“Die Karibik mischen Souveränität und Abhängigkeit”

Schon der Aufbau hebt sich wohltuend von der Mehrheit der sonstigen Bücher ab. die eine Region thematisieren. Nicht die klassische Reihenfolge Geschichte, Politik und Wirtschaft mit einem gesellschaftlich- kulturellen Anhängsel wird gewählt. Vielmehr werden zu Beginn von Ulrich Fleischmann geographische und kulturhistorische Bestimmungskriterien für die Karibik vorgestellt, der er dann eine Beschreibung der soziokulturellen Entwicklung folgen läßt. Das Entstehen der karibisch-kreolischen Volkskultur unter den Bedingungen der Sklaverei und ihr Spannungsverhältnis zur dominanten Kolonialkultur stehen dabei im Mittelpunkt.

Der Beitrag von Wolf-Dietrich Sahr über Identität und Authentizität in der Ostkaribik versucht eine Annäherung in das Selbstverständnis der karibischen Bevölkerung zu geben. Das europäische Identitätskonzept wird hierbei hinterfragt und als untauglich für die Karibik zurückgewiesen. Identität als Identifikation des Individuums mit einem historisch gewachsenen Raum, einer Geschichte und einer Sprach-bzw. Bevölkerungsgruppe konnte in den kolonialisierten Gesellschaften der Karibik nicht entstehen. Der Autor plädiert stattdessen für ein Konzept der Authentizität. Dies beinhaltet den Kampf für die Freiheit des Individuums, die Selbstverwirklichung durch selbstbestimmte Arbeit, kulturelle Leistungen und wirtschaftlichen Erfolg sowie die Entwicklung politisch adäquater Formen der Selbstbestimmung unter Rückgriff auf authentische Formen der karibischen Ethnokulturen.

Impressionen und Alltagskultur

Nach dem entwicklungssoziologischen und kulturphilosophischen Eingangskapitel wissenschaftlicher Prägung, kann sich der/die LeserIn bei den darauffolgenden karibischen Impressionen entspannen. Der Literaturwissenschaftler Martin Franzbach beschreibt in Kuba gewonnene Reiseeindrücke aus dem Blickwinkel der Literatur Miguel Bamets und José Martís. Peter-Paul Zahl, Ex-Stadtguerillero der Bewegung “2. Juni” und seit 1985 auf Jamaica lebender Schriftsteller, zieht in einem Interview einen Vergleich zwischen dem Leben auf Jamaica und dem in Deutschland.

Anhand von Beiträgen über Kuba, Martinique, Jamaica und St. Lucia wird karibische Alltagskultur dargestellt. Die Ansätze der Autorlnnen decken dabei ein breites Spektrum ab. Dreht es sich bei den Beiträgen zu Kuba mit der Thematisierung von Großfamilie, Traditionen, Schwarzmarkt und dem afroamerikanischen Kult der santeria noch um Alltagskultur im engeren Sinne, so wird bei den anderen Beiträgen ein weitergehender Ansatz verfolgt.

So ist die “antillanische Schizophrenie” Gegenstand des Artikels von Helmtrud Rumpf über Martinique und Guadeloupe. Im dortigen Radio erfährt der/die HörerIn Aufklärung über Staus im östlichen Paris, im Fernsehen die Wettervorhersage für Frankreich. “Natürlich alles auf Französisch, wiewohl doch Kreolisch die gängige Sprache in den antillanischen Haus-halten ist. So französiert die Antillen auch sind, in Frankreich werden die AntillanerInnen -ob “GastarbeiterIn” oder IntellektuelleR -trotz ihres französischen Passes nicht als gleichwertig anerkannt. Durch ihre Hautfarbe stigmatisiert, bleibt den AntillanerInnen in Frankreich nur die Anpassung an die dortigen Normen oder die Rückkehr. Die Unabhängigkeit hält die Autorin deshalb für grundsätzlich wünschenswert. Die den Artikel beschließenden Fragen “Aber ist eine Unabhängigkeit heutzutage noch realisierbar? Und wie sollte sie aussehen?” machen aber ihre Zweifel an dieser “Option” deutlich.

Reggae und Ragga

Christian Habekost setzt sich mit der Entwicklung jamaicanischer Populärmusik vom Rasta-Reggae zum Ragga-Reggae auseinander. Die Synchronität von politischem und musikalischem Wandel steht dabei im Zentrum seiner Ausführungen. Reichlich mit Liedtexten unterlegt, zeichnet er die Veränderung im Musikstil auf Jamaica nach. Als Zäsur macht er dabei die Jahre 1980181 aus. Die Zeit des “Demokratischen Sozialismus” auf Jamaica wurde 1980 mit der Abwahl ihres Begründers Michael Manleys Geschichte. 1981 starb mit Bob Marley der King of Reggae. Diese Ereignisse bedeuteten das Ende der kulturellen Aufbruchstimmung der siebziger Jahre. Manley hatte diese nachhaltig mit der Eröffnung von staatlichen Schulen für Musik, Tanz, Kunst und Drama gefördert. Bob Marley verhalf ihr zu weltweiter Verbreitung. Das nun entstandene Vakuum wurde im Verlauf der achtziger Jahre mit neuen, zeitgemäßen Werten besetzt. Sex, body & style dominierten fortan in den Liedtexten. Die Rasta-Forderungen nach Systemumsturz oder Rückkehr nach Afrika verloren zunehmend an Bedeutung. Die langsamen Rasta-Rhythmen wurden durch hektische, computergesteuerte Rhythmen ersetzt. Mit diesem musikalischen Wandel einher ging auch eine Veränderung des vorherrschen- den lifestyle. Der raggamuffin, die Bezeichnung für einen verrufenen Mann oder Jungen, wurde anstatt des Rasta-Rebellen zum neuen Ideal. Nicht mehr Systemumsturz, sondern Teilhabe am materiellen Reichtum um jeden bargeldlosen Preis ist die neue Ausrichtung. Anfangs von Mittel-und Oberschicht geächtet und gefürchtet, wie einst die Rastas, wurden die raggamuffins und der Ragga-Reggae Anfang der neunziger Jahre über seine in den USA und Europa erlangte Anerkennug auch in Jamaica hoffähig. Die kommerzielle Vereinnahmung ließ die Ragga-Subkultur zum style aufsteigen -wie einst auch die Rasta-Subkultur.

Karibische Weltsicht als Modell?

Migration ist in der Karibik etwas Alltägliches. Dabei ist sie sowohl Überlebensstrategie als auch Lebensform, wie Wolf- Dietrich Sahr am Beispiel einer Familie aus St. Lucia deutlich macht. Migration hat in der Karibik eine lange Tradition. . Durch die restriktiver gewordene Einwanderungspolitik von Großbritannien und den USA hat sie sich inzwischen in Richtung Innerkaribik verlagert. Die weltweiten Familiennetze haben bei den InselbewohnerInnen zu einer globalen Sichtweise geführt. Für den Autor könnte diese Weltsicht gar zu einem Modell für das 21. Jahrhundert werden, pflegt sie doch die Vermittlung zwischen den Kulturen und versucht nationalstaatliche Grenzen zu
überwinden.

Politik auf den Antillen

Die politischen Belange in der Karibik kommen nicht zu kurz. Von der Sander- stellung Puerto Ricos als assoziiertem Freistaat der USA über das jamaicanische Parteiensystem und die dominikanischen Eliten bis hin zur Situation auf den französischen Antillen und dem spannungs-geladenen Verhältnis Dominikanische Republik-Haiti -inselspezifische Eigenheiten werden kurz und prägnant dargestellt,
Alrich Nicolas’ Beitrag beleuchtet die ‘ Rolle des Vaudou auf Haiti. Aufgeräumt wird mit den in der westlichen Welt häufig anzutreffenden Klischeevorstellungen vom bösen,teuflischen Kult. Der aus einer Vielzahl afrikanischer Religionen in der Zeit der Sklaverei entstandene Vaudou war Ausgangspunkt einer neuen Identität für die Sklaven und bot eine Alternative zu den die Plantagenkultur dominierenden europäischen Werten. So waren viele Anführer der Gemeinschaften von marrons (entlaufener Sklaven) gleichzeitig auch Vaudou-Priester. Vaudou hat also nicht nur eine religiöse, sondern eben auch eine politische Dimension. Im Demokratisie-rungspmzess kurz vor und nach dem Sturz der Duvalier-Diktatur 1986 wurde dies ebenfalls deutlich. Der Vaudou galt als Fluchtpunkt und Alternative ‘ zum ge-scheiterten Gesellschaftsprojekt der Eliten und wurde gar in die Verfassung aufgenommen. Trotz der öffentlichen Anerkennung des Vaudou nach langen Jahren der offiziellen Unterdrückung sieht der Autor die Zukunft des Vaudou als gefährdet an. Zum einen setzen ihm die protestantischen Sekten US-amerikanischer Prägung zu,zum anderen wird seine Basis. die bäuerliche Gesellschaft durch die geführt. Für den Autor könnte diese Weltsicht rapide verschlechternden ökonomischen Verhältnisse zunehmend aufgelöst.

US-amerikanische Außenpolitik

Die verschiedenen Phasen US-amerikanischer Außenpolitik gegenüber der Karibik thematisiert Hagen Späth. Der Krieg gegen Spanien 1898 mit der Eroberung Puerto Ricos und Kubas wird von ihm als Beginn der imperialistischen Phase definiert. Die Schaffung der Kanalzone in Panama, die Besetzungen Haitis 1915-1930 und der Dominikanischen Republik 1916- 1924 bildeten weitete Marksteine in dieser Epoche. Unter Roosevelt wurde 1933 dann die Phase der “‘guten Nachbarschaft” eingeläutet. Direkte Interventionen Wurden vermieden, die Propagierung des Freihandels stand im Vordergrund. Mit der Phase des Kalten Krieges ab Ende der vierziger Jahre kamen Interventionen wie-der aufs Tapet. Als normative Grundlage diente das Konzept der Western-Hemisphere, welches besagt, daß zwischen den USA und Lateinamerika eine prinzipielle Gemeinsamkeit demokratischer und wirtschaftsliberaler Grundwerte bestehe. Abweichungen von diesem Konzept wurden mit Invasion geahndet, so in Guatemala 1954, auf der Dominikanischen Republik 1965 und in Grenada 1983 -oder mit der Unterstützung der Contra im Falle Kubas und Nicaraguas. Die neunziger Jahre firmieren nun als Phase der “Neuen Weltordnung” und sind geprägt von der Strategie der Demokratisierung nach US-Muster, also Durchsetzung freier Märkte und freier UnternehmerInnen unter Beschneidung des staatlichen Einflusses. Gemäß dem Fazit des Autors blieb die Substanz der US-amerikanischen Außenpolitik im
Zeitverlauf unverändert, weshalb er auch den mit Clinton verbundenen Hoffnungen eine Absage erteilt.

Inselökonomien

Last but not least werden die Anpassungs- versuche der karibischen Ökonomien an den Weltmarkt betrachtet. Exportstrategien wie die Freien Produktionszonen, in denen die dort produzierenden Unternehmen vollkommen von Steuern und Abgaben befreit sind, werden ebenso einer kritischen Analyse unterzogen wie das ehemals ob seiner hohen Wachstumsraten gepriesene Entwicklungsmodell auf Puerto Rico und die Struktur der kleinbäuerlichen Ökonomie in Haiti. Die Anpassungsmaß- nahmen auf Kuba beschreibt Robert Lessmann. Dort wird verstärkt auf Joint Ventures mit ausländischen Unternehmen gesetzt. Diesen werden unter anderem arbeitsrechtliche Sonderbedingungen und die Möglichkeit des Gewinntransfers zu- gestanden. Die Autonomie einheimischer Betriebe in Prioritätssektoren wie dem Tourismus und dem Exportsektor wurde zudem erweitert, so daß sie weitgehend unabhängig über ihre Deviseneinnahmen verfügen können. Der fortschreitende Verfall der kubanischen Wirtschaft konnte in-des dadurch nicht gestoppt werden, wes- halb Castro am 26. Juli 1993, anläßlich des vierzigsten Jahrestages des Angriffes auf die Moncada-Kaserne, eine Strukturreform verkündete, in dessen Zentrum die Dollarfreigabe steht. Da die Castro-Regierung die einzige politische Kraft ist, die überhaupt ein Konzept zur Krisenbewältigung hat, spricht sich der Autor für eine Unterstützung des Offnungsprozesses aus.

Die Stellung der Frau in der Neuen Internationalen Arbeitsteilung wird von Maritza Le Breton B. unter die Lupe genommen. Frauen werden in dieser Arbeitsteilung als “Natur”, als billig und beliebig verfügbare Objekte betrachtet und behandelt, was die Verfasserin als Prozess der “Hausfrauisierung” versteht. Besondere Bedeutung schreibt sie in diesem Zusammenhang dem Prostitutionstourismus und dem Frauenhandel zu. Ausgehend von der Dominikanischen Republik sieht sie die Karibik zu einem der wichtigsten Zentren dieser Ausprägung heranwachsen.

Der durchweg positive Gesamteindruck wird durch diverse Schreibfehler sowie Nachlässigkeiten beim Layout leicht getrübt. Zwei Artikel sind fortlaufend mit den Kopfzeilen des vorhergehenden Artikels ausgestattet und warum ein Artikel über die französischen Antillen ausgerechnet mit einem Bild eines jamaicanischen Herrenhauses abgeschlossen wird, bleibt im Dunkeln. Vielleicht sind diese Mängel ja einer semiprofessionellen Produktion geschuldet. Zumindest 1äßt der günstige Preis von 19 DM dies vermuten.

Eigene Blockaden überwinden

María Urruzola: Sie sprechen von ei­nem Modell der ökonomischen Um­wandlung, an dem in Kuba gearbeitet wird. Allerdings bestehen Leute wie Carlos Lage darauf, kein neues Modell anzustreben; vielmehr gehe es darum, das sozialistische Modell zu erhalten. Sowohl Sie als auch Carlos Lage gelten als Schlüsselfiguren in der gegenwärti­gen politischen Führung. Würden Sie Widersprüche zwischen Ihren Positio­nen ausmachen?
Roberto Robaina: Da wir uns unter­schiedlich ausdrücken, kann dieser Ein­druck entstehen, grundsätzlich gibt es je­doch keinen Widerspruch. Ich wähle lie­ber den Weg der allgemeinen Nachvoll­ziehbarkeit und verzichte auf die übliche Kategorisierung. Ich möchte keine Be­zeichnung für dieses Modell beibehalten, die so global nicht mehr zutrifft, aber auch nicht eine andere importieren, mit dem wir nichts anfangen können. Aus diesem Grund ziehe ich es vor, dieses Modell, an dem wir arbeiten, folgendermaßen zu cha­rakterisieren: Es ist ein sehr kubanisches, durchsetzungsfähiges Wirtschaftsmodell, mit vielen Änderungen und mit Platz für viele Neuerungen. Es gibt aber auch Aspekte, die wesentlich sind und beibe­halten werden, und das sind gerade die, die Carlos Lage verteidigt. Es kann nicht darum gehen, das alte Modell einfach bei­zubehalten.

Ihre Generation wurde nach dem Prin­zip “Kuba gehört den Kubanern” erzo­gen. Heute wird mit diesem Grundsatz gebrochen; ausländisches Kapital soll einen festen Platz in der Wirtschaft einnehmen. Es stellt sich das Problem der Einflußnahme von Kapitalgebern auf Entscheidungsprozesse. Ich habe bei den Kubanern gewisse Schwierig­keiten wahrgenommen, dies zu akzep­tieren.
Nur gewisse Schwierigkeiten? Für uns Kubaner ist das alles sehr schwer zu ver­stehen. Aber unser Erfolg gründet sich nicht darin, aufrechtzuerhalten, was unter anderen Bedingungen galt, sondern in un­serer Fähigkeit, uns an die jetzige Situa­tion anzupassen. Ebenso wie unter dem von Ihnen erwähnten Motto wurde ich dazu erzogen, mich neuen Zeiten anzupas­sen. In diesem Anpassungsprozeß geht es darum, inwieweit Kuba weiterhin den Ku­banern gehört – mit neuen Spielregeln. Wir können nicht in der Stagnation ver­harren. Aber zu behaupten, das würde leicht verstanden, grenzte an Selbstbetrug. Es ist ein komplexer und anstrengender Prozeß, selbst für die jüngeren Generatio­nen. Schließlich sind sie unter einer Reihe von Postulaten großgeworden, die heute – wie auch immer – an die Realität angegli­chen werden müssen. Das alles erfordert eine enorme Überzeugungskraft.

Wesentliche Errungenschaften der Revolution verteidigen
Wenn Sie vom “Wesentlichen” spre­chen, das es zu verteidigen gilt, worauf beziehen Sie sich dann?
Wesentlich ist für uns die Souveränität, die Unabhängigkeit. Es ist wesentlich, mit eigener Stimme zu sprechen und nicht darauf zu warten, daß uns irgendjemand vorgibt, was wir tun sollen.
Daß die Kindersterblichkeit nicht ansteigt, daß die Lebenserwartung nicht sinkt, daß niemand Geld, Beziehungen oder Ver­wandtschaft benötigt, um einen Beruf zu erlernen und auszuüben. Daß wir unseren Einsatz bei den Olympischen Spielen nicht zurückschrauben müssen, daß wir den Bereich der Wissenschaft weiter ent­wickeln.
Wesentlich ist heute für uns nicht, ob wir in der Ökonomie ein gemischtes Modell anstreben, oder die Liberalisierung der privat ausgeübten Arbeit. Ebensowenig geht es darum, ob wir den Bauern einen Teil des Bodens zur Eigenbewirtschaftung zeitlich unbegrenzt überlassen. Auch eine Umstrukturierung des staatlichen Ver­waltungsapparates gehört nicht zu den wesentlichen Dingen.

Momentan wird in Kuba viel an der Rolle des Staates in der vorangegange­nen Periode kritisiert, als Maßnahmen für eine wirtschaftliche Unabhängigkeit noch hätten ergriffen werden können – was nicht geschah. Nicht alle sind davon überzeugt, daß die jetzige Situation nur dem Zusammenbruch im Osten und der US-Blockade geschuldet ist. Dabei wird die Frage gestellt, wie groß die ökono­mische Bedeutung der Blockade denn wirklich ist. Man spricht in diesem Zu­sammenhang von Verschwendung und von Verantwortungslosigkeit. War die Führung des Landes unfähig, wirt­schaftspolitische Alternativen hervor­zubringen?
Wir haben in bezug auf dieses Thema öf­fentlich Selbstkritik geübt. Meiner Mei­nung nach waren wir zu leichtfertig. Wir waren lange Zeit an einen Verteilungsme­chanismus gewöhnt, der bestimmten Sektoren das Überleben garantierte und uns glauben machte, daß sie auf ewig be­stünden. Dabei haben wir übersehen, daß beispielsweise eine verantwortungsvollere Agrarpolitik und eine gleichzeitige Förde­rung der Verbrauchergewohnheiten der Bevölkerung angebracht gewesen wären.
Wir haben als Staat eine sehr ernste Ver­antwortung auf uns genommen. Als wir begonnen haben, Korrekturen vorzuneh­men, dachten wir, wir hätten viel Zeit. Aber dann gerieten wir in eine äußerst prekäre Lage, und zwar viel schneller, als vorhersehbar war.
Das ist unser heutiges Dilemma: In wel­chem Maße soll der Staat in den Sektoren weitermachen, in denen er sich als effizi­ent erwiesen hat, und welche Veränderun­gen sollen dort Priorität haben, wo er dies nicht getan hat?
Ich glaube, es ist eindeutig, daß Fehler auf eine mechanische Art und Weise weiter­geschleppt wurden. Das darf nicht wieder geschehen. Ich teile die Meinung derer, die behaupten, der Staat habe eine Zeit lang Maßnahmen angewandt, die zur Sta­gnation geführt haben. Und ich gehöre zu denen, die glauben, daß obwohl die US-Blockade heute das größte Hindernis dar­stellt – es auch Probleme gibt, die nicht von der Blockade abhängen. Es gibt auch eine andere, eigene Blockade, die mit un­seren Fehlern, mit unserer Bürokratie, mit unserer Unfähigkeit zu tun hat, manche Probleme zu lösen. Das Land kann nicht weiter darauf warten, daß die Blockade aufgehoben wird. Wir müssen sie unun­terbrochen verurteilen – und früher oder später wird sie aufgehoben werden – aber wir können nicht einfach untätig herum­sitzen und abwarten. Wir mußten ganz zweifelsohne unter Druck und in einer sehr schwierigen Lage dazulernen. Hätten wir früher damit angefangen, befände sich das Land nicht in dieser wirtschaftlichen Verfassung.

