Tatsache, daß sie heute wieder mal gar nicht erst auf der Arbeit erscheinen muß – ist es der Strommangel oder sind es die fehlenden Materialien, die heute die Pro­duktion lahmlegen?- bewegt sie nicht be­sonders. Mit dem staatlichen Lohn von knapp 150 Pesos kann sie ohnehin nicht mehr viel kaufen. Die staatlichen Läden sind leer, die wenigen noch produzierten Güter werden unterschlagen und auf dem Schwarzmarkt zu weit überhöhten Preisen verkauft. Sie muß es wissen, schließlich kauft sie jeden zweiten Tag von einem Arbeiter der Industriebäckerei die glei­chen Brötchen, die dann in der Bodega an der Ecke fehlen. Mit dem selbstgemachten Käse, den der “campesino” aus der Vor­stadt ihr verkauft, belegt sie die kleinen Dinger und verkauft sie an der eigenen Haustür für 12 Pesos das Stück. Vom ei­genen Monatslohn könnte sie sich so ganze 12 1/2 Brötchen leisten….
Noch vor vier Jahren konnte mensch zum staatlich garantierten Minimum von 100 Pesos das Notwendigste erwerben. Jorge Rodriguez, Journalist aus Havanna, re­cherchiert seit vielen Jahren die Entwick­lung des Schwarzmarktes der Stadt. Ein von ihm aufgestellter Warenkorb mit neun Gütern – enthalten sind neben Grundnah­rungsmitteln nur Seife und Brennstoff – hatte sich bis Ende 1991 schon um das Siebenfache verteuert! Seither läßt sich die rasende Verteuerung kaum noch nach­vollziehen. Der Dollar steht mittlerweile auf dem Schwarzmarkt bei 120 Pesos, während er offiziell 1:1 angeboten wird. Am Dollar hängt nun jeder weitere Peso­preis. Fällt der Peso, verteuert sich jedes Gut auf der Straße. Als der Peso im Vor­feld der Maiversammlung von 100 auf 120 pro Dollar fiel, kosteten die belegten Brötchen unserer Nachbarin am selben Tag statt 10 nun 12 Pesos. Am 1. Mai verkündete Fidel dann verschiedene Re­formmaßnahmen.
Reformen als Ausweg?
Private Wirtschaftstätigkeit soll nun wie­der zugelassen werden, auch besteuert soll sie werden. Und mit den hohen Subven­tionen des kubanischen Staates geht es zu Ende. Wurde noch Ende der Achtziger der Liberalisierungskurs in Moskau verteufelt, so unternimmt Kuba heute zähneknir­schend vergleichbare Maßnahmen: Dem rapide größer werdenden Schwarzmarkt­system wird nachgegeben, weil ihm per Plan nichts entgegenzusetzen ist. Privati­sierung im großen Stil muß Kuba sich nicht erst in ein paar Jahren vom Interna­tionalen Währungsfonds vorschreiben las­sen. In Kuba privatisiert die KubanerIn selbst – will sie überleben, so bleibt ihr keine Alternative!
Neysi und Jorge haben das schnell begrif­fen. Während Jorge mit geschickten Ge­schäften die Rohstoffe auf der “bolsa negra”, Havannas Schwarzmarkt besorgt, fertigt Neysi von Hand hübsche Leder­sandalen. Da es in ganz Havanna keine im Land hergestellten Schuhe für kubani­sches Geld zu kaufen gibt, können diese dann mit reißendem Absatz für bis zu fünf offizielle Monatsgehälter losgeschlagen werden. Importierte Schuhe gibt es zwar zu horrenden Dollarpreisen in den staatli­chen Dollarläden, aber nicht jeder hat Verwandte in den USA oder das gleiche Schwarzmarktgeschick wie unsere Nach­barin oder eben Jorge und Neysi. “Luchar”, spanisch für kämpfen, nennt mensch diese Schwarzmarktbeschäftigung im heutigen Havanna. “Hacer un buen pan” beschreibt dann auch weniger die glückliche Arbeit des Bäckers, als den er­folgreichen Abschluß eines kleinen oder großen Geschäfts auf der “bolsa negra”. Die Kinder und Enkel der Revolutionäre von gestern kämpfen wieder, immer noch für das Gleiche: Ein menschenwürdiges Leben und etwas im Magen.
Trotz kriegerischer Anti-Markt-Parolen ist Kuba seit über 10 Jahren an einer Gene­ralüberholung der Planwirtschaft mit marktwirtschaftlichen Mitteln interessiert. Von Seiten des Ostblocks ist Castros ein­wandfreie und linientreue Ideologie im­mer wieder in Frage gestellt worden, von Seiten des nördlichen, imperialistischen Nachbarn bekanntlich weniger. An seiner nationalistischen Grundeinstellung, der Liebe zum kubanischen Volk, zweifelten beide Seiten jedoch nie. Mit marktorien­tierten Reformen unternimmt Kuba nun einen Rettungsversuch. Höchste Zeit, so ist mensch versucht zu sagen, denn noch sind nicht alle Errungenschaften der Re­volution verspielt, noch besitzt die Füh­rung vielleicht genug Glaubwürdigkeit, um die zweifelsfrei harten An­pas­sungs­maß­nah­men durchzuführen. Der nationale Kon­sens wird dabei auf eine harte Probe ge­stellt werden; die Kubane­rInnen sind in­des Leid gewohnt.
Harte Zukunft
“Even if Castro wakes up tomorrow as a born-again capitalist” schreibt Eliana Cardoso in “Cuba after Communism”, wird der Übergang sehr hart. Die Privati­sierung via “bolsa negra” ist bereits in vollem Gange, da konnte nicht länger auf das Aufwachen der Herren der Nomen­klatura gewartet werden. Um die Markt­wirtschaft jedoch geregelt einzuführen, müßten dringend Reformen in der richti­gen Reihenfolge implentiert werden. Die Einführung eines Steuersystems stände da durchaus im Vordergrund, gleichrangig mit der notwendigen Liberalisierung der Produktionstätigkeit.
Einige WissenschaftlerInnen räumen Kuba gute Chancen ein, bei Einführung eines marktwirtschaftlichen Systems trotz zu erwartender groß Anfangsschwierig­keiten, die Entwicklungserfolge hinüber­zuretten. Bei Aufhebung des Handelsem­bargos durch die USA und späterem NAFTA-Beitritt, so manche Wis­sen­schaft­lerInnen in den USA, könn­ten die Deviseneinnahmen Kubas inner­halb von fünf Jahren auf das fünffache, oder fast zehn Milliarden Dollar anstei­gen. Ver­glichen mit den Chancen der RGW-Bruderländer von gestern wären dies geradezu rosige Aussichten!

