Kaum jemand hat vor zwei Jahren nach der Wahl Bill Clintons zum Präsidenten der USA vorauszusagen gewagt, daß er in so vielen Punkten seiner Politik erfolgreich sein würde. Die USA haben in diesen beiden Jahren ein Wirtschaftswachstum gehabt, um die sie alle anderen Industrienationen beneidet haben. Dabei ist die Inflation gesunken, die Zahl der Arbeitslosen ziemlich rapide zurückgegangen. Vor allem konnte Clinton durch eine Haushaltsführung des rigorosen Sparens das unter seinen Vorgängern Bush und Reagan gewaltig angestiegene Defizit erheblich reduzieren, und das, obwohl nur die reichsten 1,2 Prozent der Bevölkerung höhere Steuern zahlen mußten. Der ständigen Aufrüstung nach innen und nach außen wurde die Spitze abgebrochen; stattdessen wurde der Akzent auf nationale Schulreform und Studienförderung gelegt.
Erfolge über Erfolge
Selbst wenn die von Hillary Clinton koordinierten Bemühungen um die geplante Gesundheitsreform nicht richtig vom Fleck gekommen sind, gibt es in der jüngeren Geschichte der USA kaum einen Präsidenten, der mit seinen gesetzgeberischen Bemühungen gegenüber einem zwar demokratisch beherrschten, aber doch widerspenstigen Kongreß so erfolgreich gewesen ist. Haushaltsreform, Steuerreform, Verwaltungsreform, Verbrechensbekämpfungsgesetz, Ratifizierung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens und manches wichtige Gesetz mehr hat er mit äußerster Mühe und viel Hängen und Würgen eben doch durchgekriegt.
Und wer hätte schon vor zwei Jahren erwartet, daß schwerbewaffnete und schwerbepackte US-Marine-Infanteristen auf einer vom Imperialismus schwer geplagten Karibik-Insel wie Haiti von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung umjubelt werden, weil sie – auch noch ohne Invasion und den üblichen Blutzoll – einen Präsidenten ins Land und in sein Amt zurückbringen, der vorher von der CIA nach allen Kräften als gefährlicher Feind der USA diffamiert worden war? Wer hätte noch vor wenigen Jahren prophezeien wollen, daß sich im Weißen Haus Aristide und Nelson Mandela und Yassir Arafat und mancher andere aus der Reihe der Weltrevolutionäre praktisch die Klinke in die Hand geben, sodaß am Ende nur noch Fidel Castro fehlt? Wer hätte dem jungen Präsidenten zugetraut, daß er die Verhandlungen über einen GATT-Kompromiß über die Runden kriegt, sich aus Somalia ohne schweren Gesichtsverlust zurückziehen kann, mit Nordkorea und Kuba Regelungen findet, die einen Zusammenstoß vermeiden, als Friedensgarant zwischen Israel, Palästina, Jordanien, Syrien und sogar dem Irak auftreten kann?
Früher galt in den USA, daß nichts so erfolgreich ist wie der Erfolg. Danach müßten Clintons Gefolgsleute die Wahlen 1994 haushoch gewonnen haben. Tatsächlich ist das Gegenteil eingetreten. Der Republikanischen Partei ist es gelungen, wahrheitswidrig den Zustand der Wirtschaft als fortwährende Rezession darzustellen, die der unerfahrene Präsident als unermüdlicher Steuereintreiber und Verschwender auch noch tatkräftig fördere. Und die Massen glaubten das. Kleine Affairen, über die man bei Ronald Reagan die Achseln gezuckt hätte und die sich neben dem systematischen Betrug durch den Bankrott der Sparkassen unter Reagan oder dem Iran-Contra-Skandal von Reagan-Bush wie ein Mäusefurz ausnehmen müßten, wurden gewaltig aufgebauscht und nahmen die Regierung ziemlich in Anspruch.
Das müde Wahlvolk und die wache Grand Old Party
Erstaunlich ist nicht, daß die Kandidatinnen und Kandidaten der Republikanischen Partei in dem schmutzigsten und ekligsten Wahlkampf, an den man sich erinnert und in dem das Versprechen möglichst häufiger Vollstreckung der Todesstrafe zu den stärksten Argumenten zählte, so oft die relative Mehrheit der Stimmen erhalten haben. Erstaunlich ist vielmehr, daß die große Masse der Leute, zu deren Gunsten die geplanten und durchgeführten Reformen sich auswirken sollten und auswirken werden, den Präsidenten in keiner Weise unterstützt hat, sondern sich dem Ressentiment gegen Politik im allgemeinen und gegen Kongreß und Regierung im besonderen voll hingegeben hat und entweder gar nicht oder bewußt gegen Clinton wählte.
Die Grand Old Party (Republikaner) bringt es fertig, den Massen die Zeiten ihrer Präsidenten Reagan und Bush, in denen die Steuern der Reichen gesenkt wurden und wahnsinnige Rüstungsprojekte aus immer höheren Schulden finanziert wurden, als Glanzzeiten des Imperiums zu verkaufen, in denen die Marine-Infanteristen der Welt noch – wie in Grenada oder Panama oder im Golfkrieg – klarmachten, wo der Feind steht.
Und alle sozialen Bewegungen sehen zu, nicht einmal voller Mitleid, eher hämisch. Von einer machtvollen Umweltbewegung, die den Vizepräsidenten Al Gore stützt, ist kaum etwas zu spüren. Die Frauenbewegung ist in der Abtreibungsfrage in der Defensive und identifiziert sich möglichst nicht zu sehr mit Hillary Clinton. Die Friedensbewegung scheint sich überhaupt aufgelöst zu haben. Und die internationale Solidaritätsbewegung ist ganz damit beschäftigt, nachzuweisen, daß es sich in Haiti doch um eine Invasion mit imperialistischen Hintergedanken handelt.
Erst wenn die führenden republikanischen Senatoren die Schlüsselstellungen im Kongreß besetzt haben und die Innen- und Außenpolitik maßgeblich mitbestimmen, wird das alte Feindbild wieder stimmen. Lateinamerika kann dabei nur verlieren: Ein neuer Aufrüstungs- und Verschuldungsschub würde das internationale Zinsniveau wieder kräftig anheben und die zeitweilig fast vergessene Verschuldungskrise der lateinamerikanischen Länder neu ankurbeln. Die in Kalifornien in einer Volksabstimmung angenommene sogenannte Proposition 187 zeigt, wohin die Reise im Verhältnis zu den Latinos geht, die – großenteils illegal – in den USA leben: Sie sollen benachteiligt, ausgegrenzt und vertrieben werden.
Mit Jesse Helms wird jetzt der reaktionärste Mann, den es überhaupt in den letzten 20 Jahren im Kongreß gegeben hat, zum einflußreichsten Außenpolitiker des Senats werden. Er hat nie einen Hehl daraus gemacht, daß nach seiner Meinung anständige US-amerikanische Soldaten Leute wie Allende oder Castro oder Aristide zum Teufel jagen sollten. Mittelamerika und die Karibik sollen wieder wie der Hinterhof der USA behandelt werden. Mit Leuten wie Jesse Helms wird Clinton in Zukunft gelegentlich einen Deal machen müssen, um andere Projekte durchsetzen zu können. Dann wird er endlich entlarvt sein, werden manche denken. God bless Latin America!
Verraten und verkauft
Am 6. November versuchten etwa 100 der in Guantánamo internierten KubanerInnen die Flucht Richtung Heimat. Sie überwanden den doppelten Stacheldrahtverhau, von dem alle Camps umgeben sind, und sprangen von den nahen Klippen ins Meer. 39 gelang es, schwimmend kubanisches Hoheitsgebiet zu erreichen, die anderen wurden von den Wachposten wieder eingefangen. Ob sie anschließend abgestraft, in die berüchtigten “Gefängnisse im Gefängnis” gesteckt wurden, ist nicht bekannt. Bereits eine Woche zuvor waren 21 KubanerInnen aus der “Howard Base” in der Panamakanalzone entwichen, wo in vier Lagern ebenfalls Tausende Flüchtlinge interniert sind.
Nimmt man die wiederholten Hungerstreiks von “Balseros” hinzu, ergibt sich ein Bild, das die Nachrichtenagenturen mit “wachsende Unzufriedenheit mit der Lage in den Camps” beschreiben. Die Diagnose stimmt – und doch ist die Situation weit verwickelter. Schon die beiden äußerlich so ähnlichen Fluchtversuche lassen sich keineswegs miteinander vergleichen. Aber gehen wir etappenweise vor.
Handschellen für HaitianerInnen?
Verweilen wir zunächst noch bei den “längstgedienten” Lagerinsassen in Guantánamo: den haitianischen Boat People, von deren Schicksal die internationale Öffentlichkeit spätestens nach der Ankunft der kubanischen Flüchtlinge kaum noch Notiz nahm. Ihre Zahl, die zeitweilig über 20.000 lag und in der Woche vor der Rückkehr von Präsident Aristide nach Port-au-Prince noch 11.700 betrug, ist mittlerweile auf unter 6.000 gesunken. State Department und Lagerbehörden erklären übereinstimmend, die Rückführung der HaitianerInnen in die Heimat erfolge ausschließlich freiwillig.
Im scharfen Gegensatz dazu stehen Aussagen von Flüchtlingen selbst, denen zufolge die US-Militärs gedroht haben sollen, jedem Handschellen anzulegen, der nicht von sich aus an Bord der Rückkehrer-Schiffe gehen wollte. Auch wenn ich diese Berichte bei einem Besuch vor Ort nicht überprüfen konnte: Für mich besteht kein Zweifel daran, daß zumindest ein Teil der haitianischen Boat People lieber noch eine Zeitlang in Guantánamo bleiben würde, als sofort in die Heimat zurückzukehren, wo auf sie eine ungewisse Zukunft wartet.
Gleichbehandlung angestrebt
Von haitianischen Exilgruppen war in den letzten Monaten wiederholt der Verdacht geäußert worden, die Flüchtlinge aus Haiti müßten unter schlechteren materiellen Bedingungen leben als die KubanerInnen. Dafür konnte ich keinen Beleg finden, im Gegenteil: Die Zelte der HaitianerInnen stehen “privilegiert” auf dem Beton des McCalla-Flugfeldes, die der KubanerInnen auf (nicht weniger ödem) planiertem Boden, der von Steinen übersät ist. Dort schwebt aber ständig eine riesige rötliche Staubwolke über den Lagern, die die ohnehin prekären hygienischen Bedingungen zusätzlich verschlimmert und zu zahlreichen Erkrankungen der oberen Atemwege geführt hat, wie Ärzte unter den “Balseros” berichten.
Zumindest die oberen Chargen in der Militärhierarchie der Basis achten meinen Beobachtungen nach streng auf die Gleichbehandlung von HaitianerInnenn und KubanerInnenn. So ist die Verpflegung für beide Flüchtlingsgruppen gleich gut bzw. gleich schlecht (zumeist Fertignahrung aus Armeebeständen oder “Humanitärer Hilfe”, zumindest für die mehreren hundert Kleinkinder ungenießbar). Eintreffende Spenden werden proportional aufgeteilt. Davon profitieren wiederum eher die HaitianerInnen, da die (vermögende) kubanische Exilgemeinde in den USA größere Mittel für ihre internierten Landsleute aufbringen kann als die (ungleich ärmere) haitianische.
Und damit zu den KubanerInnenn in Guantánamo. (Da ich mich strikt auf das beschränken will, was ich selbst gesehen bzw. gehört habe, lasse ich Panama beiseite. Ich gehe allerdings davon aus, daß dort prinzipiell die gleichen Probleme herrschen dürften.)
Heimkehrwillige diskriminiert
Zunächst ist eine strikte Unterscheidung nötig zwischen dem Camp “November 2” einerseits und den übrigen 19 Lagern andererseits. In “November 2” waren Mitte Oktober 647 Flüchtlinge untergebracht, (647 von 26.471, um die Größenordnungen im Auge zu behalten) und zwar Männer, die explizit den Wunsch geäußert hatten, zu ihren Familien nach Kuba zurückzukehren. Ihre Diskriminierung durch die Behörden der Basis war nicht zu übersehen. Nur um ihr Lager marschierten die Wachposten mit der MPi auf dem Rücken (überall sonst praktisch unbewaffnet) und nur hier waren bis zum Zeitpunkt meines Besuchs weder feste Waschplätze noch Duschen noch Telefonapparate für R-Gespräche in die USA installiert worden.
Die Verantwortung dafür, daß den Insassen von “November 2” die Heimkehr verwehrt wird, liegt eindeutig nicht auf Seiten der kubanischen Regierung. Sie hat allen Flüchtlingen die Rückkehr in die Heimat und sogar ihren alten Arbeitsplatz angeboten. Mag man an letzterem auch seine Zweifel hegen: Schon allein der Sinn der Führung in Havanna für propagandistische Effekte scheint Bürgschaft genug, um jede Gefahr der Heimkehrer für Leib und Leben auszuschließen.
Die Chancen der Bewohner von “November 2” auf baldige Heimkehr erhielten jedoch mit einem Gerichtsurteil vom 31. Oktober einen Dämpfer. Bundesrichter Clyde Atkins aus Miami stellte sich hinter den Antrag einer Gruppe von Anwälten um Xavier Suarez, Ex-Oberbürgermeister von Miami, um jede Rückführung von “Balseros” nach Kuba zu verbieten. Begründung: Es könne nicht ausgeschlossen werden, daß die Flüchtlinge zu diesem Schritt genötigt würden, was den Menschenrechten widerspräche. (Verschiedene Indizien weisen darauf hin, daß der eingangs geschilderte Fluchtversuch von “November 2” ausging und eine Reaktion auf genau dieses Urteil darstellte.)
Schatten des Gipfels
Das Rückführungsverbot wurde wenig später wieder aufgehoben, ohne daß den Insassen von “November 2” eine Frist für die – wie ich bezeugen kann: von ihnen aus freien Stücken angestrebte – Heimkehr gesetzt wurde. Der Grund dafür, daß Washington sich querstellt, dürfte im bevorstehenden “Amerika-Gipfel” zu suchen sein, zu dem Kuba als einziges Land des Kontinents nicht eingeladen wurde. Vielmehr soll die Insel dort wegen ihrer Menschenrechtspolitik an den Pranger gestellt werden. Herausragendes Beweisstück der Anklage: die Massenflucht vom August/September. Was könnte da den USA ungelegener kommen als die Zeugenaussagen ehemaliger Bootsflüchtlinge, die sich über ihre Erlebnisse unter dem Sternenbanner beschweren und gar die Rückkehr ins “Gefängnis Kuba” den spärlichen Segnungen der “freien Welt” in Guantánamo vorziehen?
Völlig anders als in “November 2” ist die Stimmung in den übrigen Camps. Dort ist die Bereitschaft, nach Kuba zurückzukehren, gleich Null. Die Euphorische Hoffnung, vielleicht schon morgen zu den Verwandten nach Miami zu gelangen, wechselt mit tiefer Verzweiflung über die als Haft empfundene Internierung in diesem (Originalton) “Konzentrationslager”. Die “Balseros” weigern sich zu begreifen, daß sie plötzlich in den USA nicht mehr willkommen sein sollen, nachdem doch jahrzehntelang jeder Castro-Gegner mit offenen Armen aufgenommen wurde.
Kaum jemand ist bereit oder fähig, sich in die Logik der US-amerikanischen Migrationspolitik hineinzudenken. Die Flüchtlinge fühlen sich verraten und verkauft. Sie wollen nicht wahrhaben, daß sie nicht nur von der kubanischen Regierung, sondern selbstverständlich auch von den USA als Schachfiguren in einem größer angelegten Spiel mißbraucht werden.
Nur Einreise wäre eine Lösung
Clintons Angebot, die Flüchtlinge sollten von Havanna aus einen Antrag auf ein Einreisevisum für die USA stellen, stößt hier auf taube Ohren. Schon die Verlegung nach Panama, wo die Lebensbedingungen dem Vernehmen nach besser sein sollen als in Guantánamo, lehnen die meisten strikt ab. Nur die Einreise in die USA wird von den “Balseros” als Lösung akzeptiert. Auch ihre einhellige, durch wiederholte Hungerstreiks untermauerte Forderung, als politische und nicht etwa als Wirtschaftsflüchtlinge anerkannt zu werden, zielt in diese Richtung.
Überraschende Hilfe hat diese (gegenüber den Bewohnern von “November 2” unvergleichlich größere) Gruppe von Balseros vom bereits genannten Richter Atkins erhalten. Er stellte im erwähnten Urteil die Behauptung auf, Guantánamo sei souveränes Gebiet der USA, auf dem US-amerikanische Gesetze gälten. Nun ist diese These zwar völkerrechtlich unhaltbar und widerspricht auch Artikel 3 des von den USA erzwungenen “Pachtvertrages” für Guantánamo aus dem Jahre 1903. Doch ehe ein Gericht in nächster Instanz genau dies feststellt, hat sich auch Washington an das Urteil zu halten. Daraus aber ergeben sich unabsehbare Konsequenzen.
Wäre die Flottenbasis tatsächlich US-Gebiet, träten sofort verschiedene Gesetze zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der Flüchtlinge in Kraft. Um beim primitivsten zu beginnen: Sie hätten dann Anspruch auf anwaltliche Betreuung, wodurch sie endlich stabilen Kontakt zur einflußreichen kubanischen Exilgemeinde und deren Organisationen erhielten und weit effektiver als “pressure group” eingesetzt werden könnten. Zweitens dürften sie nur eine begrenzte Zeit festgehalten werden und müßten danach freigelassen werden – in die USA, versteht sich.
Doch Anspruch auf Asyl?
Drittens könnten die “Balseros” politisches Asyl beantragen, wenn sie mit Guantánamo bereits US-Territorium erreicht hätten. Damit ließe sich ihre Einreise nur noch minimal verzögern, aber nicht mehr aufhalten. Und viertens träte der “Cuban Adjustment Act” von 1967 in Kraft. Dieses Gesetz aus dem Kalten Krieg stuft alle KubanerInnen, welche die USA erreichen, automatisch als politische Flüchtlinge ein und verschafft ihnen innerhalb kürzester Zeit Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen, ja sogar die Staatsbürgerschaft.
Daß Atkins’ Entscheidung auch den rechtlichen Status der haitianischen Flüchtlinge grundlegend verbessern würde, sei hier nur am Rande bemerkt. Schon was die KubanerInnen betrifft, stellt jede der genannten Optionen für Washington ein Horrorszenarium dar. Die Regierung will aus innenpolitischen Zwängen heraus unbedingt vermeiden, der generalisierten Angst vor einer unkontrollierten Einwanderung neue Nahrung zu geben. (Das Anti-Einwanderungs-Referendum in Kalifornien am 6. November zeigt, welche Sprengkraft in dieser Frage steckt.) Und außenpolitisch hat sie kein Interesse daran, abermals Zehntausende unzufriedene KubanerInnen zur selbstmörderischen Flucht gen Norden zu ermutigen – Regimegegner, die sie viel lieber als politische Manövriermasse gegen Fidel Castro auf der Insel selbst einsetzen würde.
Wie also wird die US-Regierung auf die Herausforderung durch Richter Atkins regieren? Und viel dringlicher als dieser “sportliche” Wettstreit: Wann wird das menschliche Leiden der Internierten ein Ende haben? Das Schicksal der von (fast) allen Seiten (fast) beliebig zu instrumentalisierenden “Balseros” in Guantánamo ist eine Zeitbombe, die größere Aufmerksamkeit verdient – gerade im Vorfeld des Dezember-Gipfels in Miami.
Schwarze Tränen des Bolero, ay!