Das Verhältnis zum kubanischen Exil

Viele Jahre lang war das Thema der Kubaner im Exil enorm politisch auf­geladen. Wer ging, der war ein “gusano” (Wurm), der übte Verrat. Unter dieser Voraussetzung ist eine ge­samte Generation – die Ihre – mit der Verachtung Ihrer Landsleute im Aus­land aufgewachsen. Plötzlich ist das al­les anders, und man sagt dem Volk, daß die Kubaner im Ausland – bis auf die, die eine “hysterische Politik” betreiben – ein Anrecht darauf haben, am Schick­sal des Landes mitzuwirken: Ein sehr drastischer Wandel.
So plötzlich kam das nicht. Wir sprechen jetzt von mehr als dreißig Jahren, und diese neue Etappe hat auch schon ihre Ge­schichte. Es ist nicht das erste Mal, daß das Land Beziehungen zu Kubanern außerhalb Kubas unterhält, und einen Wandel hat es nicht nur im Land, sondern auch außerhalb gegeben. Die Kubaner, die in anderen Ländern leben, lassen sich nicht mehr durch die Fanatiker charakteri­sieren, die sich die vollkommene Reprä­sentation der Auslands-Kubaner anmaß­ten. Ein Teil hat jahrelang stillgehalten, aus der Angst heraus, angefeindet zu wer­den. Inzwischen haben aber viele ihr Schweigen gebrochen, was den Hysteri­kern Sorgen bereitet.
Es gibt zwei Alternativen: Entweder wir strecken eine Hand aus und kümmern uns um die Verbindung zwischen Kuba und den Emigranten – wie es jedes Land der Welt macht, um eine normale, zivilisierte Beziehung herzustellen – oder diese Masse an Menschen bleibt weiterhin ein Instru­ment feindlicher Interessen.
Wenn man sie irgendwann als Würmer bezeichnet hat, hatte das mit der jeweili­gen Situation zu tun. Es geht auch nicht darum, heute vor Reue zu zerfließen. Wichtig ist es, sich auf der Höhe der neuen Zeit zu befinden und sich um das Wesentliche zu kümmern. Und hier wäre das Wesentliche eben eine normalisierte Beziehung unter der Bedingung, daß kei­ner, der das Land verlassen hat, uns Hier­gebliebenen irgendetwas vorschreibt.
Das sind die neuen Spielregeln. Natürlich verstehen das nicht alle. Aber ich glaube an die Leute, die Zweifel haben. Sie er­scheinen mir ehrlicher, und ich bin bereit mit ihnen zu diskutieren.

Aufgrund der herrschenden Gesetzge­bung in Kuba gibt es keine Beschrän­kung der Herkunft ausländischen Kapi­tals, das auf der Insel investiert wird. Bedeutet das, daß auch die Kubaner im Ausland auf Kuba investieren können?
Ein ernstes Problem. Kuba kann nicht per Gesetz einen Prozeß ausländischer Inve­stitionstätigkeit einleiten und sagen: Alle werden zugelassen, nur nicht die Kubaner, die das Land verlassen haben. Das wäre nicht durchsetzbar. Das Problem liegt darin, daß viele Wunden noch nicht ver­heilt sind. Meiner Ansicht nach muß man ein Klima des Vertrauens in bezug auf ausländische Direktinvestitionen schaffen, denn viele Kubaner haben die Notwen­digkeit dahinter noch nicht erkannt.

Ich konnte auf Kuba nicht feststellen, daß ein Mehrparteiensystem ein echtes Anliegen der Kubaner ist. Was ande­rerseits aus der Sicht vieler Kubaner wirklich notwendig wäre, ist die Tren­nung von Staat und Partei, die Wieder­aufwertung der Zivilgesellschaft und der Rolle der Bürger. Es scheint den Kubanern ein Anliegen zu sein, daß sich die Partei aus Bereichen verabschiedet, in denen sie eigentlich nichts zu suchen hat. Ist das tatsächlich so?
Ich freue mich, daß Sie beide Ansichten wahrgenommen haben, vor allem in bezug auf Forderungen nach einem pluralisti­schen Parteiensystem, das für mein Land nicht an erster Stelle steht. Schließlich hat die Einheitspartei meines Landes in der Praxis mehr Probleme gelöst als die vielen Parteien anderer Länder. Das ist ein sehr kubanisches Phänomen, und hat mit Be­drohungen zu tun, die immer noch beste­hen. Dennoch teilt die Partei selbst die Sorge eines großen Teils der Bevölkerung, die staatlichen Aufgaben einzuschränken. Wir haben das in der letzten Zeit vehe­ment diskutiert. Als die Partei die Aufga­ben der Verwaltung übernahm, erfüllte sie diese zum Teil nicht richtig und vernach­lässigte auf der anderen Seite wichtige politische Aufgaben. Wir müssen uns heute entscheiden, in welchen Bereichen wir die Partei, und in welchen die Regie­rung und den Staat stärken. Das erfordert einen Umbau staatlicher Machtstrukturen, und ich glaube, wir haben da noch eine Menge vor uns.

Auf dem neuen Weg, der eingeschlagen wurde, zeigt sich immer stärker ein neues Gesicht Kubas: das der Unter­schiede der Chancen, der Möglichkei­ten, der Dollars. Es scheint, als ob dies einen unumkehrbaren Verfall jener ethischen Werte hervorruft, auf denen die Revolution basierte. Empfindet das die politische Führung des Landes auch so?
Das gehört zu den unvermeidlichen Risi­ken. Schlimmer wäre es jedenfalls, wenn wir uns der Realität nicht stellten. Ich glaube schon, daß wir es heute mit einer Welt der Unterschiede, der Ungleichhei­ten zu tun haben, aber ich möchte auch klarstellen, daß diese Ungleichheiten weitaus schlimmere Folgen hatten, so­lange sie sich in der Illegalität abspielten. Die Straffreiheit des Dollarbesitzes hat die Unterschiede nicht herbeigeführt, sie hat nur sichtbar gemacht, was schon seit ge­raumer Zeit der Fall ist. Wir müssen uns entscheiden: entweder wir verschließen die Augen vor dieser Realität, oder wir suchen ganz offensiv mögliche Aus­gleichsmechanismen.

Krieg gegen die Landbevölkerung

Von den sieben Millionen Haitianern lebt eine Million im Ausland, zwei Millionen leben in Port-au-Prince und in zehn weiteren Provinzstädten, vier Millionen auf dem Land. Die Zukunft der Landbevölkerung ist der Einsatz eines strategischen Spiels der vergangenen 25 Jahre in Haiti.
Zwei Modelle stehen sich gegenüber: Einerseits eine demokratische Bewegung (Lavalas), die eine von der Basis ausgehende Entwicklung und demokratische Teilnahme an politischen Vorgängen an-strebte. Und damit auch Integration und Restrukturierung des ländlichen Raumes. Das andere Modell sieht das Ende des Kleinbauerntums mit der Entstehung großer Slums und der Freigabe billiger Arbeitskräfte für die Lohnveredelungsindustrien vor.
Die Struktur der Landbevölkerung ist für beide Modelle von Bedeutung. Deshalb gilt es, diese Struktur zu durchleuchten.
Die Landbevölkerung lebt in mehr oder weniger dicht besiedelten Weilern mit etwa hundert Hütten und etwa fünfhundert Bewohnern. Die Weiler weisen keine Dorfstruktur auf. Zwischen den Hütten sind individuelle Nutzgärten angelegt. Dies scheint auf Zersiedelung und fehlenden Zusammenhang hinzudeuten. Lange unterlagen sozial-wissenschaftliche Studien diesem Trugschluß, und man wollte die individualistisch denkenden Bauern in Basisgemeinschaften zusammenführen. Da- bei wurde die strenge Organisation des ländlichen Raumes übersehen und die Identifikation der Menschen mit einer bestimmten sozialen Einheit, die das Leben der Bauern seit jeher prägt. Die kleinste Einheit bildet die erweiterte Familie, die in Weilern zusammengefaßt ist. Eine Erhebung ergab 7500 solcher Weiler. Der Einflußbereich eines Marktes erreicht etwa 15 Weiler. Die Zentralmacht in Port- au-Prince teilte das Land verwaltungstechnisch in “sections rurales”. Eine Sektion umfaßt ebenfalls 15 Weiler und ist für die Verteilung der Landpolizei und Steuereintreiber von Bedeutung. Die Einteilung nach Märkten blieb jedoch die für die Bauern gültige Organisation ihres Gebietes.

Das alte Regime

Die Konflikte begannen um 1975, als die während der amerikanischen Besetzung (1915-34) und der Niederschlagung des Bauernaufstandes (1915-21) entstandene Struktur zu zerfallen drohte. Die damalige Struktur anerkannte eine eindeutige ökonomische, soziale und politische Vorherrschaft der Hauptstadt. Bauern und Händler arbeiteten für den zentralisierten Export landwirtschaftlicher Güter und erhielten nur zehn Prozent des auf dem internationalen Markt erzielten Wertes. Außerdem arbeiteten sie für die Lebensmittelversorgung des Binnenmarktes. Der massive Handel mit Arbeitskräften für die Zuckerplantagen in Kuba und später in der Dominikanischen Republik war ein Regulativ für die lokalen Probleme.
Inzwischen entnahm der Staat seine Steuern, die Kredithaie ihre Zinsen, die Import-Exportler ihre Profite, die Landbesitzer ihre Pachten… Das Gleichgewicht brach um 1975, und man forderte grundlegende Reformen, gegen die sich sowohl nationale Clans als auch internationale Begünstigte wehrten. Dann gründet heute der Krieg gegen Landbevölkerung und Slumbewohner. Ein Krieg auf allen Ebenen: lokal, staatlich und international. Ein Krieg mit unterschiedlicher Intensität, um internationale Öffentlichkeit und haitianische Diaspora nicht aufzuschrecken.
Die Verteilung der Landpolizisten erfolgt nicht auf zentraler Ebene. Die Bewerber für die Posten bestimmen selbst ihren Wirkungskreis. Somit hat die Verteilung der Landpolizei die räumliche Organisation der Bauern besser erfaßt als jede wissenschaftliche Studie. Etwa 20.000 Landpolizisten (chefs de section). kontrollieren die “sections rurales”. Auf einen Polizisten kommen zweihundert Bewohner. Jeder Sektionschef unterhält enge Beziehungen zur Armee und hat so viele Helfer, wie er es für notwendig hält, um “seine” Gegend zu kontrollieren. Der Polizist und seine Truppe haben alle Macht. Da sie von der Zentralmacht nicht bezahlt werden. entlohnen sie sich selbst durch Gebühren und Schutzgelder von den Bauern.
Diese Kriegsmaschinerie wurde nach dem Putsch sofort wieder in Gang gesetzt (Die Aristide-Regierung hatte sie abgeschafft. Anm. der Übersetzerin). Es ist nicht notwendig, die trostlosen Statistiken der Menschenrechtsorganisationen zu zitieren; hier sei nur auf die Flucht von etwa 300.000Menschen hingewiesen, die ihre Weiler verlassen, u m sich in einem anderen zu verstecken. Angesichts der Übermacht der Landpolizisten leben diese Menschen auch dort in ständiger Gefahr. In zwei Jahren der Repression zählt man Tausende von Toten auf dem Land. Der Krieg ist nicht zu Ende.

Das Projekt der Null-Migration

Das von dem Putsch unterbrochene Projekt der demokratischen Regierung wollte die Landflucht aufhalten. Durch eine Boden- und Wasserversorgungsreform sollten 250.000 lebensfähige Kleinbetriebe gegründet werden. Sie wären imstande gewesen, die von den Bauern zum Überleben notwendigen 4.000 Dollar jährlich zu erwirtschaften. Etwa 300.000 kleine industrielle Einheiten, die jene für die Landwirtschaft notwendigen Geräte, Samen und Dünger liefern und die Produkte weiterverarbeiten, sollten das Projekt ergänzen.
Dies wäre die Basis für eine lokal angesiedelte Entwicklung gewesen, die in der Lage gewesen wäre, die Landwirtschaft zu optimieren und überschüssige Arbeitskräfte zu absorbieren. Dieses Projekt scheiterte an der Raffgier einiger.
Auch auf internationaler Ebene herrscht Krieg gegen die haitianischen Bauern. Die USA errichteten die schwimmende Mauer, um die Flüchtenden aufzuhalten, und die Dominikanische Republik nutzt jeden Flüchtling für die Zuckerplantagen. Dieser Krieg wird aber nur mit gezielten Aktionen geführt, es ist ein Krieg geringer Intensität.
Der haitianische Bauer, gejagt in seinem Weiler, seinem Markt, seiner Sektion, ist ohne Möglichkeit, seine Lage im Sine der Demokratie zu verändern. Er lebt diesen Krieg im Widerstand. Es muß sich etwas ändern im ländlichen Haiti, auch wenn das Neue noch nicht klar erkennbar ist. Auch wenn das Schlimmste heute überwiegt, ist es noch nicht voraussehbar, wie sich das Kräfteverhältnis zukünftig entwickeln wird. Es sei denn, die Demokratie in Haiti erhält eine zweite Chance.

Der Haitianische Autor ist Professor der Geographie In Quebec. In der FebruarIMarz- Ausgabe von “Sciences Humaines” erschien sein Artikel zur haitianischen Bauernschaft (leicht geändert entnommen aus Haiti-Info).

Kasten:

Kommentar: Schlechtes Remake

Medienwirksam hat die Clinton-Regierung die Verhärtung ihrer Politik gegen das Militärregime in Port-au-Prince inszeniert. Doch die Einfallslosigkeit der AkteurInnen im karibischen Krisenherd Haiti erinnert eher an ein miserables Remake längst fehl­geschlagener Maßnahmen: Neues Embargo, neue Asyl­verfahren für haitianische Flüchtlinge, Errichtung von Flüchtlingscamps auf den Bahamas, neue Drohungen gegen die Militärs, ein neuer de-facto Präsident, der doch wieder nur eine Marionette der Putschisten ist.
Während das Embargo mit eklatanten Menschenrechts­verletzungen in Haiti begründet wird, schieben die USA nach wie vor haitianische Flüchtlinge in ihre Heimat ab. Daß ausgerechnet US-Kriegsschiffe im Hafen von Port-au-Prince einlaufen, um geflohene HaitianerInnen von Bord zu schicken, macht das ganze Ausmaß an Zynismus der US-Politik augenfällig.
Gleichzeitig erscheinen immer neue Nachrichten von Massakern: Bilder verstümmelter Opfer, deren Leichen von Hunden und Schweinen angefressen werden. Eine menschliche Antwort muß her. Der arg gescholtene Clinton zieht die Cowboy-Stiefel an und fordert vom UN-Sicherheitsrat die Verschärfung des Embargos. Es spielt keine Rolle, daß genau das bereits seit langem von Kanada und Frankreich gefordert wird. Bill ist der Held des Augenblicks. Die Drohung einer Militärintervention wird durch Seemanöver vor der haitianischen Küste untermauert. Hurra, wir nähern uns einer US-amerika­nischen Lösung! Was zählen in diesem Moment schon die Zweifel Aristides, der weder an die Wirksamkeit des Embargos glaubt, noch sein Plazet für ein militärisches Eingreifen geben möchte? Big brother befindet sich im Einsatz und ist entschlossen, eigene Interessen zu opfern. Das Einfuhrvolumen aus Haiti hat sich seit der Verhängung des Embargos vervielfacht. Die Produkte der Lohnveredelungsindustrien fielen nicht unter die Handelsblockade. US-Firmen können auch weiterhin billige Basebälle importieren.
ZT Absurdes Polittheater
Die Verschärfung des Embargos wird ausgerufen. Die Visa für 600 AnhängerInnen des Putsches werden annulliert. Doch Cedras gibt nicht auf, und die Spannung steigt! Sein Gegenschlag läßt nicht lange auf sich warten: Auf sein Geheiß wählt eine Handvoll korrupter ParlamentarierInnen eine neue Marionette zum Präsidenten. Kurz darauf wird die dritte de-facto-Regierung gebildet. Die internationale Gemeinschaft reagiert mit Mißachtung. Clinton befindet sich in Zugzwang, seinen Drohungen jetzt Taten folgen zu lassen: Einige Manöver mehr und eine wie bestellt klingende Rede Malvals, des ehemaligen Premiers der Aristide-Regierung, in der Offiziere und Parlaments­angehörige namentlich angegriffen werden. Woher nimmt der bereits in Vergessenheit versunkene Malval diesen Mut?
Zur selben Zeit berichtet die für Menschenrechte zuständige Beamtin der US-Botschaft in Port-au-Prince, AnhängerInnen des gestürzten Präsidenten hätten angebliche Menschenrechtsverletzungen in den meisten Fällen frei erfunden. Sogar die von UNO/OAS-Beobachtermissionen gemeldeten Fälle politisch motivierter Vergewaltigungen stellt sie in Frage. Diese Form der Gewalt sei Bestandteil der haitianischen Kultur. Die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte entsendet prompt eine weitere Delegation nach Haiti, die eine erschreckende Bilanz der alltäglichen Gewalt durch die Militärs zieht.
Also nichts Neues in Haiti? Wird es noch lange dauern, dieses abgekartete Spiel der “Wahrung US-amerikanischer Interessen” bei gleichzeitiger Wahrung der demokratischen Fassade? Würden die Menschen in Haiti nicht so schrecklich leiden, könnte man über dieses absurde Polit-Theater lachen.

Carole Sambale-Tannert

Revolution in der Revolution

In welchem Maße hat die US-Politik einen Ein­fluß auf die Veränderun­gen, die in Kuba gerade vonstatten ge­hen?
Valdes: Historisch betrachtet haben die USA immer auf zwei Wegen ihre Macht auf Kuba ausgeübt: aktiv und mit der Macht des Vetos. Seit Beginn dieses Jahr­hunderts heißt aktive Politik im wesentli­chen: Die USA haben alle Antworten; sie stülpen Kuba einfach ihre rechtlichen Rahmenbedingungen, ihre politischen Ziele und Werte über. Selbstverständlich kann man realistisch betrachtet einer an­deren Gesellschaft nicht einfach etwas überstülpen, für dessen Verwirklichung man selbst Jahrhunderte benötigte. Ich glaube, eine ganze Reihe Menschen ten­diert dazu, das zu vergessen.
Der andere Ansatz der USA ist die Macht des Vetos. Das heißt folgendes: Immer dann, wenn die USA versuchen, Kuba ein bestimmtes Muster aufzudrängen, die so­ziale Wirklichkeit in Kuba das aber nicht erlaubt und Kuba dann versucht, seinen ei­genen Weg fortzusetzen, setzt die Macht des Vetos ein. Die USA sagen dann ein­fach:”Wir werden es nicht zulassen”.
Das Ergebnis ist in beiden Fällen das­selbe: Die tragische bilaterale Geschichte von Kuba und den USA verdichtet sich zu einem Gleichgewicht des Scheiterns. Ku­banischer Nationalismus kann immer wie­der von den USA mit einem Veto gekon­tert werden. Kuba ist einfach nicht stark genug, um dieses Veto zu überrollen. Auf der anderen Seite sind die USA nicht stark genug, um ein Kuba nach ihren Vorstel­lungen zu schaffen. Die kubanische Wirk­lichkeit wird immer darauf aufbauen, US-Ideale zu besiegen.
Es erscheint vielleicht etwas merkwürdig, aber die einzige Möglichkeit, die den USA bleibt, kubanischen Nationalismus zu absorbieren oder zu integrieren, liegt darin, ihm die Hand zu reichen. Die USA sind schon viel länger Regionalmacht als Kuba. Man muß sich einfach klarmachen: Kuba ist erst seit 34 Jahren wirklich unab­hängig, vor 1959 war es das nie. Die Un­abhängigkeit der USA geht zurück bis ins Jahr 1776, also über 200 Jahre. Deshalb sollten die USA als die “Älteren” dem ge­rade mal 34 Jahre jungen Kuba die Hand reichen.

Nach 34 Jahren scheinen die USA nun einige ihrer Ziele in Kuba erreichen zu wollen. Ist unter der neuen Clinton-Re­gierung so etwas wie eine neue Politik sichtbar geworden?
Die Clinton-Administration folgt einer Politik, die im Grunde genommen wäh­rend der Reagan-Jahre praktiziert wurde. Damals gab es eine dramatische Wende in der US-Politik gegenüber Kuba.
Vor 1981 (dem Amtsantritt Reagans, LN) richtete sich die US-amerikanische Kuba-Po­litik danach, ob Kuba gewisse Vor-bedin­gungen für normale Beziehun­gen erfüllte. Diese Vorbedingungen ori­entierten sich am Verhältnis Kubas zum Rest der Welt. Die USA sagten damals: “Uns stehen Ent­schädigungen für den Be­sitz zu, den ihr verstaatlicht habt” oder “Ihr müßt Eure Truppen aus Angola ab­ziehen” oder “Ihr müßt Eure Beziehungen zur Sowjetunion abbrechen”.
Es gab niemals eine Situation, in der die USA sagten: Wir werden die Beziehungen mit Kuba nur verbessern, wenn das wirt­schaftliche, soziale und politische System Kubas ein Ende findet. Nicht einmal unter den konservativsten Regierungen der US-Nachkriegszeit, auch nicht unter Eisen­hower oder Nixon, machten die USA die Normalisierung der bilateralen Beziehun­gen von Veränderungen in Kuba abhän­gig. Aber als Reagan sein Amt antrat, än­derte sich das. Er machte die Normalisie­rung der Beziehungen von fundamentalen inneren Veränderungen auf der Insel ab­hängig. Seine Politik basierte auf präsi­dialen Anweisungen und Kabinettsbe­schlüssen, Gesetze gab es noch keine. Die kamen erst mit dem Cuban Democracy Act, den Bush 1992 unterzeichnete. Damit wurde die Einmischung in die inneren Angelegenheiten Kubas zu einer Politik, an die sich sowohl Republikaner als auch Demokraten halten mußten – denn nun ist sie Gesetz.
Das bedeutet, auch wenn Clinton gern eine andere Politik gegenüber Kuba ma­chen wollte, müßte er zuerst dieses Gesetz ändern. Zwar verfügt er über einen gewis­sen präsidialen Spielraum, aber er ist den­noch in einer sehr schwierigen und unge­wöhnlichen Position.

