Gnadenakt für eine “Bekehrte”?

La Habana del Este, in den 70er Jahren entstandenes Neubauviertel an Havannas Peripherie. Kreuz und quer stehen die Blöcke, einer sieht aus wie der andere, ein System der verwinkelten Straßen erkennen nur Einheimische. Das Haus, in dem María Elena Cruz Varela bis vor zwei Jahren wohnte, unterscheidet sich nur in einem Detail von den Nachbarn: Die Tür der rechten Wohnung in der fünften Etage, gleich unter dem flachen Dach, ist mit einem schweren Eisengitter gesichert.
Genutzt hat es nichts. Am 19. November 1991 verschafft sich eine Menschenmenge durch einen Trick Zutritt, nachdem sie drei Tage lang actos de repudio – “Akte des Abscheus” – vor dem Haus veranstaltet hat (unter Anleitung eines lokalen Parteifunktionärs, wie der Ehemann zwei Tage später berichtet). María Elena wird an den Haaren die Treppe heruntergezerrt; als sie den Mund aufmacht, stopft ihr eine Frau Papierzettelchen in den Mund: Von ihr unterzeichnete Flugblätter der “liberalen Oppositionsgruppe Criterio Alternativo” (Alternativstandpunkt). Wenig später brüstet sich die “Heldin” im Fernsehen: “Das war eine völlig normale Reaktion, die man von jedem Revolutionär erwarten darf, der Feindpropaganda in die Hände bekommt.” Was hat die Dichterin getan, daß ihr so viel Haß entgegenschlägt?

Von der Preisträgerin zur Unperson

Bis Ende der 80er Jahre gilt María Elena Cruz Varela als eines der größten lyrischen Talente Kubas. 1989 verleiht ihr der Künstlerverband UNEAC für ihre Gedichtsammlung “Hija de Eva” – Tochter der Eva – seine höchste Auszeichnung, den Nationalen Poesie-Preis Julián del Casal. Zwei Jahre darauf hat die UNEAC ihr so geschätztes Mitglied, dessen Gedichte immer stärker apokalyptische Ahnungen widerspiegeln, bereits in Unehren ausgestoßen. Auslöser: Ein Brief María Elenas an den “Herrn Präsidenten” Fidel Castro, in dem sie ihre Ablehnung so “unglücklicher” Losungen wie “Fidel ist unser aller Vater” (Verfasser: Raúl Castro) zu Protokoll gibt.
Und die Poetin hört nicht auf, sich in die Politik einzumischen. Im Mai unterschreibt sie gemeinsam mit neun KollegInnen ein als die “Erklärung der Zehn” bekanntgewordenes Papier, in dem unter anderem Direktwahlen zum Parlament, die Wiederzulassung der 1986 geschlossenen freien Bauernmärkte und eine allgemeine Amnestie gefordert werden. Am 15. Juli veröffentlicht die “Granma” eine Art Antwort. Obwohl María Elena und GefährtInnen darin als mittelmäßige Schreiberlinge abqualifiziert werden, erhält ihre Deklaration dadurch eine Publizität im Lande wie kein anderes Dokument der DissidentInnen zuvor oder danach.
Wenig später formiert sich der Freundeskreis der Dichterin zur politischen Gruppierung Criterio Alternativo, die brav ihre Legalisierung beantragt und (wie nicht anders erwartet) nie eine Antwort erhält. Auf eine schon ultimativ zu nennende Empfehlung des Exilkubaners Carlos Alberto Montaner hin heftet sich die kleine Gruppe das Etikett “liberal” an und wird daraufhin von Montaners (exil)Kubanischer Liberaler Union (ULC) adoptiert. Criterio Alternativo beteiligt sich auch an der Gründung der Demokratischen Kubanischen Konzertation, Sammelbecken gemäßigter DissidentInnengruppen, beschränkt sich aber nicht auf Diskussionen im stillen Kämmerlein wie die übrigen Grüppchen. Als die kleine Gruppe versucht, Einfluß auf die Delegierten zum 4. Parteitag der KP auszuüben, und schließlich gar Handzettel verteilt, ist das Maß dessen überschritten, was die Regierung zu tolerieren bereit ist. Es kommt zu den beschriebenen Ausschreitungen, und am 27. November werden María Elena Cruz Varela und MitstreiterInnen “wegen illegaler Vereinigung und Herabwürdigung” zu bis zu zweijährigen Haftstrafen verurteilt.

“Lieber als Dichterin sterben denn als Politikerin leben”

Acht Monate ihrer Gefängniszeit verbringt die Dichterin in einem Haftkrankenhaus. Die Liberale Internationale, die französische Präsidentengattin Danielle Mitterrand, die spanische Regierung, der internationale PEN-Club fordern ihre Freilassung. Die kubanische Führung sucht nach einem Weg, den “Fall María Elena” rasch und ohne Gesichtsverlust zu lösen. Im Frühling 1993 geht das Gerücht um, María Elena werde vorzeitig entlassen und dann ins Exil gehen; ihre Tochter Mariela ist bereits in Miami.
Es kommt anders. Die 39jährige verläßt das Gefängnis, zieht nach Matanzas zu ihrem Vater. Und dann: Die Lyrikerin María Elena gibt ein Interview (EL PAIS vom 27. 5. 93), das die Anhänger der Dissidentin María Elena zutiefst schockt und ratlos macht. “Ich habe nie eine politische Karriere angestrebt, die Entwicklung entglitt einfach meinen Händen”, sagt sie. Und: “Lieber als Dichterin sterben denn als Politikerin leben.”
Eine Begründung folgt wenige Sätze später. “Mit meinem Namen ist bereits zuviel manipuliert worden. Ich will nicht eine Rolle übernehmen, die mir aufgezwungen wird und die mich nicht interessiert.” Noch einmal versucht der Reporter, jene María Elena wiederzufinden, die die westliche Welt zu kennen glaubt: “Sind Sie wirklich nie gefoltert worden, auch nicht psychologisch?” Die Dichterin verneint strikt: Für eine Karriere als Märtyrerin ist sie nicht mehr zu haben.

Glücklich das Land, das keine Helden nötig hat

Mit Interpretationen dieser unerwarteten Wendung sollte sich eigentlich zurückhalten, wer María Elena Cruz Varela nur aus einigen wenigen ihrer Texte und aus den Äußerungen anderer über sie kennt. Doch aus dem zitierten Interview ergibt sich der kaum verhohlene Vorwurf, die Dichterin sei “umgekippt”. Davor – glaube ich – sollte man María Elena in Schutz nehmen.
Angesichts der Lage in und um Kuba war mit ihrer Arbeit als Dissidentin zwangsläufig verbunden, daß sie von allen und jedem als Kronzeugin gegen Fidel Castro in Anspruch genommen wurde. Ihre scharfe Kritik am herrschenden System wurde umgehend als Bekenntnis zu einer demokratischen, ergo westlich-antikommunistischen, ergo neoliberalen Werteordnung (weitere Attribute können nach Belieben eingesetzt werden) ausgedeutet. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Die Dichterin, die genau wie 99,9 Prozent ihrer Landsleute die US-Wirtschaftsblockade gegen Kuba ablehnt, fand plötzlich ihr Foto auf Plakaten wieder, mit denen für eine totale Isolierung Havannas geworben wurde . . .
Daß jetzt die kubanische Regierung ihrerseits bestrebt ist, den Fall des “zur Herde zurückkehrenden Schäfleins” für die eigene Propagandaarbeit zu nutzen, entspricht genau der Logik der bisherigen Entwicklung. Wenn sich María Elena diesem permanenten Instrumentalisiert-Werden mit ihrer Flucht in die Anonymität von Matanzas entzieht, ist das nicht nur ihr gutes Recht (Brecht: “Glücklich das Land, das keine Helden nötig hat”). Es ist vielleicht auch mutiger als eine Rückkehr in die “vorderste Frontlinie” einer Schlacht, bei der sich María Elena Cruz Varela keiner der beiden großen Kriegsparteien zugehörig fühlt.

María Elena Cruz Varela

La nave de los locos

Porque ya nada sé. Porque si alguna vez supe
deshecha entre las zarzas he olvidado.
Aquí duelen espinas. Aquí duelen los cardos.
Aquí dejo mi olor. Olor de perseguido.
De animal acosado por todas las jaurías
bestiales del infierno. Porque ya nada sé.
Porque apenas me palpo una rodilla
y ya no sé más nada. Y soy
este país de locos náufragos. Dejados en su nave a la deriva.
Porque ya nada sé. Los perros devoraron mi memoria.
?Adónde voy? ?Adónde vamos todos? ?Adónde van?
?Adónde? ?Sabe alguien adónde dirigirse que no sea
tan sólo un espejismo? ?A quién puedo condenar al destierro
por haber arruinado mi manzana? La manzana de todos.
?Cuál es Caín? ?Y Abel? ?Quién el bueno? ?Y el malo?
?Por qué tapan con hiedras mis opacas pupilas?
Y ya no veo más nada. Y ya no sé más nada. Y si alguna vez supe
entre zarzas ardientes y jaurías sangrientas lo he olvidado.

María Elena Cruz Varela

Das Narrenschiff

Denn ich weiß nichts mehr. Denn was ich je erfuhr,
zerrissen zwischen den Dornbüschen hab ich es vergessen.
Hier schmerzen die Stacheln. Hier schmerzen die Disteln.
Hier hinterlasse ich meinen Geruch. Den Geruch des Verfolgten,
von allen Rotten von Höllenhunden gehetzten Tieres.
Denn ich weiß nichts mehr.
Denn kaum betaste ich mein Knie,
Und schon weiß ich gar nichts mehr. Und ich bin
diese Stadt, die zerfällt. Und ich bin
dieses Land schiffbrüchiger Narren. Treibend zurückgelassen auf ihrem Wrack.
Denn ich weiß nichts mehr. Die Hunde verschlangen meine Erinnerung.
Wohin gehe ich? Wohin wir alle? Wohin gehen sie?
Wohin? Weiß jemand, wohin sich wenden, wo nicht nur
ein Trugbild harrt? Laßt sehen:
Wer entschädigt mich? Wen kann ich zur Verbannung verurteilen,
weil er meinen Straßenzug ruinierte? Den Straßenzug aller.
Wer ist Kain? Und Abel? Wer der Gute? Und der Böse?
Weshalb verdecken sie mit Efeu meine getrübten Pupillen?
Und schon sehe ich gar nichts mehr. Und schon weiß ich gar nichts mehr. Und was ich je erfuhr,
zwischen Dornbüschen und blutgierigen Rotten hab ich es vergessen.

“Castros letzte Stunde” steht noch aus

Costa Ricas Ex-Präsident Arias hat Oppenheimer bescheinigt, mit seinem Buch einen “unschätzbaren Beitrag zum Verständnis des heutigen Kuba” geleistet zu haben. Er übertreibt keineswegs: Das 432 Seiten starke Werk (plus Anhang) hat für Publikationen über das kubanische Drama einen Maßstab gesetzt, der auf absehbare Zeit nicht so leicht zu überbieten sein wird.
Das Buch beschränkt sich weitgehend auf die Zeit zwischen dem Ochoa-Prozeß (bei dem im Sommer 1989 der General Ochoa des Drogenhandels angeklagt und zum Tode verurteilt worden war) und dem 4. Parteitag der KP Kubas (Oktober 1991), auf jenen Zeitraum also, in dem sich alle wesentlichen Faktoren der heutigen Krise herausbildeten. Umfangreiche Recherchen in den USA, Panama, Nicaragua und vor allem auf Kuba selbst, wo der Autor mit Ausnahme der Castro-Brüder offenbar die gesamte Partei- und Staatsführung interviewen konnte, legen der “spannend wie ein Intrigenroman” (Mario Vargas Llosa) geschriebenen Handlung einen Faktenapparat zugrunde, der das Buch fast zu einem Nachschlagewerk werden läßt. Oppenheimer meidet vorschnelle Wertungen und beweist Scharfsinn, wenn er z. B. im Kontext der Rauschgift-Affären differenziert, im revolutionären Kuba sei stets weniger zwischen legalen und illegalen als zwischen autorisierten und nicht autorisierten Aktionen zu unterscheiden gewesen.
Bemerkenswert, weil selten, ist seine bei aller Kritik überaus sachliche, von den üblichen Mystifizierungen freie Sicht auf den “máximo líder”. So vermeldet Oppenheimer mit Respekt, Fidel Castro habe im Unterschied zu seinen Beratern auf die Nachricht vom Moskauer Putsch gegen Gorbatschow (August 1991) mit großer Sorge reagiert und das Scheitern der Verschwörer vorhergesagt. Von großem Interesse sind auch seine Bemerkungen über Raúl Castro, dessen Stellung im kubanischen Machtgefüge immer wieder Fragen aufwarf. Der Autor porträtiert ihn als einen chronisch mißtrauischen, vor seinem Bruder vor Respekt fast erstarrenden Menschen, der gleichzeitig vorsichtigen Reformen durchaus aufgeschlossen gegenübersteht.
Deutliche Schwächen weist das (in der spanischen Ausgabe recht schlampig redigierte) Buch hingegen dort auf, wo Oppenheimer das Feld der politischen Analyse verläßt und sich um eine Schilderung des Alltagslebens bemüht. Das Bild, das er hier zeichnet, bezieht sich zu 95 Prozent auf Havannas “bessere Viertel” Vedado und Miramar und läßt sich einfach nicht auf den Rest der Insel übertragen. Die Landbevölkerung kommt bei ihm beispielsweise überhaupt nicht vor, ebensowenig die Situation im “Oriente”, die wesentliche Besonderheiten aufweist.
Der Autor hat sich zwar bemüht, wie er im Vorwort schreibt, Kuba “offen und ohne Vorurteile” zu sehen, doch gelungen ist es ihm nicht immer. Die Gewißheit, daß kapitalistische Marktwirtschaft und Mehrparteiendemokratie dem letzten Ratschluß der Geschichte entsprechen, erschwert es ihm, der kubanischen Revolution die Dimension eines Versuchs einer historischen Alternative zuzugestehen. Wie kompliziert es für Oppenheimer ist, sich in realsozialistische Verhältnisse wirklich hineinzudenken, zeigt sich unter anderem bei seinen Bemerkungen zum 4. Parteitag der KP: Kein Kubaner würde wie er “überrascht” sein, wenn er feststellte, daß die Delegierten die vorab abgesegneten Resolutionsentwürfe nur noch minimal veränderten. Daß nicht ein weitverzweigter Repressionsapparat allein die Ursache dafür sein kann, daß der Castro-Sozialismus bisher überlebt hat, verschweigt der Autor keineswegs, aber eventuelle andere Gründe kann er nur ansatzweise erkennen.
Grobe sachliche Ungenauigkeiten (“Bis in die 80er Jahre hinein gab es in Kuba keinerlei Privatunternehmer oder -bauern” – und ob es die gab!) sind die absolute Ausnahme und schmälern den Wert des Buches kaum. Eine letzte Kritik soll sich schließlich noch auf den Titel “Castros letzte Stunde” beziehen. Ein ausgewiesener Revolutionsexperte namens Lenin hat einmal festgestellt, daß keine Regierung, nicht einmal in schlimmsten Krisenzeiten, “zu Fall kommt, wenn man sie nicht zu Fall bringt”. Da Oppenheimer ein solches (konter-) revolutionäres Subjekt nicht ausmachen kann und im Gegenteil ausführt, warum welches potentielle Subjekt für diese Aufgabe ausfällt, hätte er sich vielleicht besser für ein weniger reißerisches “Castros schwerste Stunde” entscheiden sollen.