Die langgezogenen Sirenen der Schiffe im Hafen hören sich an wie klagende Trompeten. Die Avenida del Puerto ist wie die Staffage eines film noir , düster und verlassen. Havanna erliegt der ungewissen Nacht: vereinzelte Radfahrer ohne Licht (der Dynamo zehrt Kräfte), schnaufende Busse bulgarischen Fabrikats kommen neben dem Hotel Bruzón zum Sterben, das Neonlicht eines Tangolokals blinkt grün und rot, jineteras, die Touristenliebchen, begeben sich auf den Weg zur Marina Hemingway (“Ay, la culebra!”) oder in ihr Wohnviertel (La Víbora). Havanna wirkt wie die Ruine einer Stadt, wie die verfallene Altstadt von Panama City nach der Invasion der yanquis, aber mit mehr Schwüle und Schwermut. Havanna wirkt wie der Nachhall einer seufzenden Trompete, wie der letzte Schluck Rum oder Kaffee, pura agonía, während zu vorgerückter Stunde in den luftgekühlten Bunkern der Stadt die Machete geschliffen wird (Raúl Castro) – und die Feder: Roberto Fernández Retamar, stets in seinem aus der Mode gekommenen Anzug und zu kurz gebundener Krawatte (out ist in), beschwört José Martí und die Zeit der Mambises. Aber die Sierra Maestra bringt keine Helden und große Taten mehr hervor, sondern Santería, Bauernmarkt und Boleros: Oriente, ay, yo me voy a morir… (Cheo Marquetti). Vorbei sind die Zeiten, als der Troubadour Sindo Garay die Bucht von Santiago de Cuba durchschwamm, um den aufständischen Truppen Maceos als Bote zu dienen: Sindo Garay schüttelte die Hand von Martí und Fidel (so zu lesen bei Carmela de León/Letras Cubanas) und komponierte eine eigene Bayamesa. Natürlich hinterließ Sindo Garay, coño, nicht nur Lieder, sondern auch im Alter noch zerbrochene Herzen und einige Kinder. Geblieben sind Oriente (immer wieder Oriente, aber immer anders) und die lágrimas negras, die schwarzen Tränen von Matamoros: ewiger Seufzer des Son und der Salsa, von Matamoros, wie gesagt, erdichtet, später interpretiert von Abelardo Barroso, Henry Fiol (der die Stimme Barrosos in Spanish Harlem wiederentdeckt) oder Roberto Torres. Die schwarzen Tränen beweinen die Selbstverlorenheit nach der Begegnung mit der Femme fatale oder der idealen Frau, sie erzählen vom Leiden nach der Trennung, sie sind schwarz vor Kummer, vor Haß und vor Verzweiflung. Die schwarzen Tränen vermischen sich mit licor, dem Balsam der Verlassenen, und der Unglückliche lehnt an der Bar, voller Schmerz, im Zwiegespräch mit dem Wirt: Tabernero, sag mir, coño, was von beidem ist grausamer – der unheilvolle Schnaps oder die Unehrlichkeit der Frau? Das ist die Lektüre des Lebens auf “Macho” (etwa so, wie man Cortázars Lebensbuch Rayuela lesen muß). Die schwarzen Tränen gehorchen der Logik des caballero und verachten das Weib, die hembra (der notwendige Gegenpart zum Macho), aber zugleich lieben sie die Frau: Te odio, sin embargo te quiero. Schwarze Tränen sind ambivalent. Sie sind das männliche Stoffwechselprodukt von Verlangen und Resignation, von Todestrieb, feuriger Leidenschaft und Wimmern nach Geborgenheit, vielleicht auch die Trauer um eine nicht geglückte Sado-Maso-Kiste oder, wie Sozialwissenschaftler sagen würden, eine nicht symmetrisch gestaltete Beziehung. So gesehen ist auch die Losung Fidels, “Sozialismus oder Tod”, eigentlich ein Bolero mit pechschwarzen Tränen, aber mit dem Beiklang eines Kriegs- oder Notrufes und den entsprechenden Instrumenten. Kuba, so scheint es Fidel, verkommt zur Hure, durch den Einfluß Miamis, westlicher pluriporquerías (Fidels Bezeichnung für “Mehrparteiensystem”) und Oppositioneller im eigenen Land. Doch schwarze Tränen gibt es in Kuba überall, denn fast jeder fühlt sich betrogen: die naiven Touristen von den ausgefuchsten jineteras (“Ay, la culebra!”), die Parteimitglieder von den eigenen Losungen, die Gesellschaft vom Staat, die dialogbereite gemäßigte Opposition von Robertico Robaina, der die Gespräche seit Madrid nicht mehr fortgeführt hat, und Fidel, ay, von dieser Mulattin, die in die Hoheitsgewässer des Feindes abzudriften droht. Sindo Garay hatte bei seinen Frauen noch die Oberhand, auch im Alter, wie gesagt, aber das ist hundert Jahre her. Fidel schützt sich vor Betrug oder Emanzipation mit seinen traditionellen Insignien: Sierra-Maestra-Bart, Kampfanzug (ebenso sympathisch wie der Anzug von Retamar) und schußsichere Weste. Aber während die alten Boleros die Geliebte durch Text und Musik oder durch Schmalz und Unterwürfigkeit erneut gewinnen wollen, versucht es Fidel mit einer Drohung. Fidel nimmt in seiner Losung Socialismo o muerte nur das tragisch-dramatische Element des Bolero auf. Der Bolero dagegen besingt trotz aller erlittenen Schmach und aller schwarzer Tränen ein starkes Gefühl der Zuneigung, das den Sänger mit der Geliebten verbindet, auch wenn diese schon längst verschwunden ist, denn darin liegt die Großmut und das feeling des Kavaliers. Barbarito Diez verwandelt Aurora, diesen populären Bolero, in einen Danzonete, und Celina González, die Muse des guateque campesino, singt ihn als Son. Aurora ist die Geliebte/Morgenröte, die uns immer einen Schritt voraus ist, ay.
Roman Rhode
Aurora Morgenröte
Ay Aurora, me has echado al abandono, Ach, Aurora, du hast mich
in die Verbannung geworfen,
Yo que tanto y tanto te he querido, Mich, der dich so sehr geliebt hat,
Con tu negra traición me has engañado, Mit deinem schwarzen Verrat hast du mich betrogen,
En el fondo del alma me has herido. Tief in meinem Herzen hast du mich
verwundet.
Has tratado de engañar el alma mía, Du hast versucht, mein Herz zu betrügen,
Castígala gran Dios con mano fiera, Gro゚er Gott, strafe sie mit eisener Hand,
Que sufra mucho pero que no muera, Sie soll viel leiden, doch sie soll nicht
sterben,
Ay Aurora, yo te quiero todavía. Ach, Aurora, ich liebe dich noch immer.
Haiti geballt
The Haiti Files – das ist ein Sammelung aus Berichten, Dokumenten, vertraulichen Memos, Niederschriften und Reportagen. Das Gerüst für die vielen, kurzen Kapitel bilden vier Hauptteile – die Schilderung der Ausgangslage, die Akteure und die Krise nach dem Militärputsch im September 1991 – komplettiert durch eine Chronologie der Ereignisse.
Eine Ikone des Internationalismus führt in die Tragik des Karibikstaates ein. Noam Chomsky versucht, den roten Faden von der Conquista bis zum heutigen Tag aufzunehmen – leider gleitet er ihm immer wieder aus den Händen. In der Tradition linker Analyse erscheint Haiti als Tummelplatz von Kolonialmächten und den strategischen Interessen der USA. Die Bevölkerung bleibt in Chomskys Beitrag – entgegen aller Erkenntnisse der Sozialgeschichte – nur in der Rolle des Opfers. Gelungener, weil authentischer, ist ein Beitrag über den Diktator Francois “Papa Doc” Duvalier. “Unser Doc, der Du bist lebenslang im Nationalpalast, geheiligt sei Dein Name jetzt und für alle Zukunft … gib uns heute unser neues Haiti und vergib niemals die Sünden der Anti-Patrioten, die täglich auf unser Land spucken.” Keine Parodie, sondern der Schluß einer von der Diktatur vertriebenen Broschüre mit dem Titel “Katechismus der Revolution”.
Haiti – mehr als Militär
und Aristide
Im zweiten Teil des Buches gelingt der Versuch ein Bild von den Kräften zu zeichnen, die in den vergangenen Jahren die Politik in Haiti bestimmt haben: mächtige Familienclans, das Militär, die haitianische Exilgemeinde in den USA, die Volksbewegungen und natürlich Jean Bertrand Aristide.
In der Weltöffentlichkeit erschien die Krise Haitis seit dem Militärputsch vor drei Jahren als ein Machtkampf zwischen reaktionären Militärs und einem ungewöhnlichen Präsidenten im Exil. Das wurde dem Einfluß der großbürgerlichen Clans auf Haiti nicht gerecht. Nicht nur, daß die Brandts, die Mevs, die Accras und einige andere den Militärputsch im September 1991 unterstützt hatten; sie haben auch bis zur Invasion der USA durch geschickte Lobby-Arbeit in Washington die Rückkehr von Aristide hintertrieben. Dabei stießen sie sogar in höchste Regierungskreise vor. Ron Brown, Handelsminister im Kabinett von Bill Clinton, wühlte lange Jahre als Lobbyist für “Baby Doc”, Sohn und Nachfolger von “Papa Doc” Duvalier, in der Machtzentrale Washington. Fast jede Familie hat eine solche Wühlmaus in Washington – Juristen, die mit vertraulichen Memos und sogenannten Hintergrundinformationen Einfluß auf die US-Administration und Kongreßabgeordnete nehmen. Detailliert und substantiell werfen die Haiti Files Licht auf diese dezent und im Dunklen arbeitenden Kräfte.
Die sauber recherchierte Information über Strukturen und Hierarchie ist auch die Stärke des Abschnitts über das haitianische Militär. Gerade auf dem Land, auf dem 75 Prozent der Bevölkerung leben, hatte die Junta durch ein feingesponnenes Netz sogenannter chefs de section eine feste Basis. Brutal und ohne Legitimation durch die Verfassung regierten sie im Stile kleiner Diktaturen ihre Bezirke. Die berüchtigten Attachés waren ihre Schergen, die sie durch ein ausgeklügeltes System von Korruption und Postenschieberei an sich banden. Besonders ein Bericht des in New York ansässigen Lawyers Committee for Human Rights veranschaulicht die Effizienz und Kaltschnäuzigkeit militärischer Hierarchie.
Die unter den Duvalier-Diktaturen berüchtigten Tonton Macoutes, eine Art Privatarmee der Duvaliers, waren den Militärs nach dem Sturz von “Baby-Doc” ein Dorn im Auge und wurden 1987 unter der Junta von General Namphy verboten. Wenn auch nicht mehr organisiert, blieben sie das Schreckgespenst der armen Bevölkerung, tauchten als Attachés wieder auf und erreichten unter dem Deckmäntelchen einer neuen Partei der Rechten, der FRAPH, beinahe wieder den alten Einfluß. Der Aufbau der Haiti Files erweist sich hier als Manko, die Informationen über Militär, Tonton Macoutes und FRAPH sind reich an Details, die Querverbindungen werden aber nur angerissen.
Portraits der Machtlosen
Nur wenig Raum bekommt die haitianische Exilgemeinde in den USA. Nahezu 1,5 Millionen HaitianerInnen leben in der Diaspora, die meisten davon in den USA. Ein erheblicher Anteil des Bruttosozialprodukts in Haiti kommt – ähnlich wie auf Kuba – aus den Geldbeuteln von Verwandten und FreundInnen aus den USA. Umso bedauerlicher, daß die HerausgeberInnen dem Phänomen der ExilhaitianerInnen nicht einmal zehn Seiten widmen. Die Darstellung bleibt in der Beschreibung von Polit-Machtkämpfen zwischen den unterschiedlichen Strömungen der Exilgemeinde stecken.
Auch der nächste Block über die Volksbewegungen Haitis kommt nicht über strukturelle Beschreibungen hinaus. Lavalas, die Sturzflut, das ist die heterogene Volksbewegung die den charismatischen Aristide fast über Nacht in den Präsidentenpalast geschwemmt hat. Der übrigens bereits in den LN 238 veröffentlichte Artikel von Marx V. Aristide und Laurie Richardson gibt zwar einen Überblick über die strukturelle Vielfalt von Lavalas, läßt die LeserInnen aber im Stich, wenn sie die Antwort auf die Frage suchen: Lebt die Lavalas-Bewegung oder existiert sie nur noch in den Diskussionspapieren der zerstrittenen Strömungen innerhalb der Bewegung?
Der Block über die AkteurInnen schließt mit Aristide selbst. Die HerausgeberInnen haben sich für die Übernahme eines im Reportagestil gehaltenen Portraits entschieden – eine glückliche Wahl. Das Charisma und die Ausstrahlung des Salesianerpriesters sind im Beitrag von Amy Wilentz greifbar, gleich einem Messias scheint er über allem zu schweben. Seine Stellung als Antipode zur Amtskirche wird jedoch nicht thematisiert. Hier hätte ein kleiner Ausflug in die zweifelhaften Aktivitäten der Amtskirche während der Zeit des Militärregimes das Bild bestimmt abgerundet.
Der Eiertanz der US-Politik
Die AkteurInnen sind vorgestellt und im dritten Teil steigen die Haiti Files in die Krise ein. Die Krise, das ist die Zeit der Militärdiktatur, das sind die verzweifelten Versuche von Aristide, dem Newcomer auf der politischen Weltbühne, nicht im diplomatischen Ränkespiel unterzugehen, das sind die permanenten Versuche des US-Geheimdienstes CIA, aber auch des Pentagons, Aristide als Psychopathen zu diffamieren. Der Block über die Methoden, Motive und Machenschaften der USA ist informativ und sauber gegliedert. Insbesondere der Beitrag des US-Journalisten John Canham-Clyne verdeutlicht, wie weit die USA in ihrem Handeln von den pathetisch formulierten Absichtserklärungen zu Freiheit und Demokratie entfernt waren.
Die wirtschaftlichen Interessen der USA, das Zusammenspiel zwischen US-amerikanischer Wirtschaftspolitik und den Empfehlungen der Weltbank nimmt der nächste Part unter die Lupe. Hier wagen die Haiti Files, was mensch sonst oft schmerzlich vermißt: Den Blick in die Zukunft, auf die Weichen, die unabänderlich gestellt scheinen. OptimistInnen redeten bereits vom “Taiwan der Karibik”. Doch da ist der Wunsch eindeutig Vater des Gedanken; Haiti ist zwar Billiglohnland, der US-Markt nahe, aber das gilt ebenso für jedes andere karibische Eiland. Warum sich ausgerechnet Haiti, das Armenhaus der westlichen Hemisphäre, zum Tiger der Karibik mausern sollte, bleibt ein Rätsel.
Auch wenn die unmittelbare Verknüpfung dieses Blocks mit der politischen Situation während der Militärdiktatur nicht unmittelbar einsichtig erscheint, erschließt sich den LeserInnen ein differenziertes Bild von den Zwängen, mit denen auch ein Jean Bertrand Aristide konfrontiert sein wird.
Die Haiti-Connection – Drogenhandel und Militär
Haiti ist zunehmend als Drehscheibe im internationalen Drogenhandel ins Gerede gekommen. Mehr als Vermutungen und Gerüchte sind der Öffentlichkeit dabei noch nicht untergekommen. Die Haiti Files schaffen hier Abhilfe. Nüchtern und ohne sich nur auf Verdächtigungen zu stützen, listen sie auf, was bekannt ist und was von Untersuchungsausschüssen des US-Kongresses zusammengetragen wurde – und das belegt, daß hochrangige Vertreter des abgedankten Militärregimes tief in den Drogenhandel verstrickt waren. Aus einem Memo des US-Justizministeriums etwa geht hervor, daß der verhaßte Polizeichef von Port-au-Prince, Michel François, im Drogengeschäft mitgemischt hat. Dabei hatte der CIA wahrscheinlich indirekt mitgeholfen: Mitte der 80er baute der US-Geheimdienst eine Anti-Drogen-Einheit im haitianischen Militär auf. Jetzt steht diese Einheit im Verdacht, eine der Schaltzentralen des Drogenhandels auf Haiti gewesen zu sein.
Der letzte Block des Krisenteils rollt die Scheinheiligkeit US-amerikanischer Menschenrechtspolitik auf. Anhand eines Memos der US-Botschaft in Port-au-Prince wird deutlich, daß den Behörden in den USA daran lag, die Menschenrechtssituation in Haiti zu verharmlosen. Die Glaubwürdigkeit selbst solch renommierter und anerkannter Organisationen wie amnesty international wurde angezweifelt. Das Problem waren nicht die Menschenrechte auf Haiti, sondern die Flüchtlinge vor der Küste der USA. Der Abschnitt verdeutlicht eindrucksvoll wie je nach politischer Großwetterlage in den USA, die Menschenrechte in Haiti entweder als garantiert oder als verletzt betrachtet wurden.
Ein Sammelband ist ein Sammelband ist ein…
Der vierte und letzte Teil des Buches, die Chronologie der Ereignisse, beginnt am 15. Oktober 1990, dem Tag als Aristide seine Kandidatur für das Amt des Präsidenten bekanntgab. Die Chronologie reißt am 11. Mai 1994, dem Redaktionsschluß für die Haiti Files ab. So sei hier der Lauf der Zeit vervollständigt. Am 15. Oktober 1994, vier Jahre nach seiner Erklärung, Präsident werden zu wollen, kehrt Aristide als solcher wieder nach Haiti zurück. Schade, daß die HerausgeberInnen nicht weiter in die Vergangenheit zurückgegangen sind – einige Eckdaten aus der Geschichte Haitis wären von großem Nutzen für die LeserInnen.
Als Nachschlagewerk für Hintergrundinformationen über die politische Entwikklungen der letzten Jahre hat der Sammelband eine schmerzliche Lücke geschlossen. Jedoch wäre ein Register eine große Hilfe gewesen, gerade weil sich den LeserInnen darüber die Querverbindungen zwischen den Beiträgen erschlossen hätten.
Die Haiti Files: 33 AutorInnen, 33 Beiträge, 33 Ansichten, Haiti geballt – weniger ist manchmal mehr.
Das Latin American Bureau hatte sich angesichts der Aktualität des Themas Haiti im Frühsommer entschieden, das Buch früher als geplant auf den Markt zu bringen – zu Lasten der Aufmachung. Die Bücher des Londoner Verlags bestechen im allgemeinen durch einfallsreiche Titelmontagen und sauberen, modernen Druck; nicht so die Haiti Files. James Ferguson, Autor mehrerer Latin America Bureau-Titel, erklärte gegenüber den LN auf der Frankfurter Buchmesse, dies sei der Preis für die Aktualität. Dem Verkauf des Buches hat sein Äußeres offenbar nicht geschadet. Nach Verlagsangabe geht der Sammelband sehr gut.
The Haiti Files: Decoding the Crisis, hrsg. v. James Ridgeway; Essential Books, Washington D.C., 1994. Latin America Bureau, London, 1994. Bezug: LN-Vertrieb, Gneisenaustraße 2, 10961 Berlin. 16,80 DM
Warten auf Godot in Guantánamo
Symptomatisch ist ein Zwischenfall vom 13. August. In den Morgenstunden formierte sich nach Angaben von US-Militärs in einem der sieben Lager ein Protestzug. Die Stimmung sei anfangs eher gedämpft gewesen. Mal still, mal singend, mal Parolen rufend wuchs der Zug rasch. Andere Lager schlossen sich der Aktion an. Zu einer Eskalation sei es erst gekommen, als etwa 120 Flüchtlinge begannen die Stacheldrahtrollen, die die Lager umschließen, zu überspringen, ins Meer stürzten und schwimmend versuchten, kubanisches Territorium zu erreichen.
“Die Menschen Haitis haben die Insel aus politischen Gründen verlassen und jetzt haben wir das Gefühl, in einem Gefängnis zu leben.” So beschrieb Henry Claude Delva, der Sprecher von Camp 5, den Frust, der sich unter allen LagerbewohnerInnen breit gemacht hatte. An diesem Punkt griffen nach Angaben des Informationsdienstes “Haiti Progrès” US-Militärs ein und versuchten, eine Massenflucht von Flüchtlingen zu verhindern – angeblich unter einem Hagel von Steinen, Dosen und Zeltstangen.
Unabhängige BeobachterInnen haben starke Zweifel an dieser Version und vermuten, daß die Flüchtlinge sich nur gegen einen massiven Einsatz der US-SoldatInnen wehrten. In der Vergangenheit wäre die Gewalt immer von brutal vorgehenden US-Militärs ausgegangen. In ähnlich gelagerten Fällen hätten die Militärs, so “Haiti Progrès”, relativ schnell Wasserwerfer und Hunde, ja sogar Panzer und Flugzeuge eingesetzt.
Am Ende eines hitzigen Tages zogen die US-Behörden Bilanz: 45 verletzte Flüchtlinge und 20 verletzte SoldatInnen. Gerüchte sprechen von drei LagerbewohnerInnen, die beim Fluchtversuch ertranken. 330 Flüchtlinge sollen danach in einen gesondert bewachten Abschnitt auf Guantánamo gebracht worden sein. Die Ereignisse vom 13. August sind kein Einzelfall. Nur vier Tage später soll es wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen gekommen sein. Und am 22. August verhaftete die US-Militärpolizei nach eigenen Angaben über 700 LagerbewohnerInnen nach einem zunächst friedlich verlaufenen Protestmarsch gegen die Zustände in den Lagern. Alle Festgenommenen, darunter Kinder und Frauen, seien danach in unterirdische Bunker gebracht worden, in denen sie nach Angaben von “Haiti Progrès” vier Tage lang von allen anderen getrennt unter schlimmen Bedingungen eingesperrt waren.
Briefe, die aus den Lagern geschmuggelt wurden, sprechen davon, daß US-Soldaten Frauen aus den Lagern sexuell belästigt und vergewaltigt haben. Nachdem die US-Küstenwache Kleider und Schuhe der Bootsflüchtlinge zum Teil verbrannt habe, fehlt es nun selbst daran.
Politik der schleichenden Desillusionierung zeigt Wirkung
Die Politik der USA, es den Flüchtlingen so unangenehm wie möglich zu machen, zeigt erste Erfolge: In den Monaten Juli und August sind weit über 5.000 Menschen nach Haiti zurückgekehrt – frustriert, ohne Hoffnung. “Repatriierung” ist der Technokratenterminus für das System der schleichenden Desillusionierung. Die Stimme von Stanley Schrager, US-Botschaftssprecher in Port-au-Prince, kennen die meisten in Haiti. In Radiosendungen warnt er die HaitianerInnen die Insel per Boot zu verlassen: “Die US-Küstenwache wird Dich auf dem Meer abfangen. Du wirst nicht in die USA gebracht. Sie werden Dich in ein Flüchtlingslager in einem anderen Land bringen, in dem Du sechs Monate, ein Jahr darauf warten kannst, bis die Krise zu Ende ist und Du nach Haiti zurück kannst. Mein Freund, wenn Du in Erwartung eines besseren Lebens aufs Meer gehst, zerstörst Du Dein Leben.”
Um in den Lagern ein Klima des Frustes zu begünstigen, scheuen sich die US-Behörden nach Angaben von “Haiti Progrès” auch nicht, Tontons-Macoutes, die Schergen des Geheimdienstes von Ex-Diktator Baby-Doc Duvalier, als Übersetzer in den Lagern anzustellen. Täglich fänden sogenannte Lagerbegehungen statt, bei denen versucht werde die Flüchtlinge zur Rückkehr nach Haiti zu bewegen.
Dort wissen mittlerweile fast alle, daß die Chancen auf Asyl in den USA minimal sind. Nur noch wenige verlassen ihre Heimat. Brachte die US-amerikanische Küstenwache im Juli noch mehr als 16.000 haitianische Flüchtlinge auf, waren es im August nicht mehr als 500. Allerdings stieg die Zahl von Bootsflüchtlingen Ende August wieder an, aus Furcht vor den Konsequenzen einer möglichen Invasion der USA und alliierter karibischer Staaten.
In Haiti selbst schloß die US-Botschaft im August zwei “Abwicklungszentren” für Flüchtlinge und gab anschließend bekannt, daß sie sich außerstande sähe, 1.000 Menschen aus Haiti auszufliegen – Flüchtlinge, denen die USA bereits offiziell Asyl gewährt hatte. Irgendwo auf Haiti versteckt warten sie in ständiger Angst vor dem brutalen Repressionsapparat des Militärregimes immer noch auf ihre Ausreise. Neue Berichte sprechen davon, daß sich das Militärregime in Port-au-Prince einverstanden erklärt habe, diese Menschen in einem “regelmäßigen Rhythmus” über den Landweg in die Dominikanische Republik ausreisen zu lassen.