Gibt es dennoch Bruchstellen innerhalb der US-amerikanischen Außenpo­litik? Gibt es Alternativvorschläge, die diese Zwangsjacke in Frage stellen?
Beinahe jede bedeutende Analyse zu Kuba erkennt an, daß die US-amerikani­sche Kuba-Politik nicht funktioniert. Auch stimmen die meisten darin überein, daß, selbst wenn diese Politik “funktionieren” würde, Kuba aller Voraussicht nach vor einem Bürgerkrieg stünde und eine Mas­senflucht in die USA einsetzen würde. Sie werden Leute im Außenministerium und im Nationalen Sicherheitsrat finden, die mit der augenblicklichen Kuba-Politik nicht gerade zufrieden sind.
Das Problem ist, daß die Kuba-Politik nicht von den Profis aus dem Außenmini­sterium oder dem Nationalen Sicherheits­rat gemacht wird, noch wird sie von der aktuellen Lage in Kuba bestimmt. Kuba-Politik wird bestimmt von den alle vier Jahre wiederkehrenden Präsidentschafts­wahlen und den alle zwei Jahre stattfinden Kon­greßwahlen. Sie ist eine Geisel des ameri­kanischen Wahlkampfes. Florida zum Beispiel ist wegen seiner vielen Wahl­männerstimmen gerade im Präsi-dent­schaftswahlkampf äußerst wich­tig. Diese Aus­gangslage geht weit über die Tatsache hinaus, daß die Cuban Ame­rican National Foundation, CANF, den Wahl­kampf Clintons durch Spenden mit­finanzierte (die CANF mit dem Exilkuba­ner Jorge Mas Canosa an der Spitze ver­körpert die unversöhnliche Anti-Castro Hardliner-Po­sition, LN). Die Essenz ist: Es gibt zu viele mit verbrieften Interessen, die am meisten gewinnen, wenn die Poli­tik so weitergeführt wird wie bisher. Verände­rungen in Kuba, von Kubanern initiiert, werden also keinen signifikanten Einfluß auf die US-Politik haben.
Man muß sich klar machen, welche Inter­essen hier im Spiel sind. Ist es im Inter­esse des Staates Florida, ein freies Kuba vor der Haustür zu haben, mit dem man um Touristendollars konkurrieren müßte? Ist es im Interesse der Immobilienmakler des Großraums Miami, in eine Situation zu geraten, in der Strandhäuser in der Nähe von Havanna zum Billigstpreis zu bekommen sind? Ich bezweifle das. Was würde mit dem Wert von Immobilien in Südflorida passieren, was mit dem Glücksspiel in New Jersey, wenn sich Kuba öffnet? Was macht die Drug En­forcement Agency (die us-amerikanische Anti­drogenbehörde, LN), wenn Kuba ein offenes Land würde? Wird sie mehr oder weniger zu tun haben? Wenn die “kubanische Bedrohung” verschwände, was würde mit dem Budget des Pentagon oder der CIA passieren? Was würde mit den Zuckerexporten der Dominikanischen Republik geschehen? Ich denke, es gibt zu viele verbriefte Interessen, die besser ge­sichert sind, wenn Fidel nicht gestürzt wird und sich die bilateralen Beziehungen nicht entscheidend verbessern. Die aus­weglose Situation kommt diesen Kreisen gerade recht und dient ihren Interessen. Für Kuba ist es besser, damit fortzufahren, wie bisher ins 21. Jahrhundert zu hinken.

Was müßte passieren, damit es eine Än­derung der US-Politik gibt?
Zuerst müßte sich das Weiße Haus endlich mit der Tatsache auseinandersetzen, daß innerhalb der kubanischen Gemeinde in den USA die konservative Perspektive nicht die einzige ist. Genauso wie konser­vative US-Amerikaner die CANF zu dem gemacht haben, was sie heute ist, könnte das Weiße Haus den Aufbau einer libera­len, vielleicht leicht nationalistischen, ku­bano-amerikanischen Organisation unter­stützen, die sich für eine solche Änderung einsetzte. Dann müßte die kubanische Re­gierung die Organisation als legitimierten Gesprächspartner anerkennen. Entschei­dend wäre die Etablierung einer Verbin­dung, die einen Prozeß des Gebens und Nehmens auf beiden Seiten erlauben würde. Beide Länder müßten eine Priori­tätenliste entwickeln und sich zusammen­setzen, um diese abzugleichen. Ein Bei­spiel: Nehmen wir an, es wäre den USA wirklich wichtig, daß Kuba eine freie Presse hat. Die USA könnten Gelder be­reitstellen, damit Kuba Papier zum regel­mäßigen Druck der Tageszeitung Granma kaufen kann, was zur Zeit nicht immer möglich ist. Ein bestimmter Prozentsatz des Gedruckten müßte dann aus Meinun­gen bestehen, die nicht von den offiziellen Stellen stammen.

In welchem Ausmaß gibt es Risse oder Fraktionen in den Strukturen der kuba­nischen Exilgemeinde, die solche Pro­zesse in Gang setzen könnten?
Die kubanische Exilgemeinde war, poli­tisch betrachtet, immer sehr facettenreich. Vor den Achtzigern gab es über 200 poli­tische Gruppierungen: Anarchisten, Sozi­aldemokraten, Konservative und sogar ei­nige Fidelistas. Die Exilgemeinde ist ins­gesamt sehr interessant und vielfältig. Po­litisch konservativ ist sie in Bezug auf Kuba. Aber sie ist nicht konservativ, wenn es sich zum Beispiel um soziale Werte dreht.
Die CANF wurde 1981 mit dem Machtaufstieg Reagans geboren. Sie ist eigentlich eine sehr merkwürdige Organi­sation, fast eine Mißbildung innerhalb der kubano-amerikanischen Gemeinde. Zum Beispiel mit der Vorstellung des freien Marktes, wie sie die CANF hat, identifi­zieren sich nicht viele Kubano-Amerika­ner. Die CANF ist eine Kreation der Neuen Rechten, der Moral Majority, der Reagan-Revolution und all diesen Dingen. Sie hatten die Tür zum Weißen Haus ge­öffnet und Jorge Mas Canosa reingezogen. Es ist eben nicht so, daß er genug Kraft gehabt hätte, seinen Weg ins Weiße Haus selbst zu gehen. Sie haben ihn aufgebaut, darauf vorbereitet.
In diesem Sinne müßte die Clinton-Admi­nistration nun die Türen im linken Flügel des Weißen Hauses öffnen und einige Ku­bano-Amerikaner aus diesem Teil der Gemeinde hereinziehen.
Was, wenn die kubanische Regierung an­erkennen würde, – und das wäre weit ent­fernt vom augenblicklichen bilateralen Verhältnis – daß es in den USA eine kuba­nische Gemeinde gibt, die in gewissem Sinne Teil Kubas ist? Sie weiß, daß es in­nerhalb dieser Gemeinde einige sehr kon­servative Menschen gibt, die die Revolu­tion und alles, wofür sie steht, zerstören wollen. Aber sie weiß auch, daß nicht alle Kubano-Amerikaner so sind. Die kubani­sche Regierung könnte beginnen mit die­sen Teilgruppen zu reden. Sie könnte ih­nen helfen, innerhalb der kubano-ameri­kanischen Gemeinde einflußreicher zu werden.
Ich denke, wenn die kubanischen Stellen dies tun würden, wäre Clinton mit einer neuen Realität konfrontiert, und er könnte gezwungen sein, entsprechend zu ant­worten. Auch wenn sonst nichts dabei herauskäme, müßte er sich dann wenig­stens mit den zwei Strömungen auseinan­dersetzen, wie sie sich in Miami und an­derswo herausbilden und gegenseitig wi­dersprechen – anders als jetzt, wo die CANF das Monopol auf die ganze Show hat.

Gibt es denn Anzeichen dafür, daß die kubanische Regierung bereits solche Annäherungsversuche an die Exilge­meinde gestartet hat?
Ja, es gibt Anzeichen, man muß nur war­ten, was daraus wird. Zum Beispiel be­steht eine Möglichkeit darin, daß die ku­banische Regierung nicht nach einem po­litischen Pendant in den USA sucht, son­dern sich nach einer ganzen Reihe ver­schiedener Stimmen umsieht: aus unter­schiedlichen Gemeinden oder auch ein­zelne Persönlichkeiten. Fragen wie die nach den Bedürfnissen und Interessen von Kubano-Amerikanern, die nach Kuba ge­hen wol­len, könnten ein Aspekt sein. Rei­sen, Le­bensmittel, humanitäre Hilfe, Familienzu­sammenführung – die Liste ließe sich fort­setzen.
Es kann gut sein, daß die kubanische Re­gierung nur wünscht, die Beziehungen zwischen dem kubanischen Staat und den Kubano-Amerikanern zu normalisieren und es dann dabei zu belassen; also den ökonomischen Nutzen einzustreichen, aber den nächsten Schritt nicht zu gehen: die politischen Kosten zu bezahlen. Denn die kubano-amerikanischen Gesprächs-partner würden sich wohl nicht nur über ihren Einfluß in Washington freuen, son­dern könnten Ansprüche stellen, den Weg in Kuba mitzubestimmen.
Kuba steht vor dem Problem, daß es einer politischen Front bedarf, wenn es das Em­bargo loswerden will. Diese Front muß aus den Reihen der Kubano-Amerikaner gebildet werden.
Kuba könnte all dies tun, um eine Aufhe­bung des Embargos zu erreichen, aber es kostet seinen Preis: Dem, daß die Kubano-Amerikaner in gewisser Weise mitbe­stimmen, was in Kuba passiert.

“Fresa y chocolate” und der Sozialismus

Rebeca Chávas: Wie ist das Projekt “Fresa y chocolate” entstanden?
Tomás Gutiérrez Alea: Es entstand aus einer Inspiration – wie alle meine Filme. Du siehst eines Sache, liest et­was, und be­ginnst nachzudenken. So war es mit der Geschichte “Der Wolf, der Wald und der Neue Mensch” von Senel Paz. Diese Er­zählung fand eine große Resonanz. Bereits jetzt existieren vier Theaterversionen und einige Buchausgaben.
Aber es war nicht diese Resonanz des Textes, aufgrund derer ich mich dazu ent­schloß, diesen Film zu machen. Ich las das Manuskript, bevor es prämiert wurde, be­vor es überhaupt bekannt war. Nach dem Lesen sagte ich mir: Hier gibt es einen ab­gerundeten, geeigneten Filmstoff, der interessant sein könnte, und rief Senel an. Er war einverstanden. Wenn – wie in die­sem Fall – der Eindruck sehr stark ist, und alles zusammenpaßt, kommt das Pro­jekt voran. Wir diskutierten viel dar­über, wie das Drehbuch weiterentwic­kelt werden könnte. Und heute scheint mir, als könnte der Film nicht nur für mich, meine Kar­riere und meine Filmographie interessant sein. Es ist ein Film, der sehr gut in die Situation paßt, in der wir zu Zeit leben, wo es darum geht, sich der vielen Irrtümer bewußt zu werden, die im Laufe der Jahre begangen wurden. In vieler Hin­sicht ist ein Wandel vonnöten; und dieser Film skizziert einen dieser Aspekte: das intole­rante Verhalten, das lange Zeit gegenüber einem Teil der Bevölkerung herrschte, den Homose­xuellen. Schließlich läßt die Into­leranz in einem Bereich auf die Intoleranz gegenüber anderen Dingen schließen.
Aber man macht keine Filme, um die Re­alität zu transformieren oder etwas zu ver­ändern. Filme werden in erster Linie pro­duziert, weil das Kino Genuß bringen soll. In diesem Sinne kann der Film sehr at­traktiv sein, bewegend, mit Humor und gleichzeitig einem sehr starken Gefühls­gehalt.

Senal hat sehr präzise darauf hinge­wiesen, daß das Thema seiner Erzäh­lungen die Intoleranz ist. Ist dies auch das Thema des Films?
Ja. Toleranz, die sich sowohl gegen­über den Homosexuellen als auch ge­genüber so vielen Bereichen äußert, die außerhalb der etablierten Normen, Schemata oder engstirnigen Wegen lie­gen.

Denkst du, daß diese Intoleranz in der heutigen kubanischen Gesellschaft vor­handen ist?
Ja, auf jeden Fall existiert sie weiter­hin. Die Erzählung und auch der Film spielen vor zwanzig Jahren, als die Schwulen­feindlichkeit und die Verfol­gung von Ho­mosexuellen noch schär­fer waren als heute. Damals kam es wirklich zu extre­men, abscheulichen Situationen, was glücklicherweise heute in dieser Form nicht mehr passiert. Trotzdem manifestiert sich weiterhin eine bestimmte Zurückwei­sung und eine Verständnislosigkeit ange­sichts dieses Phänomens – und das nicht nur in dieser Gesellschaft, sondern in allen Teilen der Welt. In einigen Ländern ist man schon etwas weiter fortgeschritten in dem Bewußtsein, daß Homosexua­lität weder eine Krankheit noch eine Abartig­keit oder Degeneration ist. Es ist eine Art und Weise des Anders­seins, die man ak­zeptieren muß.

Ein Schwulenfilm?
Nein. Wenn ich von dem Unverständ­nis rede, geht es mir um das gegensei­tige Un­verständis – auch von Seiten der Homose­xuellen. Was man zuweilen rechtfertigt, da Art und Weise der Wahrnehmung sich verzerren, wenn die Leute sich in ein Ghetto gedrängt sehen. Ich bin es leid, Homosexuelle zu erleben, die denken, daß im Grunde genommen alle Welt schwul sei, die alle anderen von ihrem Standpunkt überzeugen wollen. Dies ist auch eine Art, die Realität zu verzerren.
Von daher erscheint es mir übertrie­ben, von einem Schwulenfilm zu reden, bloß, weil er von dem Thema handelt. Der Film ergreift weder für die Ho­mosexuellen Partei noch ist es ein Film, der für die Homosexualität wirbt. Nein, darum geht es nicht, es geht darum, eine Situation der Verständnis­losigkeit zu zeigen.

Warum spielen die Frauen in deinen Filmen keine wichtige Rolle?
Ehrlich gesagt, kann ich dir diese Frage nicht beantworten, weil ich es nicht weiß. Es stimmt sicher, daß ich in meinem Werk weibliche Rollen nicht in der gleichen Weise entwickelt habe wie männliche. Das ist eine Welt, die ich vielleicht nicht ausreichend durch­drungen habe, auch wenn ich Versuche unternommen habe.

Seit deinem Film “Memorias del sub­desarrollo” hat die Stadt Havanna keine so herausgehobene Rolle mehr gespielt…
Havanna ist eine herrliche Stadt und bildet einen Teil des Kontextes, in dem sich die Spielhandlung von “Fresa y chocolate” entwickelt. Ich hoffte, die Stadt würde häufiger in Filmen auf­tauchen. Havanna ist meine Stadt, eine Stadt, die ich im Laufe der Jahre im­mer mehr zu genießen gelernt habe. Der gegenwärtige Prozeß der Ver­wahrlosung, den die Stadt erleidet, schmerzt mich sehr. Gefühlsmäßig be­deutet Havanna mir sehr viel, und ich würde am liebsten alles fotografieren, Sa­chen konservieren, um zumindest an die Leute zu appellieren, damit sie sich be­wußt werden, was verlorengeht. In dem Film versuchen wir dies auch direkt zu sagen. Ich weiß nicht, ob dies hinreichend gelingt, und ob wir es schaffen, etwas von diesem Glanz zu vermitteln, der auf so schmerzhafte Weise verloren geht.

Kuba durchlebt zur Zeit eine besondere Phase. Wird dies ein harter, polemi­scher Film werden?
Hart?

Der Film wird die Leute mit Realitäten konfrontieren, in denen sie sich bewe­gen, die sie aber nicht wahrnehmen wollen…
In diesem Sinne schon. Das wird für mich das Interessanteste sein. Ich bin mir der Inhalte, die wir mit dem Film vermitteln wollen, sicher. Ich weiß, daß es Leute gibt, die dies nicht verstehen, und ich denke, daß der Film dazu bei­tragen kann, daß viele von diesen Din­gen verständlich werden.

Du wirst immer mit kritischen Positio­nen in Verbindung gebracht…
Ich habe immer eine kritische Haltung ge­habt. Ich glaube, das war das Pro­duktivste, was ich in meinem Leben tun konnte. Dieser Filmemacher befaßt sich mit dem, was er glaubt, was im Sozialis­mus schlecht ist. Jemand hat mir gesagt – und ich bin damit voll einverstanden – daß das Drehbuch für den Sozialismus exzel­lent ist, aber die Inszenierung einiges zu wünschen üb­rig läßt, und von daher Ob­jekt der Kritik sein muß. Das ist die beste Art, zu seiner Verbesserung beizutragen.

Virtuose Gedanken

LN: Was für ein Jazz-Leben konnte sich auf Kuba überhaupt unter der Blockade der USA entwickeln?
Gonzalo Rubalcaba: Auf Kuba gibt es eine Tradition des Jazz, der in den 40er Jahren begann. Seitdem haben einige Leute auf Kuba ihre eigenen Gruppen gegründet und andere sind zu Bands in die USA gegangen. Aber es hat immer eine original kubanische Verbindung mit der Jazz-Welt gegeben. Das heißt, niemals die kubanischen Traditionen aufzugeben. Die frühen Jazzer hatten nur eine musikalische Inspiration. Seit Ende der 50er Jahre gibt es auf Kuba immer mehr akademisch ausgebildete Musiker mit einer viel ausgefeilteren musikalischen Sprache.
In den letzten dreißig Jahren hat der Staat sehr viel in gute musikalische Ausbildungen investiert. Es ist immer eine klassische Ausbildung. Aber das war in der Geschichte der kubanischen Musik immer so. Beispielsweise waren alle Komponisten für Klaviermusik um die Jahrhundertwende gleichzeitig perfekte klassische und populäre Musiker. Diese Vielseitigkeit gehört schon zu unserer Tradition. Und ich glaube, daß es ein großes Glück ist, daß die kubanischen Musiker immer von sich aus oder gezwungenermaßen klassische Musik studiert haben. Aus diesem Grund gibt es ein tiefes musikalisches Verständnis und technische Fähigkeiten, die die populäre Musik davor bewahren, zu einfach zu werden. Die Resultate bei der populären Musik sind ambitionierter, intelligenter.

Aber braucht das nicht gerade der Jazz auch einen Austausch mit internationalen MusikerInnen?
Das jährliche Jazz-Festival wurde mit der Zeit zur Plattform für die kubanischen Jazz-Musiker. In diesen 14 Jahren kamen immer mehr wichtige Musiker aus dem Ausland, weil sie auf Kuba spielen wollten. Das Land hatte niemals genug Geld, um sie zu bezahlen. Aber die ausländischen Musiker wollten die kubanischen Musiker, das kubanische Publikum und Kuba als solches kennenlernen. Das war für alle sehr wertvoll. In den letzten beiden Jahren ist die Situation wegen der schlechten Wirtschaftslage schwieriger geworden. [Anm.: 1994 ist das Festival zum ersten Mal ausgefallen.] Es gibt immer weniger Konzerte auf Kuba. Die Gründe sind bekannt: Es gibt zuwenig Treibstoff, Strom und Verkehrsmittel. Es ist fast unmöglich, als Musiker zu arbeiten. Und das ist schade: Leute, denen das Land es ermöglicht hat, künstlerisch zu wachsen, haben es schwer, wenn sie anfangen wollen zu arbeiten.

Du hast erzählt, daß alle kubanischen Musiker eine klassische Ausbildung haben. Hast Du auch klassisches Klavier studiert?
G.R: Ja, ich fing mit acht Jahren an. Eigentlich wollte ich Schlagzeug lernen. Aber dafür war ich noch zu jung. Außerdem gab es gerade Probleme mit dem Fachbereich Percussion in Havanna. Meine Mutter erklärte mir also, ich müßte zwischen Geige und Klavier wählen. Es gab zwar ein Klavier bei uns zu Hause, aber für mich war das irgendein Möbelstück, außerdem fand ich Klavierspielen unglaublich schwer. Ich entschied mich nur meiner Mutter zuliebe dafür. Sie sagten mir, daß ich nach drei Jahren Schlagzeug spielen lernen könnte, also lernte ich beides. Denn nach drei Jahren fing ich das Instrument an zu mögen. Später studierte ich dann noch Komposition. Die erste Etappe der Ausbildung dauert vier bis sechs Jahre, dann kommt die Mittelstufe und danach kannst Du noch studieren.

Und wie kamst Du zur populären Musik oder zum Jazz?
Das ging schon mit zwölf oder dreizehn Jahren los. In das Haus meiner Eltern kamen immer Musiker, und es wurden viele Platten aus den 50er Jahren gehört: Bud Powell, Thelonios Monk, aber auch die Kubaner aus dieser Zeit, die etwas mit Jazz zu tun hatten: Frank Emilio, Peruchina. Im Haus wurde geübt, es gab Feste und dabei spielten wir. Später ging ich mit einem Schulfreund zu Konzerten von Irakere oder Emiliano Salvador. Und 1977 gründete ich eine Gruppe namens Da Capo in meiner Schule. Die Gruppe war wie ein Labor, wir probierten alles aus, es war irgendwie experimentell, wir brannten nur so vor Energie.
Ab 1984 hatte ich eine professionelle Gruppe “Projecto” und 1985 kam Dizzy Gillespie zum zweiten Mal zum Jazzfestival. Damals arbeitete ich im “Parisien”, einer Art von Cabaret im Hotel Nacional, in dem die Künstler wohnten, die zum Festival gekommen waren. An jenem Abend kam Dizzy genau dahin, als ich gerade aufhörte zu spielen. Er kam auf die Bühne und lud mich ein, am nächsten Tag bei seinem Konzert mitzuspielen. Ich suchte Dizzies Stück “Con Alma” aus, wir spielten, die CBS filmte, und das war der Startschuß.