Andrés Oppenheimer: “La hora final de Castro”. Javier Vergara Editor s.a., Buenos Aires /Madrid/México/Santiago de Chile/Bogotá/Caracas, 1992.

Comandante Benetton

Vor allem: Nichts daran ist überraschend. Als Luciano Benetton vor ein paar Monaten in Kuba die ersten Benetton-Läden für Dollar-TouristInnen auf der Insel eröffnete, kündigte er seinen GastgeberInnen bereits an, daß er Kuba in seine nächste Werbekampagne integrieren wolle. Nicht ohne Stolz meldete Radio Havanna dies der Welt am 22. Januar 1993. Wenn die Kubaner dabei an Strand, Palmen und schöne Frauen dachten – selber Schuld. Das kann doch jeder. Aber das Bollwerk des Sozialismus himself für sich werben lassen, ein köstlicher Streich, wie der Olle da konzentriert wie’n Kind in blöden Colors-Heftchen blättert, grandios, und oliv ist schließlich auch ‘ne Farbe, ein klasse Coup und dazu noch ganz umsonst.
Na, fast ganz umsonst. Luciano Benetton hatte im Januar Fidel ein Geschenk mitgebracht, ein Mountainbike aus Benetton-Produktion; er hatte zitierfähig beteuert: “Ich bewundere sehr die jüngste Epoche der kubanischen Geschichte”; und dem Kommunistischen Jugendverbands-Chef Robertico Robaina versprach er, mal anständigen Stoff für die nächsten Hemden mit Revolutionsaufdruck rüberzuschieben. Schmeicheleien aus der Portokasse. Und Fidel revanchierte sich mit Pathos bis zur Peinlichkeit: “Wie Kolumbus” einen neuen Kontinent entdeckt habe, so erobere Benetton neue Märkte…
Während Castro dergestalt den italienischen Modezar als wohltätigen Konquistadoren empfang und seine Glasperlen zur solidarischen Gabe verklärte, schrieb ein so nüchternes Blatt wie die Züricher “Weltwoche” (28.1.93): “Eine Falle? Wirbt demnächst auch Castro in seiner ewiggrünen Uniform für die Vereinigten Farben von Benetton?” Ja, er tut’s, as was to be expected. (Was ist das nur für’n Gusano-Deutsch!? d. Säzzerin) Und wenn mensch Benettons Palette zynischer Katastrophen-Plakate kennt, ist er damit noch recht glimpflich davongekommen.

Clintons Lateinamerikapolitik

Der Amtsantritt der Clinton-Administration und der Schichtwechsel nach Jahren unter Reagan und Bush scheint einen grundlegenden Wandel der US-amerikanischen Außenpolitik zu versprechen. Neue Persönlichkeiten sind nunmehr verantwortlich für die Diplomatie Washingtons – Persönlichkeiten, die in den letzten zwölf Jahren immer wieder grundsätzliche politische und ideologische Bedenken gegen die Außenpolitik ihrer Amtsvorgänger geäußert haben(…).
Allerdings verstellt ein Vergleich von Amtsträgern den Blick auf die grundlegende Kontinuität der Außenpolitik im Übergang von Bush zu Clinton. Die globalen Rahmenbedingungen haben sich in den letzten Jahren dramatisch gewandelt, und sowohl Bush als auch Reagan hatten sich gezwungen gesehen, ihre Politik seit den späten 80er Jahren langsam zu verändern. Im Falle Lateinamerikas nahm bereits Bush bedeutende politische Kurskorrekturen vor, und allem Anschein nach wird Clinton nicht viel mehr tun, als ein wenig an diesen grundsätzlichen Veränderungen herumzubasteln.

Der Fall Haiti: Realpolitik statt Menschenrechte

Clintons erster Sprung in die Lateinamerikapolitik – der Fall Haiti – enthüllt, wie stark er sich an die Politik seines Vorgängers anlehnt. Während des Wahlkampfes betonte Clinton seine Differenzen mit Bush, als er eine weniger restriktive Einwanderungspolitik gegenüber den verfolgten Flüchtlingen aus Haiti forderte. Aber noch vor seinem Amtsantritt brach er dieses Wahlversprechen und erklärte, daß es bei der alten Immigrationspolitik bleiben würde. Das Team von Clinton befürchtete eine Welle von Flüchtlingen, die Gegenreaktionen auslösen und damit die innenpolitischen Vorhaben der Regierung gefährden würde.
Auch die generelle Politik gegenüber den haitianischen Militärs hat sich nicht wesentlich geändert. Clinton mag zwar etwas stärker als Bush auf der Wiedereinsetzung von Jean-Bertrand Aristide als Präsidenten Haitis bestehen. Aber wie unter Bush werden die Bedingungen, unter denen Aristide zurückkehren kann, dessen Handlungsspielraum einengen, um die sozialen und politischen Reformen durchzuführen, für die er anfangs gewählt wurde. Im Interesse von “Aussöhnung” werden, wenn überhaupt, nur wenige AnhängerInnen und Mitglieder der Militärregierung für ihre barbarischen Aktivitäten gegenüber dem haitianischen Volk zur Rechenschaft gezogen werden. Die Ähnlichkeiten der Haiti-Politik beider Administrationen wurden dadurch unterstrichen, daß Clinton für eine Übergangszeit an Bernard Aronson festhielt, der von Bush als Staatssekretär für Interamerikanische Angelegenheiten eingesetzt worden war.

Entwürfe der Republikaner – Umsetzung durch Demokraten

Bush nahm zwei grundsätzliche Kurskorrekturen der Lateinamerikapolitik vor, die als Grundlage für Clintons Politik dienen. Erstens ging die Bush-Administration dazu über, Verhandlungslösungen für Bürgerkriege und Guerilla-Konflikte, besonders in Mittelamerika, zu suchen. Bush und Außenminister James Baker erkannten schon früh die Notwendigkeit für eine Politik, die über die Forderung des rechten Flügels der Republikaner hinausging, am totalen Krieg gegen linke Bewegungen und Guerillas festzuhalten. Diese Haltung wurde deutlich durch die Besetzung des zentralen Postens für die Lateinamerika-Politik mit Bernard Aronson, einem Demokraten, der der Verhandlungspolitik gegenüber Nicaragua und El Salvador vorstand.
Die zweite grundsätzliche Veränderung trat ein, als die Bush-Administration einen neuen ökonomischen Ansatz verfolgte, um die lateinamerikanischen menschlichen und materiellen Ressourcen auszubeuten. Bush propagierte leidenschaftlich das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) und verkündete die export-orientierte “Enterprise for the Americas” (Ein vager Plan zur Schaffung einer gesamtamerikanischen Freihandelszone; Anm.d.Red.), und verschob somit den Schwerpunkt der Politik von verdeckter Kriegsführung hin zu Wirtschaft und Handel.
Grundlegende Veränderungen der Lateinamerikapolitik waren schon zuvor von Republikanern vorgenommen und dann von Präsidenten der Demokraten fortgeführt worden. Franklin Roosevelts Politik der “Guten Nachbarschaft”, die die “Kanonenboot”-Diplomatie des frühen 20.Jahrhunderts beendete, wurde schon von Henry Stimson, dem Außenminister unter Präsident Herbert Hoover, eingeleitet, der eine fortgesetzte Interventionspolitik in Mittelamerika als eher schädlich erachtete.
Später, in den 60er Jahren, wurde viel Wirbel um John F. Kennedys “Alliance for Progress” gemacht und um das große Gewicht, das Kennedy auf lateinamerikanische Entwicklung legte. Aber es wurde zumeist übersehen, daß diese Politik bereits in der zweiten Amtszeit von Dwight D. Eisenhower angelegt worden war. 1958 wurde Eisenhowers Bruder Milton auf eine Informationsreise durch Lateinamerika geschickt, der nach seiner Rückkehr empfahl, der Region mehr Aufmerksamkeit und Wirtschaftshilfe zukommen zu lassen, um der politischen Unruhe entgegenzuwirken, der er dort begegnet war. Die ‘Inter-American Development Bank’ wurde aufgebaut, und Präsident Eisenhower selbst unternahm 1960 eine Lateinamerikareise. Diese Visite führte zur ‘Deklaration von Bogotá’, die grundlegenden sozialen Wandel forderte, nun auch mit dem direkteren Ziel, ein Ausbreiten der 1959 siegreichen kubanischen Revolution zu verhindern.
Die Veränderungen der Lateinamerikapolitik in der Bush-Clinton-Periode gehen aus neuen internationalen Gegebenheiten hervor. Das Ende des Kalten Krieges fiel zusammen mit der Erkenntnis, daß die revolutionären Bewegungen in Mittelamerika militärisch nicht zu besiegen sein würden. Insbesondere das negative öffentliche Echo in den USA auf die fortgesetzte Interventionspolitik ließen Verhandlungslösungen in Mittelamerika als politische Option in den Vordergrund treten. Auf wirtschaftlicher Ebene erklärt die zunehmende Konkurrenz mit Japan und der EG sowie die allgemeine Schwäche der US-Wirtschaft das verstärkte Engagement der Bush-Administration in dieser Region. Die Präsidenten zahlreicher lateinamerikanischer Länder begannen, den ökonomischen Rezepten von Reagan und Bush zu folgen, die Freihandel und die Privatisierung des öffentlichen Sektors der Wirtschaft verlangten. Um in wirtschaftlich schwieriger Situation einen neuerlichen Fluß von privaten und öffentlichen Geldern aus den USA zu erlangen, verordneten lateinamerikanische Regierungen einschneidende Sparprogramme. Die Schulen, medizinischen Einrichtungen und die soziale Infrastruktur Lateinamerikas wurde geplündert, während Hunger und Unterernährung zunahmen.

Wirtschaftspolitik im Vordergrund

Die Clinton-Regierung hat keine grundsätzliche Kritik an diesem Zeitraum der wirtschaftlichen Verwüstung Lateinamerikas geübt. Wenn überhaupt, so hat sie im Gegenteil ihre Bereitschaft erklärt, die Wirtschaftspolitik der Bush-Administration mit nur unwesentlichen Veränderungen fortzuführen. Von der immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich in dieser Region ist überhaupt nicht die Rede. Clinton, der sich gerne mit Kennedy vergleichen läßt, hat nichts Vergleichbares zu dessen reformistischer “Alliance for Progress” zu bieten.
Tatsache ist, daß Clintons Erklärung, er werde sich “wie ein Laser” auf die US-Wirtschaft konzentrieren, ihr Gegenstück findet in dem Versuch, Wirtschaft und Handel zum zentralen Bestandteil seiner Lateinamerikapolitik zu machen. Während der Übergangszeit vor dem Amtsantritt sprach sich herum, daß das Clinton-Team Wirtschaftsexperten suche, um die wichtigsten Posten im Bereich der Lateinamerikapolitik zu übernehmen, was ein Grund für die Wahl Richard Feinbergs als Lateinamerika-Verantwortlichen im Nationalen Sicherheitsrat ist. Obwohl Feinbergs frühere politische und wirtschaftliche Ansichten eher linksliberal waren, lehnen sich seine jüngeren Schriften eher ans Establishment an und spiegeln häufig die Bedenken von Institutionen wie dem IWF oder der Weltbank wider. Selbst das “Wall Street Journal” nahm ihn in Gnaden auf und salbte ihn als “Gemäßigten”.
Die allgemeine Auffassung in Washington ist, daß der Nationale Sicherheitsrat unter Anthony Lake eine Schlüsselstellung in der Formulierung außenpolitischer Ziele einnimmmt, während das Außenministerium unter Warren Christopher für die Umsetzung zuständig ist. Clintons Haltung, direkt in alle politischen Entscheidungsprozesse eingreifen zu wollen, wird durch diese Arbeitsteilung unterstützt, da der Nationale Sicherheitsrat im Weißen Haus ansässig ist. Lake kommt wie Feinberg vom progressiveren Flügel der Demokraten. Aber auch Lake hat in den letzten Jahren eine zunehmend gemäßigtere Haltung angenommen, und es wird nicht erwartet, daß er oder Feinberg kühne neue Positionen im Nationalen Sicherheitsrat vertreten. (…)
Die Bedeutung Lateinamerikas für Clintons gesamte Wirtschaftsstrategie wird unterstrichen durch die Anzahl von Personen, die Schlüsselpositionen in der Regierung besetzen und ghleichzeitig Mitglieder der Denkfabrik “Inter-American Dialogue” sind, die in den frühen 80er Jahren gegründet wurde. Diese Organisation entwarf zunächst eine alternative Lateinamerikapolitik, die sich deutlich von der Reagans unterschied. In den letzten Jahren allerdings entwickelte sich der “Dialogue”, mit Mitgliedern aus den USA, Kanada und zahlreichen lateinamerikanischen Ländern, immer mehr zu einem hochrangigen Forum, in dem sich politische, akademische, ökonomische und sogar militärische Eliten regelmäßig zum Gedankenaustausch zusammenfinden. Neben Christopher und Feinberg sind auch Clintons Innenminister Babbitt, Wohnungsminister Cisneros und Verkehrsminister Peña Mitglieder dieses Forums, welches nationale und internationale Persönlichkeiten zusammenbringt, um Strategien zur Stabilisierung der kapitalistischen Welt zu entwerfen.