Kubanischer Flüchtlingsstrom verschärft Situation
Die Entscheidung der Clinton-Regierung auch die kubanischen Flüchtlinge erst einmal auf Guantánamo zu internieren, hat zusätzlich Öl ins Feuer gegossen. Die internierten HaitianerInnen sind, so “Haiti Progrès”, der festen Überzeugung, daß die US-Behörden und -Militärs auf Guantánamo ein Zweiklassensystem für Flüchtlinge etablieren. Kleinigkeiten reichen, um dem neue Nahrung zu geben. Zwischen den Lagern der KubanerInnen und der HaitianerInnen gibt es nicht einmal Sichtkontakt. Die HaitianerInnen sind sich sicher: Flüchtlinge aus Kuba werden weit besser versorgt als sie selbst. Das Essen für die KubanerInnen sei nahrhafter, auch seien Baseball-Spielfelder angelegt worden. Sie selbst warteten immer noch auf ein Fußball-Feld.
Bei der haitianischen Exilgemeinde in den USA besteht kein Zweifel über den Wahrheitsgehalt solcher Anschuldigungen. Sie tut sich schwer, angesichts einer fast übermächtig erscheinenden Lobby von Exil- KubanerInnen mit dem “Haiti-thing” nicht in Vergessenheit zu geraten. Zudem sind viele kubanische Bootsflüchtlinge weiß, die schwarzen HaitianerInnen haben da einfach die falsche Hautfarbe.
Kuba befürchtet Eskalation
Jetzt wird auch die kubanische Armee nervös. Sie befürchtet einen Gewaltausbruch in Guantánamo. 14.000 haitianische und 23.000 kubanische Flüchtlinge quetschen sich in den Lagern Guantánamos, umgeben von 8.000 stationierten US-SoldatInnen. Es bestehe die Gefahr eines gewaltsamen Massenausbruches mit Todesopfern, so ein kubanischer General – Guantánamo ist von kubanischen und US-amerikanischen Tretminen eingekreist.
Wie sich die Entscheidung der USA, jährlich 20.000 KubanerInnen einreisen zu lassen, auf die Lage in Guantánamo auswirkt, ist noch offen.
Für die haitianischen Bootsflüchtlinge gestaltet sich die Sache schwieriger. Surinam erklärte sich im August bereit, 2.500 Flüchtlinge aufzunehmen – widerwillig und mißtrauisch von der eigenen Bevölkerung beäugt.
Der Irrsinn nimmt seinen Lauf
Die Dramaturgie wiederholt sich: Der UNO-Generalsekretär Boutros Ghali unternimmt einen “letzten Versuch”, die Haiti-Krise auf diplomatischem Wege zu lösen. Zu diesem Zweck wird ein schwedischer UN-Emissär auf die Insel geschickt, um die technischen Absprachen für ein erneutes Treffen zwischen dem OAS-Vermittler Dante Caputo und den Militärs vorzunehmen. Während dieser vergeblich auf einen Gesprächstermin mit der de-facto-Regierung wartet, strecken MG-Salven einen engen Freund Aristides, den Priester Jean Marie Vincent, vor seinem Ordenshaus nieder. Wer denkt bei dem Attentat auf Vincent nicht an die ungesühnten Morde an Antoine Izméry und Guy Malary, die vor knapp einem Jahr, als die Rückkehr Aristides unmittelbar bevorstand, unter den Augen der UNO-Beobachter begangen wurden? Mit Vincent wurde eine weitere wichtige Stütze für den demokratischen Wiederaufbau des Landes ausgeschaltet. Der UN-Gesandte kehrte unverrichteter Dinge wieder nach New York zurück. Was soll noch alles passieren, damit dieses entwürdigende Schauspiel endlich ein Ende hat?
Da sitzt ein mit überwältigender Mehrheit gewählter Präsident, überzeugter Katholik und konsequenter Pazifist, seit Jahren in den USA – also gewissermaßen in der Höhle des Löwen – und muß mitansehen, wie dieser in aller Seelenruhe seine Krallen wetzt, um dem haitianischen Regime einen Hieb zu versetzen. Dieses hält den US-Löwen offenbar eher für einen kläffenden Hund, der bekanntlich nicht beißt, und zeigt sich daher relativ unbeeindruckt von den offiziellen Verlautbarungen aus dem Weißen Haus oder dem UN-Hauptquartier.
Mörderbuben als Hätschelkinder des Heiligen Vatis
Und dennoch, die Zeit der Junta scheint endgültig abgelaufen. Die mit päpstlichen Weihen ausgestatteten haitianischen Narko-Gorillas haben länger als genug zu erkennen gegeben, daß sie dem völlig verwüsteten, wirtschaftlich heruntergekommenen Land auch nicht den Schimmer einer Perspektive zu bieten vermögen. Die Militärs und ihre mittlerweile dritte zivile Marionettenregierung sind seit drei Jahren von allen offiziellen politischen und wirtschaftlichen Handelskanälen abgeschnitten, bis auf einen, den zum Vatikan. Der Heilige Vati kann es sich immer noch leisten, intime Beziehungen zu weltweit kompromittierten Mörderbuben zu pflegen, ohne daß ein Aufschrei durch seine internationale Fan-Gemeinde geht. Haiti ist hierfür jedoch nicht das einzige Beispiel. Zu Pinochet in Chile bestanden und bestehen ebenfalls sehr herzliche Beziehungen. Der apostolische Nuntius in Mexiko betreibt offene Hetze gegen den äußerst populären Bischof Samuel Ruiz und empfängt gleichzeitig zwei der meistgesuchtesten Drogenkartell-Häuptlinge, um ihnen die Absolution zu erteilen beziehungsweise diplomatischen Schutz zu gewähren.
Eine Politik des Vatikans, die weniger auf das Wohl seiner Schafe, als vielmehr auf das seiner Hirten und Oberhirten bedacht ist, hat besonders in Lateinamerika eine lange Tradition. Im Falle Haitis jedoch hat sie Formen angenommen, die jeglichen, wenn auch noch so dürftigen Rechtfertigungsversuchen bitter Hohn sprechen. Die von Rom protegierten Militärs gehen sogar so weit, sich die internationalen UN-Hilfsgüter – Treibstoff, Lebensmittel, Medikamente – unter den Nagel zu reißen, mit denen die verheerenden Auswirkungen des “totalen” Handelsembargos zumindest für einen Teil der Bevölkerung abgefedert werden sollten.
Die Schmerzgrenze für die Gottesmänner in Rom dürfte aber nun überschritten sein, da selbst vor einem geweihten Priester nicht Halt gemacht wurde. Der kaltblütige Mord an dem Ordenspriester und ehemaligen Caritas-Repräsentanten von Cap Haitien, Jean Marie Vincent, ist ein Indiz dafür, daß die Machthaber entweder im Begriff sind, eine neue Stufe der Repression zu beschreiten, oder daß sie die Kontrolle über ihre selbstgeschaffenen Mordwerkzeuge verloren haben. Beides wiegt gleich schwer. Jegliche Beileidsgeste von Seiten des Papstes oder auch der haitianischen Bischofskonferenz – deren Vorsitzender der frühere Vorgesetzte von Vincent im Caritas-Verband ist – wirkt eher wie eine heuchlerische Pflichtveranstaltung denn als aufrichtig gemeinte Äußerung der Betroffenheit.
Nach drei Jahren Schweigen zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit hat die katholische Amtskirche jeglichen Kredit beim haitianischen Volk verspielt.
Die internationalen “Freunde” haben ihren Kredit verpokert
Aber gibt es überhaupt noch irgendeine Instanz, die der Bevölkerung gegenüber kreditwürdig ist? Die UNO etwa, die als säkuläre Repräsentanz der internationalen Gläubiger-Gemeinschaft seit drei Jahren ihren unerschütterlichen Willen und ihre Entschlossenheit bekundet, mit dem Unrechtsregime aufzuräumen und die legitime, demokratisch gewählte Regierung Aristide wieder in ihr Recht zu setzen? Oder gar ihr kontinentaler Ableger, die OAS, die seit ihrem Bestehen nichts als Machtlosigkeit dokumentiert? Die, wenn überhaupt, nur als Feigenblatt-Organismus für nordamerikanische Interessen in Erscheinung tritt? Die “vier Freunde” etwa – USA, Kanada, Frankreich, Venezuela – von denen die drei Letztgenannten nur so lange etwas zu sagen haben, wie sie nicht mit eigener Stimme sprechen? Niemand spricht mehr von diesem Kreis. Und was ist mit den USA, dem angeblich allergrößten Freund?
Wer traut dem unaufhörlich grinsenden US-Präsidenten Clinton noch die Fähigkeit zu, einen überzeugenden Plan anzubieten, um zumindest sein Gesicht zu wahren? Clinton scheint rettungslos überfordert in seinem Amt, weiß angesichts der wachsenden Anzahl von Flüchtlingen aus Haiti und Kuba weder ein noch aus. Innenpolitisch gerät er zunehmend unter Handlungsdruck – schließlich sind bald Halbzeitwahlen in den USA.
Überhaupt scheint in Washington ein wildes Durcheinander zu herrschen: Stellungnahmen verschiedener Regierungsfunktionäre widersprechen sich teilweise diametral, von dem Haiti-Sonderbeauftragten William Gray ist seit Wochen nichts mehr zu hören. Der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses im Repräsentantenhaus, der Demokrat Lee Hamilton, sagt, das Parlament folge den Plänen der Entsendung einer 10.000 Mann starken Invasionstruppe nur sehr widerwillig und skeptisch. Der republikanische Senator Richard Lugar bezeichnet ein bewaffnetes Eingreifen als einen “historischen Irrtum”. – Der “historische Irrtum” kann doch allenfalls darin liegen, Mr. Lugar, daß die von US-Streitkräften ausgebildeten haitianischen Militärs überhaupt jemals so viel Macht und Einfluß erhalten haben. – Vielleicht dient das ganze wortreiche Geplänkel in den Vereinigten Staaten auch nur dazu, von ganz anderen gesamtkaribischen Überlegungen – Stichwort Kuba – abzulenken?
Aristide: kompromißbereit bis zur Selbstaufgabe?
Und wie steht es um Aristide selbst? Ist es politisch, moralisch, ethisch noch zu rechtfertigen, daß an seiner Wiedereinsetzung mit allen Mitteln festgehalten wird? Wie kann er mit den jahrelangen Demütigungen, den permanenten Vertrags- und Vertrauensbrüchen von so vielen Seiten zurechtkommen? Welche Spuren in seiner Seele hinterlassen die täglichen Morde an Menschen, deren einziges Verbrechen es ist, als Sympathisanten seiner Politik zu gelten? Wie wirken Zeitungsmeldungen wie jene aus jüngster Zeit, wonach Ex-Präsident Bush in Buenos Aires vor argentinischen Bankern heftig gegen eine militärische Invasion zu Felde zog, mit der Begründung, der vor drei Jahren gestürzte Aristide sei total unzuverlässig und zu keinerlei Kompromissen bereit? Solche und ähnliche Ungeheuerlichkeiten werden ständig unwidersprochen in den Medien verbreitet, sowohl in den USA als auch anderswo.
Gleichzeitig erscheint Aristide bis zur Selbstaufgabe zu Kompromissen bereit zu sein, um seinem vom Volk erhaltenen Auftrag bis zum verfassungsmäßigen Ende seiner Amtszeit zu erfüllen. Aber entspricht seine derzeitige Rolle, außerhalb Haitis gegen die Diktatur zu protestieren, noch dem vom Volk erhaltenen Auftrag? Hätte Aristide nicht längst – spätestens im Dezember ’93, nach dem offenkundigen Scheitern des Abkommens von Governors Island – zum militanten Widerstand des Volkes gegen seine Mörder aufrufen beziehungsweise für dessen Bewaffnung sorgen müssen? Gibt es nicht auch ein christliches Widerstandsrecht?
Vielleicht kommt es letztendlich doch zu dem unwürdigen Moment, daß Aristide auf den Flügeln einer ausländischen Militärmaschine nach Port-au-Prince segelt. Selbst wenn dies geschehen sollte, wird inzwischen so viel Zeit ins Land gegangen sein, daß er es kaum mehr wiedererkennt. Die politische Klasse Haitis wird im Wesentlichen noch dieselbe sein, wogegen die Menschen aus Aristides früherem Umfeld entweder nicht mehr da sein oder mittlerweile mit großer Zurückhaltung auf seine Wiederkehr reagieren werden.
Dem politischem Projekt Lavalas sind so tiefe Wunden geschlagen worden, daß eine Neuauflage dieses basisdemokratischen, transparenten und gerechten Gesellschaftsmodells auf Jahre hin erschwert sein wird.
Das zarte Pflänzchen Hoffnung, das da vor fast vier Jahren mit der Wahl Aristides erste Wurzeln geschlagen hatte, wurde zu lange von der brutalen Dummheit der Macht und ihren militärischen Stiefeln zertreten, als daß es sich in dem ohnehin verdörrten haitianischen Boden schnell erholen könnte. Ob dies auch für seinen Ableger, die für einen historischen Moment lang wiedergewonnene Würde, gilt, wird sich in den kommenden Wochen und Monaten erweisen. Zur Zeit hat es eher noch den Anschein, als modere diese in den stinkenden Pfützen von Cité Soleil vor sich hin.
Castros Erben möchten gern noch warten
Kubas führender Dissident Elizardo Sanchez hat eine Ader für bildhafte Vergleiche. Das politische System in seinem Land, erläutert er in seiner Wohnung in Havannas Nobelviertel Miramar, sei auf der Person Fidel Castros wie auf einer einzigen Säule errichtet. Zur besseren Anschaulichkeit demonstriert er seine Theorie mit einem Schreibblock, den er auf der Spitze eines Bleistifts balanciert: “Knickt der Stift weg, stürzt alles ein.”
Gerüchte, Gerüchte
In der exilkubanischen Gemeinde in Florida sehen viele die Dinge ähnlich. Kein Wunder, daß Miamis Medien Anfang April vor Freude völlig aus dem Häuschen waren, als der “Graubart” einige Tage nicht in der Öffentlichkeit auftauchte. “Fidel Castro liegt im Sterben!”, frohlockten sie. Doch wie schon so oft erwies sich der Wunsch als Vater des Gedankens: Pünktlich zum Treffen mit gemäßigten Exilkubanern (vgl. LN 238) stand der Comandante wieder auf der Matte, schüttelte Hände und verteilte Küßchen. Alles nur die üblichen Gerüchte also.
Oder doch nicht? Ein paar Tage später sickerte aus – jeder Sympathie mit Miami unverdächtigen – kubanischen Regierungskreisen durch, “der Alte” habe zum fraglichen Zeitpunkt einen leichten Schlaganfall erlitten. Die linke Hand sei zeitweilig gelähmt gewesen; 24 Stunden hätten die Ärzte gebraucht, um den “máximo líder” wieder herzurichten. Als ein sichtlich müder Castro dann auch noch am 26. Juli auf seine zum festen Polit-Ritual gehörende alljährliche Rede zur Lage der Nation verzichtete und seinen Bruder Raúl, den Verteidigungsminister, ans Mikrofon schickte, erhielt das Gerücht neue Nahrung, die biologische Uhr des Comandante laufe langsam, aber sicher ab.
Daß Castro wieder voll da war, als zehn Tage später in der Altstadt von Havanna Unruhen ausbrachen, mag seine Anhänger beruhigen. Dennoch – und ob Elizardo Sánchez mit seiner Bleistift-Theorie nun recht hat oder nicht – bleibt die Frage nach der physischen und psychischen Belastbarkeit des 68-jährigen von enormer Brisanz. Man erinnere sich nur an den Sommer 1989, als Erich Honecker im Krankenhaus lag und niemand in der DDR-Politbürokratie wagte, an seiner Stelle Entscheidungen zu fällen. Wie also hat sich Havanna auf den Ernstfall eingerichtet – oder genauer: Wen hat der “Comandante en Jefe” als seine(n) Erben eingesetzt?
Kronprinz Raúl
Nach der kubanischen Partei- und Staatshierarchie ist der Fall klar: Der “Zweite Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, Erste Vizepräsident des Staats-und des Ministerrates, Minister der Revolutionären Streitkräfte, Armeegeneral Raúl Castro” (um nur seine wichtigsten Ämter zu nennen) wurde bereits 1972 zum Kronprinzen unter seinem regierenden Bruder ernannt. Schon aus Gründen der Pietät gegenüber dem (derzeit noch sehr lebendigen) “máximo líder” führt bei der Nachfolge kein Weg an ihm vorbei.
Für Raúl spricht weiterhin, daß er neben Juan Almeida Bosque der letzte in der unmittelbaren Parteispitze ist, der noch die Guerilla-Legende der Sierra Maestra verkörpert. Um abermals den schwierigen Vergleich zu deutschen Verhältnissen heranzuziehen: In der DDR konnte das halbe Politbüro bis zum Schluß auf die Nachsicht vieler Untertanen bauen, die den Antifaschisten Honecker, Axen und Keßler ihren Respekt nicht versagen wollten. Einen ähnlichen Nimbus erwarb sich die gegenwärtige Führungsgeneration Kubas im Kampf gegen Batista. Auf diese Quelle politischer Legitimität dürfte auch eine “post-fidelistische” Führung nicht freiwillig verzichten.
Raúl Castro schleppt jedoch auch eine ganze Reihe von Handicaps mit sich herum. Zunächst seine mangelnde Popularität: Seit den Tagen in der Sierra begleitet ihn in der Bevölkerung – angeblich sehr zu Unrecht – der Ruf eines “duro”, eines eisenharten, gefühlskalten Typs. Geradezu vernichtend für sein Image im machistischen Kuba wirkt ferner der in jüngster Zeit immer wieder kolportierte Verdacht, der General sei homosexuell.
Eigene Hausmacht
Obwohl Raúl fünf Jahre jünger ist als Fidel, hat den “erst” 63-jährigen auch die Last des Alters weit stärker gezeichnet als jenen. Schon immer ein mickriges Kerlchen neben dessen athletischer Figur, geht ihm Fidels Charisma eines Volkstribuns völlig ab. Alles in allem miserable Voraussetzungen, um in einem “Fidelismo ohne Fidel” die Hauptrolle zu übernehmen.
Was ihn dennoch zum ersten Anwärter auf das Erbe seines Bruders prädestiniert, ist mehr noch als die Blutsverwandtschaft seine Kontrolle über die Sicherheitskräfte. Raúl Castro ist nicht der alleinige Chef der in Angola siegreichen Armee, die in der Bevölkerung nach wie vor hohen Respekt genießt. Im gefürchteten Innenministerium, das auch die Staatssicherheit umfaßt, sitzen ebenfalls seine Leute: Als 1989 höchste Offiziere der dortigen Abteilung MC (zuständig für die Beschaffung von Devisen sowie die Umgehung von Embargobestimmungen und insofern bedingt mit Schalcks KoKo-Imperium vergleichbar) des Drogenschmuggels überführt und drakonisch bestraft wurden, hatten die Brüder Castro die Armeespitze als “Aufräumkommando” hinübergeschickt. Sie blieb gleich dort, die halbe Führungsetage wurde nach Hause geschickt, und der Stabschef der Armee, Abelardo Colomé Ibarra, stieg zum Innenminister auf. Die uralte Konkurrenz zwischen beiden Ministerien war damit entschieden – zugunsten Raúls, der seither auch der letzte kubanische Politiker neben dem “Comandante en Jefe” ist, der über eine ernstzunehmende eigene Hausmacht verfügt.
Eins plus drei
Trotzdem ist keineswegs entschieden, daß der ewige Zweite an einem “Tag X” alle Entscheidungsbefugnisse – und damit alle Verantwortung – in seinen Händen konzentrieren würde, wie gegenwärtig sein Bruder. Eine (wie auch immer konstruierte) kollektive Führung mit Raúl als “primus inter pares” scheint zumindest für eine Übergangszeit möglich und auch angebracht, um das drohende gewaltige Machtvakuum halbwegs zu füllen. Vorbilder gibt es: In der Sowjetunion setzte sich Chruschtschow nach dem Tode des Übervaters Stalin 1953 erst nach monatelangem Machtkampf durch, und auch die chinesische “Viererbande” 1976 spiegelte nicht zuletzt die Unfähigkeit der Führung wider, den dahingeschiedenen Mao durch eine(n) einzige(n) Frau oder Mann zu ersetzen.
In Havanna sind es vor allem drei Nachwuchspolitiker, die in den letzten drei Jahren im Schatten Fidel Castros an Profil gewonnen haben: der für die Ökonomie zuständige Carlos Lage, Außenminister Roberto Robaina und Parlamentspräsident Ricardo Alarcón. (Vorzeitig aus dem Rennen ausgeschieden ist hingegen “el mulato” Carlos Aldana, bis Oktober 1992 ZK-Sekretär für Ideologie, zuvor als Bürochef von Raúl Castro dessen rechte Hand. Als erster in der Parteispitze hatte sich Aldana mit selbstbewußten Äußerungen den Ruf eines Reformers erworben – mehr im Ausland als auf der Insel selbst freilich; er stolperte über ein dubioses Finanzgeschäft.)
Es versteht sich von selbst, daß die drei Nachrücker durch die Bank vom “Comandante en Jefe” protegiert werden. Symptomatisch scheint, daß alle drei dem Reformflügel innerhalb der KP zugerechnet werden.
Beinahe-Premier Carlos Lage
Lage, Jahrgang 1951, gilt innerhalb des Politbüros als der entschiedenste Vorkämpfer einer wirtschaftlichen Öffnung. Von Havannas “Denkfabriken” muß er sich zwar kritisieren lassen, er beuge sich zu schnell der “politischen Logik, die zu einem sehr vorsichtigen, schrittweisen Vorgehen führt” (Julio Carranza Valdés vom Zentrum für Amerikastudien). Dennoch ist er für die reformbereiten Kräfte der wichtigste Ansprechpartner in der Partei- und Staatsführung.
Als im Rahmen der Verfassungsänderung 1992 erwogen wurde, den Posten eines Ministerpräsidenten zu schaffen, war Lage erster Anwärter auf das Amt – ein enormer Vertrauensbeweis für den Ex-Chef des Jugendverbandes UJC, auch wenn die entsprechende Reform (wie so viele andere) schließlich ausblieb. Im Ausland wird der “Exekutivsekretär des Ministerrates” bereits wie die “Nummer Zwei” hinter Fidel Castro behandelt, auf der Insel selbst ist er für die meisten eine unbekannte Größe. Sein fehlendes Charisma macht ihn untauglich zur Gallionsfigur, doch je mehr ideologische und politische Konzessionen die katastrophale wirtschaftliche Lage von der kubanischen Führung verlangt, desto mehr gewinnt das Wort Carlos Lages an Gewicht.