Wirtschaftsreformen in Kuba – Konturen einer Debatte

Der Vizedirektor des Zentrums für Ame­rikastudien in Havanna, Julio Carranza Valdés, nimmt mit seinem einführenden Beitrag vom November 1992 eine Be­standsaufnahme der Krise der kubani­schen Wirtschaft vor. Den Beginn der Krise datiert er auf Mitte der achtziger Jahre. Das Zusammenspiel von externen und internen Faktoren ließ die kubanische Wirtschaft in einen Abwärtsstrudel gera­ten, der bis dato noch nicht gebremst wer­den konnte.
Eine Verschlechterung der Wirtschaftsbe­ziehungen zum Westen, mit dem Kuba trotz der Einbindung in den Rat für gegen­seitige Wirtschaftshilfe (RGW) in den siebziger Jahren noch ca. 40 Prozent sei­nes Außenhandels abwickelte, stand dabei am Beginn dieser Entwicklung. Die Ver­schärfung der Blockade seitens der USA ist in diesem Zusammenhang nur eine von mehreren Ursachen. Besondere Erwäh­nung verdient dabei das von den USA verhängte Importverbot für mit kubani­schem Nickel hergestellte Produkte, be­sitzt Kuba doch ca. 37 Prozent der welt­weiten Nickelreserven. Auch der Fall der Ölpreise ab 1985 traf Kuba hart, denn mit dem Reexport von überschüssigem so­wjetischen Erdöl erzielte das Land in den Jahren 1983-85 40 Prozent seiner Deviseneinnahmen. Beim wichtigsten Exportpodukt Zucker waren aufgrund un­günstiger klimatischer Verhältnisse eben­falls beträchtliche Produktionsrückgänge zu verzeichnen. Diese externen Faktoren fanden in einer sinkenden internen wirt­schaftlichen Effizienz ihre unheilvolle Er­gänzung, die der Autor auf das von den sozialistischen Bruderländern übernom­mene Modell des extensiven Wachstums zurückführt.
Importabhängige Wirtschaft
Dieses Modell erfordert ein hohes Import­niveau, trieb entsprechend die Auslands­verschuldung in die Höhe und in Verbin­dung mit der 1982 ausbrechenden Ver­schuldungskrise Kuba in die Zahlungs­krise. Die Neuverhandlung der Schulden scheiterte, Konsequenz war die Einstel­lung des Schuldendienstes seitens Kuba und der Kreditvergabe seitens der Gläubi­ger. Die weitere Verlagerung der Han­delsbeziehungen in Richtung Ostblock war damit durch die Devisenknappheit vorgezeichnet und wurde 1986 von Regie­rungsseite auch offiziell proklamiert. 1987 wickelte Kuba bereits 88,5 Prozent seines Handels mit sozialistischen Staaten ab, allein 70 Prozent mit der UdSSR.
Die starke Ausrichtung auf die sozialisti­schen Länder wurde durch die nicht absehbare Entwicklung in der UdSSR und den restlichen RGW-Staaten zum Schlag ins Kontor. Kuba verlor dadurch “nicht nur einen günstigen Handelsraum, son­dern eine umfassende wirtschaftliche Ein­bindung.” Die von 8,139 Mrd. USD im Jahre 1989 auf 2,2 Mrd. USD im Jahre 1992 gesunkene Importkapazität be­schreibt das Ausmaß dieser Entwicklung.
Neuorientierung der Wirtschaftsstrategie
Die erforderliche Neuorientierung hat nach Carranza Valdés drei Aufgaben zu bewältigen: Eine Anpassung der Wirt­schaft an die neuen Bedingungen und die Eingliederung in den Weltmarkt auf neuen Grundlagen sowie eine effizienzsteigernde Reorganisierung der Wirtschaft.
Der Rückgang der Importkapazität ließ die Importe von ca. 8 Mrd. US Dollar im Jahre 1989 auf ca. 4 Mrd. US Dollar im Jahre 1991 sinken. Angesichts der im­portabhängigen Wirtschaftsstruktur war ein Einbruch der Produktion unvermeid­lich. Der kleinere Kuchen wiederum macht Einschränkungen auf der Vertei­lungsebene unumgänglich. Die soziale Versorgung ist davon ebenso betroffen wie der private Konsum und die staatli­chen Investitionen.
Eine Steigerung der Importkapazität kann angesichts der existierenden Kreditsperre nur über eine Ausweitung der Devisen­einnahmen erfolgen. Nichttraditionelle Exporte im Bereich der Pharmaindustrie und von medizinischer Ausrüstung auf mikroelektronischer Basis sowie der Aus­bau des Tourismussektors gelten als Hoff­nungsträger im Rahmen dieser Strategie. Dennoch macht Carranza deutlich, daß Kuba auch bei einer günstigen Entwick­lung zumindest mittelfristig mit einge­schränkten Importmöglichkeiten leben muß. So hält er zusätzlich eine Neuver­handlung der Auslandsverschuldung und Effizienzsteigerungen im Bereich der Produktion und des Handels für “überlebensnotwendig”.
Ausländisches Kapital
als Notlösung
Das in Kuba vorhandene Potential an in­dustrieller Infrastruktur mitsamt hochqua­lifizierten Arbeitskräften kann wegen Ka­pitalmangels, veralteter Technologie und fehlenden internationalen Absatzmärkten bisher nicht ausgeschöpft werden. Trotz der eingeräumten Risiken, die Carranza vor allem im Aufkommen einer dualen Struktur eines dynamischen, effizienten Sektors auf ausländischer Kapitalbasis ei­nerseits und eines hinterherhinkenden in­ländischen Sektors andererseits sieht, gibt es keine Alternative zur Öffnung gegen­über dem ausländischen Kapital. Als Knackpunkt für die Verbindung der Aus­landsinvestitionen mit dem internen Sek­tor und für eine integrale Wirtschafts­reform insgesamt sieht er denn auch die “Neuordnung der Wirtschaft unter einem neuen System der Wirtschaftslenkung”. Wie dieses System aussehen könnte, ver­mag der Autor allerdings nicht zu konkre­tisieren.
Über dieses neue System der Wirt­schaftslenkung schweigt sich auch Fidel Castro in seiner Rede zur Legalisierung des US-Dollars zum vierzigsten Jahrestag des Revolutionsbeginns am 26. Juli 1993 aus. Er beschreibt all die widrigen Ereig­nisse, mit denen Kuba seit 1989 konfron­tiert wurde, insbesondere den Verfall des sozialistischen Lagers, und ihre Auswir­kungen in bemerkenswerter Offenheit. Of­fen bleibt aber auch, mit welcher Strategie damit umgegangen werden soll. Die ku­banische Politik sei, so Castro, Sachzwän­gen ausgeliefert. An erster Stelle steht da­bei die Notwendigkeit, die Devisenein­nahmen massiv zu steigern. Oberstes Ziel sei es, “das Vaterland, die Revolution und die Errun­genschaften des Sozialismus zu retten.” Die Reformmaßnahmen stehen je­doch nicht in einem problem­über­grei­fen­den Gesamtkonzept. Ein solches ist schlicht nicht existent. Ob angesichts der Extrem­situation, in der sich Kuba befin­det, ein langfristiges Konzept im Moment imple­mentiert werden könnte, steht indes­sen auf einem anderen Blatt. Wie die Sonderperi­ode in Friedenszeiten jedoch ein Ende fin­den soll, ohne daß ein Ge­samtkonzept in­klusive eines neuen Sy­stems zur Wirt­schaftslenkung entwickelt wird, darauf bleibt auch Castro die Ant­wort schuldig.
“Sommer der Reform”
Die Freigabe des Dollars leitete einen “Sommer der Reform” ein, der im Mittel­punkt des Beitrags des renommierten Kuba-Kenners Carmelo Mesa-Lago von der Universität Pittsburgh steht. Neben der Legalisierung des Devisenbesitzes wurde selbständige Arbeit auf eigene Rechnung grundsätzlich erlaubt. Dazu berechtigt sind Staatsangestellte in ihrer Freizeit, ar­beitslos gewordene ArbeiterInnen aus Staatsbetrieben sowie RentnerInnen, Be­hinderte und Hausfrauen. Nicht nur der Personenkreis, sondern auch die Tätig­keiten sind eingeschränkt. Der Dienstlei­stungsbereich überwiegt bei den 117 zu selbständiger Arbeit zugelassenen Beru­fen. Mesa-Lago sieht darin eine Legalisie­rung von Tätigkeiten, die ohnehin aus­geübt wurden und werden, ob nun mit oder ohne Billigung des Staates. Bei einer geschätzten Zahl von inzwischen 1,5 bis 2 Millionen mit oder ohne Registrierung auf eigene Rechnung arbeitenden Personen scheint eine Überwachung kaum durch­führbar. So bleibt für viele die Versu­chung groß, sich nicht registrieren zu las­sen. Zum einen büßen Arbeitslose bei Re­gistrierung einen Teil ihrer staatlichen Zuwendungen ein, zum anderen könnte eine Registrierung bei einer veränderten Politik die Enteignung nach sich ziehen.
Mit einer seit September 1993 diskutierten Landwirtschaftsreform werden drei Ziele verfolgt: Die obligatorische Ef­fi­zienz­stei­ge­rung, eine Schaffung von Arbeitsanrei­zen, um mit geringstmögli­chem Ressour­ceneinsatz einen Produkti­onszuwachs zu erzielen sowie die Selbst­finanzierung und Selbstversorgung der landwirtschaftlichen Produktionseinhei­ten. Die Reform soll zwei Ebenen betref­fen. Zum einen geht es um die Umwand­lung der staatlichen Be­triebe in Genossen­schaften. Diese bleiben dabei unter Kontrolle des Staates und müssen ihre Über­schüsse zu staatlich be­stimmten Konditio­nen an denselbigen veräußern. Die zweite Ebene betrifft bis­her ungenutzte Kleinflä­chen. Sie können künftig an RentnerInnen oder “Personen, die aus gerechtfertigten Gründen nicht in der Lage sind, in der Landwirtschaft zu arbeiten” zum Zwecke der Selbstversor­gung vergeben werden. Wer unter die zweite Kategorie fällt, ist nicht klar, Mesa-Lago vermutet Staatsan­gestellte im Nichtagrarsektor.
Der Versuch der kubanischen Führung, mit marktorientierten Veränderungen die Errungenschaften des Sozialismus zu ret­ten, ohne die Marktwirtschaft einführen zu wollen, hält Mesa-Lago indessen für zum Scheitern verurteilt. Er begründet dies mit dem fortgesetzten Verfall der kubanischen Wirtschaft trotz bisher eingeführter Re­formmaßnahmen und mit ihren negativen Folgen für die Regie­rung, beispielsweise der wachsenden Un­gleichheit in der Be­völkerung und der zu­nehmendem Bedeu­tung des informellen Sektors. An der Marktwirtschaft führt laut Mesa-Lago kein Weg vorbei – nur ob der Übergang weiterhin friedlich oder gewalt­sam bis hin zum Bürgerkrieg verläuft, hält er für of­fen.
Joint-Ventures
als Hoffnungsträger
Joint-Ventures wird im Rahmen der aktu­ellen wirtschaftspolitischen Maßnahmen ein großer Stellenwert eingeräumt. Zwei AutorInnen beschäftigen sich mit dieser Thematik, so zunächst Robert Lessmann von der Universtät Wien. Aufgrund der Unklarheit, welche Kooperationsformen unter den Begriff Joint-Venture gefaßt werden, bezieht er sich vorwiegend auf Unternehmen mit ausländischer Kapital­beteiligung, die sogenannten empresas mixtas. Diese Mischunternehmen führen ihre Transaktionen ausschließlich in frei konvertierbarer Währung durch. Da somit auch die Ausgaben in frei konvertierbarer Währung anfallen, macht eine Produktion für den Binnenmarkt wenig Sinn. So pro­duzieren die meisten denn auch für den Exportsektor oder für den Dollarsektor des Binnenmarktes. Steuerrechtliche und ar­beitsrechtliche Sonderkonditionen räumen den Mischunternehmen nach Lessmann selbst im internationalen Vergleich her­vorragende Bedingungen ein. Die meisten Joint-Ventures befinden sich im hand­werklichen und kleinindustriellen Bereich. Von größerer Bedeutung sind jedoch die Joint-Ventures im Bereich der Grundstoff­industrie und des Tourismus. Bei ersterer sind Joint-Ventures vor allem bei der Su­che nach Erdölvorkommen und der Mo­dernisierung der Nickelindustrie gefragt. Auch ist angedacht, im Tausch gegen Rohöl Mexiko und Kolumbien die Nut­zung von überschüssigen Raffineriekapa­zitäten in Kuba anzubieten. Am erfolg­reichsten und dynamischsten verlief die Entwicklung bisher im Tourismussektor. 20 Joint-Ventures trugen dazu bei, dßaß der Tou­rismussektor zur zweitgrößten Devisen­quelle heranwuchs. Da die Joint-Ventures erst in den neunziger Jahren ver­stärkt auftauchten, hält der Autor eine Er­folgsprognose für verfrüht, sieht in ihnen aber einen potentiell wichtigen Beitrag zur Dynamisierung der Volkswirtschaft.
Gesellschaftliche Auswirkungen von Joint-Ventures
Die sozialen Folgen der Joint-Ventures thematisiert Gillian Gunndie (Professorin an der Georgetown-University) anhand mehrerer Fallstudien und Interviews. Die Interviews mit kubanischen Parteiführern, einschließlich Fidel Castros, machen deutlich, daß die kubanische Führung sich der Problematik der Folgen steigender Auslandsinvestitionen bewußt ist. Den­noch gibt es laut Castro “keine andere Wahl, als (…) die Verbindung mit jenen ausländischen Unternehmen zu suchen, die Kapital, Technologie und Märkte an­bieten können.” Die Konsequenzen blei­ben laut Castro spekulativ.
Die Fallstudien spielen mit der Ausnahme der “Curaçao Drydock Company” (CDM)-Werft in Havanna im Tourismusbereich. Positiven Effekten wie steigenden Devi­seneinnahmen und der Schaffung von Ar­beitsplätzen stehen eine Aushöhlung des kubanischen Gleichheitsethos durch das Entstehen einer neuen ArbeiterInnenelite und das Aufkommen von nationalistischen Ressentiments wegen des Zugangsverbots zu Joint-Venture Hotels gegenüber. Das zum September 1992 gezogenen Fazit der Autorin fällt knapp positiv aus: “Untergraben ausländische Investitionen das kubanische System? Noch nicht.”
Kubas Transition
Die Öffnung und Reform (apertura) der kubanischen Wirtschaft analysieren Pedro Monreal und Manuel Rúa del Llano, Mit­arbeiter des Zentrums für Amerikastudien in Havanna. Die institutionellen Verände­rungen in Kuba stehen im Zentrum ihrer Überlegungen. Diese Veränderungen könnten aus sich heraus den derzeitigen Dualismus im kubanischen Wirtschafts­system mit dem “System der Wirtschafts­lenkung und Planung” einerseits und der Marktorientierung im Außenhandel, beim Tourismus und hinsichtlich der Auslands­investitionen andererseits, überwinden.
Zwei Variablen weisen sie eine Schlüssel­rolle zu. Neben Wachstum und Export­diversifizierung wird der Erschließung neuer, externer Finanzierungsquellen Prio­rität eingeräumt. Die institutionellen Transformationen innerhalb der Wirt­schaftsreform verlaufen zweigleisig. Unter die organisatorischen Transformationen fallen Veränderungen in der Form und der Funktionsweise der Wirtschaftsakteure sowie Änderungen in der staatlichen Struktur. Damit ist die Gründung von Ak­tiengesellschaften ebenso gemeint, wie der Aufbau einer Infrastruktur für Handel und Finanzgewerbe, Preisreformen oder der wachsende Einfluß von Nicht-Regie­rungs-Organisationen. Die normativen Transformationen umfassen die Verände­rungen in der Gesetzgebung und in den administrativen Normen. Die Verfas­sungsreform vom Juli 1992 und zahlreiche Gesetzesdekrete, Resolutionen und ergän­zende Regelungen sind Beispiele hierfür. Mit der erwähnten Verfassungsreform se­hen die Autoren den Beginn einer neuen Phase bei den normativen Transformatio­nen, denn erstmals wurde die Öffnung über den Exportsektor hinaus auf den Binnensektor ausgeweitet. Neue Konzepte in den Bereichen des Eigentums und sei­ner Übertragung und bei der Rolle des Staates in der Wirtschaftsplanung und -ausführung sind beispielgebend. Die Le­galisierung des Devisenbesitzes ein Jahr später stellt einen weiteren Schritt dar. Aus den bisherigen Erfahrungen mit der apertura ziehen sie überraschend optimi­stische Schlußfolgerungen. Die Notwen­digkeit einer umfassenden Wirtschafts­reform bleibt unbestritten, aber durch die apertura seien günstigere politische Vor­aussetzungen für diese geschaffen wor­den: “Zum einen das notwendige Ver­trauen der politischen Entscheidungsträger in ihre Fähigkeit, einen Prozeß institutio­neller Reformen durchführen und unter Kontrolle halten zu können – und zum an­deren die Idee, daß die Konzentration der politischen Macht einhergehen kann mit marktorientierten Wirtschaftsreformen.”
Dieser Optimismus fehlt bei den kulturel­len Einschüben indes völlig. Das Gedicht eines anonymen Autors, Liedtexte der beiden populären Sänger Carlos Varela und Pedro Luis Ferrer haben ebenfalls die ökonomische Situation zum Thema. Drastisch werden darin die Auswirkungen der Krise auf die soziale und moralische Substanz der Gesellschaft geschildert. Sie sind auch nicht als Auflockerung gedacht, sondern sollen als Beispiele ge­sellschaftliche Gegenreaktionen anschau­lich machen. Der letzte Song “Hay mucha gente huyendo” (Es gibt viele Leute, die fliehen) von Pedro Luis Ferrer verleiht dem Band zusätzliche Aktualität. Eine Aktualität, die mit einem bis Mai 1994 reichenden Informationsstand für ein Buch ohnehin schon bemerkenswert ist.