Clintons Strategie-Papier: Wenig Neues aus der Denkfabrik

Der jüngste Bericht, der vom “Dialogue” herausgegeben wurde, “Convergence and Community: The Americas in 1993” spiegelt die Themen wider, die viele Mitglieder der Regierung am meisten beschäftigen. Er ist ähnlich bedeutsam, wenn auch weniger spektakulär als die Strategiepapiere voriger Administrationen, in denen Carter zur Formulierung einer Menschenrechtspolitik und der Neuverhandlung der Panama-Verträge aufgefordert wurde (Linowitz-Bericht 1976) oder sich Reagan gegenüber für eine aggressive Politik gegenüber revolutionären Bewegungen in Mittelamerika ausgesprochen wurde (Santa Fe-Bericht 1980). “Convergence an Community” ist ein Dokument der liberalen politischen Mitte und spiegelt als solches die zunehmend geringere Bedeutung des Gegensatzes konservativ versus progressiv in weiten Teilen der Außenpolitik wider. Seine zentralen Vorschläge unterscheiden sich nur wenig von der Poliik der Bush-Administration. Der erste Abschnitt des Berichtes ist eine volltönende Zustimmung zur NAFTA und fordert ähnliche Handelsabkommen mit anderen lateinamerikanischen Staaten, in erster Linie mit Chile.
Der zweite Abschnitt befürwortet eine “kollektive Verteidigung der Demokratie”, weicht aber nur wenig von der Politik von Baker und Bush ab. Es gibt keine Diskussion über Basisdemokratie oder die Schaffung neuer demokratischer Institutionen, durch die die verarmten und entrechteten Massen der Region in den politischen Entscheidungsprozeß einbezogen werden könnten. Wenn Militärregime die Macht ergreifen, schlägt der Bericht Verhandlungen ála Haiti vor, um die Machthaber zur Abgabe der Regierungsgewalt an Zivilisten zu bewegen. Der bericht proklamiert keinen grundsätzlichen Wandel in den traditionellen militärischen oder politischen Institutionen, die überhaupt erst zu Machtergreifungen des Militärs führen.
Der Schlußteil von “Convergence and Democracy” fordert tatsächlich eine Auseinandersetzung mit “den Problemen von Armut und Ungleichheit” in der Hemisphäre. Aber es gibt nichts Neues oder Innovatives in diesem Abschnitt. (…) Tatsächlich lesen sich die ersten Thesen dieses Teils wie ein Auszug aus neoliberalen Wirtschaftsprogrammen, insbesondere durch die Behauptung, daß fiskalische Zurückhaltung und “nicht ausufernde” Staatsausgaben Grundlage für die Bekämpfung von Armut seien.

Ökologie und Auslandshilfe: Kosmetik oder Kurswechsel?

Obwohl Clintons Lateinamerikapolitik im wesentlichen der von Bush ähneln wird, werden andererseits Veränderungen in der Herangehensweise und in der Wahl der Schwerpunkte zu beobachten sein. (…) Dies wird zum Beispiel belegt durch die Zusatzprotokolle zu ökologischen und arbeitsrechtlichen Fragen, die die Clinton-Administration zur NAFTA entwerfen will. Gewerkschaften und Umweltschutzverbände sind einfach wesentlich stärker in der Demokratischen Partei vertreten als bei den Republikanern, und Clinton kann diese Interessengruppen nicht ignorieren.
Man kann außerdem unter Clinton und Gore erwarten, daß die “Agency for International Development” (AID) ihren Schwerpunkt stärker auf “angepaßte Technologie” und “nachhaltige Landwirtschaft” legen wird. Die Berufung von Umweltschützer Timothy Wirth, einem ehemaligen Senator aus Colorado, als Leiter der neuen Abteilung für “Global Issues” im Außenministerium bedeutet, daß ökologische Fragen mehr Berücksichtigung in Entwicklungshilfeprogrammen finden werden.
Eine interessante Frage ist, ob die Regierung so weit gehen wird, den Empfehlungen des Weißbuches “Reinventing Foreign Aid” (in etwa: “Auslandshilfe neu überdacht”) zu folgen. Dieses Papier, ausgearbeitet und unterstützt von einem breiten Spektrum von Einzelpersonen des Kongresses, Washingtoner Denkfabriken und Nichtregierungsorganisationen, fordert die Abschaffung der AID und deren Ersetzung durch eine “Sustainable Development Cooperation Agency”. Dies würde das Ende vieler Hilfsprogramme alten Stils bedeuten, unter anderem für direkte Unterstützung an Regierungen zum Ausbau des Sicherheitsapparates. Stattdessen würden mehr Gelder an Basisgruppen und ökologische Landwirtschaftsprojekte fließen. Der Bericht fordert Vizepräsident Gore auf, einer Koordinationsgruppe für Entwicklungshilfe vorzustehen, die Hilfsprogramme und die damit verbundenen Organsiationen beaufsichtigen würde, die staatliche Gelder beziehen.
Ein zentrales Thema, welches Spannungen und Debatten auslösen und schon sehr bald auf der Tagesordnung stehen wird, ist, wie stark sich die Administration im ökologischen Bereich engagieren sollte. In der Lateinamerikapolitik der Regierung ist ein innerer Widerspruch angelegt zwischen umweltpolitischen Fragen und der Ausdehnung von US-Märkten und Investitionen. Selbst wenn ein relativ striktes NAFTA-Protokoll zum Umweltschutz ausgearbeitet werden sollte, bleibt zweifelhaft, wie energisch es umgesetzt wird.
In den vergangenen Jahren hat die mexikanische Regierung als Reaktion auf US-amerikanische Bedenken eine Reihe von Schutzerlässen im Bereich von Menschenrechten und Ökologie verfügt, obwohl diese häufiger gebrochen als eingehalten wurden. Aber solche Gesetze geben Basisorganisationen in Mexiko und den USA mehr Spielraum, um auf Veränderungen zu drängen. Dieselbe Dynamik des Drucks von unten wird auch während Clintons Amtszeit notwendig sein, um Versuche von multinationalen Konzernen zu vereiteln, bei ihrer Expansion nach Süden im Rahmen der Freihandelsabkommen umweltrechtliche Bestimmungen zu ignorieren.

Die Rechten verlieren an Boden

Ein weiterer Unterschied zwischen den Präsidentschaften von Bush und Clinton ist der nunmehr verringerte Einfluß der extremen Rechten. Im Falle Nicaraguas hatten es Jesse Helms und der rechte Flügel der Republikaner während des letzten Amtsjahres von Bush geschafft, die US-Hilfe zu blockieren, da sich die Regierung von Violeta Chamorro weigerte, Sandinisten aus Schlüsselpositionen des Militärs zu entfernen. Die neue politische Konstellation und der Niedergang der extremen Rechten wurde direkt nach Clintons Wahlerfolg verdeutlicht, als Bush die Mittel für Nicaragua lieber freigab, als vom Kongreß angedrohte Etatkürzungen in einigen seiner Lieblingsprojekte in Kauf zu nehmen. Die extreme Rechte in Lateinamerika fühlt sich nach der Niederlage von Bush ebenfalls verwaist. Besonders rechte Politiker in Mittelamerika kritisierten die neue Regierung sofort heftig. So erklärte ein nicaraguanischer Politiker, daß die Welt auf eine Katastrophe zusteuere, “mit diesen Schwulen, Kommunisten und Liberalen, die unter Clinton an der Macht sind.” Die Entscheidung von Präsidentin Chamorro im Januar, deutlich mit den rechteren Parteien zu brechen und einige Sandinisten ins Kabinett zu berufen, wurde dadurch erleichtert, daß die äußerste Rechte keinen Schutzherren mehr in Washington hat.
Die Drogenpolitik der USA gegenüber Lateinamerika wird sich unter Clinton ebenfalls verändern. Die Aufmerksamkeit wird nun stärker den innenpolitischen Ursachen von Drogenmißbrauch gewidmet werden, während die internationalen Drogenkartelle aus dem Rampenlicht rücken. Im Wahlkampf war der Drogenkrieg praktisch nicht existent. Bush hatte kein Inteesse daran, über seine Drogenpolitik zu debattieren, die von der Öffentlichkeit als Mißerfolg bewertet wurde, während Clinton dieses Thema als eine Ablenkung von seinem Hauptanliegen empfand, den wirtschaftlichen Schwierigkeiten der USA. Im ersten Monat seiner Amtszeit kürzte Clinton bereits die Mittel für die internationale Drogenbekämpfung. Im Unterschied zu Bush hat Clinton außerdem nicht zu erkennen gegeben, daß er die Marines gegen Drogenhändler in Lateinamerika einsetzen will.

Kein Spielraum für eine neue Kubapolitik

Den meisten politischen Sprengstoff für Clintons Administration birgt die Kubapolitik. Der “Inter-American Dialogue” betrat in seiner Schrift “Convergence and Community” Neuland mit der Forderung, die Blockade gegen Kuba zu lockern. Der Bericht plädiert für bessere Post- und Telefonverbindungen und dafür, Tourismus von US-Bürgern nach Kuba zuzulassen. Weitere Schritte zur Verbesserung der Beziehungen, so der Bericht, könnten unternommen werden, wenn Kuba ebenfalls mit ähnlichn Maßnahmen antwortet.
Allerdings schränkte Clinton selbst seinen politischen Spielraum gegenüber Kuba ein, als er im Wahlkampf in Florida um die Unterstützung der kubanischen Exilgemeinde warb. Er forderte eine härtere Gangart gegenüber Castro und erhielt finanzielle Hilfe für seine Wahlkampagne in Millionenhöhe von Jorge Más Canosa, dem Vorsitzenden der rechtsgerichteten Cuban American National Foundation (CANF). Die Spenden an Clinton mögen allerdings nur geringere Bedeutung haben, da Clinton in Florida die realtive Mehrheit verfehlte und Más Canosa zudem auch die Republikaner unterstützte.
Kuba ist ein sensibles Thema, sowohl in der Demokratischen Partei wie auch in den USA allgemein. Von daher ist es unwahrscheinlich, daß Clinton dieses Thema anschneiden wird. Der vergebliche Versuch, Mario Baeza (der als Vertereter einer Politik der Öffnung gegenüber Kuba gilt, die Red.) als Staatssekretär für Interamerikanische Angelegenheiten zu nominieren, verdeutlicht, daß Clinton kaum etwas unternehmen wird, um die jahrzehntelange Isolationspolitik gegenüber Kuba zu verändern.
Clinton hat einfach kein neues politisches Programm für Lateinamerika oder die Karibik. Die riesigen Probleme des Hungers und der Unterernährung in Lateinamerika werden wohl ignoriert werden, während die USA weiterhin den Freihandel und eine Wirtschaftspolitik kultivieren werden, von der in erster Linie die multinationalen Konzerne und die ökonomischen Eliten der Hemisphäre profitieren. Die Clinton-Administration mag sich weigern, sich der strukturellen Probleme der Hemisphaäre anzunehmen, aber die Probleme werden nicht von selbst verschwinden.
Die Rechte in den USA und Lateinamerika hat einiges von ihrer Schlagkraft verloren, und diese Entwicklung öffnet politischen und sozialen Raum für Basisbewegungen, deren Einfluß noch wachsen wird. Diese Bewegungen haben das Potential, um das neue Gerüst lateinamerikanischer Beziehungen zu erschüttern, das Bush aufgerichtet hat und Clinton offensichtlich beibehalten will.

Editorial Ausgabe 228 – Juni 1993

Der deutsche Kanzler weilt dieser Tage in der Türkei, plauscht mit Präsidenten, Ministern und Industriellen. Für VertreterInnen türkischer und kurdischer Menschenrechtsgruppen hat er keine Zeit. Die systematische Verletzung von Menschenrechten durch das türkische Militär wird – wenn überhaupt – hinter vorgehaltener Hand angesprochen. Wozu auch? Machtpolitik macht eben grobe Unterschiede: Menschenrechtsverletzungen im sozialistischen Kuba wiegen ungleich schwerer als die beim NATO-Partner Türkei.
Dieses aktuelle Beispiel der Menschenrechtspolitik erhellt die Doppelzüngigkeit, mit der die Delegationen der westlichen Industrieländer Anfang Juni auf der UN-Menschenrechtskonferenz in Wien auftreten werden. Die Delegierten werden dabei individuelle Grundrechte in den Vordergrund stellen, und das sind bürgerliche Freiheiten, ohne die eine moderne kapitalistische Gesellschaft nicht mehr reibungslos funktioniert. Wenn es im Interesse dieser Gesellschaft liegt, dieselben Freiheiten abzubauen, zählt die Unteilbarkeit der Menschenrechte wenig. Dies wird deutlich anhand der momentanen Flüchtlingspolitik, die in der de facto-Abschaffung des Asylrechts ihren vorläufigen traurigen Höhepunkt erreicht hat. Mit dem individualistischen Menschenbild des Kapitalismus ist die Absage an Kollektivität verbunden.
Auf internationaler Ebene werden durch ungleiche Handelsbeziehungen und aufgezwungene Wirtschaftsmodelle kollektive Menschenrechte verletzt: das Recht auf wirtschaftliche Entwicklung und auf eine saubere Umwelt. Die Regierungen des Südens klagen die Verwirklichung dieser Menschenrechte ein und weisen die Position ihrer VerhandlungsgegnerInnen aus dem Norden zurück. Sie wittern zu Recht die Gefahr, daß Menschenrechte für die militärische Interventionspolitik im Rahmen der neuen Weltordnung instrumentalisiert werden könnten. Das Beharren auf den unterschiedlichen Positionen – individuelle Menschenrechte contra kollektive – hat die letzte Vorbereitungskonferenz für Wien vor wenigen Wochen scheitern lassen.
Unübersehbar sind die Parallelen zur Umwelt- und Entwicklungskonferenz in Rio vor einem Jahr. Auch damals hätte der Umbau internationaler Beziehungen auf der Tagesordnung stehen müssen, um den Ländern des Südens eine Perspektive wirtschaftlicher Entwicklung zu öffnen, ohne den globalen Öko-Kollaps zu provozieren. Doch damals wie heute benutzt der Norden diese Konferenzen, um die eigene Vormacht auszubauen.
Wie in Rio werden aber auch die Regierungen des Südens in Wien nur scheinbar im Recht sein. Was da unter dem Deckmantel nationaler Souveränität und kultureller Besonderheiten nur allzu häufig verborgen wird, ist die brutale Mißachtung individueller Rechte Oppositioneller und kollektiver Rechte ganzer Völker.
Auch in Wien wird es eine Gegenkonferenz von Nichtregierungsorganisationen mit unterschiedlichsten politischen Zielen geben. Nur aus diesem Kreis ist eine legitime Kritik sowohl an dem hegemonialen universalistischen Menschenrechtsbegriff des Nordens als auch an der Regierungspolitik in den Ländern des Südens zu erwarten. Und diese Kritik ist wohl nötig. Denn die Durchsetzung individueller Freiheitsrechte würde zwar einen Fortschritt darstellen – ohne die Umsetzung kollektiver Menschenrechte entbehrten sie jedoch der Substanz.