Dizzy war wie ein Vater für viele Musiker und hat vielen jungen Jazzern aus den USA und Lateinamerika geholfen, nicht?
G.R: 1987 lud er mich zum Jazz-Festival nach Montreux ein. Das letzte Mal trafen wir uns 1990 auf Kuba. Er hat sehr viel dabei geholfen, auf mich aufmerksam zu machen.

Hast Du auf Kuba populäre Tanzmusik gespielt? Gestern auf dem Konzert hörte es sich so an, als ob Du darin Routine hättest.
Ja, als ich anfing, professionell zu arbeiten, spielte ich bei den Van Van. Die Van Van sind seit 15 oder 20 Jahren die populärste Gruppe auf Kuba. Ihr Leiter, Juan Formell, ist ein Chronist der kubanischen Lebensauffassung in den letzten 15 Jahren. Ich habe mit ihnen während des Karnevals 1984 und auf dem Son Festival 1983 gespielt. Außerdem habe ich mit vielen populären Sängerinnen und Sängern gespielt.

Deine Art zu arrangieren, erinnert mich an eine Richtung des jungen schwarzen Jazz in den USA, wie sie zum Beispiel Steve Coleman spielt. Ich meine damit diese Art, musikalische Formen zu brechen und sie neu anzuordnen. Hast Du etwas mit diesen Musikern zu tun?
Das ist ein Produkt des ausgehenden Jahrhunderts. Es wird viel resümiert. Zu diesem extremen Zeitpunkt fallen Dir alle Informationen des Jahrhunderts auf die Schultern. Das kann günstig sein, aber Dich auch blind machen, weil Du nicht weißt, wohin.

Du meinst, wenn es bereits soviele Formen gibt, dann weißt du nicht, wohin, um Neues zu entdecken?
Genau. Musiker wie Steve Coleman sind auf der Suche nach einer neuen universellen Sprache, dem Ausdruck einer Idee. Die Wurzeln kommen dann später sowieso wieder zum Vorschein, in den Mustern, die du in der Kindheit gelernt hast oder durch deine Entwicklung in einer bestimmten Gesellschaft. Das Problem liegt in dem unterschiedlichen Zugang zu den verschiedenen musikalischen Sprachen. Alles erscheint neu, alles ist wertvoll, und ich habe nur Angst vor einer unüberlegten Collage, die nichts mehr sagt.
Auf der anderen Seite glauben die Jugendlichen zu wenig an das Alte. Du kannst nicht nach vorne gucken, ohne zu sehen, welche Wege schon zurückgelegt wurden. Aber es gibt auch großes Glück. Das ist einfach die lateinamerikanische Musik, die kubanische Musik. Ich habe immer gesagt, daß dies ein jungfräulicher Kontinent ist. Du gehst aufs Land, suchst in der Folklore, oder suchst in der Stadt, und jeden Tag wirst du viele Quellen für neue Inspirationen finden. Dieser Kontinent ist noch kein bißchen müde geworden bei der Suche nach einer musikalischen Sprache. Es gibt auch viel zu schreiben, wir haben noch viele Revolutionen vor uns, viele Anliegen, auch viele Katastrophen. Das alles zählt. Man sollte nicht nur die schönen Seiten beachten.

Wirst Du manchmal wütend, wenn die Kritiker Dich als Kubaner natürlich als temperamentvoll und feurig bezeichnen und Dich folkloristisch betrachten?
Mich macht wütend, wie wenig bekannt die Folkore ist. Sie ist das einzige Kriterium, das in der Karibik und in Afrika angelegt wird. Aber niemals hat es wirklich eine philosophische Annäherung an die Kunst der Folklore gegeben. Erstens, weil man die Folklore nicht kennt, und zweitens, weil man sie unterschätzt. Ich bin nicht wütend, es macht mich traurig. Nicht um mich, denn wenn Du deine Sache überzeugt machst, verliebt bist, in das, was Du tust, und verantwortlich, dann machst Du alles mit Liebe. So verstehe ich Liebe. Auch wenn ich nicht aufhöre zu träumen, ist für mich das Nachdenken wichtig. Und Virtuosität erfordert sehr viel Aufmerksamkeit. Eben wegen ihres großen Effekts. Aber man sieht immer nur ihre technische Seite, das ist die leichte, äußere Seite. Was vergessen wird, ist die Virtuosität des musikalischen Denkens. Es hat wenig Kritiker gegeben, die sich auf meine musikalische Sprache beziehen.

Dann frage ich Dich mal danach: Wie hast Du in der anderthalbstündigen Gesamtkomposition in Deinem Konzert die Formen zusammengesetzt?
Ich hab ja schon darüber geredet, wie wichtig ich eine akademische Ausbildung finde. Die meisten Musiker, die populäre Musik machen, darunter verstehe ich auch Jazz, legen oft keinen Wert auf die Form. Es gibt das Vorurteil: Wenn Du zuviel Wert auf die formalen Aspekte legst, dann bist Du weniger emotional. Ich glaube an beides, an die Gefühle, an die Leidenschaft, an die Improvisationsfähigkeit der Menschen, aber ich glaube auch an die Organisation. Und organisieren heißt nicht mehr, als sich mit der Form zu beschäftigen. Wenn du etwas neu ordnest, klingt es anders, auch wenn die Worte die gleichen sind, wie immer. Das ist die Grundidee unseres Arrangements, das wir gestern gespielt haben.

Hast Du schon eine Idee, wohin Du mit Deinen Kompositionen gehen willst?
Das traue ich mich nie zu sagen. Ich habe Angst, daß ich meine Idee mit Worten noch nicht ausdrücken kann. Obwohl ich viele Theorien entwickele, ist die Praxis für mich das absolute Ergebnis. Aber ich sage mal was zu meiner Idee über die kubanische Musik. Ich finde, daß sie von den Kubanern selbst schlecht behandelt worden ist. Es werden zuviele Klischees davon gespielt, was als kubanische Musik bekanntgeworden ist. Diese Klischees werden immer funktionieren, so wie in Romanen, so wie in Telenovelas, so wie in Diskursen vor den Massen. Du weißt einfach, einige Sätze, einige Wendungen kommen immer bei den Leuten an. Und das wird zuviel benutzt. Es sind keine ernsthaften neuen Ideen vorgestellt worden.

Was ist aus den Musikern der “neuen Trova” geworden? Aus Silvio Rodríguez, Pablo Milanes?
Die Trova hält sich auf eine Weise. Aber mit weniger Einfluß.

Wegen der gewandelten politischen Situation oder aus künstlerischen Gründen?
G.R. Beides. Es passiert immer das gleiche, bei allen künstlerischen Phänomenen: Namen tauchen auf, Leute werden berühmt, entweder, weil sie sich außerhalb der sozialen Realität stellen, oder weil sie gegen sie rebellieren. Genau das haben Silvio Rodríguez, Pablo Milanes, Noel Nicola, Sarah Gonzales in den 70er und 80er Jahren getan. Sie wurde zur Avantgarde dieser Bewegung, zur revolutionären Seite des kubanischen Liedes. Die Trova drückte eine Generation voller Fragen und Zweifel aus, kritisierte viele Aspekte der damaligen kubanischen Gesellschaft. Diese Etappe hat ihre Funktion erfüllt und die Zeiten haben sich geändert, die Gesellschaft hat sich geändert und die Beziehungen des Landes zur Welt haben sich geändert. Und jetzt tauchen neue Namen auf. Die Geschichte wiederholt sich. Leute wie Carlos Varela, Santiago Feliu. Sie haben es schwer, weil sie so selten öffentlich auftreten können. Entweder können sie aus wirtschaftlichen Gründen nicht spielen oder weil einige Sektoren des Landes finden, daß diese Art von Kunst gegen die revolutionären Prinzipien verstößt. Der Kampf der Generationen ist ein historisches Problem.

Aber wenn die Trova die Avantgarde der Revolution war, warum werden nun die neuen Sänger kritisiert, nicht revolutionär genug zu sein?
G.R. Das ist einfach. wenn Du wirklich revolutionär bist, entstehen viele Widersprüche. Das ist logisch. Wenn du aufhörst, Dich weiterzuentwickeln, hörst du auf, revolutionär zu sein. Dann tauchen die neuen Generationen auf, die sich der neuen Zeit verpflichtet fühlen. Wir reden hier von einer sozialen Revolution. Carlos Varela mit seiner neuen Sprache hat gezeigt, daß er sehr kritisch ist, aber auch, daß er eifersüchtig über die Erfolge der Revolution wacht. Das ist keine Rebellion gegen alles. Es ist eine analytische, bewußte, gewissenhafte Rebellion. Und das ist Teil eines revolutionären Denkens.

Editorial Ausgabe 237 – März 1994

Kaum will der Regierende Bürgermeister einmal seine rhetorischen Fähigkeiten und seinen politischen Überblick unter Beweis stellen, geht es auch schon in die Hose. Neben einem besoffenen Innenminister schwang sich Eberhard Diepgen anläßlich der Eröffnung der 44. Berliner Filmfestspiele dazu auf, dem erstaunten Publikum zu verkünden: “Der Film ist keine Banane!” Vordergründig betrachtet eine triviale Aussage. Eigentlich wäre daran nichts als pure Unsinnigkeit auszusetzen, hätte der Regierende sie nicht gezielt auf die soeben abgeschlossenen GATT-Verhandlungen über den internationalen Handel bezogen. Ein Irrtum, wie auf der diesjährigen Berlinale deutlich wurde.
Die Filmfestspiele bieten Jahr für Jahr dem interessierten Publikum eine einzigartige Gelegenheit, Filme aus allen Teilen dieser Welt zu sehen. Die internationale Journaille scheint allerdings weniger an den dramaturgischen oder ästhetischen Vorstellungen der RegisseurInnen aus Afrika, Asien und Lateinamerika interessiert zu sein, ihre Fragen zielen teilweise penetrant auf die ökonomischen Rahmenbedingungen ab. Während Hollywood für jeden Streifen etliche Millionen Dollar ausgeben kann, sind die Filmproduktionen aus den armen Ländern durch ständige Geldknappheit gekennzeichnet. Umso beachtlicher das Niveau beispielsweise der Filmemacher aus Kuba, die aufgrund der Wirtschaftskrise jährlich nur drei oder vier Filme drehen können und für ihr hervorragendes Werk “Erdbeer und Schokolade” einen Silbernen Bären bekamen. Gerade dieser Film zeigt jedoch gleichzeitig die Abhängigkeit des lateinamerikanischen Films von GeldgeberInnen in den reichen Ländern dieser Welt. Erst ein Preis im Umfang von 100.000 $, vergeben vom spanischen Fernsehen, machte die Dreharbeiten möglich. Da im vergangenen Jahr auf der Karibikinsel wegen des Ersatzteilmangels kein Filmlabor funktionierte, mußte die technische Fertigstellung in Mexiko erfolgen, wofür die Mexikaner nun mitkassieren wollen.
Ähnlich erging es dem brasilianischen Regisseur Nelson Pereira dos Santos mit seinem Wettbewerbsbeitrag “A terceira margem do rio” (Das dritte Ufer des Flusses). Der Film konnte nur mit finanzieller Unterstützung des französischen Fernsehens realisiert werden. Die Kosten für den kolumbianischen Film “La Estrategia del Caracol” (Die Strategie der Schnecke) brachten im wesentlichen in- und ausländische Nicht-Regierungsorganisationen auf. Ohne diese Art von “Ent-wicklungshilfe” sähe es ganz anders aus.
Auf der anderen Seite überbieten sich die sog. Dritte-Welt-Länder mit günstigen Bedingungen für ausländische Filmproduktionen. So wurde der Film “Tirano Banderas” (Tyrann Banderas) des spanischen Regisseurs José Luis García Sánchez überwiegend in Kuba gedreht. Als Bühnenbild dient die malerische Altstadt von Havanna, produziert wurde der Film überwiegend mit kubanischem Personal – was die Kosten erheblich senken dürfte. Doch der Preis für derartige Deviseneinnahmen ist nicht ohne: Tagelang zogen hunderte von Komparsen durch Alt-Havanna und skandierten “¡Abajo el tirano!” (Nieder mit dem Tyrannen!). Die Obrigkeit ließ sie ohne Probleme gewähren.
Der brasilianische Regisseur Pereira dos Santos nutzte die Pressekonferenz im Anschluß an die Vorführung seines Wettbewerbsfilms, die Standortvorteile seines Heimatlandes hervorzuheben: In Brasilien, das seine eigenen cineastischen Kapazitäten derzeit gar nicht ausnutzt, könnten Filme etwa um ein Drittel billiger produziert werden als anderswo. Und spätestens da wurde klar, daß die Banane und der Film doch wesentlich mehr miteinander zu tun haben, als uns Herr Diepgen glauben machen wollte.

Mit der Machete gegen die Korruption

Am 28. November entschieden die HonduranerInnen über den Präsidenten, drei Vizepräsidenten, 128 Parlamentsabgeordnete, 291 BürgermeisterInnen sowie – ein Novum – 20 Abgeordnete für das Zentralamerikanische Parlament. Die PL mit dem 67jährigen Reina an der Spitze gewann die Wahlen mit 53 Prozent der Stimmen und wird mit 71 von 128 Parlamentssitzen über eine sichere Mehrheit verfügen. Der 46jährige Ramos Soto von der PN konnte dagegen nur 42 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Auch bei den Kommunalwahlen lagen die Liberalen vorn. Auf die KandidatInnen der traditionell schwachen kleinen Parteien entfielen nur wenige Prozente. Somit setzt sich die honduranische Tradition des “Bipartidismo” fort. Bei einer für Honduras geringen Wahlbeteiligung von 60 Prozent waren aber die NichtwählerInnen die größte Gruppe. Die am Vorabend der Wahl getroffene Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, denjenigen BürgerInnen, die nicht in die amtlichen WählerInnenlisten eingetragen waren, die Stimmabgabe zu verweigern, verwehrte etwa 200.000 AnhängerInnen der Oppositionsparteien die Teilnahme. Häufig schafft es die marginalisierte Landbevölkerung nicht, auf die WählerInnenlisten zu gelangen, da hierfür gültige Dokumente, Zeit und Geschick im Umgang mit der Bürokratie erforderlich sind.

Eine schmutzige Kampagne

Honduras verfügt nicht gerade über die sauberste Wahltradition. Bei den letzten Wahlen 1989 gelang die illegale Registrierung von damals 100.000 im Lande lebenden Flüchtlingen und Contras aus El Salvador und Nicaragua. Diesmal behauptet das nationale Wahlgericht jedoch, die WählerInnenregister seien, unter Mitwirkung von 119 BeobachterInnen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), sorgfältig von Verstorbenen, Minderjährigen, DoppelgängerInnen, Fiktivpersonen und (nicht wahlberechtigten) Militärs bereinigt worden. Wenn damit die Wahlpraxis auch verbessert wurde, wird es jedoch noch immer, zumindest auf dem Land, Stimmenkauf und Stimmdruck gegeben haben.
BeobachterInnen sprechen vom schmutzigsten und teuersten Wahlkampf in der jüngeren Geschichte des Landes. So sollen die PN und PL zusammen 28 Mio. US-Dollar für den Wahlkampf ausgegeben haben. Statt Sachfragen zu diskutieren, hätten die Kandidaten vorwiegend Beleidigungen ausgetauscht. Ramos nannte Reina einen Kommunisten, der die Kirchen schließen und ein marxistisches Regime errichten wolle. Der Beleg: Ein Foto aus dem Jahre 1960, auf dem Reinas Bruder zusammen mit Che Guevara zu erkennen ist. Reina dagegen konterte, Ramos sei ein korrupter Vertreter der extremen Rechten; er sei bereit, mit dem Teufel zu paktieren und Honduras in die Zeit der Todesschwadrone zurückzuversetzen. Ramos war tatsächlich in den Jahren, als diverse StudentenführerInnen und GewerkschafterInnen spurlos verschwanden, Rektor der Nationaluniversität von Tegucigalpa und gehörte, wie Ex-Präsident Callejas der seit 1983 verbotenen rechtsradikalen “Asociación para el Progreso de Honduras” (APROH) an, die zusammen mit den Militärs Anfang der 80er Jahre den “schmutzigen Krieg” gegen die Bevölkerung initiierte. Obwohl verschiedene Seiten gefordert hatten, die Verschwundenen der 80er Jahre nicht zum Wahlkampfthema zu machen, begann eine makabre Aufrechnung nach dem Motto: “Während in unserer Regierungszeit ‘nur’ 50 Linke abgeschlachtet wurden, waren es bei Euch 100”.
Noch kurz vor der Wahl kam es zu einer Krise, weil sich beide großen Parteien gegenseitig verschiedener Fehler bei der Volkszählung bezichtigten. Trotz der Furcht vor gewalttätigen Zwischenfällen verlief der Wahltag dann aber ruhig. Nur in der “boom town” San Pedro Sula im Norden des Landes detonierten zwei Sprengsätze. Immerhin wurde die Hälfte der insgesamt 27.000 honduranischen Soldaten eingesetzt, um einen ordnungsgemäßen Verlauf der Wahlen zu garantieren.

Keine Chance für kleine Parteien

Die sozialdemokratische Reformpartei PINU (Partido de Innovación Nacional y Unidad) und die christdemokratische PDC (Partido Demócrata Cristiano) wurden vor etwa 20 Jahren als Protestbewegungen gegen das Duopol von Nationalen und Liberalen gegründet. Die PINU kommt aus der intellektuellen Mittelschicht, während die PDC vor allem Unterstützung aus der Bauernbewegung erhält. Beide Parteien haben jedoch keine große Basis und erreichen zusammen kaum mehr als 5 Prozent der Stimmen. Sie haben dem Interessenfilz und der erprobten Organisation der beiden Traditionsparteien wenig entgegenzusetzen und sind eher intellektuelle “pressure groups” als ein Machtfaktor. Dies gilt noch mehr für die Partido Comunista de Honduras (PCH), die Partido Comunista Marxista-Leninista und die Partido Socialista (PASO). Diese Parteien kommen zusammen auf kaum mehr als ein Prozent der Stimmen. Nachteilig für die kleinen Parteien wirkt sich auch die Regelung aus, nach der Präsident und Parlamentsabgeordnete mit einer Einheitsstimme gewählt werden. SozialreformerInnen und linke Kräfte haben sich in Honduras historisch eher in Interessengruppen als in Parteien organisiert.
Auch die Gründung neuer Parteien ist schwierig: So sind eine Reihe rechtlicher Formalitäten erforderlich, die Kosten von etwa 130.000 US-Dollar verursachen.

Ex-RebellInnen gründeten politische Partei

Das Parlament verabschiedete Ende September ein Gesetz, das der von ehemaligen linken Rebellengruppen gebildeten Partei der Demokratischen Vereinigung (PUD) die offzielle Registrierung ohne die üblichen aufwendigen Formalitäten ermöglichte. Die regierungskritische Tageszeitung “El Tiempo” wertete dies als außergewöhnliche Öffnung, die nur dank des Zerfalls der kommunistischen Welt möglich sei. Diese Partei schaffe Raum für Intellektuelle und Anhänger sozialistischer Ideen. Die PUD darf allerdings erst 1997 an den allgemeinen Wahlen teilnehmen. Schon vor zwei Jahren hatten sich die Guerilleros von den Volksbefreiungsbewegungen “Cinchoneros” und “Lorenzo Zelaya” vom bewaffneten Kampf losgesagt. Die Regierung Callejas verzichtete im Gegenzug auf eine strafrechtliche Verfolgung der etwa 300 aus dem Exil in Kuba und Nicaragua zurückgekehrten Rebellen. 1982 gelang den “Cinchoneros” mit der Geiselnahme von 100 Industriellen in einem Hotel in San Pedro Sula die spektakulärste Aktion, die mit Lösegeldzahlung und Freiflug nach Havanna endete.

El Presidente

Reina ist schon seit Mitte der 60er Jahre Führungspersönlichkeit des linken Parteiflügels, der Liberalen Volksallianz ALIPO. “Unter uns Liberalen sind die Kämpfe oft härter als mit den Konservativen”, klagte Reina im Wahlkampf 1985, als er wieder einmal Spitzenkandidat seiner Partei werden wollte. Tatsächlich wurde die ALIPO häufig innerparteilich ausmanövriert, 1984 sogar durch Manipulation unter konservative Führung gebracht, was Reina veranlaßte, ALIPO zu verlassen und eine neue Faktion, die radikalere sozialdemokratische M-LIDER zu gründen. Diese forderte unter anderem den Rückzug Honduras aus den regionalen Kriegsvorbereitungen, die Revision des alten Bündnispaktes mit den USA und die Rücknahme der Steuergeschenke an die Multis, die weite Teile der honduranischen Wirtschaft kontrollieren.
1993 war Reina endlich der unbestrittene Kandidat der Liberalen. Der angesehene Jurist und Universitätslehrer, der in London und Paris studiert hatte, war schon Ende der 50er Jahre stellvertretender Außenminister von Honduras und in den frühen 60er Jahren Botschafter in Frankreich. Während der Militärdiktatur saß er mehrfach im Gefängnis. Im Zeitraum von 1979 bis 1985 war er zunächst Richter, dann Vorsitzender des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte in San José. 1992 agierte er als honduranischer Vertreter beim Rechtstreit mit El Salvador vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Beide Staaten beanspruchten Grenzgebiete (“bolsones”) die nach dem Urteil des Gerichtshofes weitgehend Honduras zugesprochen wurden.