Jenseits des Staates?

Im Editorial weist Albrecht Koschützke darauf hin, daß die Autonomie der latein­amerikanischen Staaten (politisch und ökonomisch) seit jeher begrenzt war, die “Durchsetzung des neoliberalen Paradig­mas (…) jedoch eine extreme Form von außen induzierter Transformation der na­tionalen Gesellschaften mit einer offenbar weiterreichenden Eingriffstiefe” darstellt. Bietet der neoliberale Staat neue Frei­räume für die multinationalen Kapitale, ist seine nationale Autonomie nach dem Um­bauprozeß der achtziger Jahre noch stär­ker reduziert. Auch die Binnenreichweite des lateinamerikanischen Staates war tra­ditionell begrenzt. Er garantierte zumeist weder ein fächendeckendes Bildungs- und Gesundheitssystem, noch kümmerte er sich beispielsweise um die indianische Bevölkerung und die verarmten Massen.
Der Unterschied zu früher liegt darin, “daß die strukturellen Schwächen des Staates nunmehr zu Tugenden erklärt werden, daß die Vernachlässigung seiner sozialen Funktionen nicht mehr vorwerf­bar, sondern lobenswert, weil freiheits­stiftend ist, daß nur rudimentäre staatliche Dienstleistungsangebote statt als Defizit jetzt zum Ziel deklariert werden, kurz, be­stehende Not wird in eine Chance zur Entwicklung umgelogen. Praktisch heißt das: Der immer schon miserable Staat wird noch miserabler; er liquidiert Hoff­nung, Erwartungen, Rechte und Ansprü­che auf Zukunft und Entwicklung gerade für jene, deren eigene materielle Kraft schon bisher nicht ausgereicht hat, indivi­duell Armut, soziale Ungerechtigkeit und Unterentwicklung erfolgreich anzugehen und die jetzt auf die Chancen des Wett­bewerbs und des Marktes reduziert werden.”
Die negativen Auswirkungen der Privati­sierung staatlicher Funktionen beschreibt Thomas Fatheuer in seiner Analyse der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro: Ganze Stadtviertel werden von Drogen­banden, Glücksspielkartellen und Todes­schwadronen kontrolliert. Das Problem ist hierbei, wie so oft, jedoch weniger die Aufgabe des staatlichen Gewaltmonopols – die Polizei wird von den BewohnerInnen der Favelas eher als Bedrohung denn als Schutz gesehen und ist zudem mit den Strukturen privater Gewalt “symbiotisch verwachsen” -, sondern ganz allgemein die Macht der Gewalt über die Gesell­schaft. Auch jenseits des Gewaltmonopols werden die staatlichen Aufgaben wie Bil­dungs- und Gesundheitssystem zuneh­mend privatisiert und von Drogen- und Glücksspielbossen übernommen. In der tiefgreifenden sozialen Krise bilden sich laut Fatheuer “neue Formen einer sich barbarisierenden gesellschaftlichen Ver­mittlung, die vielleicht, und das ist das Bestürzende, gar nicht so schlecht funk­tionieren.” Vor allem aber wirken sie sy­stemstabilisierend, begünstigen “autoritäre und faschistische Antworten” und er­schweren den Aufbau basisorientierter Alternativen innerhalb der Favelas.
Daß der Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung und der Abbau der staatlichen Regulierungsfunktionen auch Chancen bietet und die politische Organisierung der Betroffenen fördern kann, zeigt Juliana Ströbele-Gregor an­hand des Hoch- und Tieflands Boliviens. Der (Wieder-)Aufbau basisorientierter Entscheidungsstrukturen und Organisatio­nen der indianischen Landbevölkerung in den achtziger Jahren resultierte aus der Notwendigkeit, der Austeritätspolitik der bolivianischen Regierungen zu begegnen, wurde aber auch durch die neuen Frei­räume erleichtert, die der Rückzug von “Stiefvater Staat” schuf. Der unabhängige Organisierungsprozeß beförderte gleich­zeitig ein neues Selbstbewußtsein und die Besinnung auf die eigenständige kulturelle Identität und Tradition der indianischen Bevölkerung. Zwei Faktoren spielten in diesem Prozeß eine bedeutsame Rolle: die Führungspersönlichkeiten und die Nicht­regierungsorganisationen (NGOs). Hatten erstere als “soziale Grenzgänger” eine wichtige Funktion als “Mittler von Ideen, Werten, politischen Vorstellungen und Kontakten” nutzten die Basisorganisatio­nen die NGOs insbesondere zur Finanzie­rung notwendiger Projekte und Hilfsmaßnahmen. Dabei erwies sich die massive Ausbreitung der NGOs nicht nur als posi­tiv: mit der Macht des Geldes korrum­pierten sie Führungspersönlichkeiten und zerstörten gewachsene Dorfstrukturen.
Diese Ambivalenz der NGOs in ganz La­teinamerika diskutiert Albrecht Koschützke in seinem Artikel über “Die Lösung auf der Suche nach dem Problem: NGOs diesseits und jenseits des Staates”. Waren diese in den Jahren der Diktatur in vielen lateinamerikansichen Ländern oft dem antidiktatorialen Kampf verpflichtet und nicht selten ein Refugium für Oppo­sitionelle, veränderten sie sich mit dem Redemokratisierungsprozeß der frühen achtziger Jahre und übernahmen oft die Aufgaben, die der neoliberale Staat nicht mehr zu erfüllen bereit war – während der Staat “immer weniger Staat wird und sich qua Privatisierung schrittweise auf reine Vermittlerfunktionen reduziert, also ten­denziell einer NGO ähnlich wird”. Ohne die Bedeutung der NGOs, die seit den achtziger Jahren einen riesigen Boom er­leben, in vielen Teilbereichen in Frage zu stellen, kritisiert Koschützke die verbrei­tete Meinung, daß diese per se effizient, kostengünstig, uneigennützig, demokra­tisch und basisnah seien. In der Realität bilden sich durch den expandierenden Hil­femarkt vielmehr neue Abhängigkeiten. Zudem bestehe die Gefahr, daß die NGOs, statt demokratisches Bewußtsein, Erfah­rung und Organisierung zu fördern, in der Praxis insitutionelle und soziale Prozesse demokratischer Teilhabe untergraben.
Aus einer ganz anderen Perspektive unter­sucht Lothar Witte den Privatisierungs­prozeß der letzten Jahre: Anhand der Re­form der Sozialversicherung in Chile, Peru und Kolumbien macht Witte deut­lich, daß die Ausformung der notwendi­gen Veränderungen in hohem Maße von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhängt. Das “chilenische Modell”, das während der Diktatur realisiert wurde, trägt vor allem den Interessen des Privat­kapitals Rechnung. Die kolumbianische Reform berücksichtigt zumindest zum Teil auch die sozialen Interessen der ein­kommensschwachen Versicherten. Vor allem aber zeigt Witte – dem das Ver­dienst gebührt, ein so trockenes Thema wie eine Versicherungsreform anregend und anschaulich dargestellt zu haben -, daß weder ein staatliches System automa­tisch sozial gerechter, noch ein privates effizienter ist.
Hans Petter Buvollen und Robert Große zeichnen den schwierigen und wider­sprüchlichen Autonomieprozeß an der ni­caraguanischen Atlantikküste nach. Histo­risch von der Zentralregierung in Mana­gua kaum beachtet, begann erst die sandi­nistische Regierung Anfang der achtziger mit dem verstärkten Aufbau staatlicher In­stitutionen und Entwicklungsprogramme – und machte vieles falsch. Nachdem sich insbesondere die Miskito dem bewaffne­ten Widerstand gegen die Revolutionsre­gierung angeschlossen hatten, initiierte die FSLN einen Verhandlungsprozeß, der 1987 in die Verabschiedung eines Auto­nomiegesetzes mündete. Der Widerspruch zwischen den wirtschaftlichen und politi­schen Interessen der Zentralregierung und den BewohnerInnen der Atlantikküste, zwischen Staat und Gesellschaft, wurde allerdings bis heute nicht gelöst. Die At­lantikküste ist noch immer “Spielball von Kräften, die außerhalb der Region liegen”.
Den Schwerpunkt des Jahrbuchs be­schließt eine – bereits in den Lateiname­rika Nachrichten Nr. 241/242 vorabge­druckte – sehr persönliche Einschätzung von Ingrid Kummels über die Gleichzei­tigkeit von Sozialismus, Kapitalismus und Santería für die Menschen in Kuba. In Ge­sprächen mit FreundInnen und Familien­mitgliedern hat Kummels festgestellt, wie in den letzten Jahren der ökonomischen Krise die Santería für die Menschen zu ei­nem wichtigen Bezugspunkt ihrer All­tagskultur “jenseits des sozialistischen Staates” wurde. Auch die Regierung hat ihre rigide Haltung gegen diese Volksreli­gion in den achtziger Jahren gelockert: “Ihre Strategie war, die Musik und die Rituale der Santería durch ihre Folklori­sierung für den Tourismus zu nutzen und zugleich deren religiöse Bedeutungen auszuhöhlen.” Doch die AnhängerInnen der Santería entzogen sich auf ihre eigene Art dieser Funktionalisierung.
Insgesamt bietet der Schwerpunkt des diesjährigen Jahrbuchs einen interessanten Einblick in die Prozesse, die jenseits des (neoliberalen) Staates vor sich gehen. Er­freulicherweise werden nicht nur die ne­gativen Auswirkungen der neoliberalen Restrukturierung analysiert, sondern auch die Chancen berücksichtigt, die der Rück­zug des Staates bietet. Dies hätte aller­dings noch vertieft werden müssen: Wie in dem Beitrag von Juliana Ströbele-Gregor über die Bauernorganisationen in Bolivien deutlich wurde, sind die sozialen Bewegungen entscheidende Akteure, um der neoliberalen Transformation Wider­stand entgegenzusetzen. Auf sie wird al­lerdings kaum eingegangen. Hier hätte sich – ähnlich dem Beitrag über die NGOs – ein Überblick über die sozialen Bewe­gungen in Lateinamerika angeboten.
Abgerundet wird das Jahrbuch wie in je­dem Jahr durch Länderberichte: Diesmal über Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, El Salvador, Gua­temala, Kuba, Mexiko und Peru. Wer keine brandaktuellen Informationen er­wartet – Redaktionsschluß war bereits im April -, wird auch diese Berichte mit Ge­winn lesen.