Sozialismus oder Tourismus

Die Versorgungskrise, in Kuba gemeinhin als ‘período especial’ – Sonderperiode – umschrieben, bestimmt seit drei Jahren zunehmend das Leben der KubanerInnen. Grundnahrungsmittel und Artikel des täglichen Bedarfs sind rationiert und nur über Bezugsscheine erhältlich – oder für teures Geld auf dem Schwarzmarkt. Benzin wurde an Privatleute zum letzten Mal im vergangenen Dezember ausgegeben. Der öffentliche Nahverkehr liegt weitgehend brach. Während in mehreren Provinzstädten kein Autobus mehr fährt, kann in der Hauptstadt dank großzügiger Spenden aus Kanada und Spanien immerhin ein Drittel des Betriebs aufrechterhalten werden. Entsprechend lang sind die Schlangen an den Haltestellen, Warten gehört zu den alltäglichsten Dingen in Kuba.
Erstaunlich ist in Anbetracht dieser Schwierigkeiten allerdings die Geduld, ja Gelassenheit, mit der die meisten KubanerInnen die Einschränkungen des ‘período especial’ hinnehmen. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Unzufriedenheit über die schwierige Lage spürbar wächst. “Hier in Kuba läuft gar nichts mehr, es gibt nichts zu kaufen, und die Bevölkerung hat nicht genug zu essen,” beschwert sich ein junger Intellektueller. Er erzählt, wieviel Mühe es ihn jeden Tag kostet, die Milch für sein Kleinkind zu besorgen, obwohl sie ihm per Bezugsschein zusteht. “Und das mit dem Soja ist auch so eine Sache, weißt Du. Das Mehl, was hier in Kuba verteilt wird, hat einen gefährlich hohen Kupferanteil, aber wir bekommen eben kein Fleisch mehr!”
Von einer Kupferbelastung des Sojamehls hat eine dem Ökumenischen Kirchenrat Kubas nahestehende Kinderärztin noch nichts gehört. Ihr Bruder, der längere Zeit in Berlin gelebt hat, sieht in dieser Diskussion einen Beweis für die ablehnende Haltung der KubanerInnen gegenüber allen Maßnahmen der Regierung, die im Gegensatz zu ihren Eßgewohnheiten stehen: “Die meisten Leute hier würden die biologische Ernährung der Alternativen in Deutschland ablehnen, weil sie ihnen fremd ist und die KubanerInnen immer an Fleisch gewöhnt waren.” Er berichtet, daß jedeR im Land pro Woche zwei Kilo aller jeweils erhältlichen Obst- und Gemüsesorten, ein Pfund mit Sojamehl verlängertes Gehacktes oder Fisch sowie täglich ein Brötchen erhält.
Was passiert aber, wenn es im Land gerade mal nichts oder kaum etwas gibt? Achselzucken – dann wird der Speiseplan noch etwas ärmlicher. Und eigentlich gibt es ja auch immer viel mehr, als über die Lebensmittelkarten erhältlich ist. Da es nun keinen Kleinbauernmarkt mehr gibt, auf dem Lebensmittel privat verkauft werden, sind die LandwirtInnen bemüht, ihre Produkte illegal gegen bare Münze an die Hausfrau zu bringen. Das bringt allemal mehr als die bescheidene Bezahlung durch die staatlichen Verteilungsstellen.

“Wir brauchen keine Parteien, sondern mehr soziale Bewegungen”

In den angeführten Äußerungen zur Ernährungslage wird ein Problem deutlich, das in Kuba überall spürbar ist. Es ist nahezu unmöglich, sich ein objektives Bild von der Situation auf der Karibikinsel zu machen, zu unversöhnlich stehen sich die verschiedenen Positionen gegenüber. Während die einen kein gutes Haar an der Regierung von Fidel Castro und deren Krisenpolitik lassen, verteidigen die anderen die Sparpolitik, die notwendig sei, um die Erfolge der sozialistischen Revolution zu erhalten. Die ersteren machen vor allem wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen und die paternalistische Selbstüberschätzung des “Comandante en jefe” für die Krise verantwortlich, die anderen neben der Blockadepolitik der USA in erster Linie den Niedergang des Ostblocks, mit dem Kuba seit 1961 enge Wirtschaftsbeziehungen unterhalten hatte. Für eine vernünftige und ernsthafte Auseinandersetzung mit diesen und anderen Themen gibt es in Kuba keinen Freiraum. Es fehlt an Foren, wo sich Opposition und RegierungsanhängerInnen austauschen und konstruktiv Auswege aus der verfahrenen Situation suchen könnten.
“Was wir in Kuba brauchen, sind nicht in erster Linie mehr Parteien, wie es die USA fordern”, meint denn auch der protestantische Pfarrer Raimundo García aus Cárdenas, “wir brauchen mehr soziale Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen, um über die bestehenden Probleme reden zu können.” So errichtet seine Gemeinde – mit Unterstützung aus dem Ausland – eine Begegnungsstätte, die den BürgerInnen der Stadt die Möglichkeit geben soll, sich auch außerhalb der hegemonisierenden Kommunistischen Partei mit der kubanischen Wirklichkeit auseinanderzusetzen. “Aufgrund der wachsenden Versorgungsschwierigkeiten verlieren viele Menschen das Gefühl für die Errungenschaften der Revolution. Dabei steht hier so viel auf dem Spiel.”
Wege aus der heutigen Krise lassen sich nur unter Einbeziehung aller demokratischen Kräfte Kubas, der Ausschöpfung aller Fähigkeiten und der Nutzung aller Erfahrungen finden. So wie es innerhalb des protestantischen Gemeindezentrums versucht wird, bedarf es intensiver Diskussionen nicht nur unter den Intellektuellen des Landes. Weder die Regierung noch die Opposition werden 1993 der Sonderstellung gerecht, die Kuba nach wie vor auf dem ganzen Kontinent einnimmt und der selbst konservative PolitikerInnen zwischen dem Rio Grande und Feuerland Respekt zollen. Es fehlt eine stärkere Einbindung in den Diskurs der Linken Lateinamerikas und der Karibik. Gerade aus dem Vergleich mit der Situation in den anderen Ländern des Subkontinents könnten für Kuba gangbare Wege aus der Krise erwachsen. Bei seinen guten Kontakten zu dem brasilianischen Befreiungstheologen Frei Betto dürften Fidel Castro die Auseinandersetzungen nicht unbekannt sein, die es in dessen Heimat um die Agrarreformen, um alternative Landwirtschaftsformen, um die Qualifizierung von Kleinbauern und -bäuerinnen, die sogenannte Modernisierung der Landwirtschaft und nicht zuletzt um die Frage nach einer ökologisch verträglichen Entwicklung gibt. Während die Agrarwirtschaft weiterhin an den Folgen jahrzehntelanger Monokultur und ebenso ehrgeiziger wie für das Land ungeeigneter Tierhaltung leidet, finden sich zumindest im industriellen Bereich überall auf der Karibikinsel Ansätze einer Modernisierung, die auch umweltpolitische Gesichtspunkte berücksichtigt. So stehen für die traditionsreiche Zucker- und Rumfabrik Echeverría in Cárdenas, dem Geburtsort des berühmten Bacardi-Rums, die Verhandlungen über die Errichtung einer Biogasanlage vor ihrem Abschluß. Mit Hilfe deutscher Technologie soll nach brasilianischem Vorbild der reichliche Abfall aus der Zukkerproduktion zur Energiegewinnung genutzt werden. Gleichzeitig wird in der Rumfabrik eine moderne Abfüll- und Etikettiermaschine installiert, mit der die Jahresproduktion von derzeit 200.000 auf 1 Million Flaschen gesteigert werden soll. Doch bevor diese Modernisierungsprojekte Erträge bringen, werden noch mehrere Jahre vergehen, in denen sich an der Versorgungslage der Bevölkerung nichts ändert.

Tribut an den Weltmarkt

Noch fühlt sich der/die ausländische BesucherIn in Cárdenas in vergangene Tage zurückversetzt. Nichts läßt ahnen, daß in der Zuckerdestille der Stadt eine der bekanntesten Rummarken der Welt geboren wurde. Doch seit der Revolution und der nachfolgenden Enteignung wird der Bacardi in der Dominikanischen Republik hergestellt. Andere Rummarken verlassen nun die Zucker- und Rumfabrik von Cárdenas, doch sie alle haben mit ihrem berühmten Vorläufer eines gemeinsam: sie werden mit denselben Maschinen, in denselben Gärfässern produziert. Die ganze Fabrikanlage wirkt wie ein Überbleibsel aus dem letzten Jahrhundert, die rostigen und ölverschmierten Maschinen gäben eine wunderbare Kulisse für einen Film über die industrielle Revolution ab. Mit der sichtbaren Ausnahme der erwähnten vollautomatischen Abfüll- und Verpackungseinheit aus deutscher Produktion, die einen kleinen Schritt in Richtung Weltmarkt darstellt. Die an sich positive Entwicklung im Sinne einer Modernisierung darf jedoch nicht über ein zentrales Problem hinwegtäuschen: Kuba ist gezwungen, sich wesentlich stärker als bisher in die ungerechten und ausbeuterischen Weltmarktstrukturen zu integrieren. Im Land selber wirft dies die Frage auf, wie die Errungenschaften der kubanischen Revolution im sozialen Bereich erhalten werden sollen, was schließlich auch von vielen Oppositionellen gefordert wird.
Was Raimundo García damit meinte, als er von dem Verlust der Errungenschaften der Revolution sprach, wird beispielsweise beim Besuch eines Kinderhorts in Cárdenas klar: Alle Kinder bis zu 7 Jahren erhalten trotz der schwierigen Versorgungslage täglich einen halben Liter Milch (allerdings aus Milchpulver), die Portionen auf den Eßtabletts sind reichlich: Neben Reis gibt es Fisch, Kochbananen und frisch gepreßten Orangensaft. Die 260 Kinder verschiedener Hautfarben werden von insgesamt 53 Angestellten versorgt, das Spielzeug ist aus Pappmaché hergestellt und bietet den Kindern die Möglichkeit, spielend bestimmte Rollen kennenzulernen. Ein Kaufladen, ein Frisiersalon und ein Krankenzimmer sind auf der Terrasse aufgebaut.
Ein Schwerpunkt der kubanischen Regierung war traditionell das Gesundheitswesen. Und gerade hier wird der allgegenwärtige Mangel besonders deutlich. Trotz der Devisenknappheit und der erschwerten Versorgung vor allem mit spezielleren Medikamenten und technischen Geräten wird zwar auf der Insel ein medizinischer Standard aufrechterhalten, der in Mittelamerika und der Karibik seinesgleichen sucht und in anderen Ländern nur für eine kleine Oberschicht zugänglich ist. Dennoch sind an allen Ecken und Enden die Schwierigkeiten zu spüren, und die Ausstattung mit medizinischem Gerät und Material ist von Ort zu Ort unterschiedlich. Während im Vorzeigekrankenhaus Hermanas Almejeiras in Havanna alles vorhanden ist, was das Herz von A(e)rztIn und PatientIn höher schlagen läßt, stehen in der zwölf Betten umfassenden Intensivstation des Provinzkrankenhauses in Cárdenas nur 4 Überwachungsmonitore und ein einziges Beatmungsgerät zur Verfügung, es mangelt an Kathetern, Spritzen und anderem Einwegmaterial. Dank der guten Ausbildung des medizinischen und Pflegepersonals überleben auch heute noch viele KubanerInnen schwere Krankheiten – so wie eine erst 51jährige Patientin, die einen schweren Herzinfarkt mit Komplikationen überlebt hat und gerade von der Intensivabteilung auf eine normale Station verlegt wird. Gleichzeitig werden an verschiedenen Stellen in Kuba Folgen der Mangelernährung sichtbar. Tausende von KubanerInnen sind aufgrund der Vitamin-B-armen Nahrung von ernsthaften Erkrankungen des Sehnerven bedroht. In zunehmendem Maße wird Beriberi beobachtet, eine Vitamin-B1-Mangelerkrankung, die das Herz und das Nervensystem betrifft. Seit einigen Wochen werden nun monatlich 30 Vitamin-B-Dragées ausgegeben. Die Frage ist nur, wie lange sich Kuba in der jetzigen Situation diesen Luxus leisten kann. Daher ist es naheliegend, daß die Bevölkerung zum Verzehr pflanzlicher Vitamin-Träger aufgefordert wird.
Nach dem Zusammenbruch der osteuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft RGW muß sich Kuba nun auf dem internationalen Markt versorgen, um die Grundversorgung der Bevölkerung zu sichern. Dazu braucht das Land Dollars, und die sind auf der Insel rar geworden. Der Gewinn aus dem wichtigsten Exportprodukt, dem Zucker, ist wegen des niedrigen Weltmarktpreises auf etwa 700 Mio US-$ jährlich zurückgegangen. Das reichlich vorhandene Nickel kann nicht effektiv ausgebeutet werden, da die USA sämtliche Waren boykottieren, in denen nur ein Milligramm kubanischen Nickels verarbeitet wurde. Nach dem Torricelli-Gesetz werden neuerdings in den Häfen der Vereinigten Staaten alle Schiffe mit empfindlichen Strafen belegt, die in den zurückliegenden sechs Monaten einen kubanischen Hafen angelaufen haben. Angesichts dieser Schwierigkeiten setzt die Castro-Regierung nun auf den Tourismus als Devisenquelle. Überall im Land wurden Hotels errichtet, es entstand eine ganz eigene Infrastruktur, die AusländerInnen vorbehalten ist: Bezahlt wird hier ausschließlich mit der Währung des Erzfeindes, dem Dollar. Der Umsatz dieser Branche lag 1992 bei 350 Mio US-$ und zeigt weiterhin eine steigende Tendenz, obwohl der Urlauberstrom aus Deutschland im letzten Jahr bereits wieder abgenommen hat.