Das Volk an die Macht?

Reina bestritt den Wahlkampf mit den Losungen “Das Volk an die Macht” und “Es ist Zeit für eine moralische Revolution”. Er versprach, vor allem die Korruption im Lande zu bekämpfen. “Keine Schurken mehr in die öffentliche Verwaltung!” rief er der jubelnden Menge zu. “Wenn Ihr einen diebischen Beamten kennt, laßt es mich wissen. Ich habe eine Machete, um ihm die Finger abzuschneiden”. Reina kündigte an, einen Ehrenkodex für die im öffentlichen Dienst Beschäftigten einzuführen und die Schlüsselinstitutionen wie Justiz und Wahlorgane moralischer zu gestalten. So solle der Wahlzensus gründlich erneuert und das Wahlgericht reformiert werden – er werde keinen Haushaltsposten “Geheimes” dulden. Weiter sagte er, Honduras solle ein “demokratischer Leuchtturm” werden, an dem sich Zentralamerika ausrichten solle. Als Vorbild für Demokratie und Entwicklung nannte er Costa Rica.
Für die armen Bevölkerungsschichten versprach er Sozialprogramme (besonders für Gesundheit und Bildung), “die viel Geld kosten werden”. Das unter Callejas begonnene Projekt des neoliberalen Umbaus will Reina fortsetzen.
Der obligatorische Wehrdienst soll abgeschafft, der Verteidigungshaushalt gekürzt werden und die Kontrolle der Polizei in zivile Hände übergehen – die Reformen sollen aber in Übereinkunft mit den Militärs getroffen werden. Außerdem will Reina den Drogenschmuggel bekämpfen und den Tourismus vorantreiben.

Ein Blick zurück

Nach zwei Jahrzehnten Militärherrschaft wurde 1980 mit der Wahl zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung ein Prozeß der Redemokratisierung in Gang gesetzt. Die beiden seitdem abwechselnd regierenden großen Parteien entstammen der Oligarchie. Dennoch lassen sich ihre Programme nicht klar definierten Interessen zuordnen, und in beiden Parteien finden sich Vertreter aller sozialer Gruppen, die vom wirtschaftlichen und sozialen status quo profitieren. Im Gegensatz zur PN stand jedoch die PL der Armee traditionsgemäß distanziert gegenüber und ihr Meinungsspektrum war etwas breiter.
Der nach langer Zeit erste frei gewählte Präsident Suazo Córdova vom rechten Flügel der PL (1981 bis 1985) teilte sich die Macht in Wirklichkeit mit Reagans Botschafter und dem Armeechef. Der US-Botschafter gab häufig Regierungsentscheidungen bekannt, bevor sie überhaupt getroffen worden waren. In dieser Zeit wurde Honduras im Zusammenhang mit den Konflikten in Nicaragua und El Salvador zum Flugzeugträger der USA ausgebaut. Auch das Regierungsprogramm von Präsident Ascona (1986-1989), ebenfalls von der PL, wurde von Washington bestimmt. Durch politisch motivierte Zahlungen aus Washington wurde die ökonomische Schieflage Honduras über einen langen Zeitraum kaschiert: Rund 200 Mio. US-Dollar$, genau der Betrag, der den Staatshaushalt auszugleichen vermochte, flossen Jahr für Jahr ins Land. Als das Interesse der USA an der Region abnahm, und sie ihre Zahlungen drastisch reduzierten, wurde der wirtschaftliche Niedergang und die zunehmende Auslandsverschuldung deutlich. Weite Bevölkerungsteile stellten daher Heilserwartungen an den stets lächelnden und als Reaganomic bekannten Kandidaten der PN, Callejas, dem sie 1989 zum triumphalen Wahlsieg verhalfen. Mit dieser sicheren Mehrheit versuchte Callejas, ein von Weltbank und Interamerikanischer Entwicklungsbank (BID) formuliertes wirtschaftliches Strukturanpassungsprogramm durchzusetzen.

Hungern für die Schuldenrückzahlung

Callejas “paquetazo” erzielte zwar ansatzweise die erwünschte Stabilisierung: Sanierung der Staatsfinanzen und der Auslandsschulden. Jedoch nur durch eine Abwertung der Währung, Preissteigerungen und erhöhte Arbeitslosigkeit. Ein nachhaltiger Wirtschaftsaufschwung blieb aus. Obwohl das Bruttoinlandsprodukt seit 1991 etwas stärker anwächst als die Bevölkerung, dümpelt das durchschnittliche Pro-Kopf-Jahreseinkommen der rund 5,4 Mio. HonduranerInnen noch immer bei 660 US-Dollar vor sich hin und ist damit neben dem Nicaraguas und Haitis das niedrigste der westlichen Hemisphäre. Während die Produktion für den Binnenmarkt zurückging, sprießen die für die USA produzierenden Maquiladora-Industrien wie Pilze aus dem Boden. Bis 1995 werden hier mehr Arbeitsplätze vorhanden sein als in den traditionellen Industriesektoren Honduras’. Auch die Exporte können seit 1990 infolge der niedrigen Weltmarktrohstoffpreise die magische Zahl von jährlich 800 Mio. US-Dollar nicht mehr deutlich überschreiten, schon gar nicht seit Einführung der hohen EU-Zölle für “Dollarbananen”, von denen Honduras traditionell einen Löwenanteil lieferte. Dieser Beschluß bedeutet für Honduras voraussichtlich einen Verlust von 200 Mio. US-Dollar und 14.000 festen Arbeitsplätzen in drei Jahren. Die Kosten für die Strukturanpassung sind hoch: Nach Zahlen der Vereinten Nationen gelten 72 Prozent der Bevölkerung als arm und verelendet. Über 60 Prozent der Erwerbspersonen sind arbeitslos oder unterbeschäftigt. Auch weite Teile der Mittelschichten fallen in die Armut zurück. Hunger ist mittlerweile weit verbreitet. Immer häufiger werden völlig unterernährte Kinder in Krankenhäuser eingeliefert. Das Modernisierungsprogramm für die Landwirtschaft führt zur Aufgabe der Agrarreform und zur Reprivatisierung der Wälder. Fast ein Drittel der honduranischen Bevölkerung ist von Vertreibung und Verlust ihrer Subsistenzgrundlage bedroht. Den Großgrundbesitzern ist dagegen ein Waldvermögen von ca. 3 Mrd. US-Dollar in die Hände gefallen. Skandalös ist das Verhalten der Weltbank, die ganz offen eine “unfreiwillige Umsiedlung” der Bevölkerung aus den in Wert zu setzenden Waldgebieten forderte.
Warum kam es nicht zu breiteren Aufständen gegen dieses Programm? Geschickt förderte die Regierung regierungsfreundliche Parallelstrukturen in Gewerkschaften und Interessenverbänden – die Organisationen wurden unterwandert und bespitzelt, und teilweise wurden ihre Vorsitzenden aus den Ämtern manipuliert. Länger andauernde Streiks wurden mit militärischer Gewalt beendet. Weiterhin wurde versucht, den gravierendsten sozialen Problemen mit nur kurzfristig wirkenden Hilfsprogrammen entgegenzutreten.
Der wachsende Unmut der Unter- und Mittelschichten, die Kritik von UnternehmerInnen an einer Schwächung der Binnennachfrage und die Sorge der Militärs um ihren Machterhalt brachten die Callejas-Regierung zum Ende ihrer Amtszeit jedoch in arge Bedrängnis.

Unlösbare Aufgaben für die neue Regierung

Die wirtschaftliche Ausgangslage für die neue Regierung ist schlecht: Wie in Lateinamerika üblich, sind in Honduras aus taktischen Gründen in den Monaten vor den Wahlen die Preise mit Hilfe von Subventionen und der Ausgabe von hochverzinsten Staatspapieren künstlich tief gehalten worden. Nach den Wahlen ist ein umso größerer Teuerungsschub zu erwarten. Das Budgetdefizit liegt wieder bei fünf Prozent.
Das Militär hat die Macht nie wirklich aus der Hand gegeben hat. Daher ist kaum zu erwarten, daß die Militärs die angekündigte politische und finanzielle Schwächung hinnehmen. Eine soziale Abfederung der Strukturanpassung ist unter den herrschenden Weltmarktbedingungen nur über die Aufnahme neuer Kredite finanzierbar – das will aber niemand. Also bleibt die Notwendigkeit einer enormen sozialen Umverteilung. Daran hat sich aber in der Geschichte des Landes bisher noch niemand gewagt. Abzuwarten bleibt, wie stark Reinas Rückhalt in der eigenen Partei ist und welche programmatischen Zugeständnisse er dem konservativen Flügel vor seiner Nominierung machen mußte. Zumindest besteht Hoffnung auf eine weitere Demokratisierung.

Kreative Unruhe inmitten des ökonomischen Desasters

Es ist eine seltsame Sturmnacht. Wind und Regen peitschen von der Karibik her gegen das kolumbianische Festland. Krebse krabbeln aus der Gischt und retten sich an Land. Ein Baby wird unruhig. In Windeseile bedeckt das glitschige Getier den Boden der Strohhütte. Das Baby schreit. Draußen hat das Unwetter ein anderes verstörtes Wesen an den Bootssteg gespült: “Un señor muy viejo con unas alas enormes” – einen sehr alten Herrn mit enormen Flügeln. Ein Geschenk des Himmels?
Fernando Birri, Kuba, 1989

Wie jeden Tag sitzt sie in der Küche und weint beim Zwiebelschneiden, als sie spürt, daß es soweit ist: Der gewölbte Unterleib krampft sich zusammen, die Fruchtblase platzt, und ein Meer von Tränen ergißt sich über die Holzdielen, schwappt bis zur Türschwelle. Das Mädchen, das in diesem Moment das Licht der Küchenfunzel erblickt, wird den Großteil seines Lebens in diesem Raum verbringen und als Köchin kleine Wunder vollbringen. Tief im Inneren wird sie sich nach den samtigen Schlafzimmeraugen ihres Geliebten und späteren Schwagers verzehren. Sie gehören zueinander “como agua para chocolate” – wie das Wasser und die Schokolade, die sie ihm täglich in emsiger Fürsorge zubereitet…
Alfonso Arau, Mexiko, 1992

Mexikanische Knäste sind nicht besonders angenehm, dieser ist keine Ausnahme: Die Mittagshitze brennt aufs Wellblechdach, apathisch hängt die Wärterin hinterm Schreibtisch und zählt Schmiergeld. Auch der einzige Insasse langweilt sich – und sinnt auf Rache: Er weiß, wessen Verrat er diesen Aufenthalt verdankt. Da ist das Schlagen einer Autotür zu hören. Breitbeinig, die Knarre im Anschlag, betreten sie die Baracke. Damit der Chef die neue Freiheit auch genießen kann, haben sie ihm gleich was mitgebracht: einen schwarzen Gitarrenkoffer – drinnen eine kleine Waffensammlung. Der Weg ist frei für die Revanche – wenn da nicht ein unschuldiger “Mariachi”-Sänger mit einem ähnlichen Koffer wäre…
Roberto Rodriguez, Mexiko, 1992

Von einem Tag auf den anderen beschließt er, das wenige zu verkaufen, was er sich in all’ den Jahren als Sargtischler erarbeitet hat. In La Paz begreift niemand, warum er zurück will in sein Aymara-Dorf. Vor Jahren hatte ihn die Gemeinschaft verstoßen: Er hatte Geld unterschlagen. Eine rituelle Tanzmaske auf den Rücken geschnallt, macht er sich zu Fuß auf den Weg, um dort zu sterben, wo er hingehört: zur “nación clandestina” – der geheimen Nation.
Jorge Sanjinés, Bolivien, 1991

Bloß raus aus dem feuerländischen Winter, weg vom spießigen Stiefvater, der resignierten Mutter, den Schikanen in der Schule und der verwickelten Liebesaffäre. – Wohin? Mal sehen: erst mal mit dem Rad durch Patagonien, dann weiter nach Norden… Quer durch den unbekannten lateinamerikanischen Kontinent, auf den Spuren des Vaters, der vor Jahren das Weite suchte: “El viaje” – die Reise – vielleicht ist der Weg schon das Ziel?
Fernando Solanas, Argentinien, 1992

Eingangsquenzen von fünf lateinamerikanischen Filmen, die in den letzten Jahren entstanden: Ein Panoptikum unterschiedlicher Geschichten und Bildsprachen. Nicht alle haben eine klare “mensaje”, eine politische Botschaft. Im Gegenteil: “El Mariachi” und “Como agua para chocolate” stehen eher in der Tradition populärer Unterhaltungsgenres, treiben sie auf die Spitze, lavieren zwischen parodistischer Brillianz und schnöder Trivialität hin und her.
Ganz anders dagegen Filme wie “La nación clandestina” und “El viaje”. Auf sehr unterschiedliche Art und Weise befassen sie sich mit der Suche nach einer persönlichen und kollektiven Identität: “La nación clandestina” des Bolivianers Sanjinés hält sich als künstlerisches Werk zurück. Der Film, der mit Aymara-Indígenas in ihrer Sprache gedreht wurde, paßt sich in Tempo und Schnittfolge der Lebensphilosophie dieses Volkes an. Ganz anders dagegen der abenteuerliche Trip von Solanas Protagonisten, einem Jungen aus dem weißen Mittelstand: “El viaje” ist vom ständigen Wechsel der Verkehrsmittel, der Umgebung, der Eindrücke geprägt: Ein surreal-dekadentes Argentinien, von Wassermassen überschwemmt und in seiner eigenen Scheiße erstickend. Ein postkartenschönes Machu Picchu, das inmitten des touristischen Rummels Ahnungen von der präkolumbianischen Vergangenheit aufsteigen läßt. Ein von grotesken Gegensätzen zerrissenes Brasilien, in dem es futuristische High-Tech-Metropolen gibt, während gleichzeitig im Amazonasgebiet Minenarbeiter sich zu Tode schuften müssen wie schon zu den Zeiten der Conquista. – Zwei Filme, der eine von stoischer äußerer Ruhe und Verschlossenheit, der andere opulent, teilweise überladen mit Eindrücken und Metaphern – Porträts der widersprüchlichen Gesichter eines Kontinents.

Filme zur Conquista: Jubiläumsspektakel oder kultureller Dialog?

Pünktlich zum Jahr 1992 entstanden auch einige Filme, die sich direkt mit der Geschichte der Eroberung Amerikas auseinandersetzen: Im Gegensatz zu den US-amerikanischen Mammutschinken “1492” und “Columbus”, die sich auf die Heldengestalt des “Entdeckers” bezogen, erzählen “Jericó” (Luis Alberto Lamata, Venezuela, 1991) und “Cabeza de vaca” (Nicolás Echevarría, Mexiko, 1991) andere Versionen vom “Aufeinandertreffen zweier Welten”, die ebenfalls auf historische Quellen zurückgehen: In beiden Fällen sind die Protagonisten spanische
Conquistadoren, die von ihrer Armee getrennt werden, nach und nach immer mehr vom alten Ich abstreifen, in die fremde Umgebung und Kultur eintauchen – bis sie gegen ihren Willen von den Spaniern “gerettet” und in die “Alte Welt” zurückgeholt werden.
Das Paradoxe ist, daß die meisten dieser “500 Jahre”-Filme nur mit Hilfe von Geldern aus Europa realisiert werden konnten. Besonders der staatliche spanische Fernsehsender TVE ließ sich das historische Gedenken schon einiges kosten und trat als Koproduzent bei der Finanzierung einiger Filme auf – unter anderem bei “La nación clandestina” von Sanjinés und “Un señor muy viejo con unas alas enormes”, den Fernando Birri nach einer Kurzgeschichte von Gabriel García Márquez verfilmte.

Allgemein konnte im letzten Jahr durchaus der Eindruck enstehen, als ob die europäische Medienöffentlichkeit ganz wild darauf sei, die koloniale Vergangenheit durch eine hohe Durchlaufzahl von lateinamerikanischen Filmproduktionen aufzuarbeiten. Sowohl auf den Leinwänden der Filmfestivals als auch in der ersten Reihe bei ARD und ZDF waren so viele amazonische Ureinwohner und großstädtische Straßenkinder zu sehen wie nie zuvor. Jetzt, wo der Jahrestag der Betroffenheit abgefeiert worden ist, scheinen sich die Bedürfnisse des Marktes und das Angebot in den Massenmedien erst mal wieder in andere Weltregionen verlagert zu haben.

Zwischen “Ästhetik des Hungers” und Happy End für “Juliana”

Und wie sieht es in Lateinamerika selbst aus? Mehr als 30 Jahre sind seit der Entstehung des Neuen Lateinamerikanischen Films vergangen. Beeinflußt von der kubanischen Revolution und linken Bewegungen anderswo auf dem Kontinent, versuchten in verschiedenen Ländern FilmemacherInnen, neue Wege zu gehen. Stilistisch waren sie unter anderem vom italienischen Neorealismus oder vom Surrealismus Luis Buñuels beeinflußt, der damals im mexikanischen Exil lebte. Das Kino sollte keine illusionistische Traumfabrik sein, sondern Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse und gleichzeitig Motor politischer Veränderungen. Entsprechend programmatisch waren die Namen: “Cine Imperfecto”, “Cine de Liberación”, “Ästhetik des Hungers”. Regisseure wie Fernando Solanas und Octavio Getino (Argentinien) propagierten ein “Drittes Kino” in Abgrenzung sowohl von der kommerziellen Filmindustrie als auch vom individualistischen Autorenkino.
Ziel war die “Entkolonialisierung der Köpfe” – Film als politisches und pädagogisches Instrument: Entsprechend groß war auch die Bedeutung, die dem Kino in Kuba und auch im sandinistischen Nicaragua beigemessen wurde. Einige dieser Filme beeindrucken nicht nur durch die “Botschaft”, sondern auch durch die expressive Bildsprache: Zum Beispiel “Lucía” von Humberto Solás (Kuba, 1968), der die Geschichte Kubas anhand dreier Frauen aus unterschiedlichen Epochen dieses Jahrhunderts zeigt. Andere Filme arbeiteten dagegen vorwiegend mit dem didaktischen Zeigefinger: Die Charakterisierung der Personen wurde dem vereinfachenden Pinselstrich des “sozialistischen Realismus” untergeordnet.
Einige RegisseurInnen oder Filmkollektive versuchten, nicht nur die Inhalte zu “revolutionieren”, sondern auch die Entstehung eines Films zu einem Gemeinschaftsprojekt zu machen: In den achtziger Jahren arbeitete Grupo Chaski in Peru fast ausschließlich mit LaiendarstellerInnen, die aus ähnlichen Lebensverhältnissen stammten wie die Personen des Films. Ihre Erfahrungen sollten in die Handlung einfließen. Dieser Anspruch wurde allerdings nur begrenzt realisiert – unter anderem, da es nicht gelang, mit gruppeninternen Hierarchie- und Machismo-Konflikten fertigzuwerden. Bei den Filmen von Grupo Chaski flossen Realität und Fiktion ineinander. Und auch Wunschträume hatten ihren Platz, beispielsweise bei dem Film über das Straßenmädchen “Juliana” (Peru 1989), der auf Wunsch der Kinder, die mitspielten, ein Happy End bekam. – Dies löste übrigens bei der Präsentation des Films in Europa bei vielen BetrachterInnen Befremden aus, wurde angesichts der Situation in Peru als unpolitisch und naiv angesehen…

Vor dreißig Jahren: Aufbruch trotz wirtschaftlicher und politischer Zwangsjacken

Das Neue Lateinamerikanische Kino sah sich natürlich von Anfang an mit großen ökonomischen Problemen konfrontiert. Nur in wenigen Ländern, wie etwa Argentinien, Brasilien und Mexiko, gab es eine funktionierende Infrastruktur im Filmbereich, die in erster Linie der Herstellung kommerzieller Unterhaltungsspektakel diente. In den siebziger Jahren begannen Länder wie Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Peru und Venezuela, Gesetze zur Förderung der nationalen Filmindustrie zu verabschieden. So schreibt beispielsweise seit 1972 ein Gesetz in Peru vor, daß in den Kinos vor jedem ausländischen Spielfilm ein peruanischer Kurzfilm gezeigt werden muß und ein Teil der Kinoeinnahmen seinen ProduzentInnen zufließt. Dies führte immerhin dazu, daß zwischen 1972 und 1990 mehr als 800 Kurzfilme entstanden.
Während der Zeit der Militärdiktaturen in Argentinien, Chile, Bolivien und anderen Ländern waren viele FilmemacherInnen gezwungen, ins Exil zu gehen. Erst die Rückkehr der Länder zur formalen Demokratie brachte wieder Impulse für den Film, der zum Sprachrohr der progressiven Bewegungen wurde: In Argentinien entstanden ab Mitte der achtziger Jahre eine Reihe von Werken, die sich mit der Zeit der Diktatur auseinandersetzten, so etwa “La historia oficial” von Luis Puenzo (“Die offizielle Geschichte”, 1985), “La noche de los lápices” (“Die Nacht der Bleistifte” 1986) von Héctor Oliveira und “Sur” (Süden, 1987) von Fernando Solanas.