PR-Experte “Robertico”
Der ehrgeizige “Robertico” Robaina, bis vor kurzem von niemandem ernstgenommener UJC-Chef, hat sich zum allgemeinen Erstaunen mächtig gemausert. Noch vor einem Jahr stufte ihn Carlos Alberto Montaner, Kopf der (Exil‑)”Kubanischen Demokratischen Plattform”, als eine “Marionette Castros” ein, die “weder genug Intelligenz noch Autonomie hat, um selbständig irgendetwas zu unternehmen”. Alles, was ihm Montaner seinerzeit zugestand, war eine “gewisse Cleverness in Sachen Public Relations”.
Die hat der heute 38-jährige tatsächlich: “Robertico” tritt nicht in Uniform oder Guayabera auf, sondern mit Vorliebe in Jeans und T-Shirt. Mit den martialischen Sprüchen der Alten geht er sparsamer um, hat stattdessen die UJC auf den Kurs von “Brot und Spielen” (mit wenig Brot, aber viel Tanzmusik) gebracht und so seinen Draht zu Kubas rebellischer Jugend noch nicht völlig abreißen lassen. Sein Gesellenstück in seiner neuen Funktion als Außenminister lieferte er, als er im April 1994 den Gastgeber des bereits erwähnten Treffens mit moderaten Exilvertretern spielte.
Souveränität im Auftreten bewies “Robertico” auch in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise, die den Außenminister auf einer ausgedehnten Südamerikareise überraschte. Daß er im Gegensatz etwa zu Carlos Lage das Zeug zu einem Volksredner hat, macht ihn für die auch als “Yummies” (“Young Urban Marxists” in Anlehnung an das einstige Modewort Yuppies) bezeichnete junge Technokratengeneration zu einer enorm wichtigen Figur.
Unterhändler Alarcón
Der schon etwas ältere Alarcón schließlich mit seiner bürgerlich-humanistischen Bildung bringt aus seiner langjährigen Erfahrung als Diplomat ein Talent mit, das in der ans Dekretieren gewöhnten Führung Seltenheitswert besitzt: die Fähigkeit zum Dialog, zur Suche nach Kompromissen. Für die am 1. September aufgenommenen Verhandlungen mit den USA ist er als Verhandlungsführer allererste Wahl.
Alarcón scheint auch der geeignete Mann, den kubanischen Staatsapparat zu revitalisieren, konkret die Volksvertretungen auf den verschiedenen Ebenen. Die gegenwärtige, in 35 Jahren Revolution gewachsene Hyperzentralisierung der Entscheidungsbefugnisse ist nicht länger haltbar und wird von den sich ausbreitenden Marktstrukturen längst unterwandert; die Joint Ventures haben sich ohnehin bereits ausgeklinkt. Daß auch der Westen als Preis für mehr Wirtschaftshilfe von Havanna verlangt, sich parlamentarisch-demokratischen Strukturen anzunähern, macht Alarcóns Aufgabe nur noch dringlicher.
Lage, Robaina, Alarcón: Diese drei Männer plus Raúl Castro, der vermutlich alle Hände voll damit zu tun hätte, “Ruhe und Ordnung” im Lande zu garantieren, könnten am “Tag X” entscheidenden Einfluß darauf gewinnen, welchen Weg Kuba nach Castro geht. Alle vier haben bei verschiedenen Gelegenheiten erkennen lassen, daß die dem “chinesischen Modell” – rasche Liberalisierung der Wirtschaft ohne gleichzeitigen Übergang zu westlichen Demokratiemodellen – positiv gegenüberstehen; aufgeschlossener jedenfalls als Fidel Castro, der es bisher eher mit dem Lenin-Wort von “einem Schritt vor, zwei Schritten zurück” hält.
Fidel wird noch gebraucht
Dennoch darf man davon ausgehen, daß es keinen der potentiellen Erben drängt, den “Alten” loszuwerden. Dessen Gespür dafür, welche Härten man dem eigenen Volk gerade noch zumuten kann, und seine historische Autorität, mit der er viele Zweifelnde oder Widerstrebende letztlich doch noch bei der Stange hält, sind in der gegenwärtigen Krise Gold wert. “Am meisten Sorgen bereitet mir, was wohl passieren wird, wenn wir die notwendigen Veränderungen nicht jetzt – und zwar unter Fidel – vornehmen”: Diese Raúl Castro zugeschriebene Äußerung aus dem Jahre 1991 bedarf keines Kommentars.
Eine notwendige Bemerkung zum Schluß. Damit die geschilderten Szenarien möglicherweise Wirklichkeit werden können, muß – last not least – eine grundlegende und keineswegs gesicherte Voraussetzung erfüllt sein: Die aus der kubanischen Revolution hervorgegangene Regierung muß die nächsten Jahre überleben. Alle obenstehenden Erwägungen und Spekulationen gehen von der – meines Erachtens noch immer wahrscheinlichsten – Variante aus, daß der bisherige Kurs langsamer (und keine Frage: bisher oft viel zu langsamer) Reformen “von oben” noch eine ganze Weile anhält. Die derzeit möglich scheinenden Alternativen – eine soziale Explosion mit nicht absehbaren, aber garantiert blutigen Folgen; eine Verhärtung zu einer orthodoxen Diktatur à la Ceaucescu; eine bedingungslose Kapitulation vor den USA – möchte ich meinen kubanischen Freunden jedenfalls noch weniger wünschen als die Fortschreibung des status quo, den die meisten kaum noch ertragen können. Von einer friedlichen Wende zu Demokratie, Wohlstand für alle oder auch nur sozialer Gerechtigkeit will ich gerne träumen, an sie glauben kann ich nicht.
“Eine große Lähmung ist spürbar”
Hinnerk Berlekamp: An schlechten Nachrichten aus Kuba herrscht derzeit kein Mangel. Wo bleibt das Positive?
Bert Hoffmann: Wenigstens eine gute Neuigkeit habe ich mitgebracht: Zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit ist der Dollarkurs auf dem Schwarzmarkt nicht im Steigen, sondern er stagniert bei 1:80 bis 1:100. Das ist zwar noch immer katastrophal, für einen Monatslohn kann man ganze drei Dollar eintauschen, aber die Abwärtstendenz ist erstmals durchbrochen worden – ein Ergebnis der Sparprogramme und der Sanierungsmaßnahmen der Regierung. Nun ist fraglich, ob dieses psychologische Signal Bestand haben kann, wenn durch Clintons neueste Maßnahmen aus dem Ausland keine Dollars mehr überwiesen werden dürfen und entsprechend weniger Dollar in Kuba zirkulieren. Trotzdem: Der stabilere Wechselkurs ist ein bemerkenswerter Erfolg…
…und gleichzeitig liefern sich am 5. August Polizei und DemonstrantInnen in Havanna die erste Straßenschlacht seit dem Sieg der Revolution. Ist die vielzitierte “letzte Stunde Castros” angebrochen?
Diese letzte Stunde Fidel Castros wird immer wieder beschworen und zieht sich seit Jahren endlos hin. Die Unruhen vom 5. Ausgust und die anschließende Massenflucht sind ganz sicher eine enorme Belastungsprobe für die Regierung in Havanna. Paradoxerweise haben sie aber kurzfristig eher zu einer Stabilisierung des Systems geführt.
Andererseits hat aber der 5. August die lange aufgestaute Unzufriedenheit der KubanerInnen in bisher nicht dagewesener Weise sichtbar gemacht. Ist er also doch eine Zäsur?
Auf jeden Fall markiert dieser Tag in Kuba politisch einen Bruch. Die Reaktionen auf den Aufruhr – vor allem die Massenflucht – haben das noch einmal unterstrichen. Außerdem gibt es mit dem 5. August jetzt zum ersten Mal ein Datum, von dem die Leute sprechen. Die “Ereignisse vom 5. August” haben sich als Begriff eingeprägt, das Datum ist in gewisser Weise zum Symbol geworden.
Ich habe den Eindruck, daß dieser 5. August aber auch einen Schock in der Bevölkerung hinterlassen hat, der sich in die Formel pressen läßt: Alles – aber bloß keine Gewalt, bloß kein Bürgerkrieg.
Ja, die Unruhen waren ein Schock, und die Gesellschaft verdaut daran noch. Der 5. August hat gezeigt, was viele bisher nur ahnten: daß nämlich die latenten Konflikte in Kuba durchaus sehr gewaltsam ausgetragen werden können. Hinzu kommt, daß fast jedeR in der eigenen Familie Leute kennt, die bei einer Konfrontation wie der an jenem Freitag auf der einen und auf der anderen Seite stehen würden. Bisher funktionierte wunderbar diese Taktik, daß jede Familie möglichst ihren Draht zum Schwarzmarkt hatte und auch ihren Draht in die “offiziellen Systeme” wie etwa die Partei, und beides zusammen ergab eine Art Überlebensstrategie für die Familie. Jetzt aber haben sich diese verschiedenen Elemente zum Teil mit Knüppeln und Steinen gegenübergestanden.
Hat der 5. August die kubanische Gesellschaft polarisiert, hat er sie in zwei Lager gespalten?
Nein, vielmehr hat er die schon vorher vorhandene Spaltung deutlich gemacht und verfestigt. Noch ist es allerdings nicht soweit, daß sich die Menschen entscheiden müssen, auf welcher Seite sie stehen. Man geht zur Arbeit und, wenn die Massenorganisationen rufen, auch auf die Plaza; man wurstelt sich weiter durch. Was am 5. August kurzzeitig sichtbar wurde, ist erst einmal wieder unter der Decke des Alltags verschwunden. Statt dessen ist eine große Lähmung spürbar.
Das Problem der Gewalt ist damit aber nicht vom Tisch.
Gerade für diejenigen, die auf mehr Toleranz in Kuba, auf eine wie auch immer geartete Öffnung oder Demokratisierung gesetzt haben, hat der 5. August eine erschreckende Erkenntnis gebracht: daß nämlich die Regierung auf die Sprache der Gewalt reagiert. Die Unruhen haben schlagartig zu einer deutlichen Änderung der Politik geführt. Sie waren der Auslöser dafür, daß die Grenzen geöffnet wurden. Sie haben auch – ähnlich wie die viel verstreuteren Ausschreitungen im August 1993 – zu einer sofortigen Aufhebung der Stromsperren zumindest im Zentrum von Havanna geführt. Wochenlang gab es ohne Unterbrechung Licht, zum erstenmal seit über einem Jahr sind wieder Fleischrationen verteilt worden. Auf den Gewaltausbruch von unten hat die Regierung mit der Peitsche, aber eben auch mit dem Zuckerbrot reagiert. Doch wenn man immer wieder Lektionen erhält, wie unwahrscheinlich wenig sich auf friedlichem Wege bewegen läßt in Kuba, ist diese Lehre, daß man mit Gewalt Dinge verändern kann, umso schrecklicher.
Machen sich die Castro-Gegner jetzt Hoffnungen, mit neuen Gewaltaktionen könnte die Regierung zu “kippen” sein?
Ich weiß es nicht. Die meisten derer, die einen Systemwechsel wollen, verspüren wenig Lust, für dieses Ziel die Rolle des Märtyrers zu übernehmen. Viele warten auf irgend etwas, von dem sie aber nicht wissen, woher es kommen könnte und wie es aussehen sollte. So tun sie auch nichts Konkretes in irgendeiner Richtung, weil sie auch nicht wissen, was sie eigentlich tun sollten. Ich würde von einer “Eindimensionalität der Regierung” sprechen. Gerade das aber hat das Gefühl einer furchtbaren Ausweglosigkeit zur Folge, die zu der jetzt spürbaren “Rette-sich-wer-kann-Stimmung” führt. Das ist auch das Fatale an der Strategie der USA: Sie setzen einzig und allein auf das Schüren der Krise, darauf, daß die Situation unkontrollierbar wird, ein Volksaufstand ausbricht…
…und was tatsächlich passiert, ist zunächst eine Massenflucht.
Eine soziale Explosion ist keine Perspektive, die die Leute für sich akzeptieren. Niemand will die Rolle der Toten spielen. Also gehen sie lieber raus, steigen auf die Flöße. Da bleibt ein Risiko, aber wenigstens hat man damit die Hoffnung auf einen sozialen Aufstieg.
Ich will nicht die Verzweiflung der “balseros”, der Bootsflüchtlinge, kleinreden oder mir ein Urteil über ihre Motive anmaßen. Aber ist nicht eine Portion Hysterie mit im Spiel, wenn Leute, die nie auch nur versucht haben, schwimmen zu lernen, sich plötzlich in einen Autoreifen setzen und hoffen, bis Florida paddeln zu können?
Ich stimme Dir soweit zu, daß da eine Dynamik am Wirken ist, ein Sog, der dazu geführt hat, daß junge Männer zwischen 17 und 35 fast schon eine Erklärung brauchen, warum sie zu “feige” sind, um auch zu gehen.
In Havanna?
In Havanna und auch in den kleineren Orten an der Nordküste von Mariel bis Matanzas; Ortschaften wie etwa Guanabo oder Cojímar sind schon halb “entleert”. Es geht also nicht allein um ein Phänomen der Großstadt, sondern zumindest jener Bereiche, die eine geographische Nähe zum Golfstrom haben, der die Flöße in Richtung Florida treibt.
Ich würde aber behaupten wollen, daß der von Dir beschriebene Sog im Rest des Landes entschieden schwächer ausfällt.
Dazu kann ich aus erster Hand nichts sagen, aber sicher ist die Lage in den Provinzen weniger kraß als in und um die Hauptstadt.
Glaubst Du, daß die Fluchtwelle in absehbarer Zeit abebben wird?
Die Fluchtbewegung wird tendenziell abebben, und zwar aus mehreren Gründen. Diejenigen, die am dringendsten das Bedürfnis hatten, zu gehen, sind gegangen. Zweitens wird es immer schwieriger, Flöße zu bauen. Immerhin sind gegenwärtig schon 30.000 Leute losgefahren, und so leicht ist es ja nun auch nicht auf der Insel, immer neue LKW-Schläuche zu beschaffen. Die Preise für Fahrzeuge und Zubehör sind erheblich gestiegen. Es werden “schwarz” Überfahrten auf Booten organisiert und verkauft, aber zu Preisen von bis zu fünf- oder zehntausend Dollar. Und wer erst einmal so viel Geld hat, der braucht auch gar nicht raus aus dem Land, sondern lebt auch in Kuba schon relativ bequem in den dortigen Dollarwelten. Auch die US-Politik wird natürlich dazu beitragen, da゚ die Fluchtwelle abebbt. Die drohende Internierung auf hoher See aufgegriffener Flüchtlinge in der US-Flottenbasis Guantánamo hat bereits etliche abgeschreckt.
Hinzu kommt, daß sich eine Alternative anbahnt: In New York verhandeln gegenwärtig die USA und Kuba über eine neue jährliche Einwanderungsquote, die 20.000 oder auch mehr KubanerInnen eine Chance zur legalen Übersiedlung nach Miami geben könnte.
Ein völliges Ende des Flüchtlingsstroms ist auch mit einer großzügigeren Gewährung von Einreisevisa für die USA fürs erste nicht zu erwarten. Es herrscht zuviel Mißtrauen, daß man überhaupt nicht an ein Visum herankommt und daß die ersten Visa an die in Guantánamo Festsitzenden gehen werden, womit die Quote schon ausgeschöpft wäre. An vielen Stellen begegnet man einem Gefühl von Klaustrophobie: Wir kommen hier nicht raus.
Die Ereignisse vom 5. August haben primär dazu geführt, daß sich ein Ventil geöffnet hat; daß durch die Fluchtwelle Druck abgelassen werden konnte. Wie wird es weitergehen, wer wird profitieren können von dieser Situation: Die Reformer innerhalb der Führung: “Wir müssen endlich schnellere Veränderungen durchführen, ehe der Kessel explodiert?” Oder die Konservativen beziehungsweise Orthodoxen: “Jetzt haben wir ja gesehen, wohin die Liberalisierung führt”?
Zunächst ist die Situation für alle Seiten bedrohlich. Personen mit recht guten Kontakten zu höheren Regierungskreisen haben mir sinngemäß gesagt: Die Krise ist in der Beziehung sehr gefährlich, daß der soziale Konsens in der Bevölkerung verlorengeht. Zwar redet die offizielle Rhetorik weiterhin von ein paar asozialen Elementen und Kriminellen, doch es wird sehr wohl wahrgenommen, daß man es nur mit der Spitze eines Eisbergs zu tun hat. Die Unzufriedenheit hat mittlerweile auch breite Teile der Bevölkerung erfaßt, die traditionell die Revolution mitgetragen haben und es zum Teil heute noch tun, wenn auch inzwischen in gebrochener Form. Und insofern, denke ich, wird die jetzige Krise zwei Konsequenzen haben. Erstens wird die Argumentation der Reformer gestärkt, die sagen: Wir müssen zuallererst die Nahrungsmittelproduktion ankurbeln. Dazu sind Veränderungen nötig, zumal die Nahrungsmittelernte dieses Jahr so schlecht war wie nie zuvor.
Heißt das, die freien Bauernmärkte kommen wieder, auf denen die Einzelbauern ihre Überschüsse zu selbstgewählten Preisen anbieten konnten, bis Fidel Castro 1986 die Märkte höchstpersönlich dichtmachte?
Es ist davon die Rede, daß in absehbarer Zeit eine leicht abgeänderte Form von Agrarmärkten eingeführt werden soll, auf denen dann zumindest ein Teil der Produkte wieder frei gehandelt werden wird – zu Preisen, die weit über denen der subventionierten Rationierungskarte, aber unter denen des Schwarzmarktes liegen dürften. Andere Maßnahmen werden folgen. Ich denke aber, sie werden sich alle in einem engen, von der Vorsicht diktierten Rahmen bewegen. Einen tatsächlich freien Bauernmarkt wird es kaum geben, der Staat wird in der Rolle des Zwischenhändlers bleiben, die Preise kontrollieren und dirigieren, Mengen festsetzen und dergleichen.
Und die zweite Konsequenz?
Zweitens wird für die Regierung neben vorsichtigen Reformschritten auch die im Zweifelsfall repressive Absicherung der Macht notwendiger, sei es über die Komitees zur Verteidigung der Revolution (CDR), sei es über die “Brigaden der schnellen Antwort” oder die Staatssicherheit, die in den letzten Wochen ständig in Alarmbereitschaft waren. Der 5. August und die folgende Massenflucht können also zu einer politischen Verhärtung und gleichzeitig zu einer wirtschaftlichen Reformöffnung führen. Im Falle eines Falles weiß man jetzt, daß man hart reagieren muß. Aber parallel dazu wird man wohl versuchen, die Unzufriedenheit halbwegs im Zaume zu halten und die wirtschaftliche Situation durch Reformen zu verbessern.
Mit welcher Politik der USA gegenüber Kuba rechnest Du für die nächsten Monate?
Ich denke, die Konfrontationspolitik Washingtons, die Fortführung und Verschärfung der Embargobestimmungen hat eine mögliche Lösung des kubanischen Dilemmas erheblich erschwert. Trotzdem scheint mir wahrscheinlich, daß zumindest über die Auswanderungsfragen ein Abkommen erzielt wird.
Aber an ein Umdenken bei Clinton nach den Kongreß- und Gouverneurswahlen Anfang November, an eine plötzliche Aufhebung der Blockade glaubst auch Du nicht?
Es wird schon schwer genug sein, Clinton zur Rücknahme der von ihm auf dem Höhepunkt der Krise zusätzlich verhängten Maßnahmen zu bringen: das Verbot von Geldüberweisungen aus dem Ausland, die Reduzierung der Flüge zwischen Miami und Havanna. Und damit bleibt die Situation verfahrener denn je. Vielleicht wird es pragmatischer zugehen nach den November-Wahlen. Eine echte Tendenz zu einer Lockerung oder Aufhebung des Embargos würde ich zwar wünschen, ich sehe sie aber nicht. Es gibt in den USA Kräfte, die in dieser Richtung arbeiten. Ich schätze sie aber als noch nicht stark genug ein, um die jetzige Politik grundsätzlich umzustoßen.
“Wake up, Castro”
Letztes Jahr noch legte mensch hin und wieder die fünf Kilometer zur Aula zu Fuß zurück, wenn die spärlichen Busse, wieder einmal hoffnungslos überfüllt, nicht anhalten wollten. Heute ist wenigstens das besser geworden: Die Spezialperiode zu Friedenszeiten, welche seit dem Zusammenbruch der Handelsbeziehungen mit der ehemaligen Sowjetunion herrscht, brachte für jedeN zehnteN KubanerIn ein Fahrrad. Jorge ist einer dieser Glücklichen. Neysi soll bald schon ebenfalls ein Fahrrad erhalten. Und mit der Wohnung, die Jorge von seiner Mutter geerbt hat – der Vater lebt seit acht Jahren in den Vereinigten Staaten – gehören sie bestimmt zu den am besten ausgestatteten kubanischen Ehepaaren, die mensch in Havanna heute kennenlernen kann – Angehörige der Politikerkaste selbstverständlich ausgenommen.
Der Nachbarin geht es da schon schlechter: Sie teilt sich die halb so große Wohnung mit ihren Eltern, ihren Geschwistern und ihren eigenen beiden kleinen Kindern. Verglichen mit denen von gegenüber geht es ihr blendend: Dort wohnen vier ganze Familien auf der gleichen Fläche. Auch die Tatsache, daß sie heute wieder mal gar nicht erst auf der Arbeit erscheinen muß – ist es der Strommangel oder sind es die fehlenden Materialien, die heute die Produktion lahmlegen?- bewegt sie nicht besonders. Mit dem staatlichen Lohn von knapp 150 Pesos kann sie ohnehin nicht mehr viel kaufen. Die staatlichen Läden sind leer, die wenigen noch produzierten Güter werden unterschlagen und auf dem Schwarzmarkt zu weit überhöhten Preisen verkauft. Sie muß es wissen, schließlich kauft sie jeden zweiten Tag von einem Arbeiter der Industriebäckerei die gleichen Brötchen, die dann in der Bodega an der Ecke fehlen. Mit dem selbstgemachten Käse, den der “campesino” aus der Vorstadt ihr verkauft, belegt sie die kleinen Dinger und verkauft sie an der eigenen Haustür für 12 Pesos das Stück. Vom eigenen Monatslohn könnte sie sich so ganze 12 1/2 Brötchen leisten….