Hoher Preis für Devisen

Trotz der weitgehenden Abtrennung vom normalen Leben in Kuba beginnt der Tourismus, das soziale Gefüge auf der Karibikinsel zu zersetzen, das in der Vergangenheit dadurch stabil war, daß alle gleich wenig hatten – mit Ausnahme der mittleren Kader. Gerade diese haben nun auch den Tourismus in der Hand, viele KubanerInnen sprechen offen von einer regelrechten Mafia, die nicht nur das Geschäft kontrolliert, sondern auch Zugriff auf besondere Waren und auf Dollars hat. Gleichzeitig suchen viele in Anbetracht der daniederliegenden Wirtschaft ihr Glück als fliegende oder Zwischenhändler. Ganz allmählich entsteht auch in Kuba ein bisher nicht existierender informeller Sektor, auch in diesem Punkt gleicht sich Kuba den anderen Ländern Lateinamerikas an. In der Innenstadt von Havanna kann mensch als AusländerIn kaum 20 Meter gehen, ohne angesprochen zu werden: Kinder bitten um Kaugummi, das für drei Pesos weiterverkauft wird; überall werden kubanische Zigarren angeboten, die im Intur-Laden das Zehnfache kosten. Im ganzen Land stößt man auf diese Intershops, in denen es nach dem Vorbild der ehemaligen DDR gegen “frei konvertierbare Währung” alles zu kaufen gibt. Freien Zutritt haben KubanerInnen nur in Begleitung ausländischer BesucherInnen, die beim Bezahlen danebenstehen müssen, um den Schein zu wahren. Eine ebenso lächerliche wie entwürdigende Situation!
Und noch ein Geschäft blüht auf der Zuckerinsel. Überall werden männliche Besucher von ‘jineteras’ angesprochen, attraktiven und oft erschreckend jungen Frauen, die ihre Begleitung anbieten. In vielen Fällen geht es dabei um bloße Begleitung im Austausch gegen einige Drinks oder ein Essen in den ansonsten unzugänglichen Hotelanlagen, ohne an Rationen oder Bezugsscheine denken zu müssen. Der Traum vom schnellen Dollar, oft genug auch der Wunsch nach Verbesserung der Lebenssituation oder die blanke Not, bringen aber in zunehmendem Maße die professionelle Prostitution mit sich.
“Was sollen wir aber machen?”, fragt denn auch der Staatssekretär des kubanischen Wirtschaftsministeriums, Jaime Casanova, “der Zucker bringt nichts mehr ein, Nickel können wir wegen des US-Embargos nicht verkaufen, unser Erdöl reicht nicht aus, so daß wir es sogar importieren müssen. Wir haben nichts anderes anzubieten als unsere Strände. Die Regierung ist sich der daraus entstehenden Probleme durchaus bewußt, es gibt aber keine Alternative!”
Genau an diesem Punkt könnte das letzte sozialistische Land auf dem amerikanischen Kontinent scheitern. Daß alles bald besser wird, wie der Staatssekretär mit unverbesserlichen Optimismus behauptet, mag mensch nicht so recht glauben. Dazu liegt die kubanische Wirtschaft zu sehr am Boden. Auch die forcierte Öffnung gegenüber ausländischem Kapital wird daran nicht so schnell etwas ändern – wenn überhaupt. Zwar kommen vor allem aus Kanada und Spanien dringend benötigtes Know-how und Kapital ins Land, doch die Gewinne fließen ungehindert wieder in die Heimatländer der joint-venture-PartnerInnen ab. Wenn es nicht gelingt, die wirtschaftlichen Ressourcen des eigenen Landes zu mobilisieren, ist der Preis für das wirtschaftliche Überleben Kubas die allmähliche Aushöhlung des sozialen Gefüges auf der Karibikinsel. So könnte die Freiheit in Kuba in einigen Jahren darin bestehen, daß die BettlerInnen und die neuen MillionärInnen das gleiche Recht haben, auf der Straße betteln zu dürfen.

Neuerscheinung mit alten Fehlern

Roberto Massari gehört zu jener Generation europäischer Intellektueller, die rund um das Jahr 1968 in Massen nach Kuba reisten, um Solidarität zu demonstrieren und um die Mechanismen einer Revolution zu studieren, die damals nicht nur im Trikont, sondern auch in der Linken der Industrienationen das Bewußtsein prägte. Aus dieser Zeit stammt auch, “in großen Zügen”, wie er uns wissen läßt, Massaris “Geschichte Kubas”. Und ganz im Geiste des Jahres 1968 ist sie gewidmet “den Menschen in Kuba, den Arbeitern und Arbeiterinnen, die diese Erfahrung unter Einsatz ihres eigenen Lebens oder mit ihrem täglichen Engagement möglich gemacht haben.” Die Frage ist jedoch, ob Massari diesen Arbeiterinnen und Arbeitern mit der vorliegenden Arbeit tatsächlich einen Dienst erwiesen hat.
Gewiß, wenn man auf etwa 150 Seiten die Geschichte eines Landes wie Kuba beschreiben will, eine Geschichte also, die mehr noch als diejenige vieler anderer Gesellschaften Lateinamerikas von den Erfahrungen von Conquista, Genozid, Encomienda und Sklavenhaltung, von kolonialer und neokolonialer Ausbeutung, von Imperialismus und Interventionismus geprägt ist, dann kann man dies nicht in aller Ausführlichkeit tun. Selbst dann nicht, wenn man auf das bisher letzte Kapitel dieser Geschichte, auf die Kubanische Revolution als Versuch mit all dem Schluß zu machen, verzichtet: Man muß Abstriche machen, kürzen. Daß man dabei aber ausgerechnet bei den Subjekten und Leidtragenden der Geschichte, bei den Vorfahren der “Arbeiter und Arbeiterinnen” also, ansetzt, ist gerade bei einem Autor, der nicht müde wird, seine Solidarität mit der Revolution zu betonen, nicht einzusehen.
Massari tut die Wirklichkeit der Conquista, die sich in Kuba in erster Linie als Ausrottung vollzog, in einem Halbsatz ab. Auf die über dreihundert Jahre hinweg praktisch unverändert unmenschlichen Lebensumstände afrikanischer und afroKubanischer Sklavinnen und Sklaven wird ebensowenig eingegangen wie auf diejenigen ihrer “moderneren” Nachfahren, der Zuckerarbeiterinnen und Zuckerarbeiter. Neokolonialismus tritt in erster Linie als wirtschaftliche Ausbeutung in Erscheinung, was zweifellos richtig ist, nur: kann man deswegen alle Folgen von Korruption über Repression und ständige Menschen-rechtsverletzungen bis hin zur Prostitution unerwähnt lassen?
Was Massari anstattdessen beschreibt, und hier liegen auch ohne Zweifel seine Stärken, ist Geistesgeschichte, Geschichte politischer Ideen, insbesondere im Hinblick auf ihren antikolonialen und emanzipatorischen Gehalt. Angefangen von den ersten Versuchen der mambises, im zehnjährigen Krieg 1868 – 1878 die Unabhängigkeit von Spanien zu erreichen, über den Klassiker José Martí, dem allein er gute zehn Seiten widmet, bis zum Angriff auf die Moncada – Kaserne 1953, den er etwas hochgegriffen als Beginn der castristischen Revolution bezeichnet, gelingt es ihm gut, die Denkweise und Motivation der bestimmenden Persönlichkeiten darzustellen. Leider vermeidet Massari es jedoch, den Brückenschlag zur politischen Theorie der Bewegung des 26. Juli zu vollziehen: Interessant wäre es in diesem Zusammenhang gewesen, zu erfahren, was etwa von den Ideen eines Julio Antonio Mella, der 1925 die KP Kubas gründete, was andererseits vom Gedankengut Eduardo Chibás’, des Gründers der orthodoxen Partei, der auch Fidel Castro entstammt, in die Revolution einfloß, was davon heute wie bewertet wird.
Massaris Arbeit gibt einen guten Überblick über antiimperialistische und revolutionäre Strömungen in Kuba, wobei der Schwerpunkt auf den 80 Jahren zwischen dem Beginn des zehnjährigen Krieges und dem Ende des zweiten Weltkrieges liegt. Alle anderen Bereiche der Kubanischen Geschichte werden nur kurz gestreift. Ein etwas weniger prätentiöser Titel, der dies auch zum Ausdruck brächte, hätte dem Werk besser angestanden.

Roberto Massari: Geschichte Kubas. Von den Anfängen bis zur Revolution. 157 ; 157 Seiten, Frankfurt/Main (dipa) 1992, ISBN 3-7638-0181-2

Verjüngung der Macht

Die Stunde der Pensionierungen

Schon bei den Wahlen zur Nationalversammlung Ende Februar war der personelle Austausch um einiges überzeugender als die konkurrenzlose Wahl mit vorprogrammierter Komplett-Zustimmung. Nur 18 Prozent der neuen Abgeordneten gehörten bereits der vorigen Asamblea Nacional an. Und das Durchschnittsalter der neuen Nationalversammlung liegt bei gerade 42 Jahren.
Und im Vorfeld der Wahlen hatte auch Castro selbst festgestellt, daß er nicht mehr der jüngste sei. Auch Marathonläufer werden müde, so der Comandante, und er sei in diesem Marathon der kubanischen Revolution schon lange gelaufen. Ein kraftvolles Bild, und die Phrase ging um die Welt. Die erste Tat der neuen Nationalversammlung machte aber die Grenzen der kubanischen Verjüngungskur deutlich: Präsident Fidel Castro und Vize-Präsident Raúl Castro wurden für weitere fünf Jahre im Amt bestätigt. Erst unterhalb der Castro-Brüder schlug die Stunde der Pensionierungen: Die drei weiteren Vize-Präsidenten Kubas, die Revolutionsveteranen Osmany Cienfuegos, Carlos Rafael Rodríguez und Pedro Miret, mußten ihre Plätze räumen.
Das Personalkarussel in Havanna war aber noch für eine andere Überraschung gut: Ricardo Alarcón, der erst im vergangenen Juni zum kubanischen Außenminister aufgestiegen war, tauscht diesen Posten ein und wird neuer Vorsitzender der Nationalversammlung. Von der politischen Bühne ab tritt damit der bisherige Vorsitzende und einstige Justizminister, Brigade-General Juan Escalona, der als Wortführer der Anklage im (Schau-)Prozeß gegen Armeegeneral Ochoa vor fast vier Jahren zu unrühmlicher Bedeutung gekommen war. Sein Nachfolger Alarcón gehört zwar nicht zu der “jungen Garde” Havannas, galt aber vielen Beobachtern ob seiner langen diplomatischen Karriere – zuletzt als Kubas Botschafter bei den Vereinten Nationen – und seiner großen Erfahrung speziell in den Beziehungen zwischen Kuba und den USA als eine der zentralen Figuren in Kubas politischer Zukunft. Erst vor einem halben Jahr war er in das Politbüro aufgestiegen.
In der Vergangenheit war der Vorsitz über die machtlose, nur zweimal im Jahr für einige Tage zusammentretende Nationalversammlung kaum mehr als ein ehrenwerter Abschiebeposten (so etwa als 1976 Außenminister Raúl Roa zum Vize-Präsidenten der Asamblea Nacional wegbefördert wurde). Die Umsetzung des gerade im Ausland relativ respektierten Diplomaten Alarcón kann aber auch auf den Versuch hinweisen, die Nationalversammlung aufzuwerten und ihr – wie dies in der offiziellen Wahlkampagne auch immer wieder verkündet worden war – ein Minimum an Eigenständigkeit und politischem Gewicht im kubanischen System zu geben.
Die zweite große Überraschung dann war die Ernennung des 37jährigen Chefs des Kommunistischen Jugendverbands, Roberto Robaina, als Nachfolger Alarcóns im Außenministerium. “Eine kühne Entscheidung”, wie die Parteizeitung Granma ihren LeserInnen erklärte. Schließlich verfüge Robaina, so wurde offen eingeräumt, nur über wenig diplomatische oder außenpolitische Erfahrungen. Und auch “Robertico” Robaina machte nach seiner Ernennung kein Hehl daraus, daß er bislang alles andere als ein Mann der Außenpolitik war. Diese Aufgabe habe ihn völlig unvorbereitet “über Nacht” ereilt, so Robaina. Aber als “Soldat der Revolution” werde er sich der Verantwortung stellen.

Der Angola-Krieg: Feuertaufe für die Kader der jungen Generation

Geboren in dem Jahr, in dem Castros Trupp von Guerrilleros in Kuba landete, verkörpert Robaina die Musterkarriere der Nach-Revolutions-Generation: Vorsitzender des Studentenverbands (FEU), Zweiter Sekretär des Kommunistischen Jugendverbands (UJotaCé), ab 1986 Erster Sekretär, Aufnahme ins Zentralkomitee im gleichen Jahr, seit 1991 jüngstes Mitglied im Politbüro der KP. Unverzichtbar für Robainas rasanten Aufstieg auch der “internationalistische” Einsatz mit den kubanischen Truppen in Angola: Loyalitätsprobe und Feuertaufe für die Kader der jungen Generation, die nicht durch die Revolution selbst “im Krieg gestählt” werden konnten.
In einem Moment, in dem eine Normalisierung der Beziehungen zu den USA für jegliche Zukunftsperspektive Kubas unabdingbar ist, bringt Robainas Ernennung zum Außenminister ihn endgültig in die erste Riege der kubanischen Staatsführung – und an die Seite des 40jährigen Carlos Lage, seinem Vorgänger als Chef der Kommunistischen Jugend, der als Castros Verantwortlicher für die Wirtschaftspolitik einen der derzeit wohl entscheidendsten Posten innehat. Im vergangenen Jahr ist Lage in der politischen Hierarchie Havannas zum “dritten Mann” hinter den Castro-Brüdern aufgestiegen, und die Nationalversammlung wählte ihn nun auch zu einem der drei offiziellen Vize-Präsidenten hinter Fidel und Raúl.
Den massiven Veränderungen in der “materiellen Basis” Kubas seit dem Fall der ost-europäischen Verbündeten folgen so bislang weniger Veränderungen in den Strukturen des politischen Überbaus, als vielmehr in dessen personeller Besetzung. (Militär und Innenministerium blieben von der Verjüngungskur – so weit sichtbar – ausgenommen; hier hatte Armee-Chef Raúl Castro den Prozeß gegen Ochoa zu einer umfassenden Bereinigung seiner Mannen genutzt. Und der damals von ihm als Innenminister eingesetzte Armee-General Abelardo Colomé Ibarra wurde jetzt ebenfalls zu einem der Vizepräsidenten des Landes befördert.)
Die Folge aus diesen Entwicklungen bleibt unklar. Zum einen hat Fidel Castro seine persönliche Machtfülle im vergangenen Jahr noch ausgeweitet, und in vielem scheint die Antwort des kubanischen Revolutionsführers auf den Niedergang des real-existierenden Sozialismus tatsächlich im Rückfall auf die traditionellen Muster lateinamerikanischer Caudillo-Herrschaft zu bestehen.
Andererseits scheint der Aufstieg der jungen Kader, deren Karriere in der Kommunistischen Staatspartei nicht nur Idealismus, sondern auch Opportunismus zur unverzichtbaren Voraussetzung hatte, nur der Vorbote weiterer und tiefergreifender Veränderungen zu sein. Der mexikanische Businessmann Mauricio Fernández Garza, der das mit einem offiziellen Volumen von einer Milliarde Dollar bislang größte Joint-Venture-Unternehmen mit Kuba betreibt und zur Zeit dabei ist, die erste ausländische Bank in Kuba auf den Weg zu bringen, formuliert diese Perspektive in klarer Sprache: Carlos Lage ist für ihn “praktisch eine Art Premierminister” und “Anführer derer, die ich ‘Reformer’ nenne”. Des Großinvestors knappe Einschätzung des derzeitigen Kurses: “Kuba ist in offenem Übergang zum Kapitalismus.”