Jenseits des Staates?. Lateinamerika – Analysen und Berichte 18, hrsg. von Dietmar Dirmoser u.a., Horlemann Verlag (Bad Honnef), 278 Sei­ten, 29,80 DM, ISBN 3-89502-008-7

Editorial Ausgabe 243/244 – September/Oktober 1994

Haitianische und kubanische Flüchtlinge streiten um den Platz in den Zeltstädten des US-Marinestützpunktes Guantánamo, jenes ehernen Monuments offen imperiali­stischer Zeiten der US-Politik. Kuba und Haiti, zwei Länder, zwei Krisen. Und an beiden sind die USA beteiligt, sowohl heute als auch an ihrer Entstehungsge­schichte.
Das Militär, das bis heute eine demokrati­sche Entwicklung Haitis verhindert, wurde – wie auch in so vielen mittelameri­kanischen Staaten – unter der Ägide der USA aufgebaut. Kubas Revolution kam an die Macht, weil der von den USA unter­stützte Diktator Batista für die Bevölke­rung unerträglich geworden war. Die ur­alte Monroe-Doktrin, nach der außerame­rikanische Mächte keinen Einfluß auf die Hemisphäre ausüben dürfen, setzte sich in den Zeiten der Systemkonfrontation fort, noch dazu ideologisch auf­geladen durch einen fanatischen Anti­kom­munismus. Linke Regie­rung = sow­je­tischer Einfluß, das wurde zur Self-Fulfilling-Prophecy und im nä­chsten Schritt zur Rechtfertigung der Counterinsurgency-Doktrin.
Von außerhemisphärischem Einfluß kann heute keine Rede mehr sein, ebensowenig wie vom weltweiten Kampf gegen den Kommunismus. Hat sich damit die ideolo­gische Grundlage der US-Lateinamerika­politik verändert? Sollten andere Werte heute im Vordergrund stehen, vielleicht gar Menschenrechte und Demokratie, die bislang so offenkundigen Worthülsen, um den Hegemonieanspruch der USA zu be­mänteln?
Wenig spricht dafür. Die US-Politik scheint nur an einem interessiert: Ruhe im Hinterhof – will heißen, keine Aufstände und keine Flüchtlingsbewegungen – und freie Bahn für die eigenen wirt­schaftlichen Interessen. In weiten Teilen des Kontinents scheint es gelungen zu sein: Von Chile bis Mittelamerika herrscht relative Stabilität, und das neoli­berale Modell steht alternativlos da.
Bleiben Kuba und Haiti, die politischen Altlasten von Jahrzehnten US-amerikani­scher Lateinamerikapolitik, für die in Washington hilflos nach Entsorgungskon­zepten gesucht wird. Nur, eben diese feh­len. In Haiti laviert Clinton zwischen Nichtstun und Invasionsdrohungen und verschleppt damit die Krise immer mehr. Das Thema Kuba läßt währenddessen in den USA anachronistische ideologische Reflexe wiederauferstehen. Die Folge: In fataler Wechselwirkung mit der Unbe­weglichkeit des Castro-Regimes wird die Krise durch das Embargo und dessen Ver­schärfung noch geschürt.
Je länger sich die Krisen hinziehen, umso mehr wer­den in beiden Ländern nicht nur Volkswirtschaften, son­dern ganze Gesellschaften zerstört. Wo soziale Strukturen immer brüchiger werden, wo keine Perspektiven mehr sichtbar sind, sondern Angst vor Chaos oder, wie in Haiti, vor brutalem Terror herrscht, den­ken auch die, die gerne bleiben würden, an Flucht. Die US-Politik steckt in einem Dilemma. Worauf eigentlich sollen in Zu­kunft leidlich stabile Demokratien auf­bauen, wenn soziale Strukturen zuvor so nachhaltig zerstört werden? An die Stelle einer Macht, die sich auf ein Minimum an funktionierender Zivilgesellschaft stützt, könnten nur wieder autoritäre Regimes treten. Man sollte in Washington gelernt haben, daß Ruhe im Hinterhof damit auf Dauer gerade nicht zu erreichen sein wird. Es sei denn, den US-Strategen er­scheint dies als kleineres Übel gegenüber der Aussicht, ein geregelter Übergang und stabilere demokratische Verhältnisse könnten in Zukunft auch US-kritischen Tendenzen in Kuba und Haiti politische Spielräume für Veränderungen eröffnen, die sich den von Washington gewünschten Spielregeln entziehen. Altes Denken im Weißen Haus.

Vorwärts, aber nicht vergessen!

Der Polyp und die Demokratie in Guatemala
Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sich Guatemala endlich von der häßlichen Diktatur Jorge Ubicos befreit, der als der “Napoleon der Tropen” in die Geschichte eingehen wollte. Seine wichtigste Tat hatte 1936 darin bestanden, die einseitigen Verträge mit der US-amerikanischen Ba­nanengesellschaft United Fruit Company für weitere 45 Jahre zu verlängern. Diese Gesellschaft, “El Pulpo” – der Polyp – ge­nannt, hatte zehn Prozent der Böden des Landes unter seine Kontrolle gebracht, ei­gene Straßen, Eisenbahnen, Telephon­netze und Hafenanlagen aufgebaut, brauchte keine Steuern zu zahlen und keine Gewerkschaften zu fürchten.
Die guatemaltekischen Demokraten, die das Erbe Ubicos antraten, wollten das Land ganz sachte und vorsichtig aus sei­nem halb feudalen, halb kolonialen Zu­stand in die Neuzeit führen und zimmerten dafür erst mal eine liberale Verfassung, die einige eher zaghafte Reformen erlau­ben sollte. Der erste Präsident, der Uni­versitätsprofessor Juan José Arévalo, baute Schulen und setzte durch, daß auch die United Fruit Company Gewerkschaf­ten und das Streikrecht anerkennen mußte. Schon das war dem Polypen zuviel. Umso heftiger war die Reaktion, als Arévalo – ganz im Rahmen der Verfassung – nach sechs Jahren das Amt an seinen demokra­tisch gewählten Nachfolger Jacobo Ar­benz abgab. Arbenz war Sohn eines Schweizer Apothekers und als Hauptmann der Armee maßgeblich am Sturz Ubicos beteiligt gewesen. 1952 verkündete er eine äußerst bescheidene Landreform, wie sie auch in der Verfassung vorgesehen war: Die Kaffeeplantagen der während des Weltkrieges ausgewiesenen Deutschen wurden verstaatlicht, und brachliegender Grundbesitz – auch von der United Fruit – wurde an landlose Indios verteilt. Natür­lich wurde Entschädigung gezahlt, aber nur gemäß dem Buchwert, den die ent­eigneten Unternehmen dem guatemalteki­schen Fiskus für die betroffenen Lände­reien selbst gemeldet hatten. Für die Uni­ted Fruit ergab das eine Summe von 600.000 Dollar, was US-Präsident Eisen­hower “traurig unangemessen” fand.
Eisenhower kannte sich gut aus, weil er sich mit Leuten umgeben hatte, die in den Diensten des Polypen gestanden hatten oder noch standen oder gar selbst beteiligt waren. Außenminister John Foster Dulles hatte 1936 als Mitglied des New Yorker Anwaltsbüros Sullivan und Cromwell die Verträge mit Ubico selbst ausgehandelt. Sein Bruder Allen Dulles war Chef des Geheimdienstes CIA. John Moors Cabot, Staatssekretär für interamerikanische An­gelegenheiten, war ein Bruder des Präsi­denten der United Fruit. Henry Cabot Lodge, Botschafter bei den Vereinten Na­tionen, war Großaktionär des Unterneh­mens. Anne Whitman, Privatsekretärin von Eisenhower, war mit dem Leiter der Public-Relations-Abteilung von United Fruit verheiratet. Eisenhower und Dulles kannten sich also aus und forderten das Fünfundzwanzigfache an Entschädigung.
1954: Das Ende der Hoffnung
Präsident Arbenz wollte mit seiner Landreform etwas mehr gemäßigten Ka­pitalismus nach Guatemala bringen, aber das bringt ihm nun den Vorwurf des Kommunismus ein.
Die kleine Kommunistische Partei unter­stützt ihn, und er muß sich bei der wach­senden Opposition der konservativen Oligarchie auf alle Kräfte stützen, die ihm helfen. Während CIA, United Fruit und die Reaktionäre Guatemalas längst die In­vasion planen, wird Arbenz selbst be­schuldigt, die Nachbarländer zu bedrohen: “Die Krakenarme des Kreml sind unüber­sehbar”, warnt John Moors Cabot aus dem Weißen Haus in Washington.
Am Fronleichnamstag 1954 hat Oberst Castillo Armas, an der US-Generalstabs­akademie geschult, mit der Unterstützung von CIA-Offizieren in Honduras genü­gend Kräfte beisammen, um mit etwa 1000 Söldnern, Flugzeugen und Torpedo­booten das schlecht gerüstete und kaum verteidigte Land zu überfallen und in zehn Tagen zu erobern. Vorwand war die Nachricht, daß der schwedische Frachter “Afhelm” im Hafen Puerto Barrios 2000 Tonnen Waffen und Munition aus den tschechischen Skoda-Werken gelöscht hatte.
Diktatoren wie Somoza von Nicaragua, Pérez Jiménez von Venezuela, Rojas Pi­nilla von Kolumbien oder Trujillo von der Dominikanischen Republik preisen bese­ligt den Sieg der Demokratie in Gua­temala. Der Erzbischof von Guatemala, Mariano Rossell Arellano, feiert den Sieg über den “gott- und vaterlandsfeindlichen Kommunismus”.
Jacobo Arbenz muß in der mexikanischen Botschaft um Asyl nachsuchen. Ein junger argentinischer Medizinstudent verbringt diese Tage in Guatemala und versucht, trotz heftiger Asthma-Anfälle, an der Or­ganisation des Widerstands teilzunehmen: Ernesto Guevara, der Che. Er hat diese Er­fahrung nie vergessen: die Macht des Im­periums, den Einfluß des Großunterneh­mens, den Verrat der Oberschicht, den Kleinmut der offiziellen Armee und die Ohnmacht der Indios, die nun wieder ent­eignet wurden.
Demokratische Reformen waren offenbar auf friedliche Weise nicht durchzusetzen, diese Lehre hatten CIA und United Fruit den lateinamerikanischen Reformern er­teilt. Der Che und Fidel Castro haben es dann in Kuba auf andere Weise versucht