Noch vor vier Jahren konnte mensch zum staatlich garantierten Minimum von 100 Pesos das Notwendigste erwerben. Jorge Rodriguez, Journalist aus Havanna, recherchiert seit vielen Jahren die Entwicklung des Schwarzmarktes der Stadt. Ein von ihm aufgestellter Warenkorb mit neun Gütern – enthalten sind neben Grundnahrungsmitteln nur Seife und Brennstoff – hatte sich bis Ende 1991 schon um das Siebenfache verteuert! Seither läßt sich die rasende Verteuerung kaum noch nachvollziehen. Der Dollar steht mittlerweile auf dem Schwarzmarkt bei 120 Pesos, während er offiziell 1:1 angeboten wird. Am Dollar hängt nun jeder weitere Pesopreis. Fällt der Peso, verteuert sich jedes Gut auf der Straße. Als der Peso im Vorfeld der Maiversammlung von 100 auf 120 pro Dollar fiel, kosteten die belegten Brötchen unserer Nachbarin am selben Tag statt 10 nun 12 Pesos. Am 1. Mai verkündete Fidel dann verschiedene Reformmaßnahmen.
Reformen als Ausweg?
Private Wirtschaftstätigkeit soll nun wieder zugelassen werden, auch besteuert soll sie werden. Und mit den hohen Subventionen des kubanischen Staates geht es zu Ende. Wurde noch Ende der Achtziger der Liberalisierungskurs in Moskau verteufelt, so unternimmt Kuba heute zähneknirschend vergleichbare Maßnahmen: Dem rapide größer werdenden Schwarzmarktsystem wird nachgegeben, weil ihm per Plan nichts entgegenzusetzen ist. Privatisierung im großen Stil muß Kuba sich nicht erst in ein paar Jahren vom Internationalen Währungsfonds vorschreiben lassen. In Kuba privatisiert die KubanerIn selbst – will sie überleben, so bleibt ihr keine Alternative!
Neysi und Jorge haben das schnell begriffen. Während Jorge mit geschickten Geschäften die Rohstoffe auf der “bolsa negra”, Havannas Schwarzmarkt besorgt, fertigt Neysi von Hand hübsche Ledersandalen. Da es in ganz Havanna keine im Land hergestellten Schuhe für kubanisches Geld zu kaufen gibt, können diese dann mit reißendem Absatz für bis zu fünf offizielle Monatsgehälter losgeschlagen werden. Importierte Schuhe gibt es zwar zu horrenden Dollarpreisen in den staatlichen Dollarläden, aber nicht jeder hat Verwandte in den USA oder das gleiche Schwarzmarktgeschick wie unsere Nachbarin oder eben Jorge und Neysi. “Luchar”, spanisch für kämpfen, nennt mensch diese Schwarzmarktbeschäftigung im heutigen Havanna. “Hacer un buen pan” beschreibt dann auch weniger die glückliche Arbeit des Bäckers, als den erfolgreichen Abschluß eines kleinen oder großen Geschäfts auf der “bolsa negra”. Die Kinder und Enkel der Revolutionäre von gestern kämpfen wieder, immer noch für das Gleiche: Ein menschenwürdiges Leben und etwas im Magen.
Trotz kriegerischer Anti-Markt-Parolen ist Kuba seit über 10 Jahren an einer Generalüberholung der Planwirtschaft mit marktwirtschaftlichen Mitteln interessiert. Von Seiten des Ostblocks ist Castros einwandfreie und linientreue Ideologie immer wieder in Frage gestellt worden, von Seiten des nördlichen, imperialistischen Nachbarn bekanntlich weniger. An seiner nationalistischen Grundeinstellung, der Liebe zum kubanischen Volk, zweifelten beide Seiten jedoch nie. Mit marktorientierten Reformen unternimmt Kuba nun einen Rettungsversuch. Höchste Zeit, so ist mensch versucht zu sagen, denn noch sind nicht alle Errungenschaften der Revolution verspielt, noch besitzt die Führung vielleicht genug Glaubwürdigkeit, um die zweifelsfrei harten Anpassungsmaßnahmen durchzuführen. Der nationale Konsens wird dabei auf eine harte Probe gestellt werden; die KubanerInnen sind indes Leid gewohnt.
Harte Zukunft
“Even if Castro wakes up tomorrow as a born-again capitalist” schreibt Eliana Cardoso in “Cuba after Communism”, wird der Übergang sehr hart. Die Privatisierung via “bolsa negra” ist bereits in vollem Gange, da konnte nicht länger auf das Aufwachen der Herren der Nomenklatura gewartet werden. Um die Marktwirtschaft jedoch geregelt einzuführen, müßten dringend Reformen in der richtigen Reihenfolge implentiert werden. Die Einführung eines Steuersystems stände da durchaus im Vordergrund, gleichrangig mit der notwendigen Liberalisierung der Produktionstätigkeit.
Einige WissenschaftlerInnen räumen Kuba gute Chancen ein, bei Einführung eines marktwirtschaftlichen Systems trotz zu erwartender groß Anfangsschwierigkeiten, die Entwicklungserfolge hinüberzuretten. Bei Aufhebung des Handelsembargos durch die USA und späterem NAFTA-Beitritt, so manche WissenschaftlerInnen in den USA, könnten die Deviseneinnahmen Kubas innerhalb von fünf Jahren auf das fünffache, oder fast zehn Milliarden Dollar ansteigen. Verglichen mit den Chancen der RGW-Bruderländer von gestern wären dies geradezu rosige Aussichten!
Wirtschaftsreformen in Kuba – Konturen einer Debatte
Der Vizedirektor des Zentrums für Amerikastudien in Havanna, Julio Carranza Valdés, nimmt mit seinem einführenden Beitrag vom November 1992 eine Bestandsaufnahme der Krise der kubanischen Wirtschaft vor. Den Beginn der Krise datiert er auf Mitte der achtziger Jahre. Das Zusammenspiel von externen und internen Faktoren ließ die kubanische Wirtschaft in einen Abwärtsstrudel geraten, der bis dato noch nicht gebremst werden konnte.
Eine Verschlechterung der Wirtschaftsbeziehungen zum Westen, mit dem Kuba trotz der Einbindung in den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) in den siebziger Jahren noch ca. 40 Prozent seines Außenhandels abwickelte, stand dabei am Beginn dieser Entwicklung. Die Verschärfung der Blockade seitens der USA ist in diesem Zusammenhang nur eine von mehreren Ursachen. Besondere Erwähnung verdient dabei das von den USA verhängte Importverbot für mit kubanischem Nickel hergestellte Produkte, besitzt Kuba doch ca. 37 Prozent der weltweiten Nickelreserven. Auch der Fall der Ölpreise ab 1985 traf Kuba hart, denn mit dem Reexport von überschüssigem sowjetischen Erdöl erzielte das Land in den Jahren 1983-85 40 Prozent seiner Deviseneinnahmen. Beim wichtigsten Exportpodukt Zucker waren aufgrund ungünstiger klimatischer Verhältnisse ebenfalls beträchtliche Produktionsrückgänge zu verzeichnen. Diese externen Faktoren fanden in einer sinkenden internen wirtschaftlichen Effizienz ihre unheilvolle Ergänzung, die der Autor auf das von den sozialistischen Bruderländern übernommene Modell des extensiven Wachstums zurückführt.
Importabhängige Wirtschaft
Dieses Modell erfordert ein hohes Importniveau, trieb entsprechend die Auslandsverschuldung in die Höhe und in Verbindung mit der 1982 ausbrechenden Verschuldungskrise Kuba in die Zahlungskrise. Die Neuverhandlung der Schulden scheiterte, Konsequenz war die Einstellung des Schuldendienstes seitens Kuba und der Kreditvergabe seitens der Gläubiger. Die weitere Verlagerung der Handelsbeziehungen in Richtung Ostblock war damit durch die Devisenknappheit vorgezeichnet und wurde 1986 von Regierungsseite auch offiziell proklamiert. 1987 wickelte Kuba bereits 88,5 Prozent seines Handels mit sozialistischen Staaten ab, allein 70 Prozent mit der UdSSR.
Die starke Ausrichtung auf die sozialistischen Länder wurde durch die nicht absehbare Entwicklung in der UdSSR und den restlichen RGW-Staaten zum Schlag ins Kontor. Kuba verlor dadurch “nicht nur einen günstigen Handelsraum, sondern eine umfassende wirtschaftliche Einbindung.” Die von 8,139 Mrd. USD im Jahre 1989 auf 2,2 Mrd. USD im Jahre 1992 gesunkene Importkapazität beschreibt das Ausmaß dieser Entwicklung.
Neuorientierung der Wirtschaftsstrategie
Die erforderliche Neuorientierung hat nach Carranza Valdés drei Aufgaben zu bewältigen: Eine Anpassung der Wirtschaft an die neuen Bedingungen und die Eingliederung in den Weltmarkt auf neuen Grundlagen sowie eine effizienzsteigernde Reorganisierung der Wirtschaft.
Der Rückgang der Importkapazität ließ die Importe von ca. 8 Mrd. US Dollar im Jahre 1989 auf ca. 4 Mrd. US Dollar im Jahre 1991 sinken. Angesichts der importabhängigen Wirtschaftsstruktur war ein Einbruch der Produktion unvermeidlich. Der kleinere Kuchen wiederum macht Einschränkungen auf der Verteilungsebene unumgänglich. Die soziale Versorgung ist davon ebenso betroffen wie der private Konsum und die staatlichen Investitionen.
Eine Steigerung der Importkapazität kann angesichts der existierenden Kreditsperre nur über eine Ausweitung der Deviseneinnahmen erfolgen. Nichttraditionelle Exporte im Bereich der Pharmaindustrie und von medizinischer Ausrüstung auf mikroelektronischer Basis sowie der Ausbau des Tourismussektors gelten als Hoffnungsträger im Rahmen dieser Strategie. Dennoch macht Carranza deutlich, daß Kuba auch bei einer günstigen Entwicklung zumindest mittelfristig mit eingeschränkten Importmöglichkeiten leben muß. So hält er zusätzlich eine Neuverhandlung der Auslandsverschuldung und Effizienzsteigerungen im Bereich der Produktion und des Handels für “überlebensnotwendig”.
Ausländisches Kapital
als Notlösung
Das in Kuba vorhandene Potential an industrieller Infrastruktur mitsamt hochqualifizierten Arbeitskräften kann wegen Kapitalmangels, veralteter Technologie und fehlenden internationalen Absatzmärkten bisher nicht ausgeschöpft werden. Trotz der eingeräumten Risiken, die Carranza vor allem im Aufkommen einer dualen Struktur eines dynamischen, effizienten Sektors auf ausländischer Kapitalbasis einerseits und eines hinterherhinkenden inländischen Sektors andererseits sieht, gibt es keine Alternative zur Öffnung gegenüber dem ausländischen Kapital. Als Knackpunkt für die Verbindung der Auslandsinvestitionen mit dem internen Sektor und für eine integrale Wirtschaftsreform insgesamt sieht er denn auch die “Neuordnung der Wirtschaft unter einem neuen System der Wirtschaftslenkung”. Wie dieses System aussehen könnte, vermag der Autor allerdings nicht zu konkretisieren.
Über dieses neue System der Wirtschaftslenkung schweigt sich auch Fidel Castro in seiner Rede zur Legalisierung des US-Dollars zum vierzigsten Jahrestag des Revolutionsbeginns am 26. Juli 1993 aus. Er beschreibt all die widrigen Ereignisse, mit denen Kuba seit 1989 konfrontiert wurde, insbesondere den Verfall des sozialistischen Lagers, und ihre Auswirkungen in bemerkenswerter Offenheit. Offen bleibt aber auch, mit welcher Strategie damit umgegangen werden soll. Die kubanische Politik sei, so Castro, Sachzwängen ausgeliefert. An erster Stelle steht dabei die Notwendigkeit, die Deviseneinnahmen massiv zu steigern. Oberstes Ziel sei es, “das Vaterland, die Revolution und die Errungenschaften des Sozialismus zu retten.” Die Reformmaßnahmen stehen jedoch nicht in einem problemübergreifenden Gesamtkonzept. Ein solches ist schlicht nicht existent. Ob angesichts der Extremsituation, in der sich Kuba befindet, ein langfristiges Konzept im Moment implementiert werden könnte, steht indessen auf einem anderen Blatt. Wie die Sonderperiode in Friedenszeiten jedoch ein Ende finden soll, ohne daß ein Gesamtkonzept inklusive eines neuen Systems zur Wirtschaftslenkung entwickelt wird, darauf bleibt auch Castro die Antwort schuldig.
“Sommer der Reform”
Die Freigabe des Dollars leitete einen “Sommer der Reform” ein, der im Mittelpunkt des Beitrags des renommierten Kuba-Kenners Carmelo Mesa-Lago von der Universität Pittsburgh steht. Neben der Legalisierung des Devisenbesitzes wurde selbständige Arbeit auf eigene Rechnung grundsätzlich erlaubt. Dazu berechtigt sind Staatsangestellte in ihrer Freizeit, arbeitslos gewordene ArbeiterInnen aus Staatsbetrieben sowie RentnerInnen, Behinderte und Hausfrauen. Nicht nur der Personenkreis, sondern auch die Tätigkeiten sind eingeschränkt. Der Dienstleistungsbereich überwiegt bei den 117 zu selbständiger Arbeit zugelassenen Berufen. Mesa-Lago sieht darin eine Legalisierung von Tätigkeiten, die ohnehin ausgeübt wurden und werden, ob nun mit oder ohne Billigung des Staates. Bei einer geschätzten Zahl von inzwischen 1,5 bis 2 Millionen mit oder ohne Registrierung auf eigene Rechnung arbeitenden Personen scheint eine Überwachung kaum durchführbar. So bleibt für viele die Versuchung groß, sich nicht registrieren zu lassen. Zum einen büßen Arbeitslose bei Registrierung einen Teil ihrer staatlichen Zuwendungen ein, zum anderen könnte eine Registrierung bei einer veränderten Politik die Enteignung nach sich ziehen.
Mit einer seit September 1993 diskutierten Landwirtschaftsreform werden drei Ziele verfolgt: Die obligatorische Effizienzsteigerung, eine Schaffung von Arbeitsanreizen, um mit geringstmöglichem Ressourceneinsatz einen Produktionszuwachs zu erzielen sowie die Selbstfinanzierung und Selbstversorgung der landwirtschaftlichen Produktionseinheiten. Die Reform soll zwei Ebenen betreffen. Zum einen geht es um die Umwandlung der staatlichen Betriebe in Genossenschaften. Diese bleiben dabei unter Kontrolle des Staates und müssen ihre Überschüsse zu staatlich bestimmten Konditionen an denselbigen veräußern. Die zweite Ebene betrifft bisher ungenutzte Kleinflächen. Sie können künftig an RentnerInnen oder “Personen, die aus gerechtfertigten Gründen nicht in der Lage sind, in der Landwirtschaft zu arbeiten” zum Zwecke der Selbstversorgung vergeben werden. Wer unter die zweite Kategorie fällt, ist nicht klar, Mesa-Lago vermutet Staatsangestellte im Nichtagrarsektor.
Der Versuch der kubanischen Führung, mit marktorientierten Veränderungen die Errungenschaften des Sozialismus zu retten, ohne die Marktwirtschaft einführen zu wollen, hält Mesa-Lago indessen für zum Scheitern verurteilt. Er begründet dies mit dem fortgesetzten Verfall der kubanischen Wirtschaft trotz bisher eingeführter Reformmaßnahmen und mit ihren negativen Folgen für die Regierung, beispielsweise der wachsenden Ungleichheit in der Bevölkerung und der zunehmendem Bedeutung des informellen Sektors. An der Marktwirtschaft führt laut Mesa-Lago kein Weg vorbei – nur ob der Übergang weiterhin friedlich oder gewaltsam bis hin zum Bürgerkrieg verläuft, hält er für offen.
Joint-Ventures
als Hoffnungsträger
Joint-Ventures wird im Rahmen der aktuellen wirtschaftspolitischen Maßnahmen ein großer Stellenwert eingeräumt. Zwei AutorInnen beschäftigen sich mit dieser Thematik, so zunächst Robert Lessmann von der Universtät Wien. Aufgrund der Unklarheit, welche Kooperationsformen unter den Begriff Joint-Venture gefaßt werden, bezieht er sich vorwiegend auf Unternehmen mit ausländischer Kapitalbeteiligung, die sogenannten empresas mixtas. Diese Mischunternehmen führen ihre Transaktionen ausschließlich in frei konvertierbarer Währung durch. Da somit auch die Ausgaben in frei konvertierbarer Währung anfallen, macht eine Produktion für den Binnenmarkt wenig Sinn. So produzieren die meisten denn auch für den Exportsektor oder für den Dollarsektor des Binnenmarktes. Steuerrechtliche und arbeitsrechtliche Sonderkonditionen räumen den Mischunternehmen nach Lessmann selbst im internationalen Vergleich hervorragende Bedingungen ein. Die meisten Joint-Ventures befinden sich im handwerklichen und kleinindustriellen Bereich. Von größerer Bedeutung sind jedoch die Joint-Ventures im Bereich der Grundstoffindustrie und des Tourismus. Bei ersterer sind Joint-Ventures vor allem bei der Suche nach Erdölvorkommen und der Modernisierung der Nickelindustrie gefragt. Auch ist angedacht, im Tausch gegen Rohöl Mexiko und Kolumbien die Nutzung von überschüssigen Raffineriekapazitäten in Kuba anzubieten. Am erfolgreichsten und dynamischsten verlief die Entwicklung bisher im Tourismussektor. 20 Joint-Ventures trugen dazu bei, dßaß der Tourismussektor zur zweitgrößten Devisenquelle heranwuchs. Da die Joint-Ventures erst in den neunziger Jahren verstärkt auftauchten, hält der Autor eine Erfolgsprognose für verfrüht, sieht in ihnen aber einen potentiell wichtigen Beitrag zur Dynamisierung der Volkswirtschaft.
Gesellschaftliche Auswirkungen von Joint-Ventures
Die sozialen Folgen der Joint-Ventures thematisiert Gillian Gunndie (Professorin an der Georgetown-University) anhand mehrerer Fallstudien und Interviews. Die Interviews mit kubanischen Parteiführern, einschließlich Fidel Castros, machen deutlich, daß die kubanische Führung sich der Problematik der Folgen steigender Auslandsinvestitionen bewußt ist. Dennoch gibt es laut Castro “keine andere Wahl, als (…) die Verbindung mit jenen ausländischen Unternehmen zu suchen, die Kapital, Technologie und Märkte anbieten können.” Die Konsequenzen bleiben laut Castro spekulativ.
Die Fallstudien spielen mit der Ausnahme der “Curaçao Drydock Company” (CDM)-Werft in Havanna im Tourismusbereich. Positiven Effekten wie steigenden Deviseneinnahmen und der Schaffung von Arbeitsplätzen stehen eine Aushöhlung des kubanischen Gleichheitsethos durch das Entstehen einer neuen ArbeiterInnenelite und das Aufkommen von nationalistischen Ressentiments wegen des Zugangsverbots zu Joint-Venture Hotels gegenüber. Das zum September 1992 gezogenen Fazit der Autorin fällt knapp positiv aus: “Untergraben ausländische Investitionen das kubanische System? Noch nicht.”
Kubas Transition
Die Öffnung und Reform (apertura) der kubanischen Wirtschaft analysieren Pedro Monreal und Manuel Rúa del Llano, Mitarbeiter des Zentrums für Amerikastudien in Havanna. Die institutionellen Veränderungen in Kuba stehen im Zentrum ihrer Überlegungen. Diese Veränderungen könnten aus sich heraus den derzeitigen Dualismus im kubanischen Wirtschaftssystem mit dem “System der Wirtschaftslenkung und Planung” einerseits und der Marktorientierung im Außenhandel, beim Tourismus und hinsichtlich der Auslandsinvestitionen andererseits, überwinden.
Zwei Variablen weisen sie eine Schlüsselrolle zu. Neben Wachstum und Exportdiversifizierung wird der Erschließung neuer, externer Finanzierungsquellen Priorität eingeräumt. Die institutionellen Transformationen innerhalb der Wirtschaftsreform verlaufen zweigleisig. Unter die organisatorischen Transformationen fallen Veränderungen in der Form und der Funktionsweise der Wirtschaftsakteure sowie Änderungen in der staatlichen Struktur. Damit ist die Gründung von Aktiengesellschaften ebenso gemeint, wie der Aufbau einer Infrastruktur für Handel und Finanzgewerbe, Preisreformen oder der wachsende Einfluß von Nicht-Regierungs-Organisationen. Die normativen Transformationen umfassen die Veränderungen in der Gesetzgebung und in den administrativen Normen. Die Verfassungsreform vom Juli 1992 und zahlreiche Gesetzesdekrete, Resolutionen und ergänzende Regelungen sind Beispiele hierfür. Mit der erwähnten Verfassungsreform sehen die Autoren den Beginn einer neuen Phase bei den normativen Transformationen, denn erstmals wurde die Öffnung über den Exportsektor hinaus auf den Binnensektor ausgeweitet. Neue Konzepte in den Bereichen des Eigentums und seiner Übertragung und bei der Rolle des Staates in der Wirtschaftsplanung und -ausführung sind beispielgebend. Die Legalisierung des Devisenbesitzes ein Jahr später stellt einen weiteren Schritt dar. Aus den bisherigen Erfahrungen mit der apertura ziehen sie überraschend optimistische Schlußfolgerungen. Die Notwendigkeit einer umfassenden Wirtschaftsreform bleibt unbestritten, aber durch die apertura seien günstigere politische Voraussetzungen für diese geschaffen worden: “Zum einen das notwendige Vertrauen der politischen Entscheidungsträger in ihre Fähigkeit, einen Prozeß institutioneller Reformen durchführen und unter Kontrolle halten zu können – und zum anderen die Idee, daß die Konzentration der politischen Macht einhergehen kann mit marktorientierten Wirtschaftsreformen.”