Mr. Clean, Mr. Washington und Mr. Broker

Nationale und internationale Reaktionen

Ob der Wunschkandidat der USA bei den Präsidentschaftswahlen von 1990 die Aufhebung des von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) verhängten Embargos erreichen wird, muß angesichts der fast einhelligen internationalen Ablehnung seiner Wahl zumindest vorerst bezweifelt werden. Mit Ausnahme des Vatikans weigerten sich alle Staaten, VertreterInnen zur offiziellen Amtseinführung Bazins zu schicken.
Auch innerhalb Haitis stieß Bazins Ernennung zunächst auf breite Ablehnung. Nach der Bestätigung durch das Parlament hielten die Proteste der haitianischen Bevölkerung an. Während Teile der “sozialistischen” PANPRA offenbar mit den neuesten Entwicklungen zufrieden sind, bemüht sich die dem legitimen Staatspräsidenten Aristide nahestehende FNCDH (Nationale Front für Veränderung und Demokratie), nach außen ein geschlossenes Bild der Ablehnung zu geben. Ein Senatsmitglied, das für Bazin gestimmt hatte, wurde aus der Partei ausgeschlossen. Jedoch weisen Berichte aus Haiti darauf hin, daß es auch innerhalb der FNCDH Sympathien für das Regierungsprogramm des neuen Ministerpräsidenten gibt.

Herausragende Eigenschaft: Politische Flexibilität

Mit Bazin haben die Militärs einen Mann zum Ministerpräsidenten erkoren, der bereits in der Vergangenheit bewiesen hat, sich mit den jeweils dominierenden Machtinteressen in Haiti arrangieren zu können. Als Finanzminister unter dem Diktator Duvalier machte sich Bazin mit einer Anti-Korruptionskampagne einen Namen: Mr. Clean. Ebensowenig brachte der Sturz Duvaliers 1986 Bazin in Verlegenheit. Durch seine enge Anlehnung an die USA galt Bazin in seiner neuen Rolle des Mr. Washington als Fürsprecher des sicheren Übergangs Haitis in eine Demokratie westlichen Zuschnitts. 1990 bei seiner Kanditur bei den Präsidentschaftswahlen gegen Aristide klar gescheitert, spielte Bazin auch nach dem Militärputsch vom vergangenen September keine Hauptrolle auf der politischen Bühne, bis er vor wenigen Wochen als Kandidat für das Ministerpräsidentenamt in die Diskussion gebracht wurde. Als – nach eigenen Worten – ehrlicher “Makler” für die Interessen aller HaitianerInnen stellte er unter seinem neuen Pseudonym, Mr. Broker, am 12. Juni sein neues Kabinett vor, in dem ausschließlich PolitikerInnen stehen, die den Staatsstreich unterstützt haben.

“Der Putsch war ein Betriebsunfall auf dem Weg zur Demokratie”

Mit den Worten, der Putsch sei nur ein Betriebsunfall auf dem Weg zur Demokratie gewesen, machte Bazin klar, daß er die Position der Militärs vorbehaltlos anerkennen würde. Gleichzeitig erklärte Mr. Broker seine Bereitschaft, mit Aristide über dessen Rückkehr zu verhandeln. Zentrale Bedingung sei allerdings Aristides Verzicht auf die Forderung, Raoul Cédras, den Anführer des Putsches, als Oberkommandierenden der Streitkräfte zu entlassen. Angesichts dieser nahezu unzumutbaren Bedingung wird die Strategie der MachthaberInnen in Port-au-Prince überdeutlich. Sollte Aristide an seinen Forderungen festhalten, könnte er der Weltöffentlichkeit als derjenige vorgeführt werden, der jede Lösung der Krise in Haiti blockiert. Für den eher unwahrscheinlichen Fall der Zustimmung Aristides wäre die Spaltung der Lavalas-Bewegung absehbar, während gleichzeitig ein seiner Kompetenzen beraubter Präsident als Beruhigungsmittel für die Bevölkerungsmehrheit noch immer tauglich wäre.
Doch ganz egal, welchen Verlauf die Verhandlungen mit Aristide nehmen werden: die Machtcliquen in Port-au-Prince spielen erneut auf Zeit und hoffen, zumindest mittelfristig die internationale Anerkennung des gewaltsam hergestellten Status quo zu erreichen. Nach der Aufhebung des OAS-Embargos könnte Bazin dann endlich sein Wirtschaftsprogramm in die Tat umsetzen, das einerseits umfassende Privatisierungen und andererseits den Aufbau einer Exportwirtschaft durch die Ansiedlung von Billiglohnindustrien vorsieht. Um sich dabei der Hilfe der USA zu vergewissern, hat Bazin bereits von der Möglichkeit eines US-Militärstützpunktes im Norden Haitis als Ersatz für das kubanische Guantánamo gesprochen.

Verstöße gegen das Embargo

Bisher zeigten die Präsidenten der amerikanischen Staaten offiziell wenig Bereitschaft, das Embargo zu lockern. Die New York Times berichtete in ihrer Ausgabe vom 6. Juni sogar über Pläne, eine multinationale Eingreiftruppe nach Haiti zu entsenden. US-Präsident George Bush dementierte diese Berichte umgehend und sprach sich stattdessen dafür aus, das Handelsembargo zu verschärfen. Bei einem Treffen in Caracas am 14. Juni arbeiteten die Präsidenten Venezuelas, Frankreichs und der USA, Carlos Andres Pérez, François Mitterand und George Bush, sowie Brian Mulroney, der Ministerpräsdent Kanadas, neue Pläne zur strikteren Anwendung des Embargos aus. Die mit Abstand skurrilste Begründung für diese Maßnahme gab Andres Pérez, der die Putschversuche in Peru und in seinem eigenen Land auf den “perversen Einfluß” der PutschistInnen in Port-au-Prince zurückführte.
Nach Angaben des US-Bundesrechnungshofes in Washington wird das Embargo fortwährend durchbrochen. Nicht nur Staaten der Europäischen Gemeinschaft, die sich offiziell nicht dem OAS-Embargo angeschlossen hat, verstießen gegen die Handelsblockade, sondern auch Mitgliedsländer der OAS. Brasilien liefert Stahl, Argentinien Chemikalien, Kolumbien Öl, Venezuela Verbrauchsgüter und die Dominikanische Republik Reifen und Dieselmotoren.

Kritik an der Flüchtlingspolitik der USA

BeobacherInnen in Washington sehen im Eintreten der Bush-Administration für eine schärfere Handhabung des Embargos ein Manöver, das von der Auseinandersetzung um die eigene Flüchtlingspolitik ablenken soll. Nachdem Bush die Schließung des US-Stützpunktes in Guantánamo für haitianische Flüchtlinge verfügt hatte, mehrten sich die kritischen Stimmen innerhalb des Kongresses, die die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme bezweifelten. Sie verwiesen darauf, daß die EinwanderungsbeamtInnen in Guantánamo einem Drittel der Flüchtlinge gestattet hätten, einen Asylantrag in den USA zu stellen. Mit der Schließung Guantánamos und dem Abfangen von Flüchtlingsbooten in internationalen Gewässern verstoßen die USA sowohl gegen das eigene Einwanderungsgesetz als auch gegen die internationale Flüchtlingskonvention. Auch der zynische Ratschlag des Regierungssprechers Boucher, die HaitianerInnen könnten schließlich direkt in der US-Botschaft in Port-au-Prince einen Asylantrag stellen, hat den Protest von Oppositionellen und Menschenrechtsgruppen in den USA entfacht. Sie verweisen darauf, daß die Botschaften in der haitianischen Hauptstadt einerseits durch hohe Zäune und andererseits durch Kontrollen des Militärs absolut unzugänglich sind. Es gibt eine Vielzahl von Berichten über Menschen, die beim Versuch, in die US-Botschaft zu gelangen, verhaftet wurden und seitdem nicht wieder aufgetaucht sind.
Auch die Staaten in der Karibik reagierten auf den Beschluß der USA, Guantánamo zu schließen, mit Ablehnung. “Die US-Entscheidung könnte ein großes Problem für andere Länder schaffen”, kommentierte ein Angehöriger des Außenministeriums von Jamaika. Die Bahamas haben ihre Küstenwache angewiesen, Flüchtlinge noch auf hoher See abzufangen und zurück nach Haiti zu schicken. Menschen, denen es trotzdem gelingt, die Bahamas zu erreichen, werden unter dem Vorwurf der illegalen Einreise inhaftiert. Auch Kuba kündigte an, haitianische Flüchtlinge auf dem Luftweg zu repatriieren.

Bazin: Der Weizsäcker der Karibik?

Nachdem nun nahezu alle Fluchtwege abgeschnitten sind, hat sich die Lage der HaitianerInnen rapide verschlechtert. Das OAS-Embargo hat mehr als 150.000 Menschen den Arbeitsplatz gekostet, ohne die wirtschaftlichen Eliten des Landes empfindlich zu treffen. Infolge einer Dürrekatastrophe steht dem Land eine Mißernte bevor, die unausweichlich zu einer Hungersnot führen wird, wenn die internationale Staatengemeinschaft nicht ihre Hilfslieferungen ausdehnt.
Die Militärs reagieren mit unverminderter Brutalität auf jede Form des Protests gegen die neuen MachthaberInnen. ZeugInnen berichten immer wieder von nächtlichen Gewehrsalven in den Armenvierteln der Städte sowie von Leichen, die am nächsten Morgen auf offener Straße gefunden werden. Trauriger Höhepunkt der Repression war ein Anschlag auf “La Fami Se Lavi”, ein Heim für Straßenkinder, das von Aristide eingerichtetet worden war und am Abend der Bestätigung Marc Bazins durch den haitianischen Senat in Flammen aufging.
Während sich auf der politischen Bühne mit der Wahl Bazins vordergründig betrachtet Bewegung ergeben hat, droht die Krise für die Bevölkerung Haitis unvorstellbare Ausmaße anzunehmen. So wird der deutsche SPIEGEL wohl noch lange vergeblich nach einem “Weizsäcker der Karibik” suchen müssen, der den Weg aus der Krise weist. Marc Bazin, alias Mr. Clean, alias Mr. Washington, alias Mr. Broker, taugt zu wenig mehr als zu einem karibischen Mr. Zelig, einem politischen Chamäleon, das sich geschickt jedem politischen Wandel anzupassen weiß.

BRDDR: Dem Rostocker Lateinamerika-Institut droht die Abwicklung

Das Lateinamerika-Institut in Rostock, das nach Prüfung aller Unterlagen zur schon begonnenen Umstrukturierung von Lehre und Forschung durch die frei gewählten Gremien der Universität der Hansestadt als ein selbständiger Fach­bereich bestätigt worden war, tauchte Anfang Dezember 1990 auf der Liste der in Mecklenburg-Vorpommern “abzuwickelnden” Einrichtungen des Hochschul­wesens auf. Damit droht einer in ber 30 Jahren gewachsenen, international re­nommierten Lehr- und Forschungsstätte das Aus. Gerade heute, nach der Auf­hebung des Ost-West-Gegensatzes und dem verheerenden Krieg am Golf, müßte der Blick auf den sich seit Jahren verschärfenden Nord-Süd-Konflikt freigegeben sein. Es ist unerklärlich und widersinnig, in dieser Situation ein sich der Ent­wicklungsländerproblematik annehmendes Zentrum einzustampfen.
Die Einrichtung wurde 1958 als Romanisches Institut gegründet. Fünf Jahre spä­ter enstand daraus das Lateinamerika-Institut. Im Rahmen der dritten Hoch­schulreform der DDR von 1968, die insgesamt zu ähnlich unverantwortlichen dirigistischen Eingriffen in die Bildungslandschaft im Ostteil Deutschlands fhrte, wie sie das beabsichtigte “Abwicklungs”verfahren unter anderen Vorzei­chen wieder zum Inhalt hat, wurde das Institut in “Sektion Lateinamerikawissen­schaften” umbenannt. Heute bestehen hier zwei Lehrsthle für Ökonomie mit den Schwerpunkten “Volkswirtschaft der Länder Lateinamerikas” sowie “Entwicklungstheorie und Entwicklungspolitik in Lateinamerika”, zwei Lehr­sthühle für Geschichte, die sich einmal auf die historischen Entwicklungen in der Kolonialzeit und im 19.Jahrhundert, zum anderen auf die Geschichte Lateiname­rikas im 20.Jahrhundert konzentrieren, die selbstständigen Fachgebiete für Philo­sophie, Soziologie und Literatur Lateinamerikas sowie der Wissenschaftsbereich Hispanistik-Lusitanistik. Kleinere Gebiete wie Staats- und Völkerrecht, ökono­mische Geographie, Wirtschaftsgeschichte, Ökologie, indianische Sprachen und Kulturen sowie Kirche und Religion sind diesen Lehrstühlen bzw. Fachgebieten untergeordnet.
Viele der vielfältigen ein breites Wissenschaftsspektrum abdeckenden Arbeiten konnten seit 1965 im “Semesterbericht der Sektion Lateinamerikawissenschaften”, seit 1987 Zeitschrift “Lateinamerika”, veröffentlicht werden. Sie ist inzwischen die am längsten erscheinende Fachzeitschrift zu Lateinamerika im deutschsprachi­gen Raum. Eine wichtige Grundlage für Forschung, Aus- und Weiterbildung ist die Zweigstelle Lateinamerikawissenschaften der Universitätsbibliothek. Auf der Grundlage von Tauschbeziehungen und Schenkungen lateinamerikanischer wis­senschaftlicher Einrichtungen und diplomatischer Missionen wurden unter denkbar schwierigen finanziellen Bedingungen und bei zahlreichen bürokrati­schen Hindernissen mehr als 43.000 bibliographische Einheiten zusammenge­tragen. In mühevoller Kleinarbeit, d.h. ohne moderne technische Hilfsmittel ent­stand zudem eines der umfangreichsten zeitgeschichtlichen Lateinamerika-Ar­chive in Deutschland.
Das Institut unterhält wissenschaftliche Beziehungen in ber 40 Länder. Wissen­schaftlerInnen weilten zu Studien- und Vortragsreisen sowie zur Ausbung von Gastdozenturen in den meisten Ländern des Subkontinents, in den USA und ver­schiedenen Staaten Ost-und Westeuropas. Die Sektion ist Mitglied der europäi­schen Lateinamerikanistenvereinigung CEISAL und hat den Antrag auf Auf­nahme in den deutschen Verband ADLAF gestellt. Einzelne HistorikerInnen ge­hören dem europäischen Fachverband AHILA an. Gäste aus zahlreichen Staaten besuchten das Institut. Seit die DDR in den 80er Jahren ihre schizophrene Ab­schottungspolitik schrittweise auflockerte, verbreiterten und vertieften sich auch die Kontakte zu KollegInnen im Westteil Deutschlands.