Jenseits des sozialistischen Staates

Im Mai 1993 erreicht mich aus Havanna ein ungewöhnlicher Brief. Meine Cousine schreibt, daß sie dringend einen Fächer aus Pfauenfedern, Arm­reifen aus Meeres­muscheln, verschieden­farbige Glasperlen, ei­nen schneeweißen Py­jama und ein wei­teres halbes Dutzend ähnlich wichtiger Din­ge benö­tigt. Wenn irgend mög­lich, soll ich dies alles bei meinem näch­sten Be­such nach Kuba mitbringen, denn ihr Mann, so schreibt meine Cou­sine, “muß sei­nen Heiligen ma­chen” Es besteht kein Zwei_fel, daß er sich in die Santería ein_weihen lassen will, in die Re_ligion, die in Kuba aus den Glau_bensvorstellungen der afri_kanischen Skla_ven hervorgegangen ist.
Die Santería
Angesichts üppiger Meldungen in deut­schen Medien über die wirt­schaftliche Not auf der sozialistischen Insel überrascht mich diese Wunschliste. Schließ­lich errei­chen mich seit Jahren Briefe aus Kuba, in de­nen Schreiberinnen vol­ler Sinn fürs Pro­fane um Nylonstrümpfe, Büstenhalter und Aus­gehschuhe – und auch mal um eine Sonnen­brille von Dior oder ein drahtloses Telefon – bitten. Der Gedanke, daß meine Verwandten sich in den Zeiten des Nie­der­gangs der sozia­listischen Zentral­wirtschaft mit dem “Opium fürs Volkesen”. Doch erst seit einigen Jahren be­kennen sie sich im­mer mehr offen zu den bis­her vielfach dis­kriminierten Glaubens­vorstellungen, die so sehr ein Teil von ih­nen sind, daß man San­tería als die ge­heime und ver­kannte Volksre­ligion der Ku­baner an­sehen kann.
Bei meinem Besuch im August 1993 stelle ich fest, daß die Santería mittler­weile so­gar in den früher ausschließlich Diploma­ten und ausländischen Touri­sten vorbehal­tenen di­plotiendas präsent ist. Im Mo­nat zu­vor hatte die Regie­rung die Dollari­sierung der kubanischen Wirtschaft legali­siert und allen Kuba­nern den Besitz der US-Währung er­laubt. An der Kasse der größ­ten diplo­tienda von Havanna drängen sich nun neben wenigen Ausländern
gleich­falls mit Dol­lars gesegnete junge Kuba­nerinnen, die auch am hellichten Tag so etwas wie eine zweite schillernde Syn­thetik­haut tragen, und ein förmlich geklei­deter Herr, der auffällt, weil er die begehr­ten und überteuerten Pro­dukte – überwieg­end US-amerikanischen Ur­sprungs – nicht mit Dollars, sondern mit Gutscheinen der sozia­listischen Regierung bezahlt. Noch an der Kasse unter­hält er sich angeregt mit zwei älteren Frauen über die vor einigen Tagen merklich angeho­benen Preise für aguardiente de caña, ei­nem Zuckerrohr­schnaps, der für viele Ri­tuale der Santería un­entbehrlich ist. Die Frauen sind ganz in Weiß angezogen und mit Halsketten aus bun­ten Glasperlen ge­schmückt. Als Novi­zinnen der Santería müssen sie mehrere Mo­nate lang auch in der Öffentlichkeit diese Kleidung tragen. Ent­spannt schieben sie ihr vor allem mit dem speziellen Schnaps be­ladenes Einkaufswägel­chen als näch­stes zur Kas­siererin.
Die ungewöhnlich und willkürlich anmu­tende Zusammensetzung in der Warte­schlange der di­plotienda kann man als ty­pisch kubanisch an­sehen. Sie steht für die Gleich­zeitigkeit uns widersprüchlich er­scheinender Weltan­schauungssysteme und Or­ganisationsformen des Sozialismus, Kapi­talismus und der San­tería, die nicht erst seit jüngster Zeit ge­meinsam die ku­banische Gesell­schaft prägen. Alle drei Sys­teme sind auch während des so­zialistischen Staates für die Lebensorien­tierung vieler Kubaner wichtig geblieben, er­fuhren aber im Laufe der Zeit unter­schied­liche Gewichtungen. Dies wird be­sonders deutlich bei den soge­nannten “kleinen Leu­ten”. Mit ihren Tradi_tionen, ihren Fertigkei_ten und ihrem Wissen ha_ben sie die heutige Situation Ku_bas und die Geschichte der letzten Jahrzehnte we_sentlich サvon untenFehler: Referenz nicht gefundeni liefen, anderenteils diesen aber auch ent­gegen­steuerten. Um diese Mitbestimmung von unten zu veran­schaulichen, will ich ein wenig von den Be­wohnern eines Stadt­viertels von Havanna, des barrio de los ta­baqueros, erzählen.
Die eigenen Wurzeln
Zu den Bewohnern die­ses Viertels verbin­det mich von 1981 an ein beson­deres Ver­hältnis. Etwa einmal im Jahr reise ich seit­her re­gelmäßig nach Kuba und besu­che dort für ei­nige Wochen auch meine Ver­wandten; denn meine Mutter war Kuba­nerin. An dieser Stelle mei­ner Familien­biographie angelangt, muß ich stets eine Erklärungerten, auf Dauer dort zu bleiben. Trotzdem wurde sie, wie viele nach der Re­volution, in die Posi­tion einer Exilkubane­rin gedrängt und durfte ihre Heimat nur in Ausnah­mefällen be­suchen. Dieses für sie schmerzhafte per­sönli­che Schicksal hat auch meine Sicht­weise von Kuba beeinflußt. Es hat sicher­lich meine Zuneigung zu den kleinen Leu­tenFehler: Referenz nicht gefunden diese beiden Be­völkerungs­gruppen nicht zu polarisieren, son­dern zu zeigen, wie sie im Alltag eng zu­sammenwirken.
Das barrio de los ta­baqueros war nie ein privi­legiertes Vier­tel. Die Bewoh­ner der Gründungszeit erzäh­len, daß es in den zwanziger Jahren von Tabak­fabrikanten an­ge­legt wurde, um ihre Arbeiter dort anzusie­deln. Die schmalen Grundstücke wurden aufgrund der großen Nachfrage unter denen, die sich den Kauf lei­sten konnten, verlost. Das sollte man wissen, wenn man den Aus­spruch hört, der Groß­vater habe damals das Grund­stück サin der Lotterie gewonnenォサFamiliengeschichte
Mein Großvater war chinesischer Abstam­mung und in Schuld­knechtschaft geboren. Als Jugendlicher hatte er sich mit dem Gewinn aus einer Nebentätig­keit als Kleinhändler von seinem Patrón freikau­fen können. Auch während sei­ner Arbeit in der Tabakfa­brik bot er, unter­stützt von seinen äl­testen Kindern, an ei­nem fahrba­ren Stand Obst und Gemüse feil. In dieser Zeit gab er die Mitgliedschaft in einem Traditionsverein der Chinesen von Ha­vanna auf. Er fühlte sich nach und nach in der Gemeinschaft der サrassischFehler: Referenz nicht gefundeneßen sich die Arbeiter beim ein­tönigen Zigarrendrehen aus den Werken von Marx, Engels und Lenin vorlesen. Die Oktober­revolution beflügelte ihre Hoff­nung auf eine gerechte, egalitäre Gesell­schaft. So verwun­dert es nicht, daß mein Großvater seinem Anfang der dreißiger Jahre gebore­nen Sohn den Vornamen Le­nin gab. Er selbst hatte bereits als Jugend­licher – mit prophetischer Weit­sicht, so könnte man meinen – den Nachnamen Ca­stro angenommen.
Auch meine Großmutter, die mit 14 Jah­ren hei­ratete, stammte aus beschei­denen Verhält­nissen. Sie wuchs we­niger bei ih­rem gutsi­tuierten baskischen Vater auf, auf den die Familienmitglieder heute noch mit Stolz hinweisen, als viel­mehr bei ihrer früh verstorbenen Mutter, über deren Her­kunft und Haut­farbe man sich in der Fa­milie hart­näckig ausschweigt. Wie viele Kubaner ver­suchen die Familienmit­glieder beharrlich, sich zu “verweß­lichen” indem sie ihre afrikani_schen Vor_fahren verdrängen und notfalls ihre Haut_farbe auf eine als edler geltende Abstam_mung von Indianern zu_rückführen. Zu diesem サVer­weißlichungsprozeßFehler: Referenz nicht gefundenulbildung karita­tiven Einrichtungen der katholischen Kir­che, deren Vertreter großen Wert auf Di­stanz zum サAber­glaubenFehler: Referenz nicht gefundenOchú: Einnehmend, ko­kett, lebenslustig, untreu
Diese als aufgeklärt geltende Haltung, die sich an den Vorstel­lungen der Oberschicht orientierte, verhin­derte jedoch keines­wegs, daß die Santería den Alltag meiner Großmutter und ihrer Kinder durchdrang. Alle fühlten sich je­weils einem bestimm­ten Heiligen besonders verbunden, dessen サTochterFehler: Referenz nicht gefundenSohnFehler: Referenz nicht gefundenrd, un­ter an­derem als großzügig, einneh­mend, kokett, lebenslustig und un­treu.
Die Töchter der Cari­dad oder Ochúns tru­gen mit Vorliebe Gelb, die Farbe ihrer Heiligen. Da Ochún, wie alle Heiligen, ständig in die Angelegenheiten der Men­schen ein­greift, versucht man, sie durch Gaben und Gefälligkeiten wohl­zustimmen und hofft, daß sie einem Wünsche – insbe­sondere in be­zug auf Gesundheit – erfüllen werde. Einmal im Jahr brachte meine Großmutter ihrer Hei­ligen großzügige Es­sens- und Getränkega­ben dar, die anschlie­ßend von den geladenen Gästen, Verwandten, Nachbarn und サKindernFehler: Referenz nicht gefundenänger wußten selbst nicht, daß sie ebensolche wa­ren. So hielt auch ich lange Zeit die reini­genden Abreibun­gen mit Weihwasser und Köl­nisch Was­ser, die mir meine Mutter regelmä­ßig zu­kommen ließ, da­mit böse Mächte von mir abgehalten wurden, für einen festen Be­standteil orthodoxer katho­lischer Prakti­ken.
Vom Zentralmarkt zur Musik
Den Wunsch nach ge­sellschaftlichem Auf­stieg und wirtschaft­licher Absiche­rung versuchte die Familie meiner Großeltern von Anfang an ganz pragma­tisch über Kleinunter­nehmertum zu verwirk­lichen. Ihr gemauertes Haus inmitten der sonst im Viertel übli­chen Holzhäuser weist noch heute auf die zwar unge­wöhnliche, aber trotz­dem nicht untypische Familienge­schichte hin. Unter gemeinsamer Anstren­gung brachten meine Großeltern es Mitte der zwanziger Jahre zu einem eigenen Stand im Zentralmarkt von Ha­vanna und damit zu ei­nem bescheidenen Wohl­stand. In der Folge des Schwarzen Frei­tags, der 1929 die Weltwirtschaftskrise einläutete, ver­loren sie jedoch ihre ge­samten Erspar­nisse. Danach konnte sich die Familie ins­besondere durch den wirt­schaftlichen Beitrag ihrer Töchter über Wasser halten. Die El­tern hatten großen Wert darauf ge­legt, daß die elf Töchter ein Handwerk und auch Musik spielen lernten. Anfang der dreißiger Jahre traten die Schwestern zunächst als Son-Septett auf, später hatten sie als Jazz-Band auch inter­national Er­folg. Die Musikerinnen verhalfen der Fa­milie wieder zu wirtschaftlichem Auf­stieg. An dessen Höhe­punkt leistete sich mein Großvater eine Reise zur Weltaus­stel­lung nach New York und er­füllte einer seiner Töchter den Le­benstraum einer Audi­enz beim Papst.
Das Liedgut der Frau­enband schöpfte, wie ein großer Teil der kubanischen Musik, von den Glaubensvorstel­lungen der Sante­ría. Just als nach gut 30 Jah­ren das Musikge­schäft den Schwestern keine allzu großen Perspektiven mehr bot, übernah­men in Kuba die Revolutionäre die Macht. Der sozialisti­sche Staat förderte die Mu­sikszene breit und großzügig. Meinen Tanten gelang es, das Frauenorchester bis Ende der achtziger Jahre weiterzuführen. So erhielten sie bis ins hohe Alter bei ei­nem festen, relativ hohen Einkommen Aner­kennung und Beschäfti­gung als Mu­sikerinnen.
Trotz ihrer Sympathien für den Sozialis­mus und für die Proteste der Stu­denten gegen den Diktator Machado engagierten sich die Familienmitglieder nicht in der Politik. In den Jahren, die von der wirt­schaftlichen und politischen Krise be­stimmt waren, ver­hielten sie sich ab­wartend und konzen­trierten sich darauf, die alltäglichen Her­ausforderungen zu be­wältigen. Wie die mei­sten in ihrem Vier­tel, ergriffen sie während des Guerilla-Kampfes nicht aktiv Partei für die Revo­lutionäre. Doch schon bald nach dem Machtwechsel wan­delte sich bei vielen die Zurückhaltung in Begeisterung und Un­terstützung für die ersten Veränderun­gen. Jene Tante, die zum Vatikan gereist war, konvertierte, so er­zählt man sich, über Nacht vom Katholizis­mus zum Gue­varismus und spen­dete – zum un­gläubigen Erstaunen der Familienangehöri­gen – ih­ren Schmuck für den Aufbau des So­zialismus. Bis zu ih­rem Tod verehrte sie Che und Fidel mit der gleichen Inbrunst wie die Jungfrau der Cari­dad und vormals den Papst. Sie wurde die Vorzeige-Sozia­listin der Familie und somit die Speziali­stin für Behördengänge und Kon­takte mit Parteistel­len.
Sozialisten, Kapitalisten und Santeros
Eine vergleichbare Konstellation ergab sich in den ersten Jahren nach der Revo­lution bei vielen Fa­milien des Viertels der tabaqueros: Einige wenige Familienange­hörige bekannten sich nun öffentlich un­zwei­deutig zum Sozialis­mus und erhielten bevor­zugten Zugang zu Woh­nungen, einträglichen Arbeitsplätzen und Lu­xus­gütern wie Fernse­hern, Kühl­schränken und Autos. Die Mehr­heit der Bewohner des Viertels unterstützte Maßnahmen der Regie­rung jedoch eher spo­radisch und hielt – in der für sie bewährten Art – Distanz zur Po­litik.