Dieser Optimismus fehlt bei den kulturellen Einschüben indes völlig. Das Gedicht eines anonymen Autors, Liedtexte der beiden populären Sänger Carlos Varela und Pedro Luis Ferrer haben ebenfalls die ökonomische Situation zum Thema. Drastisch werden darin die Auswirkungen der Krise auf die soziale und moralische Substanz der Gesellschaft geschildert. Sie sind auch nicht als Auflockerung gedacht, sondern sollen als Beispiele gesellschaftliche Gegenreaktionen anschaulich machen. Der letzte Song “Hay mucha gente huyendo” (Es gibt viele Leute, die fliehen) von Pedro Luis Ferrer verleiht dem Band zusätzliche Aktualität. Eine Aktualität, die mit einem bis Mai 1994 reichenden Informationsstand für ein Buch ohnehin schon bemerkenswert ist.
Jenseits des Staates?
Im Editorial weist Albrecht Koschützke darauf hin, daß die Autonomie der lateinamerikanischen Staaten (politisch und ökonomisch) seit jeher begrenzt war, die “Durchsetzung des neoliberalen Paradigmas (…) jedoch eine extreme Form von außen induzierter Transformation der nationalen Gesellschaften mit einer offenbar weiterreichenden Eingriffstiefe” darstellt. Bietet der neoliberale Staat neue Freiräume für die multinationalen Kapitale, ist seine nationale Autonomie nach dem Umbauprozeß der achtziger Jahre noch stärker reduziert. Auch die Binnenreichweite des lateinamerikanischen Staates war traditionell begrenzt. Er garantierte zumeist weder ein fächendeckendes Bildungs- und Gesundheitssystem, noch kümmerte er sich beispielsweise um die indianische Bevölkerung und die verarmten Massen.
Der Unterschied zu früher liegt darin, “daß die strukturellen Schwächen des Staates nunmehr zu Tugenden erklärt werden, daß die Vernachlässigung seiner sozialen Funktionen nicht mehr vorwerfbar, sondern lobenswert, weil freiheitsstiftend ist, daß nur rudimentäre staatliche Dienstleistungsangebote statt als Defizit jetzt zum Ziel deklariert werden, kurz, bestehende Not wird in eine Chance zur Entwicklung umgelogen. Praktisch heißt das: Der immer schon miserable Staat wird noch miserabler; er liquidiert Hoffnung, Erwartungen, Rechte und Ansprüche auf Zukunft und Entwicklung gerade für jene, deren eigene materielle Kraft schon bisher nicht ausgereicht hat, individuell Armut, soziale Ungerechtigkeit und Unterentwicklung erfolgreich anzugehen und die jetzt auf die Chancen des Wettbewerbs und des Marktes reduziert werden.”
Die negativen Auswirkungen der Privatisierung staatlicher Funktionen beschreibt Thomas Fatheuer in seiner Analyse der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro: Ganze Stadtviertel werden von Drogenbanden, Glücksspielkartellen und Todesschwadronen kontrolliert. Das Problem ist hierbei, wie so oft, jedoch weniger die Aufgabe des staatlichen Gewaltmonopols – die Polizei wird von den BewohnerInnen der Favelas eher als Bedrohung denn als Schutz gesehen und ist zudem mit den Strukturen privater Gewalt “symbiotisch verwachsen” -, sondern ganz allgemein die Macht der Gewalt über die Gesellschaft. Auch jenseits des Gewaltmonopols werden die staatlichen Aufgaben wie Bildungs- und Gesundheitssystem zunehmend privatisiert und von Drogen- und Glücksspielbossen übernommen. In der tiefgreifenden sozialen Krise bilden sich laut Fatheuer “neue Formen einer sich barbarisierenden gesellschaftlichen Vermittlung, die vielleicht, und das ist das Bestürzende, gar nicht so schlecht funktionieren.” Vor allem aber wirken sie systemstabilisierend, begünstigen “autoritäre und faschistische Antworten” und erschweren den Aufbau basisorientierter Alternativen innerhalb der Favelas.
Daß der Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung und der Abbau der staatlichen Regulierungsfunktionen auch Chancen bietet und die politische Organisierung der Betroffenen fördern kann, zeigt Juliana Ströbele-Gregor anhand des Hoch- und Tieflands Boliviens. Der (Wieder-)Aufbau basisorientierter Entscheidungsstrukturen und Organisationen der indianischen Landbevölkerung in den achtziger Jahren resultierte aus der Notwendigkeit, der Austeritätspolitik der bolivianischen Regierungen zu begegnen, wurde aber auch durch die neuen Freiräume erleichtert, die der Rückzug von “Stiefvater Staat” schuf. Der unabhängige Organisierungsprozeß beförderte gleichzeitig ein neues Selbstbewußtsein und die Besinnung auf die eigenständige kulturelle Identität und Tradition der indianischen Bevölkerung. Zwei Faktoren spielten in diesem Prozeß eine bedeutsame Rolle: die Führungspersönlichkeiten und die Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Hatten erstere als “soziale Grenzgänger” eine wichtige Funktion als “Mittler von Ideen, Werten, politischen Vorstellungen und Kontakten” nutzten die Basisorganisationen die NGOs insbesondere zur Finanzierung notwendiger Projekte und Hilfsmaßnahmen. Dabei erwies sich die massive Ausbreitung der NGOs nicht nur als positiv: mit der Macht des Geldes korrumpierten sie Führungspersönlichkeiten und zerstörten gewachsene Dorfstrukturen.
Diese Ambivalenz der NGOs in ganz Lateinamerika diskutiert Albrecht Koschützke in seinem Artikel über “Die Lösung auf der Suche nach dem Problem: NGOs diesseits und jenseits des Staates”. Waren diese in den Jahren der Diktatur in vielen lateinamerikansichen Ländern oft dem antidiktatorialen Kampf verpflichtet und nicht selten ein Refugium für Oppositionelle, veränderten sie sich mit dem Redemokratisierungsprozeß der frühen achtziger Jahre und übernahmen oft die Aufgaben, die der neoliberale Staat nicht mehr zu erfüllen bereit war – während der Staat “immer weniger Staat wird und sich qua Privatisierung schrittweise auf reine Vermittlerfunktionen reduziert, also tendenziell einer NGO ähnlich wird”. Ohne die Bedeutung der NGOs, die seit den achtziger Jahren einen riesigen Boom erleben, in vielen Teilbereichen in Frage zu stellen, kritisiert Koschützke die verbreitete Meinung, daß diese per se effizient, kostengünstig, uneigennützig, demokratisch und basisnah seien. In der Realität bilden sich durch den expandierenden Hilfemarkt vielmehr neue Abhängigkeiten. Zudem bestehe die Gefahr, daß die NGOs, statt demokratisches Bewußtsein, Erfahrung und Organisierung zu fördern, in der Praxis insitutionelle und soziale Prozesse demokratischer Teilhabe untergraben.
Aus einer ganz anderen Perspektive untersucht Lothar Witte den Privatisierungsprozeß der letzten Jahre: Anhand der Reform der Sozialversicherung in Chile, Peru und Kolumbien macht Witte deutlich, daß die Ausformung der notwendigen Veränderungen in hohem Maße von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhängt. Das “chilenische Modell”, das während der Diktatur realisiert wurde, trägt vor allem den Interessen des Privatkapitals Rechnung. Die kolumbianische Reform berücksichtigt zumindest zum Teil auch die sozialen Interessen der einkommensschwachen Versicherten. Vor allem aber zeigt Witte – dem das Verdienst gebührt, ein so trockenes Thema wie eine Versicherungsreform anregend und anschaulich dargestellt zu haben -, daß weder ein staatliches System automatisch sozial gerechter, noch ein privates effizienter ist.
Hans Petter Buvollen und Robert Große zeichnen den schwierigen und widersprüchlichen Autonomieprozeß an der nicaraguanischen Atlantikküste nach. Historisch von der Zentralregierung in Managua kaum beachtet, begann erst die sandinistische Regierung Anfang der achtziger mit dem verstärkten Aufbau staatlicher Institutionen und Entwicklungsprogramme – und machte vieles falsch. Nachdem sich insbesondere die Miskito dem bewaffneten Widerstand gegen die Revolutionsregierung angeschlossen hatten, initiierte die FSLN einen Verhandlungsprozeß, der 1987 in die Verabschiedung eines Autonomiegesetzes mündete. Der Widerspruch zwischen den wirtschaftlichen und politischen Interessen der Zentralregierung und den BewohnerInnen der Atlantikküste, zwischen Staat und Gesellschaft, wurde allerdings bis heute nicht gelöst. Die Atlantikküste ist noch immer “Spielball von Kräften, die außerhalb der Region liegen”.
Den Schwerpunkt des Jahrbuchs beschließt eine – bereits in den Lateinamerika Nachrichten Nr. 241/242 vorabgedruckte – sehr persönliche Einschätzung von Ingrid Kummels über die Gleichzeitigkeit von Sozialismus, Kapitalismus und Santería für die Menschen in Kuba. In Gesprächen mit FreundInnen und Familienmitgliedern hat Kummels festgestellt, wie in den letzten Jahren der ökonomischen Krise die Santería für die Menschen zu einem wichtigen Bezugspunkt ihrer Alltagskultur “jenseits des sozialistischen Staates” wurde. Auch die Regierung hat ihre rigide Haltung gegen diese Volksreligion in den achtziger Jahren gelockert: “Ihre Strategie war, die Musik und die Rituale der Santería durch ihre Folklorisierung für den Tourismus zu nutzen und zugleich deren religiöse Bedeutungen auszuhöhlen.” Doch die AnhängerInnen der Santería entzogen sich auf ihre eigene Art dieser Funktionalisierung.
Insgesamt bietet der Schwerpunkt des diesjährigen Jahrbuchs einen interessanten Einblick in die Prozesse, die jenseits des (neoliberalen) Staates vor sich gehen. Erfreulicherweise werden nicht nur die negativen Auswirkungen der neoliberalen Restrukturierung analysiert, sondern auch die Chancen berücksichtigt, die der Rückzug des Staates bietet. Dies hätte allerdings noch vertieft werden müssen: Wie in dem Beitrag von Juliana Ströbele-Gregor über die Bauernorganisationen in Bolivien deutlich wurde, sind die sozialen Bewegungen entscheidende Akteure, um der neoliberalen Transformation Widerstand entgegenzusetzen. Auf sie wird allerdings kaum eingegangen. Hier hätte sich – ähnlich dem Beitrag über die NGOs – ein Überblick über die sozialen Bewegungen in Lateinamerika angeboten.
Abgerundet wird das Jahrbuch wie in jedem Jahr durch Länderberichte: Diesmal über Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Kuba, Mexiko und Peru. Wer keine brandaktuellen Informationen erwartet – Redaktionsschluß war bereits im April -, wird auch diese Berichte mit Gewinn lesen.
Jenseits des Staates?. Lateinamerika – Analysen und Berichte 18, hrsg. von Dietmar Dirmoser u.a., Horlemann Verlag (Bad Honnef), 278 Seiten, 29,80 DM, ISBN 3-89502-008-7
Editorial Ausgabe 243/244 – September/Oktober 1994
Haitianische und kubanische Flüchtlinge streiten um den Platz in den Zeltstädten des US-Marinestützpunktes Guantánamo, jenes ehernen Monuments offen imperialistischer Zeiten der US-Politik. Kuba und Haiti, zwei Länder, zwei Krisen. Und an beiden sind die USA beteiligt, sowohl heute als auch an ihrer Entstehungsgeschichte.
Das Militär, das bis heute eine demokratische Entwicklung Haitis verhindert, wurde – wie auch in so vielen mittelamerikanischen Staaten – unter der Ägide der USA aufgebaut. Kubas Revolution kam an die Macht, weil der von den USA unterstützte Diktator Batista für die Bevölkerung unerträglich geworden war. Die uralte Monroe-Doktrin, nach der außeramerikanische Mächte keinen Einfluß auf die Hemisphäre ausüben dürfen, setzte sich in den Zeiten der Systemkonfrontation fort, noch dazu ideologisch aufgeladen durch einen fanatischen Antikommunismus. Linke Regierung = sowjetischer Einfluß, das wurde zur Self-Fulfilling-Prophecy und im nächsten Schritt zur Rechtfertigung der Counterinsurgency-Doktrin.
Von außerhemisphärischem Einfluß kann heute keine Rede mehr sein, ebensowenig wie vom weltweiten Kampf gegen den Kommunismus. Hat sich damit die ideologische Grundlage der US-Lateinamerikapolitik verändert? Sollten andere Werte heute im Vordergrund stehen, vielleicht gar Menschenrechte und Demokratie, die bislang so offenkundigen Worthülsen, um den Hegemonieanspruch der USA zu bemänteln?
Wenig spricht dafür. Die US-Politik scheint nur an einem interessiert: Ruhe im Hinterhof – will heißen, keine Aufstände und keine Flüchtlingsbewegungen – und freie Bahn für die eigenen wirtschaftlichen Interessen. In weiten Teilen des Kontinents scheint es gelungen zu sein: Von Chile bis Mittelamerika herrscht relative Stabilität, und das neoliberale Modell steht alternativlos da.
Bleiben Kuba und Haiti, die politischen Altlasten von Jahrzehnten US-amerikanischer Lateinamerikapolitik, für die in Washington hilflos nach Entsorgungskonzepten gesucht wird. Nur, eben diese fehlen. In Haiti laviert Clinton zwischen Nichtstun und Invasionsdrohungen und verschleppt damit die Krise immer mehr. Das Thema Kuba läßt währenddessen in den USA anachronistische ideologische Reflexe wiederauferstehen. Die Folge: In fataler Wechselwirkung mit der Unbeweglichkeit des Castro-Regimes wird die Krise durch das Embargo und dessen Verschärfung noch geschürt.
Je länger sich die Krisen hinziehen, umso mehr werden in beiden Ländern nicht nur Volkswirtschaften, sondern ganze Gesellschaften zerstört. Wo soziale Strukturen immer brüchiger werden, wo keine Perspektiven mehr sichtbar sind, sondern Angst vor Chaos oder, wie in Haiti, vor brutalem Terror herrscht, denken auch die, die gerne bleiben würden, an Flucht. Die US-Politik steckt in einem Dilemma. Worauf eigentlich sollen in Zukunft leidlich stabile Demokratien aufbauen, wenn soziale Strukturen zuvor so nachhaltig zerstört werden? An die Stelle einer Macht, die sich auf ein Minimum an funktionierender Zivilgesellschaft stützt, könnten nur wieder autoritäre Regimes treten. Man sollte in Washington gelernt haben, daß Ruhe im Hinterhof damit auf Dauer gerade nicht zu erreichen sein wird. Es sei denn, den US-Strategen erscheint dies als kleineres Übel gegenüber der Aussicht, ein geregelter Übergang und stabilere demokratische Verhältnisse könnten in Zukunft auch US-kritischen Tendenzen in Kuba und Haiti politische Spielräume für Veränderungen eröffnen, die sich den von Washington gewünschten Spielregeln entziehen. Altes Denken im Weißen Haus.
Vorwärts, aber nicht vergessen!
Der Polyp und die Demokratie in Guatemala
Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sich Guatemala endlich von der häßlichen Diktatur Jorge Ubicos befreit, der als der “Napoleon der Tropen” in die Geschichte eingehen wollte. Seine wichtigste Tat hatte 1936 darin bestanden, die einseitigen Verträge mit der US-amerikanischen Bananengesellschaft United Fruit Company für weitere 45 Jahre zu verlängern. Diese Gesellschaft, “El Pulpo” – der Polyp – genannt, hatte zehn Prozent der Böden des Landes unter seine Kontrolle gebracht, eigene Straßen, Eisenbahnen, Telephonnetze und Hafenanlagen aufgebaut, brauchte keine Steuern zu zahlen und keine Gewerkschaften zu fürchten.
Die guatemaltekischen Demokraten, die das Erbe Ubicos antraten, wollten das Land ganz sachte und vorsichtig aus seinem halb feudalen, halb kolonialen Zustand in die Neuzeit führen und zimmerten dafür erst mal eine liberale Verfassung, die einige eher zaghafte Reformen erlauben sollte. Der erste Präsident, der Universitätsprofessor Juan José Arévalo, baute Schulen und setzte durch, daß auch die United Fruit Company Gewerkschaften und das Streikrecht anerkennen mußte. Schon das war dem Polypen zuviel. Umso heftiger war die Reaktion, als Arévalo – ganz im Rahmen der Verfassung – nach sechs Jahren das Amt an seinen demokratisch gewählten Nachfolger Jacobo Arbenz abgab. Arbenz war Sohn eines Schweizer Apothekers und als Hauptmann der Armee maßgeblich am Sturz Ubicos beteiligt gewesen. 1952 verkündete er eine äußerst bescheidene Landreform, wie sie auch in der Verfassung vorgesehen war: Die Kaffeeplantagen der während des Weltkrieges ausgewiesenen Deutschen wurden verstaatlicht, und brachliegender Grundbesitz – auch von der United Fruit – wurde an landlose Indios verteilt. Natürlich wurde Entschädigung gezahlt, aber nur gemäß dem Buchwert, den die enteigneten Unternehmen dem guatemaltekischen Fiskus für die betroffenen Ländereien selbst gemeldet hatten. Für die United Fruit ergab das eine Summe von 600.000 Dollar, was US-Präsident Eisenhower “traurig unangemessen” fand.
Eisenhower kannte sich gut aus, weil er sich mit Leuten umgeben hatte, die in den Diensten des Polypen gestanden hatten oder noch standen oder gar selbst beteiligt waren. Außenminister John Foster Dulles hatte 1936 als Mitglied des New Yorker Anwaltsbüros Sullivan und Cromwell die Verträge mit Ubico selbst ausgehandelt. Sein Bruder Allen Dulles war Chef des Geheimdienstes CIA. John Moors Cabot, Staatssekretär für interamerikanische Angelegenheiten, war ein Bruder des Präsidenten der United Fruit. Henry Cabot Lodge, Botschafter bei den Vereinten Nationen, war Großaktionär des Unternehmens. Anne Whitman, Privatsekretärin von Eisenhower, war mit dem Leiter der Public-Relations-Abteilung von United Fruit verheiratet. Eisenhower und Dulles kannten sich also aus und forderten das Fünfundzwanzigfache an Entschädigung.
1954: Das Ende der Hoffnung
Präsident Arbenz wollte mit seiner Landreform etwas mehr gemäßigten Kapitalismus nach Guatemala bringen, aber das bringt ihm nun den Vorwurf des Kommunismus ein.
Die kleine Kommunistische Partei unterstützt ihn, und er muß sich bei der wachsenden Opposition der konservativen Oligarchie auf alle Kräfte stützen, die ihm helfen. Während CIA, United Fruit und die Reaktionäre Guatemalas längst die Invasion planen, wird Arbenz selbst beschuldigt, die Nachbarländer zu bedrohen: “Die Krakenarme des Kreml sind unübersehbar”, warnt John Moors Cabot aus dem Weißen Haus in Washington.
Am Fronleichnamstag 1954 hat Oberst Castillo Armas, an der US-Generalstabsakademie geschult, mit der Unterstützung von CIA-Offizieren in Honduras genügend Kräfte beisammen, um mit etwa 1000 Söldnern, Flugzeugen und Torpedobooten das schlecht gerüstete und kaum verteidigte Land zu überfallen und in zehn Tagen zu erobern. Vorwand war die Nachricht, daß der schwedische Frachter “Afhelm” im Hafen Puerto Barrios 2000 Tonnen Waffen und Munition aus den tschechischen Skoda-Werken gelöscht hatte.
Diktatoren wie Somoza von Nicaragua, Pérez Jiménez von Venezuela, Rojas Pinilla von Kolumbien oder Trujillo von der Dominikanischen Republik preisen beseligt den Sieg der Demokratie in Guatemala. Der Erzbischof von Guatemala, Mariano Rossell Arellano, feiert den Sieg über den “gott- und vaterlandsfeindlichen Kommunismus”.
Jacobo Arbenz muß in der mexikanischen Botschaft um Asyl nachsuchen. Ein junger argentinischer Medizinstudent verbringt diese Tage in Guatemala und versucht, trotz heftiger Asthma-Anfälle, an der Organisation des Widerstands teilzunehmen: Ernesto Guevara, der Che. Er hat diese Erfahrung nie vergessen: die Macht des Imperiums, den Einfluß des Großunternehmens, den Verrat der Oberschicht, den Kleinmut der offiziellen Armee und die Ohnmacht der Indios, die nun wieder enteignet wurden.
Demokratische Reformen waren offenbar auf friedliche Weise nicht durchzusetzen, diese Lehre hatten CIA und United Fruit den lateinamerikanischen Reformern erteilt. Der Che und Fidel Castro haben es dann in Kuba auf andere Weise versucht
Jenseits des sozialistischen Staates
Im Mai 1993 erreicht mich aus Havanna ein ungewöhnlicher Brief. Meine Cousine schreibt, daß sie dringend einen Fächer aus Pfauenfedern, Armreifen aus Meeresmuscheln, verschiedenfarbige Glasperlen, einen schneeweißen Pyjama und ein weiteres halbes Dutzend ähnlich wichtiger Dinge benötigt. Wenn irgend möglich, soll ich dies alles bei meinem nächsten Besuch nach Kuba mitbringen, denn ihr Mann, so schreibt meine Cousine, “muß seinen Heiligen machen” Es besteht kein Zwei_fel, daß er sich in die Santería ein_weihen lassen will, in die Re_ligion, die in Kuba aus den Glau_bensvorstellungen der afri_kanischen Skla_ven hervorgegangen ist.
Die Santería
Angesichts üppiger Meldungen in deutschen Medien über die wirtschaftliche Not auf der sozialistischen Insel überrascht mich diese Wunschliste. Schließlich erreichen mich seit Jahren Briefe aus Kuba, in denen Schreiberinnen voller Sinn fürs Profane um Nylonstrümpfe, Büstenhalter und Ausgehschuhe – und auch mal um eine Sonnenbrille von Dior oder ein drahtloses Telefon – bitten. Der Gedanke, daß meine Verwandten sich in den Zeiten des Niedergangs der sozialistischen Zentralwirtschaft mit dem “Opium fürs Volkesen”. Doch erst seit einigen Jahren bekennen sie sich immer mehr offen zu den bisher vielfach diskriminierten Glaubensvorstellungen, die so sehr ein Teil von ihnen sind, daß man Santería als die geheime und verkannte Volksreligion der Kubaner ansehen kann.