Ökonomische Krise und Videoboom: schlechte Zeiten fürs Kino

Die neunziger Jahre sind für das lateinamerikanische Kino nicht gerade die Zeit der großen Hoffnungen, und das hat in erster Linie ökonomische Ursachen: Die in den meisten Ländern ohnehin nicht sehr stabile Filmindustrie leidet zum einen unter der immer größeren Konkurrenz durch Fernsehen und Video. Die ökonomische Krise der letzten Jahre und vor allem die neoliberale Wirtschaftspolitik haben gleichzeitig die Kaufkraft so weit geschwächt, daß ein Kinobesuch auch für Leute aus der Mittelschicht zum Luxus geworden ist.
Als Konsequenz des Publikumsschwundes mußten in den vergangenen sechs Jahren mehr als die Hälfte der Kinosäle in Lateinamerika schließen. Die übrig gebliebenen Lichtspielhäuser setzen vorwiegend auf US-amerikanische Massenware. Oft werden sie auch von den Verleihfirmen dazu verpflichtet, mehrere Streifen en bloc einzukaufen, was es schwer macht, unabhängig produzierte in- oder ausländische Filme ins Programm zu nehmen.
Anders als in der Fernsehindustrie gibt es im Filmbereich kaum Strukturen für den Vertrieb und Austausch lateinamerikanischer Produktionen. Mit paradoxen Folgen: Die Wahrscheinlichkeit, einen kolumbianischen Film in einem Programmkino in Köln oder einem Dritte Welt Zentrum in Münster zu sehen, ist weitaus größer als die Möglichkeit, das Werk im Nachbarland Ecuador zu Gesicht zu bekommen. Das gilt auch für viele Filme, die internationale Preise erhalten haben.
Insbesondere die brasilianische Filmindustrie wurde von den Privatisierungen unter Collor de Mello stark getroffen. Dieser löste nach seinem Amtsantritt die staatliche Filmförderungsbehörde Embrafilm auf und schaffte das Gesetz ab, das den brasilianischen Filmen eine Abspielmöglichkeit garantierte. – Mit dem Ergebnis, daß das Land, das zeitweise bis zu 90 Filme pro Jahr produzierte, seit Anfang der neunziger Jahre nur noch durchschnittlich 3 Filme herstellt. Die Programmlücken, die so im Kinoangebot entstanden, wurden rasch mit US-Produktionen gefüllt.
Lediglich Mexiko gelingt es nach wie vor, seine – größtenteils recht kommerziell orientierte – Filmproduktion relativ stabil zu halten. Dies liegt zum einen an der vergleichsweise sicheren politischen und ökonomischen Situation des Landes. Wichtig für die künstlerische Filmproduktion sind die Aktivitäten des staatlichen “Instituto Mexicano de Cinematografía” (IMCINE), das unter anderem gezielt junge FilmemacherInnen fördert. Einige Filme wurden sogar kommerzielle Erfolge im Ausland, zum Beispiel “Como agua para chocolate”: In den USA wurde das Küchendrama überraschend zum Kassenschlager und spielte allein in den ersten 16 Wochen 8,5 Millionen Dollar ein.
Und wie steht es mit Kuba? In den drei Jahrzehnten nach der Revolution entstand auf der Insel unter Federführung des nationalen Filminstitutes ICAIC eine Filmindustrie, die zwischen 1984 und 1990 ungefähr 10 Spielfilme pro Jahr sowie zahlreiche Kurz- und Dokumentarfilme produzierte. Entscheidend ist allerdings nicht die Anzahl der Filme, sondern die politischen Impulse, die vom kubanischen Film ausgingen, sowie die Infrastruktur, die der kubanische Staat aufbaute und auch Filmschaffenden anderer Länder zur Verfügung stellte.
So wurde 1986 auf Kuba die “Filmschule der drei Welten” gegründet – ein weltweit einmaliges Projekt, das jungen Leuten aus Lateinamerika, Asien und Afrika die Möglichkeit bietet, gemeinsam zu studieren und sich auszutauschen. Das Internationale Filmfestival von Havanna, das seit 1980 jährlich stattfindet, entwickelte sich schnell zum wichtigsten Forum des lateinamerikanischen Films.
Die ökonomische Krise, unter der Kuba seit dem Zusammenbruch der Länder des Warschauer Paktes leidet, hat natürlich auch Auswirkungen auf die Filmindustrie: So konnten im vergangenen Jahr nur zwei Spielfilme fertiggestellt werden. Folglich fand das Filmfestival in Havanna in den letzten beiden Jahren in einer Atmosphäre der Widersprüche statt: Inmitten des immer größer werdenden Mangels gelang den OrganisatorInnen zwar das Kunststück, einen reibungslosen Ablauf des Festivals zu organisieren. Gleichzeitig sorgte 1992 die de-facto-Zensur des kubanischen Films “Alicia en el pueblo de las maravillas” (“Alice im Wunderland”), einer systemkritischen Satire von Daniel Díaz Torres, für einen Skandal.

Lateinamerikanische Filmkooperation – erste zaghafte Schritte

Was ist aus der kontinentalen Vision der Väter – und wenigen Mütter – des Neuen Lateinamerikanischen Films geworden, die sich 1967 im chilenischen Badeort Viña del Mar zum ersten lateinamerikaweiten Treffen versammelten?
1986 wurde von Filmschaffenden aus verschiedenen Ländern die “Fundación del Nuevo Cine Latinoamericano” (“Stiftung des neuen lateinamerikanischen Kinos”) ins Leben gerufen, die sich zum Ziel gesetzt hat, “die nationalen und kulturellen Werte Lateinamerikas wiederzubeleben” und die bereits bestehenden Bewegungen auf kontinentaler Ebene zu verknüpfen. Auf Initiative der Stiftung, die ihren Sitz in Havanna hat, wurde beispielsweise 1989 die “Conferencia Iberoamericana de Autoridades Cinematográficas” CACI (“Iberoamerikanische Konferenz der Filmbehörden”) gegründet. Ziel ist, die Zusammenarbeit staatlicher Institutionen und der Filmindustrien auf dem Kontinent zu verbessern und verstärkt Koproduktionen herzustellen. Mittlerweile haben 13 Länder eine “Ibero-amerikanische Film-Vereinbarung” unterzeichnet, die unter anderem die Einrichtung einer jährlichen internationalen Filmkonferenz vorsieht. Auch soll ein Exekutivorgan geschaffen werden, das die gesetzliche und praktische Umsetzung der Vereinbarung in den verschiedenen Ländern überprüft. – Ein gemeinsamer lateinamerikanischer Filmmarkt – die Patentlösung gegen die erdrückende Dominanz der US-amerikanischen Medienindustrie? Gabriel García Márquez, einer der Gründer der “Stiftung des neuen lateinamerikanischen Films”, betont, das Ziel sei nicht, die US-Konzerne aus dem Geschäft zu drängen, sondern lateinamerikanischen Filmen die gleichen Vertriebs- und Präsentationschancen zu verschaffen.
Der lateinamerikanische Film, ein schillernder Vogel, zur Zeit ziemlich gerupft, versucht, ökonomisch fliegen zu lernen. Ein schweres Unterfangen in einer Zeit, in der die wirtschaftliche Krise eine solch beklemmende Schwerkraft entwickelt wie in den neunziger Jahren.

POONAL – vernetzte Nachrichten

Bündelung von Agenturen

Sie verstehen sich als alternative Medien, die im Gegensatz zu den herkömmlichen Agenturen aus Sicht der Bevölkerung und nicht im Sinne der Herrschenden informieren wollen. Repression, soziale Mißstände und das Aufzeigen von Alternativen stehen im Mittelpunkt der Berichterstattung. Viele stehen auch in engem Bezug zu politischen Bewegungen ihrer Heimatländer und arbeiteten auf kommunikativer Ebene für den Sturz diktatorischer Regime. Die wichtigsten unter ihnen waren früher SALPRESS aus El Salvador, die guatemaltekische Agentur CERIGUA, ANN aus Nicaragua, andere stammten aus Uruguay, Chile, Argentinien über Honduras bis hin zu “Prensa Latina” aus Kuba.

Anspruch und Realität

Zum einen sollten sich die bisher isoliert arbeitenden Agenturen gegenseitig darin unterstützen, die persönlichen Kontakte besser zu nutzen. Andererseits sollte durch die gemeinsame Herausgabe von Nachrichtenmaterial der Verbreitungsradius der einzelnen Agenturen erweitert werden. Insbesondere sollte ein Zugang zur bürgerlichen Presse gefunden werden. Zwei Agenturen wurden für ein Jahr für die Koordinierung gewählt, regelmäßige Treffen und Beitragszahlungen vereinbart. Weitere Agenturen sollten hinzugewonnen werden.
Die Ansprüche waren hoch, doch die Umsetzung war schwierig. Erstes Hindernis war die zusätzliche Arbeitsbelastung, die eine solche Koordinierung erforderte. Jede Agentur hatte mit finanziellen und personellen Engpässen zu kämpfen, und die eigene Arbeit hatte stets Priorität vor der Vernetzung. Hinzu kamen, wie leider immer und überall bei linken Projekten, ideologische Differenzen. Auch die Herausgabe eines gemeinsamen Nachrichtendienstes in Mexiko, der die großen Zeitschriften per Fax informierte, konnte nur für kurze Zeit realisiert werden. Die Initiative drohte bald wieder einzuschlafen.

Versuche von Süd-Süd-Kommunikation

Ein Rückblick auf die fortschrittliche “Dritte Welt”-Berichterstattung der letzten Jahrzehnte zeigt, daß auch andere, größere Initiativen vor ähnlichen Problemen standen. Einziges bis heute erfolgreiches Agenturenprojekt ist ips (Inter-Press-Service), das seit 1964 aus und über die “Dritte Welt” berichtet und mit seinen Nachrichtentickern eine vergleichsweise gute Verbreitung gefunden hat. Weniger effektiv war der “pool del tercer mundo”, mit dem seit Mitte der 70er Jahre eine Vielzahl von blockfreien Ländern versucht, die Vorherrschaft der multinationalen Agenturen zu brechen. Trotz weltweiter Konferenzen konnte nie die Idee eines wirklichen Pools realisiert werden. Im Kontext der UNESCO-Forderung nach einer neuen Weltkommunikationsordnung 1983 entstand die lateinamerikanische Agentur ALASEI, die neben politischen auch kulturelle Aspekte verbreiten wollte. Geldmangel ließ auch dieses Projekt nach weniger als zehn Jahren in die Bedeutungslosigkeit abrutschen.
Kleineren Agenturprojekten ist es bisher nicht gelungen, ihre Nischen zu verlassen. Das 1984 in Asien gegründete “Dritte Welt Netzwerk”, dessen lateinamerikanischer Zweig in Uruguay sitzt, verbreitet Nachrichten und Analysen sogar weltweit. Doch es gelingt nicht, kontinuierliche Präsenz zu zeigen. Die Mitarbeit der Mitgliedsmedien fluktuiert stark. Deshalb wurde inzwischen der Anspruch eines umfassenden Netzwerkes aufgegeben: “Das Ganze läuft nur, wenn einzelne die Initiative ergreifen. Dafür stellen wir die Infrastruktur zur Verfügung,” sagt Alberto Brusa, Mitarbeiter des “Dritte Welt Netzwerkes” in Uruguay. Eine ähnliche Einzelinitiative ist die Agentur “apia” in Nicaragua, die aus der österreichischen Solidaritätsbewegung hervorgegangen ist.
Die jüngste Initiative zur Vernetzung von Alternativmedien war der kontinentale Kongreß in Quito im April diesen Jahres, an dem über 60 JournalistInnen aus fast allen lateinamerikanischen Ländern teilnahmen. Schnell zeigte sich, daß trotz ähnlicher Interessen die vielen verschiedenen Medien unterschiedlicher Größe und Professionalität nur schwerlich an einem Strang ziehen können. Zwar war dieses Treffen ein neuer Schritt hin zu mehr Zusammenarbeit, doch mehr als Willensbekunddungen kamen oft nicht dabei heraus.

Basisanbindung und politische Pluralität – ein Problem?

Eine funktionierende Zusammenarbeit bringt zwar eindeutige Vorteile: weniger Vertriebskosten, höherer Verbreitungsgrad, gemeinsame Infrastruktur und schließlich eine Vielfalt von Nachrichten, die gerade für Medien und andere MultiplikatorInnen attraktiv und zugänglich sind. Doch die in der Praxis auftretenden Nachteile erweisen sich bisher als unüberwindbar: Kooperation erfordert ermüdende politische Diskussionen, insbesondere wenn die jeweiligen Medien politischen Organisationen nahestehen; Professionalität und Basisanbindung lassen sich oft nur schwer vereinbaren, Entfernungen und Kommunikationskosten wirken erschwerend. Doch dahinter steht ein wesentliches Problem jeder Vernetzung: Ein aktives Netz erfordert Initiative all seiner Teile – wenn diese nicht stattfindet, wird das Netz zu einem Konzentrationsprozeß zum Vorteil der größeren oder aktiveren Medien. So zeigt auch die bisherige Erfahrung, daß Pools selten funktionieren, während einzelne große und kleine Agenturen lange existieren können, aber kaum eine adäquate Verbreitung finden.
Es überrascht nicht, daß sich die Erfahrungen in Lateinamerika auch auf Seiten der internationalen Solidaritätsbewegung widerspiegeln. Zu der dortigen Vielfalt kommen hier noch ideologische Streitigkeiten hinzu, so daß Interessierte vor einer Unmenge von Publikationen stehen. So wichtig eine gewisse Pluralität ist, so schwer fällt es den meisten, einen Überblick über das Informationsangebot zu bekommen. Konsequenz ist eine wachsende Konkurrenz untereinander.
Ein Versuch, den Agenturen Zentralamerikas eine deutschsprachige Plattform zu geben, war Anfang der 80er Jahre der “mid” (Mittelamerika-Informationsdienst). Finanzielle Unterstützung, Kontakte und der gemeinsame Wille waren vorhanden, und wöchentlich konnten aktuelle Nachrichten aus Nicaragua, Guatemala und El Salvador gelesen werden. Doch auch das klappte nur kurze Zeit. Entscheidendes Hindernis waren die hohen Kosten für die Telex-Standleitung zwischen Managua und Frankfurt/Main. Einzig verbliebene Alternative, Originalnachrichten aus Zentralamerika zu bekommen, war über viele Jahre der “Informationsdienst El Salvador” (ides). Doch war dies ein Projekt von Teilen der bundesdeutschen Solibewegung und spiegelte deren politische Ausrichtung wider – auch wenn der ides mit lateinamerikanischen Quellen arbeitete. Darüber hinaus gingen ab Mitte der 80er einige alternative Agenturen dazu über, eigene Nachrichtendienste in deutscher Sprache herauszugeben, womit sie eine entscheidende Stütze der länderbezogenen Solidarität waren.

POONAL – Der Schritt nach Deutschland

1990 entstand die Idee, die Nachrichten der POONAL-Agenturen in einem gemeinsamen Dienst in deutscher Sprache herauszugeben. So entstand der “Wöchentliche Nachrichtendienst lateinamerikanischer Agenturen – POONAL”, der seit über zwei Jahren Nachrichten und Artikel der Mitgliedsagenturen veröffentlicht. In Mexiko wird das Material bis Freitagabend übersetzt, dann per Datenfernübertragung nach Köln geschickt, wo es journalistisch bearbeitet wird. Schließlich wird der Nachrichtendienst am Montag in Berlin gedruckt und verschickt – derzeit knapp 300 Exemplare in Deutschland, Österreich und in die Schweiz. Wichtigstes Ziel: Die Vereinzelung der Agenturen sollte aufgehoben werden und ein gemeinsamer Nachrichtendienst aus Lateinamerika durch seine Vielzahl an Themen und Ländern auch für Institutionen und etablierte Medien interessant und brauchbar werden.
Obwohl sich der POONAL-Nachrichtendienst etabliert hat, steht er in der Praxis kaum überwindbaren Problemen gegenüber. Verhältnismäßig glimpflich sieht es noch auf der Vertriebsseite aus. Die journalistische Qualität läßt zwar zu wünschen übrig, aber die Informationen stoßen auf Interesse. Auch konnten einige Institutionen und Medien als AbonnentInnen gewonnen werden, die bisher kaum Zugang zu diesen basisnahen Agenturen hatten. Dennoch bleibt das Hauptproblem bestehen: Auch POONAL hat einen begrenzten AbnehmerInnenkreis und die Präsenz in etablierten Medien ist unbedeutend.
Doch gerade da, wo es um die Koordination geht, nehmen die Schwierigkeiten existenzielle Ausmaße an. Wie oben erwähnt, liegt die Zusammenarbeit der POONAL-Agenturen in Mexiko derzeit auf Eis. Aus der lateinamerikanischen Initiative ist immer mehr eine deutsche geworden, der Vertrieb in Deutschland wurde zur treibenden Kraft. Hinzu kommt, daß viele Agenturen aus dem Exil in ihre Länder zurückgegangen sind, wodurch einige Mitglieder des Pools sich weniger beteiligen und die Kommunikation untereinander sehr spärlich geworden ist. Statt einer Zusammenarbeit findet eher Zuarbeit für ein Projekt statt, da die wenigen in Mexiko ansässigen Agenturen die Entscheidungen treffen. Nur einige Agenturen beteiligen sich, dazu unregelmäßig, daran, so es daß POONAL noch nicht gelungen ist, das Geschehen im gesamten Kontinent widerzuspiegeln.
Obwohl der hohe Anspuch nicht aufrechterhalten werden kann, hält POONAL an der Idee und daran, daß Vernetzung versucht werden muß, fest. Oft klagen gerade kleinere Medien, daß der Zugang zu alternativen Quellen sehr aufwendig ist. Die Konsequenz muß also sein, weiter aus den bisherigen Erfahrungen zu lernen.

Bezug des POONAL-Nachrichtendienstes:
Nachrichtenpool Lateinamerika e.V.
c/o FCDL
Gneisenaustr. 2
10961 Berlin
Fax: 030 / 692 65 90
Jahresbezugspreis:
110,– DM für Institutionen
75,– DM für Einzelpersonen

Auswege aus einer Krise

Hauptmerkmale der gegenwärtigen Wirtschaftskrise

Zwischen 1988 und 1992 fiel der Erdölimport von 13 Mio. Tonnen auf 6,1 Mio. Tonnen. 90% der in Kuba produzierten Energie wird allerdings durch Ölkraftwerke erzeugt. Das Land wurde dazu gezwungen, entsprechende Anpassungsmaßnahmen zu treffen. Diese führten zu einem drastischen Rückgang des Energieverbrauchs der staatlichen Einrichtungen, zu einem starken Rückgang und sogar teilweisen Erliegen der industriellen Produktion mit hohem Energieverbrauch und zu Rationierungsmaßnahmen bei der Energieverteilung.
Die Zuckerrohrernte der vergangenen Jahren ging drastisch zurück: von 7 Mio. Tonnen 1991 auf 4,2 Mio. Tonnen im Jahr 1992. Und während 1989 für eine Tonne Zucker, Kubas wichtigstem Exportprodukt, noch 7,5 Tonnen Erdöl zu erhalten waren, reicht gegenwärtig eine Tonne gerade für 1,4 Tonnen Erdöl aus. Die gesamte Importkapazität fiel darüberhinaus zwischen 1989 und 1992 um 73% von 8,1 auf 2,2 Mrd US-Dollar zurück.
Die Folgen dieser Politik sind bekannt und für jeden/jede Kuba-Reisende/n sichtbar. Viele der Maßnahmen treffen die Bevölkerung, die teils mit Verständnis und teils mit Unmut, teils mit beidem die Regierungsmaßnahmen zur Kenntnis nimmt. Unsicherheit und Sorgen begleiten die KubanerInnen in das fünfte Jahr des “Período Especial” gleichermaßen wie Zuversicht und Hoffnung. Was überwiegt, vermag kaum jemand zu sagen. Stimmungen scheinen in Kuba wechselhaft, obwohl die Not alltäglich geworden ist.
Die kubanische Regierung hinterläßt bei der Suche nach Auswegen aus der Krise nicht selten den Eindruck, sie jongliere mit den revolutionären Werten. Dabei erntet sie beim Volk Widerspruch, aber Wohlwollen bei ausländischen Investoren.
Wie glaubwürdig erscheinen die Bemühungen Kubas nach einer stärkeren ökonomischen Unabhängigkeit, wenn mit dem Tourismus, Joint Ventures und Kapitalbeteiligungen an staatlichen Betrieben beispielhafte Investitionsbedingungen für ausländische Investoren geschaffen werden? Bisweilen wird in der hiesigen Presse mehr über die Spagate der Regierung als über die Maßnahmen berichtet, die den Weg ebnen sollen, damit Kuba ökonomisch eigenständig wird. Es entsteht leicht der Eindruck, die Regierung sei nur an schnell erwirtschafteten Devisen interessiert, ohne nach anderen Auswegen zu suchen. Der Tourismus, der 1992 Einnahmen in Höhe von 400 Mio. US-Dollar erbrachte und 1995 1 Mrd. Dollar einbringen soll, ist jedenfalls nicht der einzige Ausweg.
Angesichts der verheerenden Folgen des Rückganges der Erdölimporte und des hohen Stellenwertes, den eine kontinuierliche und unabhängige Energieversorgung für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes hat, wird in diesem Bereich intensiv nach Lösungsstrategien gesucht. Da in absehbarer Zeit weder die einheimische Erdölförderung (1 Mio. Tonnen pro Jahr) ansteigen noch am AKW-Programm weiter gebastelt wird, hat sich das Land auf die Suche nach alternativen Energiequellen gemacht und nach Möglichkeiten, die bestehenden Ressourcen besser zu nutzen. Unter den alternativen Energiequellen haben die erneuerbaren Energien in der augenblicklichen Situation und Entwicklung das größte Gewicht.