Bei der sozialisti­schen Staatspartei wa­ren die Werte des in­dividuellen Unterneh­mertums und des ortho­doxen Katholizis­mus nicht mehr gefragt. Ganz im Stil der frü­heren Oberschicht wurde die Santería auch von den neuen Re­gierenden als rück­schrittlich, primitiv und gewaltverherrli­chend verpönt. Die öf­fentliche Haltung ei­nes Individuums zum Staatssozialismus war fortan für seine sozi­oökonomische Stel­lung entscheidend. Dies be­wirkte, daß die Bewoh­ner des Viertels in ihren Dis­kursen zuneh­mend die drei für sie wichti­gen Weltanschau­ungssysteme – den ku­banischen Sozialismus, den US-ameri­kanischen Kapitalismus und die Santería – iso­lierten, einander gegenüberstell­ten und plakativ nur für ein System Partei ergrif­fen.
Der idealtypische Dis­kurs des Soziali­stenu­ser. Er ist der einzige, dem es gelingt, schwerwie­gende Miß­stände durch per­sönliche Allein­gänge zu beseitigen. In Kuba hungert nie­mand, alle haben die gleichen Bildungschan­cen und medizinische Versorgung; somit übertrifft Kuba sogar die auch von den So­zialisten im materiel­len Bereich bewunder­ten USA. Die mißliche Versorgungssituation des Alltags ist auf die Unzulänglichkeiten der Menschen zurückzu­führen, denn im Ge­gen­satz zu Fidel (und Che, der eine Son­der­rolle spielt) sind die normalen Men­schen äu­ßerst fehlbar.
Für den US-Kapitali­stenFehler: Referenz nicht gefundeneines jeden Kuba­ners führen muß – zu gutem Essen, makelloser Gar­derobe und einem Auto. Da die Kubaner als Un­ternehmer unübertreff­lich sind, sind sie im Prinzip die idealen US-Bürger, wie sie be­reits in Miami unter Beweis stellen konn­ten.
Der idealtypische Dis­kurs des Santero hat es nicht nötig, die obigen Welt­anschau­ungssysteme groß gegeneinander ab­zuwä­gen, denn beide sind der Santería un­ter­geordnet. So krei­sen die Gedanken des Santero konkreter um die Personen, die ihn im Alltag umgeben, und um die Frage, wie man mit Hilfe der Heiligen durch überirdische Mächte Ehepartner, Ver­wandte, Glaubens­genossen und andere be­einflussen kann. Dies entspricht dem kubanischen Naturell, denn der Kubaner ist mandón, er kommandiert gern herum und zwar am liebsten Leute, die ihm nahe­stehen. Doch als ausgesprochener Prag­matiker behält der Santero zugleich die übergeordneten irdi­schen Kräfte im Auge und respektiert sie – solange sie auch von den Heiligen gestützt werden.
Pragmatische Allianzen
Wie die polarisierten Weltanschauungen im Alltag zusammenflie­ßen, das zeigte sich beim Abschluß der Pan­ameri­kanischen Spiele im Sommer 1991. Alle im Viertel schwärmten vom großen Erfolg der kubanischen Sportler. Sogar der Ärger über die immer mehr mit So­jaschrot ge­streckten Hack­fleischrationen und die mit Süß­kartof­felmehl versetzten Brötchen, die nach ei­nem Tag zu backstein­ähnlicher Härte mu­tierten, war kurzfri­stig ver­gessen. Auch die dem US-Kapitalis­mus zu­getanen Leute, die sich Fidel zur Hauptfigur zahlloser bissiger Witze erkoren haben, führten den überra­genden Erfolg der Sportler fast aus­schließlich auf den Staatschef zurück. Eine für ihre freiwilli­gen Einsätze mehr­fach ausge­zeich­nete Arbeiterin er­klärte dies wie folgt: サHast du bemerkt, daß er unter der Armband­uhr die farbigen Bän­der seines Hei­ligen trägt und vor jedem Sieg der Kubaner un­merklich die Hand ge­hoben hatte?Fehler: Referenz nicht gefundenTrotz der nach außen gekehrten Gegen­sätze zwischen den Verfech­tern des So­zialismus und des Kapitalismus gibt es im Alltag des Viertels eine enge Zu­sammenarbeit zwischen erklärten Soziali­sten und “Nicht-Soziali­sten” Ihre Kum_panei ist so zentral für die Wirtschafts_weise, daß viele Bewohner der Meinung sind, Kuba sei nicht vom socialismo, son_dern von einem Sy_stem des sociolismo (von socio = Genosse, Freund) bestimmt. Die Nicht-Sozialisten sind auf die Koope_ratioサ der Parteigänger ange­wiesen, um lukrative Arbeitsplätze in Fleischfabriken, im Tourismusgewerbe oder im Diploma­ten­viertel einnehmen zu können. Als ein­träglich erwei­sen sich diese Stellen durch die Möglichkeit, an Devisen, Fleisch, Rum und andere Waren heranzukom­men, um sie dann in den Schwarz­markt ein­speisen zu können. Au­ßerdem brau­chen sie für ihr ille­gales Kleinunterneh­mertum die Protektion durch die Parteigän­ger. Nur mit ihrer Hilfe können sie die Güter be­schaffen und produ­zieren, die die Zen­tralwirtschaft ent­weder gar nicht oder nicht in ausreichen­der Menge zur Verfüg­ung stellt. Die er­klärten Sozialisten wie­derum benötigen die Geschäf­temacher, um in den Genuß von illegal be­schafften Waren zu kom­men, ohne sich selbst die Hände schmut­zig machen zu müssen. Dabei sind die Macht und das soziale Prestige zwischen bei­den Gruppen jedoch un­gleich verteilt. Über­spitzt könnte man sa­gen, daß, wäh­rend die einen die Früchte ihres Bemühens stolz präsentieren können, die anderen permanent mit einem Bein im Knast ste­hen. Im All­tag aber ist das Zu­sammenwirken zwischen Sozial-isten und Nicht-Sozialisten meist durch die famili­äre Solidarität und die Einsicht abgesi­chert, daß die staatliche Planwirt-schaft ohne die kleinen Geschäfte­macher längst am Ende wäre.
Der Sozialismus und die “kleinen Leute”
Ob 1993, im Jahr der wirtschaftlichen Kri­se, oder 1981, dem Jahr meines ersten Be­suches (rückblickend kann man es als ein Jahr des wirtschaftli­chen Wohlstandes be­zeichnen): die staat­lich gelenkte Zentral­wirtschaft mußte zu jeder Zeit von den privaten Initiativen der kleinen LeuteFehler: Referenz nicht gefundenDiesem Bereich widme­ten die Revolutio­näre schon bald nach ihrem Sieg große Aufmerksam­keit. Bezüglich den Zielvor­stellungen wur­den sie mit den サkleinen LeutenFehler: Referenz nicht gefunden Im Viertel der tabaqueros wurde zwar nie – wie im Zentrum und an­derswo – ein Eispalast eingerich­tet, doch tauchte bis 1989 mit geschätzter Regel­mäßigkeit ein Kühlwagen auf, des­sen La­dung von Pappkartons mit gefülltem Sahneeis reißenden Absatz fand. Die bis dahin selbst­verständlichen monat­lichen Ratio­nen von Bier, Rum und Zigaret­ten waren während der Zeiten eines von der Sowjet­union mitgetra­genen wirtschaftli­chen Wohlstandes nicht un­wesentlich für die breite Unterstützung, der sich die soziali­stische Regierung er­freuen konnte.
Die Versorgung organisieren
Bezüglich der Organi­sation der wirtschaft­lichen Versorgung gab es allerdings keine Einigkeit. So trieb die sozialistische Re­gierung von Anfang an die gleichwertige In­tegration von Männern und Frauen in die Staatsbetriebe voran und entmutigte eine Tätigkeit als “Nur-Hausfrau” Die soge_nannten サHausfrau­enEin Grund dafür war, daß ein in die Ar­beitswelt der Staats­betriebe inte­griertes Ehepaar gar nicht in der Lage war, sich selbst zu versorgen. Die Betriebe garan­tierten zwar eine Grundversorgung mit Essen, jedoch nicht etwa mit Kleidung und Haushaltsgegenständen. Deren legale Beschaf­fung über die libreta, das Bezugs­scheinheft, war normalen Werktäti­gen aus Zeitgründen ebensowenig möglich wie en­gagierten Par­teimitgliedern. Neben ihrer サeigent­lichenFehler: Referenz nicht gefundenfrei­willigerFehler: Referenz nicht gefundenDie Zeit vor der período especial ge­nannten Wirtschafts­krise Anfang der neun­ziger Jahre läßt sich folgendermaßen be­schreiben: Zwischen fünf und sechs Uhr morgens zwängen sich überwiegend Män­ner in die überladenen Busse oder steigen auf Last­wagen und entschwinden für den Rest des Tages in den dunklen Abgas­wolken am Horizont. Dann übernehmen die Frauen das Viertel, das eher nach ih­nen als nach den früheren Tabakarbeitern benannt sein müßte. Die Frühaufsteherin­nen reihen sich mit den libretas mehrerer Fami­lienmitglieder und Nachbarinnen gewappnet in die gefürchtete Brotschlange ein. In letzter Zeit versucht ein Polizist, den wachsenden Andrang auf eine sin­kende Anzahl von Brötchen in geord­neten Bahnen zu hal­ten.
Zeitraubendes Schlan­gestehen gehört je­doch nicht zu den größeren Heraus­for­derungen für die Hausfrauen. Auf­grund der unregelmäßi­gen Belieferung der bo­de­gas, der Vertei­lerstellen, müssen sie zu­nächst einmal ausma­chen, wo über­haupt eine Schlange ist. Dieses Problem, so könnte man meinen, kommt den Be­wohnerin­nen des Viertels nicht ganz un­gelegen. Ihre Lebensart, ihre nie en­dende Gesprächsbe­reitschaft, sowie das Sozial­leben, das sich in den meist offenste­henden Häusern und un­ter den Vordäch­ern ab­spielt, fördern die Kommu­nikation, die wahrscheinlich sowieso als das vor­herrschende Grundbedürf­nis der Ku­ba­nerinnen und Kubaner bezeichnet werden müßte. Dieses Informa­tionsnetz ist so eng­maschig und reaktions­schnell, auch Dank des Gebrauchs des nicht zu­letzt deswegen hoff­nungslos überlasteten Telefonnetzes, daß oft schon die ersten in der Schlange stehen, bevor der Lieferwa­gen, behindert durch unzäh­lige Schlaglö­cher, den Weg durchs Viertel zur bodega gefunden hat.
In den letzten Jahren ist der Bereich der Nahrungsmittel- und Güterbeschaf­fung zur Vollzeitbeschäftigung der Hausfrauen heran­gewachsen und füllt ein Gutteil des Vor­mittags aus: Gegen zehn Uhr hallt ein Schrei durch die of­fene Haustür. Eine Nachbarin meldet auf­geregt, daß endlich die kubanische Malanga angekommen ist. Die Hausbewohnerinnen sind erleichtert, denn sie behaupten, daß die vor kurzem als Malanga-Er­satz verwendeten rus­sischen Kartoffeln stechende Bauch­schmer­zen verursacht hätten, was in nicht wenigen Fällen zu chronischer Ap­petit­losigkeit ge­führt haben soll. Die Nach­barin bekommt ei­nige der frühmor­gens erstandenen Brötchen und über­nimmt da­für einen Stapel libretas für den Malanga-Ein­kauf. Eine halbe Stunde später klin­gelt das Telefon. Eine Ver­wandte, die einige Häuserblocks entfernt wohnt, hat den Gas­lastwagen erspäht. Da seit Tagen das Gas zum Kochen im Haus aus­gegangen ist, wird ei­ligst jemand zum LKW geschickt, der versu­chen muß, den Fahrer mit ein paar Geld­scheinen zu ei­nem kleinen Umweg zu bewe­gen. Wenig später steht ein Rentner in der Tür. Um­ständlich kramt er aus einer verdeckt ge­haltenen Stoff­tasche selbstge­bastelte Pa­pierblumen heraus. Die Hausbewoh­nerinnen mustern sie kritisch. Zwar ist das Geld knapp und der Preis für die Blumen eigentlich zu hoch, aber ausgerechnet ge­stern nacht sind einer Freundin die verstor­benen Eltern im Traum erschienen. Besorgt hatte sie gleich am Morgen ange­rufen und berichtet, sie be­fürchte, die El­tern könnten eines ihrer Kinder krankma­chen und zu sich holen, weil sie sich so sehr nach den Kleinen sehnten. Mit den farbenfrohen Papier­blumen lassen sich die toten Eltern gewiß besänftigen. Also wer­den sie dem Rentner abgekauft. Kurz da­nach übertritt eine andere Nachbarin ohne große For­malitä­ten die Schwelle des Hauses. Sie holt wie­der einmal die Dosen­milch ab, auf die die Kleinkinder ein An­recht haben. Die mei­sten Mütter des Vier­tels sind sich sicher, ebenso wie inzwi­schen auch viele kubanische Ernährungs­wissenschaftler, daß die Milch für Kinder nicht bekömm­lich ist. Für einen relativ hohen Preis verkau­fen die Mütter die Do­senmilch lieber an Hausfrauen, die sie zu traditionellen Süß­speisen wie flan – ei­ner Art Pudding – ver­arbeiten, die sie dann verkaufen.
Das Schlangestehen wird von den Haus­frauen arbeitsteilig organisiert. Dabei ko­operieren an erster Stelle die Familien­mit­glieder. Am Rande dazu gehören die no­vios, die männlichen Heiratsanwärter, die von den Familienmit­gliedern ihrer Künfti­gen in einer Art Vor­brautdienst beim Schlangestehen auf ihre Brauchbar­keit ge­testet werden. Manche Familien leisten sich professio­nelle Schlan­gesteher, wobei sich pensionierte Männer auf diese Dienstlei­stungssparte speziali­siert haben.
Rituelle Verwandschaft – gegen­seitige Unter­stützung