Bei meinem Besuch im August 1993 stelle ich fest, daß die Santería mittlerweile sogar in den früher ausschließlich Diplomaten und ausländischen Touristen vorbehaltenen diplotiendas präsent ist. Im Monat zuvor hatte die Regierung die Dollarisierung der kubanischen Wirtschaft legalisiert und allen Kubanern den Besitz der US-Währung erlaubt. An der Kasse der größten diplotienda von Havanna drängen sich nun neben wenigen Ausländern
gleichfalls mit Dollars gesegnete junge Kubanerinnen, die auch am hellichten Tag so etwas wie eine zweite schillernde Synthetikhaut tragen, und ein förmlich gekleideter Herr, der auffällt, weil er die begehrten und überteuerten Produkte – überwiegend US-amerikanischen Ursprungs – nicht mit Dollars, sondern mit Gutscheinen der sozialistischen Regierung bezahlt. Noch an der Kasse unterhält er sich angeregt mit zwei älteren Frauen über die vor einigen Tagen merklich angehobenen Preise für aguardiente de caña, einem Zuckerrohrschnaps, der für viele Rituale der Santería unentbehrlich ist. Die Frauen sind ganz in Weiß angezogen und mit Halsketten aus bunten Glasperlen geschmückt. Als Novizinnen der Santería müssen sie mehrere Monate lang auch in der Öffentlichkeit diese Kleidung tragen. Entspannt schieben sie ihr vor allem mit dem speziellen Schnaps beladenes Einkaufswägelchen als nächstes zur Kassiererin.
Die ungewöhnlich und willkürlich anmutende Zusammensetzung in der Warteschlange der diplotienda kann man als typisch kubanisch ansehen. Sie steht für die Gleichzeitigkeit uns widersprüchlich erscheinender Weltanschauungssysteme und Organisationsformen des Sozialismus, Kapitalismus und der Santería, die nicht erst seit jüngster Zeit gemeinsam die kubanische Gesellschaft prägen. Alle drei Systeme sind auch während des sozialistischen Staates für die Lebensorientierung vieler Kubaner wichtig geblieben, erfuhren aber im Laufe der Zeit unterschiedliche Gewichtungen. Dies wird besonders deutlich bei den sogenannten “kleinen Leuten”. Mit ihren Tradi_tionen, ihren Fertigkei_ten und ihrem Wissen ha_ben sie die heutige Situation Ku_bas und die Geschichte der letzten Jahrzehnte we_sentlich サvon untenFehler: Referenz nicht gefundeni liefen, anderenteils diesen aber auch entgegensteuerten. Um diese Mitbestimmung von unten zu veranschaulichen, will ich ein wenig von den Bewohnern eines Stadtviertels von Havanna, des barrio de los tabaqueros, erzählen.
Die eigenen Wurzeln
Zu den Bewohnern dieses Viertels verbindet mich von 1981 an ein besonderes Verhältnis. Etwa einmal im Jahr reise ich seither regelmäßig nach Kuba und besuche dort für einige Wochen auch meine Verwandten; denn meine Mutter war Kubanerin. An dieser Stelle meiner Familienbiographie angelangt, muß ich stets eine Erklärungerten, auf Dauer dort zu bleiben. Trotzdem wurde sie, wie viele nach der Revolution, in die Position einer Exilkubanerin gedrängt und durfte ihre Heimat nur in Ausnahmefällen besuchen. Dieses für sie schmerzhafte persönliche Schicksal hat auch meine Sichtweise von Kuba beeinflußt. Es hat sicherlich meine Zuneigung zu den kleinen LeutenFehler: Referenz nicht gefunden diese beiden Bevölkerungsgruppen nicht zu polarisieren, sondern zu zeigen, wie sie im Alltag eng zusammenwirken.
Das barrio de los tabaqueros war nie ein privilegiertes Viertel. Die Bewohner der Gründungszeit erzählen, daß es in den zwanziger Jahren von Tabakfabrikanten angelegt wurde, um ihre Arbeiter dort anzusiedeln. Die schmalen Grundstücke wurden aufgrund der großen Nachfrage unter denen, die sich den Kauf leisten konnten, verlost. Das sollte man wissen, wenn man den Ausspruch hört, der Großvater habe damals das Grundstück サin der Lotterie gewonnenォサFamiliengeschichte
Mein Großvater war chinesischer Abstammung und in Schuldknechtschaft geboren. Als Jugendlicher hatte er sich mit dem Gewinn aus einer Nebentätigkeit als Kleinhändler von seinem Patrón freikaufen können. Auch während seiner Arbeit in der Tabakfabrik bot er, unterstützt von seinen ältesten Kindern, an einem fahrbaren Stand Obst und Gemüse feil. In dieser Zeit gab er die Mitgliedschaft in einem Traditionsverein der Chinesen von Havanna auf. Er fühlte sich nach und nach in der Gemeinschaft der サrassischFehler: Referenz nicht gefundeneßen sich die Arbeiter beim eintönigen Zigarrendrehen aus den Werken von Marx, Engels und Lenin vorlesen. Die Oktoberrevolution beflügelte ihre Hoffnung auf eine gerechte, egalitäre Gesellschaft. So verwundert es nicht, daß mein Großvater seinem Anfang der dreißiger Jahre geborenen Sohn den Vornamen Lenin gab. Er selbst hatte bereits als Jugendlicher – mit prophetischer Weitsicht, so könnte man meinen – den Nachnamen Castro angenommen.
Auch meine Großmutter, die mit 14 Jahren heiratete, stammte aus bescheidenen Verhältnissen. Sie wuchs weniger bei ihrem gutsituierten baskischen Vater auf, auf den die Familienmitglieder heute noch mit Stolz hinweisen, als vielmehr bei ihrer früh verstorbenen Mutter, über deren Herkunft und Hautfarbe man sich in der Familie hartnäckig ausschweigt. Wie viele Kubaner versuchen die Familienmitglieder beharrlich, sich zu “verweßlichen” indem sie ihre afrikani_schen Vor_fahren verdrängen und notfalls ihre Haut_farbe auf eine als edler geltende Abstam_mung von Indianern zu_rückführen. Zu diesem サVerweißlichungsprozeßFehler: Referenz nicht gefundenulbildung karitativen Einrichtungen der katholischen Kirche, deren Vertreter großen Wert auf Distanz zum サAberglaubenFehler: Referenz nicht gefundenOchú: Einnehmend, kokett, lebenslustig, untreu
Diese als aufgeklärt geltende Haltung, die sich an den Vorstellungen der Oberschicht orientierte, verhinderte jedoch keineswegs, daß die Santería den Alltag meiner Großmutter und ihrer Kinder durchdrang. Alle fühlten sich jeweils einem bestimmten Heiligen besonders verbunden, dessen サTochterFehler: Referenz nicht gefundenSohnFehler: Referenz nicht gefundenrd, unter anderem als großzügig, einnehmend, kokett, lebenslustig und untreu.
Die Töchter der Caridad oder Ochúns trugen mit Vorliebe Gelb, die Farbe ihrer Heiligen. Da Ochún, wie alle Heiligen, ständig in die Angelegenheiten der Menschen eingreift, versucht man, sie durch Gaben und Gefälligkeiten wohlzustimmen und hofft, daß sie einem Wünsche – insbesondere in bezug auf Gesundheit – erfüllen werde. Einmal im Jahr brachte meine Großmutter ihrer Heiligen großzügige Essens- und Getränkegaben dar, die anschließend von den geladenen Gästen, Verwandten, Nachbarn und サKindernFehler: Referenz nicht gefundenänger wußten selbst nicht, daß sie ebensolche waren. So hielt auch ich lange Zeit die reinigenden Abreibungen mit Weihwasser und Kölnisch Wasser, die mir meine Mutter regelmäßig zukommen ließ, damit böse Mächte von mir abgehalten wurden, für einen festen Bestandteil orthodoxer katholischer Praktiken.
Vom Zentralmarkt zur Musik
Den Wunsch nach gesellschaftlichem Aufstieg und wirtschaftlicher Absicherung versuchte die Familie meiner Großeltern von Anfang an ganz pragmatisch über Kleinunternehmertum zu verwirklichen. Ihr gemauertes Haus inmitten der sonst im Viertel üblichen Holzhäuser weist noch heute auf die zwar ungewöhnliche, aber trotzdem nicht untypische Familiengeschichte hin. Unter gemeinsamer Anstrengung brachten meine Großeltern es Mitte der zwanziger Jahre zu einem eigenen Stand im Zentralmarkt von Havanna und damit zu einem bescheidenen Wohlstand. In der Folge des Schwarzen Freitags, der 1929 die Weltwirtschaftskrise einläutete, verloren sie jedoch ihre gesamten Ersparnisse. Danach konnte sich die Familie insbesondere durch den wirtschaftlichen Beitrag ihrer Töchter über Wasser halten. Die Eltern hatten großen Wert darauf gelegt, daß die elf Töchter ein Handwerk und auch Musik spielen lernten. Anfang der dreißiger Jahre traten die Schwestern zunächst als Son-Septett auf, später hatten sie als Jazz-Band auch international Erfolg. Die Musikerinnen verhalfen der Familie wieder zu wirtschaftlichem Aufstieg. An dessen Höhepunkt leistete sich mein Großvater eine Reise zur Weltausstellung nach New York und erfüllte einer seiner Töchter den Lebenstraum einer Audienz beim Papst.
Das Liedgut der Frauenband schöpfte, wie ein großer Teil der kubanischen Musik, von den Glaubensvorstellungen der Santería. Just als nach gut 30 Jahren das Musikgeschäft den Schwestern keine allzu großen Perspektiven mehr bot, übernahmen in Kuba die Revolutionäre die Macht. Der sozialistische Staat förderte die Musikszene breit und großzügig. Meinen Tanten gelang es, das Frauenorchester bis Ende der achtziger Jahre weiterzuführen. So erhielten sie bis ins hohe Alter bei einem festen, relativ hohen Einkommen Anerkennung und Beschäftigung als Musikerinnen.
Trotz ihrer Sympathien für den Sozialismus und für die Proteste der Studenten gegen den Diktator Machado engagierten sich die Familienmitglieder nicht in der Politik. In den Jahren, die von der wirtschaftlichen und politischen Krise bestimmt waren, verhielten sie sich abwartend und konzentrierten sich darauf, die alltäglichen Herausforderungen zu bewältigen. Wie die meisten in ihrem Viertel, ergriffen sie während des Guerilla-Kampfes nicht aktiv Partei für die Revolutionäre. Doch schon bald nach dem Machtwechsel wandelte sich bei vielen die Zurückhaltung in Begeisterung und Unterstützung für die ersten Veränderungen. Jene Tante, die zum Vatikan gereist war, konvertierte, so erzählt man sich, über Nacht vom Katholizismus zum Guevarismus und spendete – zum ungläubigen Erstaunen der Familienangehörigen – ihren Schmuck für den Aufbau des Sozialismus. Bis zu ihrem Tod verehrte sie Che und Fidel mit der gleichen Inbrunst wie die Jungfrau der Caridad und vormals den Papst. Sie wurde die Vorzeige-Sozialistin der Familie und somit die Spezialistin für Behördengänge und Kontakte mit Parteistellen.
Sozialisten, Kapitalisten und Santeros
Eine vergleichbare Konstellation ergab sich in den ersten Jahren nach der Revolution bei vielen Familien des Viertels der tabaqueros: Einige wenige Familienangehörige bekannten sich nun öffentlich unzweideutig zum Sozialismus und erhielten bevorzugten Zugang zu Wohnungen, einträglichen Arbeitsplätzen und Luxusgütern wie Fernsehern, Kühlschränken und Autos. Die Mehrheit der Bewohner des Viertels unterstützte Maßnahmen der Regierung jedoch eher sporadisch und hielt – in der für sie bewährten Art – Distanz zur Politik.
Bei der sozialistischen Staatspartei waren die Werte des individuellen Unternehmertums und des orthodoxen Katholizismus nicht mehr gefragt. Ganz im Stil der früheren Oberschicht wurde die Santería auch von den neuen Regierenden als rückschrittlich, primitiv und gewaltverherrlichend verpönt. Die öffentliche Haltung eines Individuums zum Staatssozialismus war fortan für seine sozioökonomische Stellung entscheidend. Dies bewirkte, daß die Bewohner des Viertels in ihren Diskursen zunehmend die drei für sie wichtigen Weltanschauungssysteme – den kubanischen Sozialismus, den US-amerikanischen Kapitalismus und die Santería – isolierten, einander gegenüberstellten und plakativ nur für ein System Partei ergriffen.
Der idealtypische Diskurs des Sozialistenuser. Er ist der einzige, dem es gelingt, schwerwiegende Mißstände durch persönliche Alleingänge zu beseitigen. In Kuba hungert niemand, alle haben die gleichen Bildungschancen und medizinische Versorgung; somit übertrifft Kuba sogar die auch von den Sozialisten im materiellen Bereich bewunderten USA. Die mißliche Versorgungssituation des Alltags ist auf die Unzulänglichkeiten der Menschen zurückzuführen, denn im Gegensatz zu Fidel (und Che, der eine Sonderrolle spielt) sind die normalen Menschen äußerst fehlbar.
Für den US-KapitalistenFehler: Referenz nicht gefundeneines jeden Kubaners führen muß – zu gutem Essen, makelloser Garderobe und einem Auto. Da die Kubaner als Unternehmer unübertrefflich sind, sind sie im Prinzip die idealen US-Bürger, wie sie bereits in Miami unter Beweis stellen konnten.
Der idealtypische Diskurs des Santero hat es nicht nötig, die obigen Weltanschauungssysteme groß gegeneinander abzuwägen, denn beide sind der Santería untergeordnet. So kreisen die Gedanken des Santero konkreter um die Personen, die ihn im Alltag umgeben, und um die Frage, wie man mit Hilfe der Heiligen durch überirdische Mächte Ehepartner, Verwandte, Glaubensgenossen und andere beeinflussen kann. Dies entspricht dem kubanischen Naturell, denn der Kubaner ist mandón, er kommandiert gern herum und zwar am liebsten Leute, die ihm nahestehen. Doch als ausgesprochener Pragmatiker behält der Santero zugleich die übergeordneten irdischen Kräfte im Auge und respektiert sie – solange sie auch von den Heiligen gestützt werden.
Pragmatische Allianzen
Wie die polarisierten Weltanschauungen im Alltag zusammenfließen, das zeigte sich beim Abschluß der Panamerikanischen Spiele im Sommer 1991. Alle im Viertel schwärmten vom großen Erfolg der kubanischen Sportler. Sogar der Ärger über die immer mehr mit Sojaschrot gestreckten Hackfleischrationen und die mit Süßkartoffelmehl versetzten Brötchen, die nach einem Tag zu backsteinähnlicher Härte mutierten, war kurzfristig vergessen. Auch die dem US-Kapitalismus zugetanen Leute, die sich Fidel zur Hauptfigur zahlloser bissiger Witze erkoren haben, führten den überragenden Erfolg der Sportler fast ausschließlich auf den Staatschef zurück. Eine für ihre freiwilligen Einsätze mehrfach ausgezeichnete Arbeiterin erklärte dies wie folgt: サHast du bemerkt, daß er unter der Armbanduhr die farbigen Bänder seines Heiligen trägt und vor jedem Sieg der Kubaner unmerklich die Hand gehoben hatte?Fehler: Referenz nicht gefundenTrotz der nach außen gekehrten Gegensätze zwischen den Verfechtern des Sozialismus und des Kapitalismus gibt es im Alltag des Viertels eine enge Zusammenarbeit zwischen erklärten Sozialisten und “Nicht-Sozialisten” Ihre Kum_panei ist so zentral für die Wirtschafts_weise, daß viele Bewohner der Meinung sind, Kuba sei nicht vom socialismo, son_dern von einem Sy_stem des sociolismo (von socio = Genosse, Freund) bestimmt. Die Nicht-Sozialisten sind auf die Koope_ratioサ der Parteigänger angewiesen, um lukrative Arbeitsplätze in Fleischfabriken, im Tourismusgewerbe oder im Diplomatenviertel einnehmen zu können. Als einträglich erweisen sich diese Stellen durch die Möglichkeit, an Devisen, Fleisch, Rum und andere Waren heranzukommen, um sie dann in den Schwarzmarkt einspeisen zu können. Außerdem brauchen sie für ihr illegales Kleinunternehmertum die Protektion durch die Parteigänger. Nur mit ihrer Hilfe können sie die Güter beschaffen und produzieren, die die Zentralwirtschaft entweder gar nicht oder nicht in ausreichender Menge zur Verfügung stellt. Die erklärten Sozialisten wiederum benötigen die Geschäftemacher, um in den Genuß von illegal beschafften Waren zu kommen, ohne sich selbst die Hände schmutzig machen zu müssen. Dabei sind die Macht und das soziale Prestige zwischen beiden Gruppen jedoch ungleich verteilt. Überspitzt könnte man sagen, daß, während die einen die Früchte ihres Bemühens stolz präsentieren können, die anderen permanent mit einem Bein im Knast stehen. Im Alltag aber ist das Zusammenwirken zwischen Sozial-isten und Nicht-Sozialisten meist durch die familiäre Solidarität und die Einsicht abgesichert, daß die staatliche Planwirt-schaft ohne die kleinen Geschäftemacher längst am Ende wäre.
Der Sozialismus und die “kleinen Leute”
Ob 1993, im Jahr der wirtschaftlichen Krise, oder 1981, dem Jahr meines ersten Besuches (rückblickend kann man es als ein Jahr des wirtschaftlichen Wohlstandes bezeichnen): die staatlich gelenkte Zentralwirtschaft mußte zu jeder Zeit von den privaten Initiativen der kleinen LeuteFehler: Referenz nicht gefundenDiesem Bereich widmeten die Revolutionäre schon bald nach ihrem Sieg große Aufmerksamkeit. Bezüglich den Zielvorstellungen wurden sie mit den サkleinen LeutenFehler: Referenz nicht gefunden Im Viertel der tabaqueros wurde zwar nie – wie im Zentrum und anderswo – ein Eispalast eingerichtet, doch tauchte bis 1989 mit geschätzter Regelmäßigkeit ein Kühlwagen auf, dessen Ladung von Pappkartons mit gefülltem Sahneeis reißenden Absatz fand. Die bis dahin selbstverständlichen monatlichen Rationen von Bier, Rum und Zigaretten waren während der Zeiten eines von der Sowjetunion mitgetragenen wirtschaftlichen Wohlstandes nicht unwesentlich für die breite Unterstützung, der sich die sozialistische Regierung erfreuen konnte.
Die Versorgung organisieren
Bezüglich der Organisation der wirtschaftlichen Versorgung gab es allerdings keine Einigkeit. So trieb die sozialistische Regierung von Anfang an die gleichwertige Integration von Männern und Frauen in die Staatsbetriebe voran und entmutigte eine Tätigkeit als “Nur-Hausfrau” Die soge_nannten サHausfrauenEin Grund dafür war, daß ein in die Arbeitswelt der Staatsbetriebe integriertes Ehepaar gar nicht in der Lage war, sich selbst zu versorgen. Die Betriebe garantierten zwar eine Grundversorgung mit Essen, jedoch nicht etwa mit Kleidung und Haushaltsgegenständen. Deren legale Beschaffung über die libreta, das Bezugsscheinheft, war normalen Werktätigen aus Zeitgründen ebensowenig möglich wie engagierten Parteimitgliedern. Neben ihrer サeigentlichenFehler: Referenz nicht gefundenfreiwilligerFehler: Referenz nicht gefundenDie Zeit vor der período especial genannten Wirtschaftskrise Anfang der neunziger Jahre läßt sich folgendermaßen beschreiben: Zwischen fünf und sechs Uhr morgens zwängen sich überwiegend Männer in die überladenen Busse oder steigen auf Lastwagen und entschwinden für den Rest des Tages in den dunklen Abgaswolken am Horizont. Dann übernehmen die Frauen das Viertel, das eher nach ihnen als nach den früheren Tabakarbeitern benannt sein müßte. Die Frühaufsteherinnen reihen sich mit den libretas mehrerer Familienmitglieder und Nachbarinnen gewappnet in die gefürchtete Brotschlange ein. In letzter Zeit versucht ein Polizist, den wachsenden Andrang auf eine sinkende Anzahl von Brötchen in geordneten Bahnen zu halten.
Zeitraubendes Schlangestehen gehört jedoch nicht zu den größeren Herausforderungen für die Hausfrauen. Aufgrund der unregelmäßigen Belieferung der bodegas, der Verteilerstellen, müssen sie zunächst einmal ausmachen, wo überhaupt eine Schlange ist. Dieses Problem, so könnte man meinen, kommt den Bewohnerinnen des Viertels nicht ganz ungelegen. Ihre Lebensart, ihre nie endende Gesprächsbereitschaft, sowie das Sozialleben, das sich in den meist offenstehenden Häusern und unter den Vordächern abspielt, fördern die Kommunikation, die wahrscheinlich sowieso als das vorherrschende Grundbedürfnis der Kubanerinnen und Kubaner bezeichnet werden müßte. Dieses Informationsnetz ist so engmaschig und reaktionsschnell, auch Dank des Gebrauchs des nicht zuletzt deswegen hoffnungslos überlasteten Telefonnetzes, daß oft schon die ersten in der Schlange stehen, bevor der Lieferwagen, behindert durch unzählige Schlaglöcher, den Weg durchs Viertel zur bodega gefunden hat.