Keine absatzgerechte AbsolventInnenproduktion mehr

Schwerpunkt der Arbeit der Sektion ist die Ausbildung von StudentInnen, die immer einer breiten Interdisziplinarität Rechnung trug. Wie in der Planwirtschaft blich, wurde die Zahl der Immatrikulationen auf den voraussichtlichen Absatz von AbsolventInnen am Ende der fnfjährigen Studienzeit abgestimmt. Die be­grenzte Außenwelt der DDR erlaubte nur jedes zweite Jahr eine Einschreibung auf der Basis von Sprachprüfungen und Eignungsgesprächen. Von 1990 an sollte nun jährlich immatrikuliert werden. Der Numerus Clausus wurde abgeschafft. Bewerbungen aus den alten Bundesländern, in denen die Hörsäle aus den Näh­ten platzen, liegen bereits vor. Das Institut hat in den vergangenen Monaten eine umfassende Konzeption zur Neugestaltung des Studiums ausgearbeitet. Danach soll es zukünftig einen Hauptstudiengang (Lateinamerikastu­dien/Entwicklungspolitik), verschiedene Nebenstudiengänge mit vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten, ein postgraduales Studium und vielfältige Weiter­bildungsangebote geben. Da die Strukturkommission noch dar­ber zu entschei­den hat, soll hier nicht näher darauf eingegangen werden. Auf jeden Fall möchte das Institut an der bewährten Praxis festhalten, die StudentInnen frühzeitig und zielgerichtet in die Hochschulforschung einzube­ziehen; für diese Arbeit standen ihnen immer vorlesungsfreie Ausbildungsab­schnitte zur Verfügung. Wenn Kul­tusminister Oswald Wutzke eine “notwendige politische Säuberung” und ein in allen Bundesländern vergleichbares akademi­sches Niveau fordert, kann ihm nur zugestimmt werden. Der demokratische Neubeginn kann jedoch nicht aus Pau­schalverurteilungen von der Landeshaupt­stadt Schwerin aus erwachsen. Ein “Abwicklungs”verfahren wird nicht mehr, sondern weniger Ehrlichkeit und Transparenz im Umgang miteinander schaffen. Es ignoriert die von innen und unten begonnenen Erneuerungsprozesse, schafft neue Anpassung, wo individu­elle Auseinandersetzung mit dem eigenen Op­portunismus, der eigenen Mitver­antwortung als Rädchen im Getriebe eines Sy­stems nottun wrde. Während es innerhalb der “abzuwickelnden” Bereiche alle MitarbeiterInnen ber einen Kamm schert, verletzt es an den Hochschulen insge­samt das im Grundgesetz fixierte Gleichheitsgebot. So werden Bauernopfer be­nannt, so als ob es die vielzitierten “alten Seilschaften” nur in ausgewählten Sek­tionen gegeben hätte.

Reform von innen ist möglich

Nicht um eine sentimental rückwärtsgewandte Kritik an geplanten und ohne Frage notwendigen strukturellen und personellen Veränderungen an den Hoch­schulen ging es in dem offenen Brief, der durch StudentInnen der Lateinameri­kanistik an Bundespräsident Dr. Richard von Weizsäcker in Bonn bergeben wurde, bei ihren Gesprächen mit Ministern der Landesregierung und schließlich – in einem verzweifelten Zustand von Ohnmacht und Selbstzweifeln und keines­falls unberlegtem Revoluzzertum – bei ihrem Hungerstreik im Dezember. Sie klagten nicht mehr als die in einem Rechtsstaat notwendigen gleichen Bedingun­gen fr alle, Mitbestimmung und die Wahrung der Wrde des Menschen ein. Dabei waren die StudentInnen von anbeginn peinlich bemüht, nicht den Ein­druck zu erwecken, sie ließen sich vor einen Karren spannen, den sie nicht zu ziehen bereit waren. Als durch den “Abwicklungsbeauftragten” festgelegt wurde, daß zur Absicherung der Ausbildung der “jetzt Studierenden” am Lateinamerika-Institut 13 Feststellen verbleiben sollten, drückten die StudentInnen unmißver­ständlich aus, wen sie von den Lehrkräften für die fachlich besten und integer­sten halten und wen sie nicht weiter akzeptieren wollen. Im Ergebnis von ehr­lichen und in der Sache harten Auseinandersetzungen wurden diese Stellen an einen von ehemals vier Professoren, drei von fünf DozentInnen, vier von sechs OberassistentInnen, drei von zehn AssistentInnen und zwei von acht LehrerInnen im Hochschuldienst vergeben. Gewiß, diese personellen Konse­quenzen kamen spät, aber schließlich sind sie auch an die Vorgabe der künftigen Größe des Instituts gebunden. Doch viel wichtiger ist es, daß sie in der Tat von innen heraus geleistet wurden.

Beitrag zum Export der Weltrevolution?

Es bleibt die Frage, warum die Sektion Lateinamerikawissenschaften zu den Bau­ernopfern im Hochschulwesen Mecklenburg-Vorpommerns gehören soll. Fragt man nach, hört man vor allem, das Institut habe zum Export der Weltrevolution beitragen wollen. Es soll gar nicht in Abrede gestellt werden, daß solche und ähnliche Gedanken in den Köpfen einiger SED- und Staatsgrößen gespukt haben mögen, als im Angesicht der sozialen und nationalen Bewegungen in den Ent­wicklungsländern an der Wende zu den 60er Jahren die regionalwissenschaft­lichen Institute (neben der Rostocker Sektion die Afrika- und Nahostwissen­schaften in Leipzig, die Asienwissenschaften in Berlin und die Nordeuropawis­senschaften in Greifswald) gegründet wurden. Eigentlicher Hintergrund waren jedoch die zunehmenden kulturellen, kommerziellen und schließlich auch diplomatischen Beziehungen der DDR zu den Ländern der “Dritten Welt”. Der Bedarf an gut ausgebildeten Fachkräften mit breiten Regional- und Sprachkennt­nisssen wuchs beträchtlich. Kontakte zu staatlichen- und Parteiinstitutionen waren angesichts zahlreicher Auslandsverbindungen, der Ausrichtung von nationalen und internationalen wissenschaftlichen Veranstaltungen zu außenpo­litisch, außenwirtschaftlich, und kulturpolitisch relevanten Fragen, die allein durch die Gästeliste immer einen gewissen offiziellen Charakter hatten und da­durch in die Schlagzeilen kam, der Ausbildung von AbsolventInnen für staatlich- gesellschaftlichen Bereiche (nur im Ausnahmefall aber – ein weiteres Vorurteil – für den diplomatischen Dienst) und der mehr oder weniger vorausgesetzten – obgleich nie zwingend notwendigen – Parteimitgliedschaft der Lehrkräfte gege­ben. Hinzu kam sicherlich auch das subjektive Selbstverständnis die Völker Lateinamerikas auf dem Wege zu ihrer “zweiten, wahren Unabhängigkeit” soli­darisch begleiten zu wollen. Die Sektion war jedoch immer eine rein universitäre Einrichtung und folglich auch nur dem Hochschulministerium unterstellt, nicht dem Außenministerium oder sogar dem Parteiapparat. Wenn behauptet wird, die Sektion habe Diversanten (was ist das? d.K.), Guerillas, Terroristen, o.ä. ausgebildet, ist dies böswillige Irreführung der Öffentlichkeit. In der gesamten Geschichte der Bil­dungseinrichtung waren lediglich ein polnischer, ein ungarischer und zwei bul­garische StudententInnen immatrikuliert. Die Hilfe des Instituts für Kuba und Nikaragua beschränkte sich auf Solidaritätsaktionen im Rahmen der Universität, z.B. lateinamerikanische Abende, deren Erlös gespendet wurde, Dolmetscherein­sätze von StudentInnen und jungen AssistentInnen in einem DDR-Krankenhaus in Managua und Vorträge und Gastlehrtätigkeit von MitarbeiterInnen im Hoch­schulwesen. Diese Unterstützung zur Rechtfertigung von “Säuberungs”aktionen anführen zu wollen, so die “Norddeutschen Neuesten Nachrichten” am 21.12.1990, “kann nur als barbarischer Akt bezeichnet werden”.

Die Sache mit den Reisen…

Wir haben in einem Land gelebt, in dem die Mehrheit der Bevölkerung einge­sperrt war. So mußte jedes Sprachstudium von StudentInnen in Havanna und jede Reise von MitarbeiterInnen der Lateinamerikanistik auch völlig verständlich Neid und Zorn hervorrufen, der teilweise bis heute nachwirkt. Es sollten jedoch drei Aspekte beachtet werden: Erstens gehört die unmittelbare Kenntnis Latein­amerikas und seiner Völker zum Berufsbild des Lateinamerikanisten. Davon hing der Grad der Sprachbeherrschung und letztendlich auch die Glaubwürdigkeit der wissenschaftlichen Arbeit ab. Sicher hat das Institut alle ihm gebotenen Mög­lichkeiten, die mit denen im “Westen” nie vergleichbar waren, genutzt, man sollte es jedoch nicht für das geschlossene System des Stalinismus verantwortlich machen. Zweitens hat jeder, der eine Studienreise machen konnte, anschließend im Kreise seiner eigenen Familie, seiner Freunde und KommilitonInnen erlebt, wie schmerzhaft es ist, Eindrücke und Begeisterung nicht teilen zu können. Das freie Reisen für alle, unabhängig von vorherigem Wohlverhalten, und die unbe­spitzelte, persönliche Fortführung von Kontakten in die Gastländer wiegen in der Werteskala schwer. Und drittens darf nicht vergessen werden, daß Reisen auch innerhalb des Instituts ungleich verteilt waren, und dies keineswegs nur wegen der Leistung. Viele WissenschaftlerInnen haben das Land, ber das sie arbeiten, nie gesehen. Auch bei der Lateinamerikanistik gab es als “Reisekader” gesperrte MitarbeiterInnen.
Gewiß waren auch die Regionalwissenschaften wie alle Geisteswissenschaften (und nicht nur sie!) marxistisch orientiert. Doch will man berhaupt eine Dif­ferenzierung in der geistes- und sozialwissenschaftlichen Landschaft der ehema­ligen DDR vornehmen und eine Evaluierung nicht schlechthin zum Politikum werden lassen, kann diese nur zwischen denen erfolgen, die Marx zum Dogma verkommen ließen und Fakten nur passend zurecht bogen, um bereits vorher feststehende Schlußfolgerungen und Kategorien “illustrieren” zu können; und jenen, die Marxismus als Methode verstanden und auch andere, moderne Strö­mungen der Philosphie und Gesellschaftstheorie zur Kenntnis nahmen und zu­mindest in die Lehre einbauten (Publikationen waren stärker der Zensur unter­worfen). Letzteren dürften schon früher Zweifel an der “real-sozialistischen” Politik auch und gerade gegenber den Entwicklungländern, gekommen sein. Es handelt sich um die Unterscheidung zwischen Propaganda nach Parteivorgaben, wie sie im Bereich der DDR- und SED-Geschichte überwog (auch hier sind Pau­schalverurteilungen sicher fehl am Platz) und Wissenschaftlichkeit, wie man sie der Lateinamerikanistik bei allen notwendigen Differenzierungen bestätigen muß. Studienpastor Dietrich beobachtete diesen Differenzierungsprozeß schon vor Jahren. Was die StudentInnen der Sektion anbetrifft, so waren sie von jeher ein sehr kritisches Potential. Insbesondere in den Jahren der perestroika und glasnost’ empfanden und artikulierten sie immer deutlicher und öffentlicher den augenscheinlichen Widerspruch zwischen offizieller Propaganda und erlebter Wirklichkeit in der DDR. Mit der Konsequenz, daß sich der Zentralrat der FDJ eigens in Rostock mit den renitenten Lateinamerikanistik-StudentInnen “beschäftigte”. Ohne den gewünschten Erfolg der “Einsicht” und Katzbuckelei.
Die Rostocker WissenschaftlerInnen haben die Hoffnung auf den Fortbestand der traditionsreichen Institution nicht aufgegeben. Aber solange keine Entscheidung ber die Möglichkeit der Neuimmatrikulation gefallen ist und der Zustand all­gemeiner Verunsicherung andauert, dürfte sich kaum ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin auf größere, langfristige Forschungsvorhaben einlassen. Viele Wis­senschaftlerInnen, nicht zuletzt die talentierten jungen Leute, die für ein Viertel des Gehaltes ihrer westlichen KollegInnen und selbst nur ein Bruchteil dessen, was mancher Arbeiter und Arbeiterin in den neuen Bundesländern erhält, in der Hoffnung in Rostock geblieben sein, daß man gerade hier ihre Arbeit braucht und schätzt, würden dann gewiss verbittert weggehen. Sie finden auch in Eng­land, Frankreich oder den USA einen Markt. Die Zeit drängt, Solidarität ist ge­fragt.