Bei der Beschaffung von Gütern beson­ders behilflich sind sich die Mitglie­der von Santería-Gemeinschaf­ten, die eine rituelle Verwandtschaft zuein­ander pfle­gen. Ähnlich wie Familien es gerne sehen, wenn ein künf­tiges Mitglied aus ei­nem attraktiven Pro­duktions- oder Dienst­leistungszweig kommt, tun dies auch Gemein­schaften der Santería. Eine der am besten funktionierenden Ge­meinschaften des Vier­tels ist bekannt da­für, daß sie mit Er­folg Vertreter der wichtigsten Berufs­sparten zur regelmäßi­gen Teilnahme an reli­giösen Treffen hat be­wegen können: Ange­stellte von Fleisch- und Wurstfabri­ken, Großbäcke­reien, Ho­tels, Restaurants und Bars. In diesen schwe­ren Zeiten, in de­nen die früher gerühmte Gastfreund­schaft des Viertels zwangsweise suspen­diert ist, fin­den die einzigen großen Einla­dungen zu einem Essen nur noch an den Festen zu Ehren der Heiligen im Lokal der Santería-Gemein­schaft statt. Lange Zeit gehörte ein im Viertel sehr beliebter bo­deguero zu diesem Kreis. Dank seines Heiligen, so erzählen sich die Bewohner des Viertels, entging die­ser risiko- und le­bensfreudige Mann dem Schicksal zahl­reicher bodegueros: Als bevor­zugte Sün­denböcke für den illegalen Klein­handel wurden sie nach einigen Jahren abge­setzt und kurzerhand für einige Zeit ins Ge­fängnis gesteckt. Aus ständiger Angst vor diesem Schicksal starb der hilfreiche bo­deguero allerdings vorher an einem Herzinfarkt. Doch auch im Jenseits ist er für viele ein wichti­ger, einflußreicher Mann geblieben. Man ist sich einig, daß der Totengeist des bode­guero seinen ungewöhn­lichen Organisations- und Ge­schäftssinn nun in den Beziehungen zu den Heiligen einsetzen und mit seiner Hilfe viel erreicht werden kann. So achtet man in vielen Häusern am Na­menstag des bodeguero darauf, für ihn eine Kerze auf­zustellen.
Habaneros und guajiros
Eine besondere Solida­rität gibt es auch un­ter den älteren Gründungsmitglie­dern des Viertels. Aufgrund der steten Zuwan­derung nach Havanna seit den dreißiger Jahren be­herbergt das Viertel heute, neben den Nach­kommen der Zigarren­dreher, zahlreiche ehemalige “Landbewohner” Dieje_nigen, die seit der zweiten Genera_tion in Havanna ansässig sind und sich deswegen ge_trost als Habaneros ausgeben dürfen, be_zeichnen praktisch al_les, was außerhalb ih_rer kosmopolitischen Stadt liegt, gering_schätzig als el campo. Die Landbewohner, die guajiros, betrachten sie im Gegensatz zu sich selbst als rück­ständig und mehr oder weniger unkulti­viert. Doch in letzter Zeit müssen die Habane­ros die früher herablas­send be­handelten gua­jiros umwerben, denn diese sind mit dem Vorteil ausgestattet, Ver­wandte auf dem Land zu haben, die aller­lei nützliche Produkte be­sorgen können. Selbst die Sitte der guaji­ros, in den klei­nen Patios und Gemüsegär­ten (und zur Not auch in den Häusern selbst) Hüh­ner, Ziegen und Schweine zu halten, wird nun von den Haba­neros geschätzt und zuneh­mend übernommen.
Im halblegalen und il­legalen Bereich der Güterversorgung hat sich zwischen 1981 und 1993 ein dramatischer Wandel vollzogen: 1981 besorgte man sich bei spezialisierten Händ­lerinnen meist nur サLuxusgegenständeHänd­lerinnen die bevorzug­ten Anlaufper­sonen. Mit der Schließung der Geschäfte, in denen man legal für ein Vielfaches der li­breta-Preise solche Artikel einkaufen konnte, erlosch der サgraue Marktォ Nach und nach mußten sich die Leute von den il_legalen Spezialistin_nen selbst Grundnah_rungsmittel beschaffen lassen. Als 1990 die mit Kuba verbündeten Staaten des Ostblocks zusammenbrach, und die Re_gierung den período especial ausrufen mußte, wuchs dサr ille­gale Bereich zum ei­gentlichen Versor­gungsträger heran. Nun war man selbst bezüg­lich der elementar­sten Zutaten der kubani­schen Küche auf den teuren Zukauf von Reis, Bohnen und Eiern angewiesen. Zwar stan­den diese Grundnah­rungsmittel jedem nach wie vor in reduzierter Menge auf libreta zu, doch wurden die Liefe­rungen an die bodegas immer unvollstän­diger und seltener.
Frauenrollen und Männer­rollen
Im Sommer 1993 muß man feststellen, daß die Hausfrauen für die wirtschaft­liche Situa­tion einer Familie bei weitem be­deutsamer sind als die werktäti­gen Män­ner und Frauen, die サnurFehler: Referenz nicht gefundenRestau­rants werden mitt­lerweile im Vier­tel betrieben. Andere Un­ternehmen, die vor­nehmlich von Frauen geführt wer­den, sind Schneidereien, Mani­küre- und Fri­seursa­lons. Welch wichtigen Teil der Ver­sorgung die Privathaushalte überneh­men, wird an dem Umstand deutlich, daß dort mittlerweile selbst Seife und Schuhe her­gestellt werden müssen. Jetzt betätigen sich zuneh­mend auch Männer, die wegen Rohstoffmangel in den Staatsbetrieben ar­beitslos geworden sind, in den privaten Kleinmanufakturen.
In der Zeit vor der Revolution waren die Versorgung des Vier­tels und die Familien ähnlich organisiert: Die Hausfrauen der Un­terschicht ernährten als Kleinproduzen­tin­nen und -händlerinnen die matrifokalen Fami­lien. Viele Männer traten nur in einer Art Satellitendasein in den Familien in Er­scheinung. Ihr Beitrag zum Familienleben und zur häuslichen Wirt­schaft war eher unregel­mäßig. Die Män­ner der Mittel- und Oberschicht hiel­ten sich neben der Familie mit ihrer offizi­ell angetrauten Frau oft noch weitere Fa­milien mit Nebenfrauen aus der Unter­schicht. Die Männer der Unter­schicht hin­gegen durch­liefen mehrere nicht legali­sierte, mono­game Beziehungen, die unio­nes libres. Bei Pro­blemen fanden Frauen eher bei ihren Familienangehörigen als bei ihren Männern dauerhaften Rückhalt. Um sich und ihre Fami­lie selbständig ernäh­ren zu können, war es vor der Revolution üb­lich, daß Mädchen ein Handwerk lern­ten, etwa Friseuse, Näherin oder Stickerin. Diese Er­werbstätigkeit wurde als regel­rechter Be­standteil der サHausfrauentätigkeitFehler: Referenz nicht gefundenDen familiären Bezie­hungen und der Ar­beitsteilung zwischen den Geschlechtern in­nerhalb der matrifoka­len Familien ent­spricht ein spezifi­sches Selbstverständ­nis der Frauen: Sie empfinden sich als von Natur aus vernunft­begabter, berechnender und geschäftstüchtiger als die Männer. Diese gelten als von Natur aus triebhaft, unstet und eher künstlerisch begabt. In der Liebe krei­sen daher die Dis­kurse der Frauen oft um die Taktiken, die anzuwen­den seien, um einen Mann サfestzu­bindenォ Kurz vor ihrer ersten Hoch_zeit erhielt eine mei_ner Cousinen von ihren älteren Tanten folgen_den Rat: サDu mußt dei­nen Ehemann immer fest an der Leine halten. Laß ihn ab und zu ein bißchen los, zieh’ ihn aber immer wieder fest an dich heran!Fehler: Referenz nicht gefundenMacht euch keine Sorgen, ich habe ihn gut im Griff, er wird mir nicht ent­kommen. Dabei soll er aber den Ein­druck ha­ben, er wäre völlig frei.ォ
Tatsächlich hofieren die Männer mit Vor­liebe in der Öffent­lichkeit サfremdeeckt wird, auch von den Männern mit der angeborenen Triebhaf­tigkeit entschuldigt. Wenn möglich aber pro­jizieren sie die ei­gene Untreue auf die Frauen. Besonders gern spielen sie die Gefahr hoch, ihre eigene Frau könne an­dere Männer in den Bann ziehen, geben sich rasend eifersüch­tig und rechtfertigen damit Vorschriften ih­rer Frau gegenüber, etwa in bezug auf die Kleidung und ihre abendlichen Ausgehzei­ten.
Strategien gegen “Nur-Hausfrauen”
Die sozialistische Re­gierung setzte der ma­trifokalen Familienor­ganisation das Ideal einer monogamen Klein­familie im Stil des europäischen Bürger­tums entge­gen – mit dem Unterschied, daß Mann und Frau glei­chermaßen in das Ar­beitsleben integriert sein sollten. Sie steuerte der traditio­nellen Geschlech­terbeziehung auf meh­rere Weisen entgegen. So hat sie die Legali­sierung der サfreienFehler: Referenz nicht gefundenich die Gegenmaßnah­men auf die Ebene des Parteidiskurses. Darin wurden die Lebensfor­men von サNur-Haus­frauenFehler: Referenz nicht gefundenArbeiterinnenFehler: Referenz nicht gefundenNur-Haus­frauenFehler: Referenz nicht gefundenProblemFehler: Referenz nicht gefundenanachronistische Men­talitätFehler: Referenz nicht gefundenngst die wirtschaft­liche Be­deutung dieser Struktur erkannt hatte.
Gesundheitsversorgung: Penecillin, Kräuter und Weihwasser
Auch im Bereich der Gesundheitsversor­gung ging die Regierung auf die Vorstel­lungen und die Gewohnheiten der サklei­nen LeuteFehler: Referenz nicht gefundene­ziali­stinnen und Speziali­sten gibt, die die Er­kenntnisse der Volks­medizin, der San­tería und der サwestlichen. Diese Art von Kranken­be­handlung war auch in den Zei­ten einer her­vorragend funktionieren­den staatlichen Gesund­heitsversorgung unter den Bewoh­nern des Viertels üblich. Sie nahmen beide Systeme in Anspruch, ohne darin einen Wider­spruch zu sehen. Sogar das Renommierkranken­haus von Havanna, das Hermanos Almejeiras, welches nach dem Stand der orthodoxen medizi­nischen Wissen­schaften der USA ausgerichtet und hervorragend aus­gestattet ist, ordne­ten die Leute ihrem eigenen Gesundheits­ver­ständnis unter. Be­zeichnend ist der Fall einer Frau, die vor Jahren unmittelbar vor einer wichtigen Herzoperation die­ses Krankenhaus wieder verließ. Ein Pfleger hatte sie in der An­sicht bestärkt, daß sie vor der Operation noch eine offene Rech­nung mit ihrer Heili­gen begleichen sollte. Der Pfleger war ein Novize der Santería und gehörte damals zu den wenigen Glückli­chen, die sich ganz in weiß kleiden konnten, ohne Nachteile be­fürchten zu müssen.
Fast immer sind le­bensbedrohende Krank­heiten der Anlaß, einen religiösen Spe­zialisten aufzusuchen und sich in die Sante­ría einweihen zu las­sen. Jetzt, wo in den staatlichen Kranken­häusern Einweg­spritzen fehlen und die Bett­wäsche selbst mitge­bracht werden muß, wächst der Stolz auf das santería-eigene サGesundheits­systemォ Immer mehr Leute, so auch der Mann meiner Cousine, scheuen sich nun nicht mehr davor, sich mit einer Weihe öffentlich zur Sante_ría zu bekennen.サDie Partei und die Religion
Lange Zeit wurde die Santería von der so­zialistischen Regie­rung vehement be­kämpft, wohl weil sie soziale Kräfte zu mo­bilisieren und als Weltanschau­ungs­system mit dem Sozialismus zu kon­kur­rieren vermag. Sie wurde zwar offizi­ell nicht verboten, doch schloß man Par­tei- und Santería-Mit­gliedschaft gegensei­tig aus. Da die Aus­übung der Santería mit Nachteilen verbunden sein konnte, insbe­son­dere für Familienmit­glieder, die in Regie­rungsinstitutionen ar­beiteten, gin­gen die Santeros zwangsweise mit großer Dis­kretion vor. Die Porzellan- oder Terra­kotta-Figu­ren, die Heilige re­präsentieren, die Suppenter­rinen, in denen die Essenzen der Heiligen aufbewahrt werden, die mit Wasser gefüllten Gläser für die Totengei­ster, das alles hatte – wie zur Zeiten vor der Revolu­tion, als Santería von der Ober­schicht und der katholischen Kir­che dis­kriminiert wurde – den Charakter des All­täglichen und war kaum vom üblichen Hausinventar zu unter­scheiden.
In den achtziger Jah­ren änderte die Regie­rung ihre rigide Hal­tung gegenüber dieser Volksreligion. Ihre Strategie war, die Mu­sik und die Rituale der Sante­ría durch ihre Folklorisierung für den Tourismus zu nut­zen und zugleich deren religiöse Bedeu­tungen auszuhöhlen. Diese Politik erwies sich jedoch als ein zweischneidiges Schwert. Immer mehr Ausländer und Ein­hei­mische erachteten jetzt Santería als we­sentlichen Bestandteil der nationalen Identi­tät der Kubaner. Auch überstand die reli­giöse Integrität der Santeros offenbar un­beschadet das Pendeln zwischen den Nachtclubs der Hotels und den Heiligen­festen in ihrem barrio. Scheinbar boten diese Musiker dem Nachtclub­publikum dieselben hei­ligen Rhythmen wie bei den サechtenFehler: Referenz nicht gefundenrichtigenォ je_doch – im Gegen_satz zu die_sen – nicht geweiht waren. Auch sind die Bewohner des Viertels überzeugt, daß die サrichtigenFehler: Referenz nicht gefunden} Besitz er­greifen und direkt zu ihnen spre­chen.
Beim letzten Parteitag Ende 1991 hat nun die Kommunistische Partei auch die Mit­gliedschaft von Ange­hörigen der Santería zugelassen. Im Septem­ber 1993 öffnete die Regierung zahlreiche Wirtschaftsbe­reiche für die Privatinitia­tive der Kubaner und legalisierte somit die Aktivitäten vieler Kleinhändlerin­nen und -produzen­tinnen im Viertel der tabaque­ros. Dies sind späte Zuge­ständnisse an die サkleinen Leuteォ die nicht nur zwischen サSozialismus oder TodFehler: Referenz nicht gefundenueva bistec – hof­fentlich regnet es Rin­dersteaks.