Ein ökologischer Weg aus der ökonomischen Krise

Kuba hat in den letzten Jahren ein weltweit beispielhaftes Förderprogramm zur Nutzung erneuerbarer Energien durchgeführt. So wurden beispielsweise in den letzten fünf Jahren über 200 Kleinwasserkraftanlagen gebaut, und über 400 kleine, 50 mittlere und eine große Biogas-Anlage gebaut. Zusätzlich wurden solare Warmwasser- und Trocknungsanlagen gebaut, eine eigene Photovoltaik-Produktion eingerichtet, die Biomasse in der Zuckerindustrie zunehmend energetisch genutzt und windgetriebene Pumpen installiert (es existieren ca. 6000 Windräder zur Wasserversorgung, wobei jedes Windrad jährlich ca. 1,5 Tonnen Diesel einsparen kann). Vielfältige Forschungsaktivitäten suchen weitere Energiequellen zu erschliessen, wie beispielsweise in der Geo- und Meeresthermik, Windstrom, thermische Nutzung pflanzlicher Abfälle.
Die Umsetzung des Programms zur Förderung erneuerbarer Energien ist nicht unproblematisch. Unzureichende Kosten- und Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen, sowie eine mangelnde Koordination und Erfahrungsaustausch zwischen den kubanischen Forschungseinrichtungen, können dazu führen, daß das Programm nicht die Ergebnisse bringt, die mensch sich erhofft. Ein anderes Hindernis sind die fehlenden Devisen für die Durchführung der verschiedenen Projekte. An qualifiziertem Personal und Forschungseinrichtungen mangelt es nicht.

Die Träger des ökologischen Ausweges

Auf der Suche nach neuen Lösungsstrategien ist die kubanische Regierung bemüht, einheimischen Organisationen und Institutionen mehr Freiräume zu geben. Sie sollen die Kontakte mit ausländischen Organisationen suchen und selbständig Verträge und Kooperationsvereinbarungen abschließen können. Inwieweit diese “Nichtregierungsorganisationen” (NRO) tatsächlich unabhängig sind, ist eine andere Frage. Auf dem im September mit EG-Mitteln finanzierten Treffen ausländischer und kubanischer NROs wurde eine Zahl von 2144 kubanischen NROs genannt. Möglicherweise ist diese Zahl hoch angesetzt, da die Definition einer NRO in Kuba sehr weit gefaßt ist. Einer der kubanischen Teilnehmer meinte jedenfalls, auch die “Comités de Defensa de la Revolución” (CDR/Komitees zur Verteidigung der Revolution) seien NROs.
Auf dem Treffen erschienen 56 kubanische und 98 ausländische NROs (darunter elf deutsche Organisationen). Ziel des fünftägigen Treffens war die Suche nach einer engeren Kooperation zwischen den kubanischen und ausländischen Organisationen. Ziemlich schnell wurde deutlich, daß beide Gruppen unterschiedliche Vorstellungen vom Treffen hatten. Während es den einen mehr um Vertragsabschlüsse und Projektgelder ging, stand bei den anderen mehr das Sich-Kennenlernen im Vordergrund.

Deutsch-Kubanische Zusammenarbeit

Kontakte zwischen deutschen und kubanischen NROs gibt es auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien schon seit längerer Zeit. Viele dieser Kontakte werden in Deutschland durch Seminare und Kongresse gefördert. In Oktober fanden gleich zwei Kuba-Veranstaltungen, einmal in Bonn und einmal in Berlin, statt. Das Interesse über die Entwicklungen im Bereich der erneuerbaren Energien in Kuba ist sehr groß. Von deutscher Seite sind vor allem kirchliche (“Brot für die Welt”) oder kirchennahe Organisationen (FAKT) und NROs in Kuba engagiert. Letztere formierten sich vor zwei Jahren zu einem Kuba-Energie-Netzwerk, um die Durchführung von Projekten zu koordinieren. Ihm gehören fünf NROs an. Auf kubanischer Seite stehen ebenfalls kirchliche Organisationen, allen voran der Ökumenische Rat von Kuba und andere kubanische NROs, wie z.B. Pro Naturaleza, Cuba Solar und die ANAP (Kleinbauernorganisation).
Inwieweit Entwicklungsprojekte substantielle und langfristige Verbesserungen nach sich ziehen können, darüber kann mensch sich verständlicherweise lange streiten. Die Beispiele aus der Entwicklungszusammenarbeit in anderen Ländern haben gezeigt, wie schnell Projekte sich in Mahnmale gegen die Entwicklungshilfe verwandeln.
Ist Kuba ein Musterland für Entwicklungsprojekte, wird es zur Versuchsstation für ökologische Projekte? Möglich daß auch hier wieder etwas in ein Land hineinprojiziert wird.
Günter Koschwitz, Mitarbeiter bei Dienste in Übersee und beim ökumenischen Rat von Kuba (CEC), schrieb in seinem Bericht nach einer Kuba-Studienreise: “In Kuba bestehen gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche und wirkungsvolle internationale Kooperation zur Förderung der massiven Nutzung von erneuerbaren Energien. Dies aufgrund der reichlich vorhandenen erneuerbaren Energiepotentiale und der eindeutigen energiepolitischen Prioritätensetzung sowie dem professionellen Niveau und der vorhandenen Infrastruktur.”
Der kubanische Staat und die kubanischen NROs wollen eine Wende auf dem Energiesektor einläuten. Es bleibt zu hoffen, daß das ökologische Bewußtsein der Menschen in gleichem Maße steigt. Die Not ist groß, die Kreativität auch, doch schnell kann der Mensch die erlebte Not vergessen, wenn der Magen wieder voll ist.

Das Recht auf trial and error in einer Welt ohne Beispiele und Bezugspunkte

“Reform oder revolutionäre Theorie und Praxis in Lateinamerika und Europa” lautete der Titel eines Internationalen Kongresses, den der Verein Monimbó aus Dietzenbach/Hessen in Zusammenarbeit mit Buntstift und der Stiftung Umverteilen organisiert hatte. Ein sowohl vom Alter als auch von den Nationalitäten ziemlich gemischtes Publikum von ungefähr 400 Leuten fand sich am 2. und 3. Oktober in der Frankfurter Uni ein.
Auf dem Podium des Hörsaals V1 saßen und referierten führende Vertreterinnen verschiedener linker Parteien und (ehemaliger) Guerillaorganisationen aus Brasilien, Cuba, Argentinien, Venezuela, E1 Salvador, Guatemala, Nicaragua und Chile. Einer der zentralen Diskussionspunkte war: Ist eine grundlegende Demokratisierung möglich, oder sind die formalen Demokratien, die in den letzten Jahren nach Abdankung der Militärs in Ländern wie Chile, Argentinien, Paraguay oder Brasilien entstanden sind, Fortsetzung der Diktatur mit anderen Mitteln?
Der argentinische Journalist Miguel Bonasso brachte die Fragestellung auf den Punkt: “Die sechziger Jahre waren die Zeit der revolutionären Bewegungen. In den siebziger Jahren kamen die Militärdiktaturen, die in den Achtzigern von formalen Demokratien abgelöst wurden. Was werden die neunziger Jahre bringen? Kommt jetzt wieder eine Phase der autoritären Staatsformen á la Fujimori in Peru, oder gibt es Möglichkeiten für linke Reformprojekte?” Die Kompetenz der lateinamerikanischen ReferentInnen konnte nicht über eine grundlegende Schwäche des Kongresses hinwegtäuschen: Die Zusammensetzung des Podiums spiegelte nicht gerade die Vielfalt der lateinamerikanischen Linken wieder, sondern nur deren parteipolitische Variante. Abgesehen von der Diskussionsleiterin Dorothee Piemont und Monica Baltodano von der FSLN waren Frauen lediglich in ihrer klassischen Funktion als Übersetzerinnen präsent.

Chance vertan: Soziale Bewegungen und Beiträge des Publikums waren kaum erwünscht

Auf die Anwesenheit von VertreterInnen sozialer Bewegungen war offenbar kein Wert gelegt worden, obwohl gerade diese in den letzten zehn Jahren in Lateinamerika entscheidende Impulse für eine Erneuerung linker Programmatik gegeben haben. Und so blieb es einer Lateinamerikanerin aus dem Publikum vorbehalten, darauf hinzuweisen, daß es mittlerweile auf kontinentaler Ebene zahlreiche Treffen und Zusammenschlüsse von Frauengruppen, Umweltverbänden, Bauernorganisationen, Schwarzen und indigenas gibt, die ja nicht zuletzt in der Kampagne gegen die offiziellen 500 Jahr-Feiern im vergangenen Jahr eine entscheidende Rolle spielten.
Was die Stimme der bundesdeutschen Linken auf dem Kongreß anging, war es fast schon grotesk, mit Wolf-Dieter Gudopp vom “Verein Wissenschaft und Sozialismus” einen Vertreter ausgerechnet jener orthodoxen, kopflastigen und verknöcherten Variante von Sozialismus eingeladen zu haben, die an der ideologischen Krise der Linken einen entscheidenen Anteil hat.
“Auch ich bin von der Begeisterung für Dinosaurier angesteckt.”Dieses modische Lippenbekenntnis Dorothee Piemonts bezog sich auf ihre These, daß der Kapitalismus auf Dauer nicht überlebensfähig sei. Mindestens genauso gut hätte dieser Satz jedoch auf das anachronistische Gestaltungskonzept des Kongresses gepaßt: An zwei Tagen wurde vor vollem Hörsaal eine Frontalveranstaltung sondergleichen abgezogen: Die meisten Redebeiträge lagen dem Publikum als deutsche Übersetzung vor. Aus “Zeitmangel” wurden fast alle Referate ohne Direkt-Übersetzung auf Spanisch abgelesen -eine Methode, die auf einen Teil des Publikums einschläfernd wirkte, während andere frustriert und wütend reagierten: “Da hätte ich mich ja besser mit dem Reader zuhause hinsetzen können.”
Für den Dialog mit der Basis blieb -“leider, leider” -wie die Diskussionsleitung immer wieder bedauerte -so gut wie keine Zeit. Auf diese Weise wurde nicht nur eine Chance vertan, die Perspektiven der lateinamerikanischen Linken in größerer Runde zu diskutieren. Auch die gegenwärtige Krise der bundesdeutschen Linken -und eventuell vorhandene Erneuerungskonzepte -wurde kaum reflektiert, geschweige denn diskutiert.

Revolutionärer Pragmatismus: Drei Mahlzeiten täglich für alle

Die lateinamerikanische Linke sieht sich zur Zeit mit politischen und wirtschaftlichen Problemen konfrontiert, die neben einer langfristigen Perspektive auch ein konkretes Handeln erfordern: Ein Blick auf die politische Landkarte des Subkontinentes zeigt, daß die Situation in den verschiedenen Ländern so unterschiedlich ist, daß es schwerfällt, allgemeine Prognosen zu treffen. Von einer Entwicklung sind allerdings fast alle Staaten betroffen: Mit dem rigiden Durchsetzen neoliberaler Wirtschaftsprogramme hat sich die Situation für den Großteil der Bevölkerung weiter verschlimmert und die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. Das Kürzen öffentlicher Ausgaben im sozialen Sektor und im Bildungsbereich und die Privatisierungen staatlicher Unternehmen haben immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Heute ist es für viele Basisbewegungen in Ländern wie Peru oder Brasilien eine zentrale Forderung, den Hunger und das Massenelend zu beseitigen.
Wenn in seinem Land durchgesetzt werden könnte, daß die gesamte Bevölkerung dreimal täglich zu essen bekäme, so Nildo Domingos von der brasilianischen Arbeiterpartei (PT), wäre dies angesichts der jetzigen Situation schon eine revolutionäre Errungenschaft. Gleichzeitig sieht auch er die Gefahr, sich in tagespolitischen Forderungen aufzureiben: “Die Linke war bis vor kurzem zu dogmatisch. Nun ist sie zu pragmatisch.”
Mit dem Vorwurf eines zu großen Pragmatismus, der “Sozialdemokratisierung”, wurde auf dem Kongreß in Frankfurt insbesondere der Vertreter der FMLN aus E1 Salvador, Shafik Hándal, konfrontiert. Die ehemalige Guerilla, die Anfang letzten Jahres nach zwölfjährigem Kampf einen Friedens-und Demokratisierungsvertrag mit der Regierung aushandelte, hat gute Chancen, bei den Wahlen im kommenden März die Regierung zu übernehmen. Das Programm, mit dem die FMLN antritt, konzentriert sich auf eine grundlegende politische Demokratisierung und Entmilitarisierung der salvadorianischen Gesellschaft. Es sieht eine Stärkung genossenschaftlicher Eigentumsformen vor, will jedoch gleichzeitig die Marktwirtschaft erhalten. Gegenüber KritikerInnen betonte Handal: “Ob die Demokratie sich am Ende als eine bürgerliche, rein formale, oder als eine substantielle herauskristallisieren wird, ist eine offene Frage. Wir von der FMLN bestehen auf unserem grundlegenden Recht auf die Methode des trial and error in einer Welt, die uns weder Beispiele noch Bezugspunkte bietet.”
Neben der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit ist ein anderes zentrales Problem in vielen Ländern die Rolle des Polizei-und Militärapparates als Repressionsorgan und die Existenz paramilitärischer Todesschwadrone. Gerade die aktuelle Entwicklung des Friedensprozesses in E1 Salvador läßt daran zweifeln, ob sich diese Kräfte tatsächlich mit friedlichen Mitteln entmachten lassen -von einer systematischen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen ganz zu schweigen.

Der ‘Geist Bolivars’ -Trugbild oder politische Vision?

Auf dem Kongreß wurde deutlich, daß die meisten linken Parteien Lateinamerikas zur Zeit in erster Linie damit beschäftigt sind, Perspektiven auf nationaler Ebene zu entwickeln -mit unterschiedlichen Konsequenzen. Zwar wurde immer wieder die Notwendigkeit beschworen, sich auf kontinentaler Ebene zusammen-zuschließen und auch mit linken Bewegungen aus Afrika oder Asien zu kooperieren. Der “Geist Simón Bolivars”, des antikolonialen Befreiungskämpfers aus dem vorigen Jahrhundert, schwebte nicht nur in Form eines riesigen bemalten Transparentes über den Köpfen der Diskutierenden. Es wurde betont, daß es allein schon aufgrund der weltwirtschaftlichen Verflechtungen und der Interventionspolitik der westlichen Industriestaaten nicht möglich sei, den “Sozialismus in einem Land zu realisieren -siehe die Beispiele Kuba und Nicaragua. Durch den Niedergang des “realexistierenden Sozialismus” haben sich die Rahmenbedingungen in den letzten Jahren weiter verschlechtert. Dazu Eleuterio Huidobro von der ehemaligen Guerilla und jetzigen Partei der “Tupamaros” aus Uruguay: “Früher sahen wir die Alternativen Sozialismus oder Faschismus. Heute ist eine dritte Alternative aufgetaucht, die sich besonders in einigen afrikanischen Ländern oder in Osteuropa zeigt: das Chaos.”
Trotzdem war die Stimmung auf dem Kongreß von Optimismus gedämpften Optimismus gekennzeichnet: Immerhin haben in einigen Ländern Lateinamerikas linke Projekte in den letzten Jahren an Boden gewonnen und deren VertreterInnen könnten in absehbarer Zeit Regierungsaufgaben übernehmen, beispielsweise in E1 Salvador, Brasilien oder Uruguay. Ein anderes sehr interessantes Projekt -in Deutschland bisher noch recht unbekannt -ist die “Causa R in Venezuela (vgl. LN 226):Diese Bewegung versucht, dem staatlichen Establishment eine dezentrale, basisdemokratische Gegenmacht entgegenzusetzen. Mit beachtlichem Erfolg: Mittlerweile stellt die “Causa R” unter anderem den Bürgermeister der Hauptstadt Caracas.
Was die politischen Programme angeht, sind die LateinamerikanerInnen zwar bereit, auch mit deutschen Linken zu diskutieren, wehren sich aber gegen Bevormundung. Dazu Huidobro aus Uruguay: “Es wäre wünschenswert, wenn sich die Deutschen mehr um ihre Probleme hier kümmern. Wir würden auch gerne in Lateinamerika ein Kommitee zur Unterstützung der Revolution in Deutschland gründen.”

Die Revolution ist von jeglichem Idealismus geheilt

LN: Am 26. Juli wurde der Dollarbesitz für Kubaner offiziell erlaubt. Fidel Castro sprach bei der Verkündigung dieser Maßnahme nicht mehr von der Rettung des Sozialismus und des Vaterlandes, sondern nur noch von der Bewahrung der Errungenschaften der Revolution. Können nur kapitalistische Maßnahmen Kuba aus der schwersten Krise seiner Geschichte retten?
Abel Prieto: Diese Änderung des politischen Diskurses hat selbstverständlich etwas mit den derzeitigen Umwandlungen zu tun, und mit dem sozialen Preis, den einige unserer Maßnahmen mit sich bringen werden. Fidel hat in seiner Rede vom 26. Juli einen Begriff benutzt, den es bisher in der kubanischen Revolution nicht gegeben hat, das Wort Konzession. Die Devisenfreigabe ist eindeutig auf die Leute ausgerichtet. Das ist eine der Ursachen für die Glaubwürdigkeit des politischen Diskurses der Revolution, daß offen mit den Leuten geredet wird, daß offen gesagt wird, daß es sich dabei um ein Zugeständnis handelt. Und das ist gleichzeitig das Drama im Augenblick. Wir haben nur einen Weg: entweder wir kapitulieren oder wir versuchen, mit Zugeständnissen, Tricks und kapitalistischen Rezepten die Errungenschaften des Sozialismus, die Gleichheit so weit wie möglich zu bewahren.

Wie können also die Errungenschaften der Revolution bewahrt werden, wenn die Mittel, die Kuba derzeit zur Verfügung stehen, derart beschränkt sind? Es gibt viele Ärzte, aber es fehlt an Medizin. Womit sollen die Schulbildung und die Gesundheitsversorgung für alle finanziert werden?
Wir wollen auf den Gebieten weitermachen, auf denen wir angefangen haben und die bekannt sind: Tourismus, Biotechnologie, pharmazeutische Industrie, Nickel, Suche nach eigenen Ölvorkommen, traditionelle Exportgüter wie Zucker, Tabak usw. Durch eine möglichst gerechte Verteilung der Einnahmen aus den herkömmlichen wie aus den neuen Wirtschaftsbereichen wollen wir erreichen, daß eben diese Errungenschaften am wenigsten Schaden nehmen. Das ist unsere Idee, und das widerspricht natürlich einer Schocktherapie oder einer drastischen Anhebung der Preise. Wenn wir das Problem des öffentlichen Personenverkehrs dadurch lösen, daß wir in Übereinstimmung mit dem Ersatzteil- und Benzin
mangel die Preise erhöhen – wen treffen wir damit? Das Problem ist z.B. auch, daß es auf der Straße viel Geld gibt, das aber nicht gleichmäßig verteilt ist. Es wird von 11 Monatslöhnen gesprochen, die auf der Straße zirkulieren und für die es kein Angebot gibt. Das ist aber überhaupt nicht gleichmäßig verteilt, es gibt Leute mit sehr niedrigem Einkommen. Es ist also große Vorsicht geboten. Die Unterstützung der politischen Führung beruht im wesentlichen darauf, daß die Leute merken, daß das Wenige, was es in diesem Land z.Zt. gibt, gerecht verteilt ist.

Aber wird nicht gerade das Prinzip der gleichmäßigen Verteilung, eins der Grundprinzipien der kubanischen Revolution, durch die neue Dollarpolitik unterhöhlt?
Der Dollar war ja illegal bereits im Umlauf. Durch die Legalisierung des Dollarbesitzes kannst du erreichen, daß die Leute mehr schicken. Die Gleichheit, ein Campesino lebt beispielsweise nicht
genauso wie jemand in der Stadt. Es gibt Campesinos, die ½ Million Pesos auf der Bank haben, zwei oder drei Autos, einen LKW, sie haben immer Benzin, denn sie kaufen es auf dem Schwarzmarkt, wo sie alles kaufen können. Wir haben bereits mit einer gewissen Ungleichheit gelebt. Ich bin mit der Einschätzung einverstanden, daß die jüngsten Maßnahmen größere Unterschiede hervorrufen werden. Unsere Herausforderung ist, entweder zu kapitulieren bzw. alles, was wir geschafft haben, dem Sturm der Revanchisten in Miami zu überlassen, den Faschisten, die es auch gibt und deren Ziele in ihrem Diskurs offensichtlich werden, oder mit diesen Zugeständnissen zu leben: Oder glaubst du, der Tourismus ist unter diesen Bedingungen nicht hochgradig schädlich für die Bevölkerung? Glaubst du, das hat nicht seinen Preis? Die ganzen Auslandsinvestitionen, all das hat seinen Preis.

Das bedeutet letztlich, daß zwar einige Errungenschaften des Sozialismus zu retten sind, aber der Sozialismus als System kaum Überlebenschancen hat. Heißt das, zu einem möglichst sozialen Kapitalismus zurückzukehren?
Wir werden beispielsweise nicht auf den Staatsbesitz an den wichtigsten Produktionsmitteln verzichten. Wir gründen zwar joint-venture-Unternehmen, aber wir werden keinen Ausverkauf des Landes zulassen. Wir werden Privatisierungen vornehmen, das Gesetz des Marktes anwenden, wir werden andere Wege im vorgegebenen Rahmen suchen. Die andere Alternative wäre die Kapitulation. Die Dichotomie, die sich uns bietet, ist so einfach, daß sie brutal, hart, extrem hart ist. Entweder wir retten ein Projekt, das abgeschliffen werden kann, das an einigen Stellen entarten kann, oder wir kapitulieren. Mit der zweiten Alternative würden wir alles verlieren, die Alternative der Kapitulation bedeutet einen abhängigen Kapitalismus in diesem Land.