In den letzten Jahren ist der Bereich der Nahrungsmittel- und Güterbeschaffung zur Vollzeitbeschäftigung der Hausfrauen herangewachsen und füllt ein Gutteil des Vormittags aus: Gegen zehn Uhr hallt ein Schrei durch die offene Haustür. Eine Nachbarin meldet aufgeregt, daß endlich die kubanische Malanga angekommen ist. Die Hausbewohnerinnen sind erleichtert, denn sie behaupten, daß die vor kurzem als Malanga-Ersatz verwendeten russischen Kartoffeln stechende Bauchschmerzen verursacht hätten, was in nicht wenigen Fällen zu chronischer Appetitlosigkeit geführt haben soll. Die Nachbarin bekommt einige der frühmorgens erstandenen Brötchen und übernimmt dafür einen Stapel libretas für den Malanga-Einkauf. Eine halbe Stunde später klingelt das Telefon. Eine Verwandte, die einige Häuserblocks entfernt wohnt, hat den Gaslastwagen erspäht. Da seit Tagen das Gas zum Kochen im Haus ausgegangen ist, wird eiligst jemand zum LKW geschickt, der versuchen muß, den Fahrer mit ein paar Geldscheinen zu einem kleinen Umweg zu bewegen. Wenig später steht ein Rentner in der Tür. Umständlich kramt er aus einer verdeckt gehaltenen Stofftasche selbstgebastelte Papierblumen heraus. Die Hausbewohnerinnen mustern sie kritisch. Zwar ist das Geld knapp und der Preis für die Blumen eigentlich zu hoch, aber ausgerechnet gestern nacht sind einer Freundin die verstorbenen Eltern im Traum erschienen. Besorgt hatte sie gleich am Morgen angerufen und berichtet, sie befürchte, die Eltern könnten eines ihrer Kinder krankmachen und zu sich holen, weil sie sich so sehr nach den Kleinen sehnten. Mit den farbenfrohen Papierblumen lassen sich die toten Eltern gewiß besänftigen. Also werden sie dem Rentner abgekauft. Kurz danach übertritt eine andere Nachbarin ohne große Formalitäten die Schwelle des Hauses. Sie holt wieder einmal die Dosenmilch ab, auf die die Kleinkinder ein Anrecht haben. Die meisten Mütter des Viertels sind sich sicher, ebenso wie inzwischen auch viele kubanische Ernährungswissenschaftler, daß die Milch für Kinder nicht bekömmlich ist. Für einen relativ hohen Preis verkaufen die Mütter die Dosenmilch lieber an Hausfrauen, die sie zu traditionellen Süßspeisen wie flan – einer Art Pudding – verarbeiten, die sie dann verkaufen.
Das Schlangestehen wird von den Hausfrauen arbeitsteilig organisiert. Dabei kooperieren an erster Stelle die Familienmitglieder. Am Rande dazu gehören die novios, die männlichen Heiratsanwärter, die von den Familienmitgliedern ihrer Künftigen in einer Art Vorbrautdienst beim Schlangestehen auf ihre Brauchbarkeit getestet werden. Manche Familien leisten sich professionelle Schlangesteher, wobei sich pensionierte Männer auf diese Dienstleistungssparte spezialisiert haben.
Rituelle Verwandschaft – gegenseitige Unterstützung
Bei der Beschaffung von Gütern besonders behilflich sind sich die Mitglieder von Santería-Gemeinschaften, die eine rituelle Verwandtschaft zueinander pflegen. Ähnlich wie Familien es gerne sehen, wenn ein künftiges Mitglied aus einem attraktiven Produktions- oder Dienstleistungszweig kommt, tun dies auch Gemeinschaften der Santería. Eine der am besten funktionierenden Gemeinschaften des Viertels ist bekannt dafür, daß sie mit Erfolg Vertreter der wichtigsten Berufssparten zur regelmäßigen Teilnahme an religiösen Treffen hat bewegen können: Angestellte von Fleisch- und Wurstfabriken, Großbäckereien, Hotels, Restaurants und Bars. In diesen schweren Zeiten, in denen die früher gerühmte Gastfreundschaft des Viertels zwangsweise suspendiert ist, finden die einzigen großen Einladungen zu einem Essen nur noch an den Festen zu Ehren der Heiligen im Lokal der Santería-Gemeinschaft statt. Lange Zeit gehörte ein im Viertel sehr beliebter bodeguero zu diesem Kreis. Dank seines Heiligen, so erzählen sich die Bewohner des Viertels, entging dieser risiko- und lebensfreudige Mann dem Schicksal zahlreicher bodegueros: Als bevorzugte Sündenböcke für den illegalen Kleinhandel wurden sie nach einigen Jahren abgesetzt und kurzerhand für einige Zeit ins Gefängnis gesteckt. Aus ständiger Angst vor diesem Schicksal starb der hilfreiche bodeguero allerdings vorher an einem Herzinfarkt. Doch auch im Jenseits ist er für viele ein wichtiger, einflußreicher Mann geblieben. Man ist sich einig, daß der Totengeist des bodeguero seinen ungewöhnlichen Organisations- und Geschäftssinn nun in den Beziehungen zu den Heiligen einsetzen und mit seiner Hilfe viel erreicht werden kann. So achtet man in vielen Häusern am Namenstag des bodeguero darauf, für ihn eine Kerze aufzustellen.
Habaneros und guajiros
Eine besondere Solidarität gibt es auch unter den älteren Gründungsmitgliedern des Viertels. Aufgrund der steten Zuwanderung nach Havanna seit den dreißiger Jahren beherbergt das Viertel heute, neben den Nachkommen der Zigarrendreher, zahlreiche ehemalige “Landbewohner” Dieje_nigen, die seit der zweiten Genera_tion in Havanna ansässig sind und sich deswegen ge_trost als Habaneros ausgeben dürfen, be_zeichnen praktisch al_les, was außerhalb ih_rer kosmopolitischen Stadt liegt, gering_schätzig als el campo. Die Landbewohner, die guajiros, betrachten sie im Gegensatz zu sich selbst als rückständig und mehr oder weniger unkultiviert. Doch in letzter Zeit müssen die Habaneros die früher herablassend behandelten guajiros umwerben, denn diese sind mit dem Vorteil ausgestattet, Verwandte auf dem Land zu haben, die allerlei nützliche Produkte besorgen können. Selbst die Sitte der guajiros, in den kleinen Patios und Gemüsegärten (und zur Not auch in den Häusern selbst) Hühner, Ziegen und Schweine zu halten, wird nun von den Habaneros geschätzt und zunehmend übernommen.
Im halblegalen und illegalen Bereich der Güterversorgung hat sich zwischen 1981 und 1993 ein dramatischer Wandel vollzogen: 1981 besorgte man sich bei spezialisierten Händlerinnen meist nur サLuxusgegenständeHändlerinnen die bevorzugten Anlaufpersonen. Mit der Schließung der Geschäfte, in denen man legal für ein Vielfaches der libreta-Preise solche Artikel einkaufen konnte, erlosch der サgraue Marktォ Nach und nach mußten sich die Leute von den il_legalen Spezialistin_nen selbst Grundnah_rungsmittel beschaffen lassen. Als 1990 die mit Kuba verbündeten Staaten des Ostblocks zusammenbrach, und die Re_gierung den período especial ausrufen mußte, wuchs dサr illegale Bereich zum eigentlichen Versorgungsträger heran. Nun war man selbst bezüglich der elementarsten Zutaten der kubanischen Küche auf den teuren Zukauf von Reis, Bohnen und Eiern angewiesen. Zwar standen diese Grundnahrungsmittel jedem nach wie vor in reduzierter Menge auf libreta zu, doch wurden die Lieferungen an die bodegas immer unvollständiger und seltener.
Frauenrollen und Männerrollen
Im Sommer 1993 muß man feststellen, daß die Hausfrauen für die wirtschaftliche Situation einer Familie bei weitem bedeutsamer sind als die werktätigen Männer und Frauen, die サnurFehler: Referenz nicht gefundenRestaurants werden mittlerweile im Viertel betrieben. Andere Unternehmen, die vornehmlich von Frauen geführt werden, sind Schneidereien, Maniküre- und Friseursalons. Welch wichtigen Teil der Versorgung die Privathaushalte übernehmen, wird an dem Umstand deutlich, daß dort mittlerweile selbst Seife und Schuhe hergestellt werden müssen. Jetzt betätigen sich zunehmend auch Männer, die wegen Rohstoffmangel in den Staatsbetrieben arbeitslos geworden sind, in den privaten Kleinmanufakturen.
In der Zeit vor der Revolution waren die Versorgung des Viertels und die Familien ähnlich organisiert: Die Hausfrauen der Unterschicht ernährten als Kleinproduzentinnen und -händlerinnen die matrifokalen Familien. Viele Männer traten nur in einer Art Satellitendasein in den Familien in Erscheinung. Ihr Beitrag zum Familienleben und zur häuslichen Wirtschaft war eher unregelmäßig. Die Männer der Mittel- und Oberschicht hielten sich neben der Familie mit ihrer offiziell angetrauten Frau oft noch weitere Familien mit Nebenfrauen aus der Unterschicht. Die Männer der Unterschicht hingegen durchliefen mehrere nicht legalisierte, monogame Beziehungen, die uniones libres. Bei Problemen fanden Frauen eher bei ihren Familienangehörigen als bei ihren Männern dauerhaften Rückhalt. Um sich und ihre Familie selbständig ernähren zu können, war es vor der Revolution üblich, daß Mädchen ein Handwerk lernten, etwa Friseuse, Näherin oder Stickerin. Diese Erwerbstätigkeit wurde als regelrechter Bestandteil der サHausfrauentätigkeitFehler: Referenz nicht gefundenDen familiären Beziehungen und der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern innerhalb der matrifokalen Familien entspricht ein spezifisches Selbstverständnis der Frauen: Sie empfinden sich als von Natur aus vernunftbegabter, berechnender und geschäftstüchtiger als die Männer. Diese gelten als von Natur aus triebhaft, unstet und eher künstlerisch begabt. In der Liebe kreisen daher die Diskurse der Frauen oft um die Taktiken, die anzuwenden seien, um einen Mann サfestzubindenォ Kurz vor ihrer ersten Hoch_zeit erhielt eine mei_ner Cousinen von ihren älteren Tanten folgen_den Rat: サDu mußt deinen Ehemann immer fest an der Leine halten. Laß ihn ab und zu ein bißchen los, zieh’ ihn aber immer wieder fest an dich heran!Fehler: Referenz nicht gefundenMacht euch keine Sorgen, ich habe ihn gut im Griff, er wird mir nicht entkommen. Dabei soll er aber den Eindruck haben, er wäre völlig frei.ォ
Tatsächlich hofieren die Männer mit Vorliebe in der Öffentlichkeit サfremdeeckt wird, auch von den Männern mit der angeborenen Triebhaftigkeit entschuldigt. Wenn möglich aber projizieren sie die eigene Untreue auf die Frauen. Besonders gern spielen sie die Gefahr hoch, ihre eigene Frau könne andere Männer in den Bann ziehen, geben sich rasend eifersüchtig und rechtfertigen damit Vorschriften ihrer Frau gegenüber, etwa in bezug auf die Kleidung und ihre abendlichen Ausgehzeiten.
Strategien gegen “Nur-Hausfrauen”
Die sozialistische Regierung setzte der matrifokalen Familienorganisation das Ideal einer monogamen Kleinfamilie im Stil des europäischen Bürgertums entgegen – mit dem Unterschied, daß Mann und Frau gleichermaßen in das Arbeitsleben integriert sein sollten. Sie steuerte der traditionellen Geschlechterbeziehung auf mehrere Weisen entgegen. So hat sie die Legalisierung der サfreienFehler: Referenz nicht gefundenich die Gegenmaßnahmen auf die Ebene des Parteidiskurses. Darin wurden die Lebensformen von サNur-HausfrauenFehler: Referenz nicht gefundenArbeiterinnenFehler: Referenz nicht gefundenNur-HausfrauenFehler: Referenz nicht gefundenProblemFehler: Referenz nicht gefundenanachronistische MentalitätFehler: Referenz nicht gefundenngst die wirtschaftliche Bedeutung dieser Struktur erkannt hatte.
Gesundheitsversorgung: Penecillin, Kräuter und Weihwasser
Auch im Bereich der Gesundheitsversorgung ging die Regierung auf die Vorstellungen und die Gewohnheiten der サkleinen LeuteFehler: Referenz nicht gefundenezialistinnen und Spezialisten gibt, die die Erkenntnisse der Volksmedizin, der Santería und der サwestlichen. Diese Art von Krankenbehandlung war auch in den Zeiten einer hervorragend funktionierenden staatlichen Gesundheitsversorgung unter den Bewohnern des Viertels üblich. Sie nahmen beide Systeme in Anspruch, ohne darin einen Widerspruch zu sehen. Sogar das Renommierkrankenhaus von Havanna, das Hermanos Almejeiras, welches nach dem Stand der orthodoxen medizinischen Wissenschaften der USA ausgerichtet und hervorragend ausgestattet ist, ordneten die Leute ihrem eigenen Gesundheitsverständnis unter. Bezeichnend ist der Fall einer Frau, die vor Jahren unmittelbar vor einer wichtigen Herzoperation dieses Krankenhaus wieder verließ. Ein Pfleger hatte sie in der Ansicht bestärkt, daß sie vor der Operation noch eine offene Rechnung mit ihrer Heiligen begleichen sollte. Der Pfleger war ein Novize der Santería und gehörte damals zu den wenigen Glücklichen, die sich ganz in weiß kleiden konnten, ohne Nachteile befürchten zu müssen.
Fast immer sind lebensbedrohende Krankheiten der Anlaß, einen religiösen Spezialisten aufzusuchen und sich in die Santería einweihen zu lassen. Jetzt, wo in den staatlichen Krankenhäusern Einwegspritzen fehlen und die Bettwäsche selbst mitgebracht werden muß, wächst der Stolz auf das santería-eigene サGesundheitssystemォ Immer mehr Leute, so auch der Mann meiner Cousine, scheuen sich nun nicht mehr davor, sich mit einer Weihe öffentlich zur Sante_ría zu bekennen.サDie Partei und die Religion
Lange Zeit wurde die Santería von der sozialistischen Regierung vehement bekämpft, wohl weil sie soziale Kräfte zu mobilisieren und als Weltanschauungssystem mit dem Sozialismus zu konkurrieren vermag. Sie wurde zwar offiziell nicht verboten, doch schloß man Partei- und Santería-Mitgliedschaft gegenseitig aus. Da die Ausübung der Santería mit Nachteilen verbunden sein konnte, insbesondere für Familienmitglieder, die in Regierungsinstitutionen arbeiteten, gingen die Santeros zwangsweise mit großer Diskretion vor. Die Porzellan- oder Terrakotta-Figuren, die Heilige repräsentieren, die Suppenterrinen, in denen die Essenzen der Heiligen aufbewahrt werden, die mit Wasser gefüllten Gläser für die Totengeister, das alles hatte – wie zur Zeiten vor der Revolution, als Santería von der Oberschicht und der katholischen Kirche diskriminiert wurde – den Charakter des Alltäglichen und war kaum vom üblichen Hausinventar zu unterscheiden.
In den achtziger Jahren änderte die Regierung ihre rigide Haltung gegenüber dieser Volksreligion. Ihre Strategie war, die Musik und die Rituale der Santería durch ihre Folklorisierung für den Tourismus zu nutzen und zugleich deren religiöse Bedeutungen auszuhöhlen. Diese Politik erwies sich jedoch als ein zweischneidiges Schwert. Immer mehr Ausländer und Einheimische erachteten jetzt Santería als wesentlichen Bestandteil der nationalen Identität der Kubaner. Auch überstand die religiöse Integrität der Santeros offenbar unbeschadet das Pendeln zwischen den Nachtclubs der Hotels und den Heiligenfesten in ihrem barrio. Scheinbar boten diese Musiker dem Nachtclubpublikum dieselben heiligen Rhythmen wie bei den サechtenFehler: Referenz nicht gefundenrichtigenォ je_doch – im Gegen_satz zu die_sen – nicht geweiht waren. Auch sind die Bewohner des Viertels überzeugt, daß die サrichtigenFehler: Referenz nicht gefunden} Besitz ergreifen und direkt zu ihnen sprechen.
Beim letzten Parteitag Ende 1991 hat nun die Kommunistische Partei auch die Mitgliedschaft von Angehörigen der Santería zugelassen. Im September 1993 öffnete die Regierung zahlreiche Wirtschaftsbereiche für die Privatinitiative der Kubaner und legalisierte somit die Aktivitäten vieler Kleinhändlerinnen und -produzentinnen im Viertel der tabaqueros. Dies sind späte Zugeständnisse an die サkleinen Leuteォ die nicht nur zwischen サSozialismus oder TodFehler: Referenz nicht gefundenueva bistec – hoffentlich regnet es Rindersteaks.
“Jenseits des Staates? Lateinamerika – Analysen und Berichte, Nr. 18 Jahrbuch 1994”, Bad Honnef: Horlemann Verlag, August 1994
Beny Moré – “Der Barbar des Rhytmus”
Seine Boleros tragen die Schwermut tropischer Abende oder die Melancholie der bleiernden Herbsttage Havannas. Seine Stimme dabei ist wie das Rauschen von Brandung, von Palmenblättern ( – “como arullo de palma”) oder wie die Brise eines Ventilators; manchmal auch wie das Klagen der stürmischen Karibik, unterstützt von seufzenden, oft sogar gellenden und schmetternden Metallbläsern. Seine Sones, Guajiras und Mambos haben den Geschmack von Tabak und Rum, aber von Rauch und Besäufnis in Spielhöllen und Tanzhallen der großen Stadt. Das unterscheidet Moré von Matamoros, Portabales oder Celina González, den musikalisch schollenverbundenen Soneros der guateques campesinos, die den Sonnenaufgang in Oriente besingen oder das vom Mondlicht silbern gezeichnete Tal, die Machete des Zuckerrohrschneiders oder die kleine weiße Hand, die zum Abschied aus dem bohío winkt. Beny Moré tauscht gewissermaßen die Bauernhütte aus Stroh gegen eine Suite im Hotel Nacional, als er in Havanna ein Engagement als Sänger bei Miguel Matamoros bekommt. (Matamoros führt den kubanischen Bolero später als Folklore in New York auf, obwohl dort kubanische Musik, wie auch die Fusion des “Cubop” von Gillezpie und Bauzá, nicht sehr geschätzt und gehandelt wird, weil sie schwarz ist). Aber spätestens in Mexiko (dort ist kubanische Musik beliebter) erkennt Moré als erfinderisches Talent, daß Matamoros seine klassischen Son- und Bolero-Arrangements niemals ändern will; der Sänger löst sich von der Gruppe und wird, noch in Mexiko, durch die Begegnung und künstlerische Zusammenarbeit mit Dámaso Pérez Prado und seinem Orchester “amerikanisiert” – ohne jedoch selbst jemals seine Cubanía in die USA zu bringen (wie Mario Bauzá und Chano Pozo). Der Ruhm einiger Lieder in den USA (die tanzbaren Fast-Step-Nummern wie “Mambo Nr. 5”) bleibt später allein dem Mambo-Erfinder und “König” Pérez Prado vorbehalten, mit seinen quirligen Klaviereinlagen, der donnernden Perkussion und den schrillen Bläsersätzen. Moré, nur der “Prinz” des Mambo, verleiht der Big Band von Pérez Prado vorerst seine Stimme und das exotische Kolorit der Afrocubanía: Guaguancó-Schritte und Hahnenschreie als wichtiger Bestandteil der musikalischen Dramaturgie einer Mambo-Orchester-Show. Dadurch ist der Sänger in Mexiko (hier sogar als Schauspieler), Panama, Kolumbien oder Venezuela bekannter als in Kuba selbst, jedenfalls bis 1950, dem Jahr seiner Rückkehr, oder vielleicht bis 1951, als Moré im Fernsehkanal “Oriental” auftreten kann und sich das Publikum mit seiner vieltönigen Stimme, seinen spontanen, aber rhytmisch scheinbar ausgeklügelten Ausrufen und seinen schnellen Tanzschritten erobert: Die alten Sextette aus Oriente erreichten ihren Durchbruch mit dem Radio und der aufkommenden Plattenindustrie, aber Beny Moré wird durch das Fernsehen als neuem Medium populär und entwickelt sich zum Showmaster des Son. Beny Moré behält sein afrikanisches Erbe (der Nachname geht auf versklavte Vorfahren der Mutter zurück), respektiert die musikalische Tradition der alten Provinz Oriente (Sones und Guajiras), und setzt eigene Innovationen, aber auch den Einfluß amerikanischer Big Bands hinzu (“Beny Moré y su Banda Gigante”). Beny Moré ist bárbaro im doppelten Sinne: Sowohl als Meister des Rhytmus und der Erneuerung (also des Mambo) wie auch als Bauer/guajiro aus Oriente, der keine Noten lesen kann und schon mit zwölf Jahren die Schule verlassen muß, um Zuckerrohr zu schneiden. Verschieden sind deshalb auch die Plattencover, für die er posiert: einmal singend unter Bananenstauden mit Gitarre und Strohhut, neben Schaufel, Machete und einer linden guajira; dann in einem offenen amerikanischen Zweisitzer am städtischen Malecón, mit Congas und Gitarre, Anzug, Fliege und (wieder) Strohhut. Das gelbe Nummernschild des Automobils trägt die Aufschrift “Particular”, und das heißt, Beny Moré ist, anders als viele berühmte kubanische Musiker, nach der Revolution im Land geblieben, obwohl die meisten Musiklokale geschlossen wurden (Che Guevara hatte eine bekannte Abneigung gegen die garitos und bevorzugte humanistische Lektüre), aber Beny Moré läßt sich von Kuba inspirieren und ein Kubaner, coño, gehört nun mal nach Kuba. In den Boleros von Moré liegt, wie gesagt, alle tropische Schwermut oder die der Tanzhallen ab 4 a.m.; in seinen Sones und Mambos liegt die Bewegung der Tanzenden eher als die der Feldarbeiter, seine Musik riecht nach Tabak und Rum, doch weniger nach Anbau und Ernte als nach Verbrauch und Genuß. Beny Moré stirbt an Rum und Tabak und Kuba (wie Chano Pozo, paradise lost, an den Drogen New Yorks), aber mit der Tragik und Sinnlichkeit seiner Boleros, unerwartet, im Jahr 1963. In Havanna, New York und anderswo huldigt man ihm wie einem orisha der Santería; Tito Puente erhält einen Grammy (den einzigen für die entstehende Salsa) ausgerechnet für seine musikalische “Hommage an Beny Moré”, und Celia Cruz sieht zum Himmel auf und singt (begleitet von Pacheco): Beny Moré – en gloria esté!