“Jenseits des Staates? Lateinamerika – Analy­sen und Berichte, Nr. 18 Jahrbuch 1994”, Bad Honnef: Horlemann Ver­lag, Au­gust 1994

Beny Moré – “Der Barbar des Rhytmus”

Seine Boleros tragen die Schwermut tropischer Abende oder die Melancholie der bleiernden Herbsttage Havannas. Seine Stimme dabei ist wie das Rauschen von Brandung, von Palmenblättern ( – “como arullo de palma”) oder wie die Brise eines Ventilators; manchmal auch wie das Klagen der stürmischen Karibik, unterstützt von seufzenden, oft sogar gellenden und schmetternden Metallbläsern. Seine Sones, Guajiras und Mambos haben den Geschmack von Tabak und Rum, aber von Rauch und Besäufnis in Spielhöllen und Tanzhallen der großen Stadt. Das unterscheidet Moré von Matamoros, Portabales oder Celina González, den musikalisch schollenverbundenen Soneros der guateques campesinos, die den Sonnenaufgang in Oriente besingen oder das vom Mondlicht silbern gezeichnete Tal, die Machete des Zuckerrohrschneiders oder die kleine weiße Hand, die zum Abschied aus dem bohío winkt. Beny Moré tauscht gewissermaßen die Bauernhütte aus Stroh gegen eine Suite im Hotel Nacional, als er in Havanna ein Engagement als Sänger bei Miguel Matamoros bekommt. (Matamoros führt den kubanischen Bolero später als Folklore in New York auf, obwohl dort kubanische Musik, wie auch die Fusion des “Cubop” von Gillezpie und Bauzá, nicht sehr geschätzt und gehandelt wird, weil sie schwarz ist). Aber spätestens in Mexiko (dort ist kubanische Musik beliebter) erkennt Moré als erfinderisches Talent, daß Matamoros seine klassischen Son- und Bolero-Arrangements niemals ändern will; der Sänger löst sich von der Gruppe und wird, noch in Mexiko, durch die Begegnung und künstlerische Zusammenarbeit mit Dámaso Pérez Prado und seinem Orchester “amerikanisiert” – ohne jedoch selbst jemals seine Cubanía in die USA zu bringen (wie Mario Bauzá und Chano Pozo). Der Ruhm einiger Lieder in den USA (die tanzbaren Fast-Step-Nummern wie “Mambo Nr. 5”) bleibt später allein dem Mambo-Erfinder und “König” Pérez Prado vorbehalten, mit seinen quirligen Klaviereinlagen, der donnernden Perkussion und den schrillen Bläsersätzen. Moré, nur der “Prinz” des Mambo, verleiht der Big Band von Pérez Prado vorerst seine Stimme und das exotische Kolorit der Afrocubanía: Guaguancó-Schritte und Hahnenschreie als wichtiger Bestandteil der musikalischen Dramaturgie einer Mambo-Orchester-Show. Dadurch ist der Sänger in Mexiko (hier sogar als Schauspieler), Panama, Kolumbien oder Venezuela bekannter als in Kuba selbst, jedenfalls bis 1950, dem Jahr seiner Rückkehr, oder vielleicht bis 1951, als Moré im Fernsehkanal “Oriental” auftreten kann und sich das Publikum mit seiner vieltönigen Stimme, seinen spontanen, aber rhytmisch scheinbar ausgeklügelten Ausrufen und seinen schnellen Tanzschritten erobert: Die alten Sextette aus Oriente erreichten ihren Durchbruch mit dem Radio und der aufkommenden Plattenindustrie, aber Beny Moré wird durch das Fernsehen als neuem Medium populär und entwickelt sich zum Showmaster des Son. Beny Moré behält sein afrikanisches Erbe (der Nachname geht auf versklavte Vorfahren der Mutter zurück), respektiert die musikalische Tradition der alten Provinz Oriente (Sones und Guajiras), und setzt eigene Innovationen, aber auch den Einfluß amerikanischer Big Bands hinzu (“Beny Moré y su Banda Gigante”). Beny Moré ist bárbaro im doppelten Sinne: Sowohl als Meister des Rhytmus und der Erneuerung (also des Mambo) wie auch als Bauer/guajiro aus Oriente, der keine Noten lesen kann und schon mit zwölf Jahren die Schule verlassen muß, um Zuckerrohr zu schneiden. Verschieden sind deshalb auch die Plattencover, für die er posiert: einmal singend unter Bananenstauden mit Gitarre und Strohhut, neben Schaufel, Machete und einer linden guajira; dann in einem offenen amerikanischen Zweisitzer am städtischen Malecón, mit Congas und Gitarre, Anzug, Fliege und (wieder) Strohhut. Das gelbe Nummernschild des Automobils trägt die Aufschrift “Particular”, und das heißt, Beny Moré ist, anders als viele berühmte kubanische Musiker, nach der Revolution im Land geblieben, obwohl die meisten Musiklokale geschlossen wurden (Che Guevara hatte eine bekannte Abneigung gegen die garitos und bevorzugte humanistische Lektüre), aber Beny Moré läßt sich von Kuba inspirieren und ein Kubaner, coño, gehört nun mal nach Kuba. In den Boleros von Moré liegt, wie gesagt, alle tropische Schwermut oder die der Tanzhallen ab 4 a.m.; in seinen Sones und Mambos liegt die Bewegung der Tanzenden eher als die der Feldarbeiter, seine Musik riecht nach Tabak und Rum, doch weniger nach Anbau und Ernte als nach Verbrauch und Genuß. Beny Moré stirbt an Rum und Tabak und Kuba (wie Chano Pozo, paradise lost, an den Drogen New Yorks), aber mit der Tragik und Sinnlichkeit seiner Boleros, unerwartet, im Jahr 1963. In Havanna, New York und anderswo huldigt man ihm wie einem orisha der Santería; Tito Puente erhält einen Grammy (den einzigen für die entstehende Salsa) ausgerechnet für seine musikalische “Hommage an Beny Moré”, und Celia Cruz sieht zum Himmel auf und singt (begleitet von Pacheco): Beny Moré – en gloria esté!

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