Bis jetzt haben wir über wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragen geredet. Nun kommen wir zur rein politischen Ebene. Manche Beobachter vergleichen Kuba mit China, weil es sehr wohl eine ökonomische Liberalisierung gibt, die allerdings nicht von einer gleich schnellen politischen Liberalisierung begleitet ist. Stimmt dieser Vergleich zwischen beiden Ländern, abgesehen von den unübersehbaren Unterschieden, die es natürlich gibt?
Ich war in China. Das war eine hochinteressante Erfahrung, was die Chinesen machen. Sie sind auf wirtschaftlichem Gebiet nicht wesentlich weiter. Ich glaube, der Vergleich hinkt aus vielen Gründen. U.a. gibt es in Kuba noch eine historische Führung, nämlich die der Revolution, während es in China nur noch ein paar Überlebende der historischen Führung gibt. Wir führen alle Veränderungen mit der historischen Führung durch, mit einer Partei, deren Vorstand aus mehreren Generationen zusammengesetzt ist. Es ist interessant zu sehen, wie hier in Kuba versucht wurde, die Präsenz verschiedener Generationen in der Führung der Staatspartei zu gewährleisten.

Trotz dieser aus mehreren Generationen zusammengesetzten poltischen Führung hat einer großer Freund der kubanischen Revolution, Eduardo Galeano, vor kurzem gesagt: “Die kubanische Revolution erlebt eine zunehmende Spannung zwischen den in ihr enthaltenen verändernden Energien und ihren versteinerten Machtstrukturen.” Was halten Sie von dieser Einschätzung?
Diese Kritik kommt zwar von einem großen Freund der kubanischen Revolution, aber ich glaube nicht, daß die Machtstrukturen versteinert sein können. Das hat sich zum Beispiel gerade in der Nationalversammlung gezeigt, in den Veränderungen, die dort stattgefunden haben, in ihrem neuen Arbeitsstil.

Was bisher eher ein Versprechen denn die Realität ist.
Ich denke, das ist schon Wirklichkeit. Die Nationalversammlung wird natürlich kein Erdöl finden. Wenn die Nationalversammlung schließlich Öl finden würde, wäre das vielleicht eine solche Realität? Es ist kein Wunder geschehen, aber es handelt sich um einen neuen Arbeitsstil, die Führungs- und Arbeitsstile haben sich auf Regierungs- und Kommunalebene sehr wohl gewandelt. All dies, diesen veränderten Arbeitsstil, sieht man deutlicher auf kommunaler Ebene und v.a. außerhalb von Havanna als in der globalen Politik. Ich glaube nicht, daß man da nicht von einer versteinerten Macht- und Regierungsstruktur sprechen kann. Unter den jetzigen Bedingungen des Drucks und der Feindseligkeiten von außen können wir allerdings, und ich glaube, Galeano weiß das sehr genau, die Einheit nicht opfern, das können wir nicht auf’s Spiel setzen. Jede Veränderung zur Verbesserung des politischen Systems in Kuba, damit es besser läuft, damit es eine wirksamere Mitbestimmung gibt, muß erfolgen, ohne diese Einheit zu gefährden. … Wir müssen sehr vorsichtig agieren, sowohl auf ökonomischem als auch auf politischem Gebiet. Wir können uns keine Krise erlauben.

Aber die wirtschaftliche Krise ist schon da …
Ja, wir dürfen uns keine politische Krise erlauben. Wir dürfen den Amerikanern keinen Vorwand liefern, sonst drücken sie uns eine humanitäre Invasion auf. Wir müssen hart daran arbeiten, daß die Leute die Situation verstehen, unsere Maßnahmen nachvollziehen können. Die Leute werden zu dem Schluß kommen, daß sich einige tatsächlich bereichern können, aber in dem Maße, wie sich die Wirtschaft erholt, auch die große Mehrheit der Bevölkerung Nutzen davon haben wird. Um auf die Frage zurückzukommen, man muß mit Vorsicht, Intelligenz, Weisheit vorgehen, denn wir dürfen keine Anarchieäußerung zulassen, hier darf es keine Anarchie geben. Dieser Prozeß muß sehr vorsichtig und umsichtig erfolgen.

Die erste Konzession der kubanischen Revolution seit 1959!
Nein, sie wird nur zum ersten Mal im politischen Diskurs angewendet.

Dann zumindest das weitestgehende Zugeständnis, das die kubanische Revolution jemals gemacht hat.
Es ist zumindest eins der deutlichsten, der schmerzhaftesten Zugeständnisse, weil damit offiziell – inoffiziell war das ja schon so – zwei Klassen von Kubanern anerkannt werden. Es gibt jetzt zwei Kategorien von Kubanern. Das bewirkt einen moralischen Schaden, dafür müssen wir einen moralischen Preis bezahlen. Es entsteht eine neue Form der Ausrichtung, einerseits auf den Konsum und andererseits auf den Mangel. Das führt dazu, daß sich die Leute auf ganz verschiedene Arten prostituieren, nicht nur so wie die Prostituierten auf der Va Avenida, es gibt auch eine Art intellektueller ‘jineteros’, die auch die Hotelhallen belagern, um an Einladungen heranzukommen, um aus dem Land herauszukommen oder ein paar Dollars zu verdienen. Der einzige Ausweg ist die Überwindung der Krise.

Carlos Lage sagt, er sieht noch kein Licht am Ende des Tunnels. Können Sie Licht erkennen?
Wir wissen bisher noch nicht, wie lang der Tunnel ist. Ich glaube sehr wohl, daß wir aus ihm herauskommen werden. Ich weiß weder wann, noch auf welchem Weg. Aber wir werden wieder herauskommen. Zunächst ist die kubanische Revolution von jeglichem Idealismus geheilt. Wir wissen nun, daß der neue Mensch bedauerlicherweise in weiter Ferne ist.

Bei den Wahlen vom Februar, die eher ein Plebiszit waren, zeigte sich, daß es eine Gruppe von DissidentInnen im Land gibt, die z.B. für keine/n der KandidatInnen und damit gegen das System gestimmt haben. Welche Rolle kann diese Gruppe in der kubanischen Gesellschaft spielen? Wenn die Kommunistische Partei die nationale Partei ist, was geschieht dann mit denjenigen, die nicht innerhalb dieser Partei sein möchten oder können? Welchen Spielraum haben die DissidentInnen in Kuba?
Im Augenblick keinen, sie haben keinen Spielraum.

Das bedeutet aber, daß ein Teil der Bevölkerung, wenn auch ein kleiner, nämlich rund 10%, ausgeschlossen bleibt.
Erstens bieten diese Leute keine Lösung. Zweitens ist es eine kleine Minderheit, die es aber sehr wohl gibt.

Bei den letzten Wahlen in Deutschland stimmte ein ähnlich großer Teil der Bevölkerung, nämlich rund 10%, für systemkritische Parteien, d.h. Kommunisten, Sozialisten, Grüne, der ganze Rest wählte die Parteien, die uneingeschränkt für das System stehen.
Diese Leute haben dieselbe Chance wie ein Kommunist, der in den USA Präsident werden will. Was hätte er für eine Chance mit einem kommunistischen Projekt? Keine! Diese Gruppe hat die reelle Chance, sich als Kandidat für die Delegierten der Basis aufstellen zu lassen. Diesmal haben sie sich nicht einmal aufstellen lassen. Wenn diese Minderheit einen politischen Spielraum fordert, dann müssen sie es nach unseren Spielregeln tun. Und unter diesen Spielregeln werden sie schwerlich Chancen haben. Es ist eben nicht alles darauf vorbereitet, daß Elizardo in die Nationalversammlung einzieht. Dazu muß er viele Hindernisse überwinden, denn unser politisches System ist ausgehend von der Vorstellung entworfen worden, daß die Revolutionäre die Situation beherrschen.

Verlorene Worte ?

Der Roman “Die verlorenen Worte” von Jesús Diaz erzählt die Geschichte dreier junger Männer, die durch eine geradezu fanatische Leidenschaft zur Literatur miteinander verbunden sind. ihre gemeinsame Liebe bildet die Grundlage für eine intensive Freundschaft, die eine stetige literarische Konkurrenz, wie auch den Respekt vor dem Genie des anderen beinhaltet.

Sie kommen aus unterschiedlichem Milieu und könnten selbst nicht verschiedener sein: der Rote, ein leicht versnobter Dandy, dem Schönheit und Asthetik über alles geht; der Lange, der all sein Geld in Bücher anlegt und zusammen mit sei- ner Mutter im ärmsten Viertel Havannas in einer heruntergekommenen Behausung lebt, die eher Bibliothek als alles andere ist; und der Dicke, der gemütliche Intellektuelle, der an einer fortgeschrittenen Skoliose leidet, Plattfüße hat, sich mit dem Gesicht zuerst fortbewegt, aber trotz alledem ausgesprochenen Erfolg
bei Frauen hat, da er jederzeit bereit ist, sich sofort das Leben zu nehmen, sollte die Auserwählte sich seinem Willen nicht fügen.
Sie arbeiten gemeinsam an der ersten Nummer einer literarischen Zeitschrift mit Namen Guije, die jungen revolutionären Schriftstellern als Sprachrohr dienen soll.
Sie sind beherrscht von der Idee, etwas Neues zu schaffen, sie bilden einen Literaturkreis, schreiben Gedichte, Kurzgeschichten und Pamphlete -und vergessen dabei die Realität.
Eine Frau erlangt ihren literarischen Respekt und wird in den Männerkreis aufgenommen. Sie trägt den Spitznamen die Eins, “da sie so dünn und einsam aussieht wie eine Eins”.
Anhand dieser Frau zeigt Diaz eine andere Seite der drei Freunde auf. Hinter ihrem intellektuellen Getue sind sie ganz normale Chauvis ,denen es bei Frauen “um dicke Hintern und große Titten geht”.
Jeweils ein Kapitel erzählt die Geschichte in der Gegenwart, während das folgende eine Reflektion auf das Vergangene ist, die 10 Jahre später stattfindet. In wechselnder Folge von Gegenwart und Vergangenheit verdichtet sich der Roman bis zum letztendlichen Scheitern der literarischen Zeitschrift.
Den Lesern wird dies allerdings schon früher klar, da der Roman gleichzeitig die “Rohausgabe” der Zeitschrift ist und die Texte zu kritisch sind, als daß sie unter den realen kubanischen Bedingungen Aussicht auf Veröffentlichung hätten.
Ein interessantes Buch über Literatur, Kultur und die Grenzen des Möglichen im Kuba der 60er Jahre. Oder einfach nur ein Buch über das Scheitern eines Traumes dreier Freunde und einer Frau an der Realität und ihre Art und Weise mit dem kubanischenAlltag zu leben. Leider ist das Buch, aufgrund der ausgiebiegen intellektuellen Auseinandersetzung mit Literatur stellenweise etwas langatmig und langweilig.

Jesús Díaz: die verlorenen Worte, Piper Verlag

Gnadenakt für eine “Bekehrte”?

La Habana del Este, in den 70er Jahren entstandenes Neubauviertel an Havannas Peripherie. Kreuz und quer stehen die Blöcke, einer sieht aus wie der andere, ein System der verwinkelten Straßen erkennen nur Einheimische. Das Haus, in dem María Elena Cruz Varela bis vor zwei Jahren wohnte, unterscheidet sich nur in einem Detail von den Nachbarn: Die Tür der rechten Wohnung in der fünften Etage, gleich unter dem flachen Dach, ist mit einem schweren Eisengitter gesichert.
Genutzt hat es nichts. Am 19. November 1991 verschafft sich eine Menschenmenge durch einen Trick Zutritt, nachdem sie drei Tage lang actos de repudio – “Akte des Abscheus” – vor dem Haus veranstaltet hat (unter Anleitung eines lokalen Parteifunktionärs, wie der Ehemann zwei Tage später berichtet). María Elena wird an den Haaren die Treppe heruntergezerrt; als sie den Mund aufmacht, stopft ihr eine Frau Papierzettelchen in den Mund: Von ihr unterzeichnete Flugblätter der “liberalen Oppositionsgruppe Criterio Alternativo” (Alternativstandpunkt). Wenig später brüstet sich die “Heldin” im Fernsehen: “Das war eine völlig normale Reaktion, die man von jedem Revolutionär erwarten darf, der Feindpropaganda in die Hände bekommt.” Was hat die Dichterin getan, daß ihr so viel Haß entgegenschlägt?

Von der Preisträgerin zur Unperson

Bis Ende der 80er Jahre gilt María Elena Cruz Varela als eines der größten lyrischen Talente Kubas. 1989 verleiht ihr der Künstlerverband UNEAC für ihre Gedichtsammlung “Hija de Eva” – Tochter der Eva – seine höchste Auszeichnung, den Nationalen Poesie-Preis Julián del Casal. Zwei Jahre darauf hat die UNEAC ihr so geschätztes Mitglied, dessen Gedichte immer stärker apokalyptische Ahnungen widerspiegeln, bereits in Unehren ausgestoßen. Auslöser: Ein Brief María Elenas an den “Herrn Präsidenten” Fidel Castro, in dem sie ihre Ablehnung so “unglücklicher” Losungen wie “Fidel ist unser aller Vater” (Verfasser: Raúl Castro) zu Protokoll gibt.
Und die Poetin hört nicht auf, sich in die Politik einzumischen. Im Mai unterschreibt sie gemeinsam mit neun KollegInnen ein als die “Erklärung der Zehn” bekanntgewordenes Papier, in dem unter anderem Direktwahlen zum Parlament, die Wiederzulassung der 1986 geschlossenen freien Bauernmärkte und eine allgemeine Amnestie gefordert werden. Am 15. Juli veröffentlicht die “Granma” eine Art Antwort. Obwohl María Elena und GefährtInnen darin als mittelmäßige Schreiberlinge abqualifiziert werden, erhält ihre Deklaration dadurch eine Publizität im Lande wie kein anderes Dokument der DissidentInnen zuvor oder danach.
Wenig später formiert sich der Freundeskreis der Dichterin zur politischen Gruppierung Criterio Alternativo, die brav ihre Legalisierung beantragt und (wie nicht anders erwartet) nie eine Antwort erhält. Auf eine schon ultimativ zu nennende Empfehlung des Exilkubaners Carlos Alberto Montaner hin heftet sich die kleine Gruppe das Etikett “liberal” an und wird daraufhin von Montaners (exil)Kubanischer Liberaler Union (ULC) adoptiert. Criterio Alternativo beteiligt sich auch an der Gründung der Demokratischen Kubanischen Konzertation, Sammelbecken gemäßigter DissidentInnengruppen, beschränkt sich aber nicht auf Diskussionen im stillen Kämmerlein wie die übrigen Grüppchen. Als die kleine Gruppe versucht, Einfluß auf die Delegierten zum 4. Parteitag der KP auszuüben, und schließlich gar Handzettel verteilt, ist das Maß dessen überschritten, was die Regierung zu tolerieren bereit ist. Es kommt zu den beschriebenen Ausschreitungen, und am 27. November werden María Elena Cruz Varela und MitstreiterInnen “wegen illegaler Vereinigung und Herabwürdigung” zu bis zu zweijährigen Haftstrafen verurteilt.

“Lieber als Dichterin sterben denn als Politikerin leben”

Acht Monate ihrer Gefängniszeit verbringt die Dichterin in einem Haftkrankenhaus. Die Liberale Internationale, die französische Präsidentengattin Danielle Mitterrand, die spanische Regierung, der internationale PEN-Club fordern ihre Freilassung. Die kubanische Führung sucht nach einem Weg, den “Fall María Elena” rasch und ohne Gesichtsverlust zu lösen. Im Frühling 1993 geht das Gerücht um, María Elena werde vorzeitig entlassen und dann ins Exil gehen; ihre Tochter Mariela ist bereits in Miami.
Es kommt anders. Die 39jährige verläßt das Gefängnis, zieht nach Matanzas zu ihrem Vater. Und dann: Die Lyrikerin María Elena gibt ein Interview (EL PAIS vom 27. 5. 93), das die Anhänger der Dissidentin María Elena zutiefst schockt und ratlos macht. “Ich habe nie eine politische Karriere angestrebt, die Entwicklung entglitt einfach meinen Händen”, sagt sie. Und: “Lieber als Dichterin sterben denn als Politikerin leben.”
Eine Begründung folgt wenige Sätze später. “Mit meinem Namen ist bereits zuviel manipuliert worden. Ich will nicht eine Rolle übernehmen, die mir aufgezwungen wird und die mich nicht interessiert.” Noch einmal versucht der Reporter, jene María Elena wiederzufinden, die die westliche Welt zu kennen glaubt: “Sind Sie wirklich nie gefoltert worden, auch nicht psychologisch?” Die Dichterin verneint strikt: Für eine Karriere als Märtyrerin ist sie nicht mehr zu haben.

Glücklich das Land, das keine Helden nötig hat

Mit Interpretationen dieser unerwarteten Wendung sollte sich eigentlich zurückhalten, wer María Elena Cruz Varela nur aus einigen wenigen ihrer Texte und aus den Äußerungen anderer über sie kennt. Doch aus dem zitierten Interview ergibt sich der kaum verhohlene Vorwurf, die Dichterin sei “umgekippt”. Davor – glaube ich – sollte man María Elena in Schutz nehmen.
Angesichts der Lage in und um Kuba war mit ihrer Arbeit als Dissidentin zwangsläufig verbunden, daß sie von allen und jedem als Kronzeugin gegen Fidel Castro in Anspruch genommen wurde. Ihre scharfe Kritik am herrschenden System wurde umgehend als Bekenntnis zu einer demokratischen, ergo westlich-antikommunistischen, ergo neoliberalen Werteordnung (weitere Attribute können nach Belieben eingesetzt werden) ausgedeutet. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Die Dichterin, die genau wie 99,9 Prozent ihrer Landsleute die US-Wirtschaftsblockade gegen Kuba ablehnt, fand plötzlich ihr Foto auf Plakaten wieder, mit denen für eine totale Isolierung Havannas geworben wurde . . .
Daß jetzt die kubanische Regierung ihrerseits bestrebt ist, den Fall des “zur Herde zurückkehrenden Schäfleins” für die eigene Propagandaarbeit zu nutzen, entspricht genau der Logik der bisherigen Entwicklung. Wenn sich María Elena diesem permanenten Instrumentalisiert-Werden mit ihrer Flucht in die Anonymität von Matanzas entzieht, ist das nicht nur ihr gutes Recht (Brecht: “Glücklich das Land, das keine Helden nötig hat”). Es ist vielleicht auch mutiger als eine Rückkehr in die “vorderste Frontlinie” einer Schlacht, bei der sich María Elena Cruz Varela keiner der beiden großen Kriegsparteien zugehörig fühlt.

María Elena Cruz Varela

La nave de los locos

Porque ya nada sé. Porque si alguna vez supe
deshecha entre las zarzas he olvidado.
Aquí duelen espinas. Aquí duelen los cardos.
Aquí dejo mi olor. Olor de perseguido.
De animal acosado por todas las jaurías
bestiales del infierno. Porque ya nada sé.
Porque apenas me palpo una rodilla
y ya no sé más nada. Y soy
este país de locos náufragos. Dejados en su nave a la deriva.
Porque ya nada sé. Los perros devoraron mi memoria.
?Adónde voy? ?Adónde vamos todos? ?Adónde van?
?Adónde? ?Sabe alguien adónde dirigirse que no sea
tan sólo un espejismo? ?A quién puedo condenar al destierro
por haber arruinado mi manzana? La manzana de todos.
?Cuál es Caín? ?Y Abel? ?Quién el bueno? ?Y el malo?
?Por qué tapan con hiedras mis opacas pupilas?
Y ya no veo más nada. Y ya no sé más nada. Y si alguna vez supe
entre zarzas ardientes y jaurías sangrientas lo he olvidado.

María Elena Cruz Varela

Das Narrenschiff

Denn ich weiß nichts mehr. Denn was ich je erfuhr,
zerrissen zwischen den Dornbüschen hab ich es vergessen.
Hier schmerzen die Stacheln. Hier schmerzen die Disteln.
Hier hinterlasse ich meinen Geruch. Den Geruch des Verfolgten,
von allen Rotten von Höllenhunden gehetzten Tieres.
Denn ich weiß nichts mehr.
Denn kaum betaste ich mein Knie,
Und schon weiß ich gar nichts mehr. Und ich bin
diese Stadt, die zerfällt. Und ich bin
dieses Land schiffbrüchiger Narren. Treibend zurückgelassen auf ihrem Wrack.
Denn ich weiß nichts mehr. Die Hunde verschlangen meine Erinnerung.
Wohin gehe ich? Wohin wir alle? Wohin gehen sie?
Wohin? Weiß jemand, wohin sich wenden, wo nicht nur
ein Trugbild harrt? Laßt sehen:
Wer entschädigt mich? Wen kann ich zur Verbannung verurteilen,
weil er meinen Straßenzug ruinierte? Den Straßenzug aller.
Wer ist Kain? Und Abel? Wer der Gute? Und der Böse?
Weshalb verdecken sie mit Efeu meine getrübten Pupillen?
Und schon sehe ich gar nichts mehr. Und schon weiß ich gar nichts mehr. Und was ich je erfuhr,
zwischen Dornbüschen und blutgierigen Rotten hab ich es vergessen.

Newsletter abonnieren