Filme aus Mexiko und Kuba auf der Berlinale

Bemerkenswert ist, daß drei dieser Filme von Frauen gemacht wurden: `Intimidad` von Dana Rotberg, `Lola` von María Navaro und `Los pasos de Ana` von Marisa Sistach. Denn die Möglichkeiten, in Mexiko Filme herzustellen, sind zwar allgemein äußerst triste, “für Frauen ist das aber noch abwegiger” meinte Dana Rotberg in der an ihren Film anschließenden Diskussion. Es gibt in Mexiko zwar kein Gesetz, welches den Frauen verbietet, Filme zu machen, die gewerkschaftlichen Strukturen greifen mit ihrer Machismo-Haltung aber so gut, daß es Frauen einfach nie gelang, eigene Filme zu realisieren. Erst durch die gesellschaftliche Veränderung der letzten Jahre wurde es einigen Frauen seit Anfang der 80er Jahre “erlaubt”, an der CUEC oder der staatlichen Filmschule CCC zu studieren.
`Lola` gilt als einer der besten mexikanischen Filme der letzten Jahre. Die Geschichte der jungen Straßenhändlerin Lola und ihrer 6-jährigen Tochter Ana spielt mitten im noch vom Erdbeben gezeichneten Mexico-City. Es war der Regisseurin María Navaro wichtig, endlich diese “total verrückte Stadt, voller Angst, Abhängigkeit, Frustration und Ohnmacht” zu zeigen. Lolas Haltung bricht mit dem abgedroschenen Bild von der ewig opferbereiten mexikanischen Mutter. Nachdem ihr Freund sie verlassen hat versucht sie sich in verschiedenen Beziehungen auszuleben, vernachlässigt ihre kleine Tochter, ist in keinster Weise die perfekte alleinstehende Frau, die uns sonst so gerne vorgeführt wird. Der Film ist voller wunderschöner, witziger Szenen: Lola sitzt allein am Strand und ist eigentlich tottraurig und verwirrt, als sie einen alten Mann beim Baden beobachtet. Er springt in die kniehohen Wellen wie ein kleines Kind und dabei rutscht im immer die Badehosen von der knochigen Hüfte. Die fülligen Mamas stehen am Strand und lachen sich halbtot. Der Film ist bis ins kleinste Detail gut gemacht und mensch kann nur hoffen, daß der neue Film von María Navaro, ‘Danzón’ auch bald bei uns zu sehen sein wird.
`Los pasos de Ana` (Annas Schritte) von Marisa Sistach greift eine ähnliche Thematik auf, spielt aber im Mittelstandsbürgertum und hat lange nicht die Präsenz und Kompaktheit von `Lola`. Auch Ana ist eine berufstätige Frau und Mutter zweier Kinder. Sie hält ihren Alltag in einem Video-Tagebuch fest, für sie ist “…mehr als eine bestimmte Art zu leben, eine bestimmte Art zu sehen wichtig”. Der Film räumt dankenswerterweise mit einigen Klischees auf: Anas alltäglicher Kontakt mit dem Machismo verschiedener Männer, die auf sie scharf sind, wird kritisch und lachhaft dargestellt; der beste Freund und Vertraute Anas ist ein Schwuler, welche sonst im mexikanischen Kino nur lächerliche Rollen spielen.
Es ist letztlich ein Film über den Alltag, ohne große Höhepunkte. In dem anschließenden Gespräch betonte Sistach aber noch einmal, daß ihr das unbedingt wichtig sei, ein solches Bild der Frau zu entwerfen, da 90 Filme pro Jahr in Mexiko hergestellt werden, die ein unwirkliches realitätsfernes Bild der Frau zeigen, Kommerzfilme, die stark an US-amerikanische Vorbilder angelehnt sind. Leider hatte der Film ein so geringes Budget, daß es bis heute nicht gelang, eine richtige Leinwandversion herzustellen.
Voyeuristisch, erotisch und erfrischend anders ist dagegen `Intimidad` (Intimität) von Dana Rotberg, denn hier geht es um die Emanzipation eines Mannes. Der alternde frustrierte Schriftsteller Julio endeckt eines Tages durch das von schlampigen Bauarbeitern hinterlassene Loch in seinem Wohnzimmer die sehr verführerische Nachbarin Tere. Es entspinnt sich eine völlig verrückte Liebesgeschichte, die beiden vögeln an jedem nur denkbaren Ort miteinander, denn jede/r von ihnen lebt mit einem eifersüchtigen Ehepartner zusammen. Meisterhaft wird die Rolle von Julio gespielt, aus dem ewig schlecht gelaunten Ehemann wird ein einfallsreicher Liebhaber. Fast beisst sich die Geschichte am Ende in den Schwanz, aber zum Glück bleibt das Ende, wie bei jedem guten Film, dann doch offen.
Bekrittelt wurde vom weiblichen Publikum, warum auch hier keine andere Frauenrolle als die der demütigen, jederzeit bereiten Frau, die für den Mann alles geben will, gezeigt wurde. Woraufhin die Regisseurin zurückschoss, sie hätte gar keine typische mexikanische Frau darstellen wollen (die Protagonistin sieht aus wie ein europäisches Fotomodell) und Tere sei nicht nur das willige Sexualobjekt, sondern durchaus sexuell selbstbewußt und fordernd. Nun ja, daran schieden sich die Geister, aber wie schon gesagt, es ist der Emanzipationsprozess eines Mannes, der hier gezeigt wird.
Soviel zu den Frauenfilmen. Von den männlichen Beiträgen ist unbedingt `La mujer de Benjamin` (Benjamins Frau) von Carlos Carrera zu erwähnen. Der Stoff ist zwar eigentlich sehr ernst, präsentiert wird er aber als witziges Melodram. Die junge Natividad wird in ihrem kleinen, todlangweiligen Dorf von Benjamin, einem älteren, dicklichen Dummkopf entführt, der sich unsterblich in sie verliebt hat. So beginnt ein Kreislauf von gegenseitigen Erpressungen, denn Benjamin wurde bis zu dem Zeitpunkt, da er die junge Frau buchstäblich in sein Haus geschleppt hat, von seiner Schwester Micaela dominiert, die wiederum nicht nur platonisch in den Pfarrer verliebt ist und die Benjamin jetzt, um Macht über sie zu bekommen, mit ihren schwülstigen Liebesbriefen an den Pfarrer erpresst. Natividad will nichts wie weg und zwar am liebsten mit dem Lastwagenfahrer Leandro, der öfter durch das Dorf kommt und damit den Kontakt zur Außenwelt darstellt. Als sich am Ende Benjamin und Leandro, um ihre männliche Ehre zu verteidigen, eine wüste Prügelei liefern, gelingt es Natividad, allein aus dem Dorf zu fliehen.
Und die Moral von der Geschicht`? Die Männer spielen zwar die Machos, die Frauen sind aber einfach schlauer, weil sie nicht ihren Schwanz im Kopf haben. So meinte zumindest eine Mexikanerin nach dem Film völlig begeistert zu mir. Und die muß es ja wissen.
Außerdem liefen im Internationalen Forum noch eine Reihe von mexikanischen Filmen mit völlig unterschiedlichen Themen.
-`Retorno a Atzlán` (Rückkehr nach Atzlán) von Juan Mora Catlett ist der erste Spielfilm, der von den uralten Legenden des präkolumbianischen Mexikos handelt, von den Azteken. Daß der Film auf einer fünfjährigen ethnologischen und ethnographischen Recherche beruht und versucht, diese versunkene Welt authentisch bis ins kleinste Detail zu rekonstruieren, mag ihm noch so hoch anzurechnen sein, für den/die Otto-Normal-ZuschauerIn bleibt es ein schwer zugängliches Ethnologenexperiment.
-`Intimidades en un cuarto de baño` (Intimitäten in einem Badezimmer) von Jaime Humberto Hermosillo kommt wie ein verfilmtes Theaterstück daher, denn der Film besteht aus wenigen Schnitten und einer einzigen Kameraeinstellung. Die Kamera hinter dem Spiegel einer bürgerlichen mexikanischen Familie observiert deren Alltag und Probleme. Schade, daß sich der Regisseur nicht zwischen Komödie oder Tragödie entscheiden konnte.
-`Goitia- un dios para su mísmo` (Goitia-ein Gott seiner selbst) von Diego Lopéz ist ein rundum gelungener und professioneller Film über einen der größten mexikanischen Maler dieses Jahrhunderts, Francisco Goitia.
-`Pueblo de madera` (Dorf aus Holz) von Juan Antonio de la Riva ist ein schöner Film, der sich aus vielen kleinen Geschichten zusammensetzt. Die DorfbewohnerInnen haben eins gemeinsam: ihrer aller Leben dreht sich um Holz, sei es, weil sie selbst oder einer ihrer Angehörigen von dem einzigen Arbeitgeber, der Holzfabrik, abhängig ist.
-Die Kopie von `Rojo amanecer` (Roter Morgen) von Jorge Fons hat Berlin bis heute leider nicht erreicht, sie verschwand nach Angaben des Forums “irgendwo zwischen New York, Frankfurt und Berlin”. Dieser zeitkritische Film spielt am 2.Oktober 1968, auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung und arbeitet das Massaker während der Protestdemonstration anhand einer Mittelstandsfamilie auf. Es ist schwer zu hoffen, daß dieser Film demnächst wieder auftaucht und hier zu sehen sein wird.
Wie waren die Filme nun insgesamt? Schwer zu sagen, denn diese Filme in schneller Reihenfolge hintereinander zu sehen, führt leicht dazu, keinem Werk mehr gerecht zu werden. Dem mexikanischen Kino geht es auf jeden Fall im lateinamerikanischen Vergleich noch ganz gut, qualitativ als auch quantitativ. In fast allen anderen lateinamerikanischen Ländern kommen in einem Jahr nicht mehr als ein oder zwei abendfüllende Kinofilme (von sehenswerter Qualität) zustande und Mexiko bringt es immerhin auf ca. zehn eigenständige Produktionen. Trotzdem muß man sich klar machen, daß alle diese unabhängigen Filme unter größten Schwierigkeiten entstehen.

Ein Film für Leute, die aus dem Rahmen fallen

`Alicia en el pueblo de maravillas` (Alicia im Ort der Wunder) von Daniel Díaz Torres, als einziger kubanischer Film auf der diesjährigen Berlinale und auch der einzige lateinamerikanische Film, der in der hiesigen Alternativ-(?) Presse erwähnt wurde.
Torres übernimmt für seine umfassende Systemkritik die Erzählweise und einzelne Motive aus Lewis Carrols `Alice im Wunderland`. Das Drehbuch entstand in einer Gruppe von jungen kubanischen Satirikern, und das ist dem Film von vorne bis hinten, in jeder Ecke und Ritze anzumerken.
Die Theaterberaterin Alicia kommt in ein Dorf, in dem alles ver¬rückt spielt und sie die einzige Person zu sein scheint, die dort freiwillig hingelangt ist. Alle anderen waren sozial( gemeint ist politisch), auffällig und sind deswegen nach Maravillas zwangsver¬setzt worden. Die Lebensumstände sind wie in jedem erstbesten Alptraum: kotzende Lautsprecher, unsinnige Baustellen, alle Einwohner haben Kleidung aus dem gleichen gelb-weiß bedruckten Stoff – häßlich und schlecht – aber wem erschien eine nächtliche Ungezieferinvasion schon mal in durchnummerierter Form?
Dieser Film ist quietschbunt und voll versteckter und offenbarer Anspielungen auf das in Kuba herrschende Fidel-System. Nach der Uraufführung meinte der anwesende Torres, er wolle mit `Alicia` die Deformation in der Gesellschaft verdeutlichen und man solle doch generell die Realität diverser darstellen. Den meisten Beifall bekam er für seinen Schlußsatz: “Ich habe Angst vor einer Intelligenzia ohne Humor!” Und die hat er in Deutschland wohl zu recht, denn so einen wundersamen Film würde kein deutscher Intellektueller jemals `verbrechen`.

Aristide – ein Priester als Retter der Demokratie

Wenn mensch bedenkt, daß seit Februar 1986 zwei Versuche, freie Wahlen zu organisieren gescheitert sind, grenzt das jetzige Geschehen an ein Wunder: das erste Mal hatten im November 1987 Militärs und Tontons-Macoutes im Dienste des alten Regimes die Wahlen in einem Blutbad enden lassen, das zweite Mal hatten die Militärs eine Scheinwahl organisiert, die von mehr als 80% der Wähler boykottiert wurde und aus der der dem alten Regime nahestehende Zentrumskandidat Leslie Manigat als Präsident hervorging, der wiederum vier Monate später vom Generalstab der Armee seines Posten enthoben wurde. Dennoch, trotz der zahlreichen, von der Armee und den alten Machthabern unternommenen Versuche, mit allen Mitteln die Demokratisierung Haitis zu verhindern, war die politische Dynamik so stark, der Wille zur Demokratie seitens der Bevölkerung so mächtig, daß der massive Wahlsieg von Père Aristide, dem renommiertesten und engagiertesten Vertreter der demokratischen Bewegung in Haiti nur als logische Folge erschien.
Seit der Zeremonie der Amtsübernahme hat Père Aristide Farbe bekannt: er hat der pompösen Symbolik der Duvalier-Diktatur ein Ende gemacht und diese Zeremonie umorganisiert, indem er in erster Linie das Volk an ihr beteiligt hat. Eine Bäuerin und nicht die provisorische Ex-Präsidentin Ertha Pascale-Trouillot hat ihm die Präsidentenschärpe überreicht; statt auf dem Präsidentensessel Platz zu nehmen, den die Duvaliers dreißig Jahre lang besetzt hielten, hatte er extra einen Sessel herstellen lassen von den Waisenkinden der Organisation, die er vor einigen Jahren gegründet hat, um sich der Straßenkinder von Port-au-Prince anzunehmen. Seine zweite Amtshandlung bestand darin, acht hochrangige Militärs der Armee zu verabschieden und den Chef des Generalstabes Abraham darauf zu verpflichten, die Armee in den Dienst der Demokratie zu stellen. Diese Amtshandlungen mögen eher symbolisch erscheinen, sind aber doch nur die logische Fortsetzung des politischen Engagements von Père Aristide.

Aristides Werdegang

Nach dem Theologie- und Psychologiestudium in Jerusalem, Ägypten und Kanada war er 1982 zum Priester geweiht worden und im selben Jahr zum Pfar¬rer einer der ärmsten Gemeinden von Port-au-Prince ernannt worden. In kürzester Zeit wird er zu einem scharfen Kritiker des Duvalier-Regimes und der Ausbeutung in Haiti, zum Gewissen und Wortführer der Slumbewohner, so daß man ihn bald einen Propheten nannte. Aufgrund seines politischen Engagements wurde Aristide von Rom aus dem Salesianerorden ausgeschlossen. Die katholische Kirche wollte ihn sogar nach Kanada ins Exil schicken, machte so gemeinsame Sache mit den Tontons-Macoutes, die ihm ihrerseits nach dem Leben trachteten. Auf Aristide sind in den vergangenen Jahren mehrere Attentate verübt worden, seine Kirche wurde niedergebrannt und seine Anhänger wurden von den Schergen des alten Regimes angegriffen und getötet. Die vielfachen Mordversuche haben ihn zu einem Märtyrer gemacht, der in den letzten Jahren von Leibwächtergruppen, die von Jugendlichen aus den Elendsvierteln gebildet worden waren, geschützt wurde. Dennoch reagierte Aristide auf die häufigen Appelle seiner Anhänger, sich in der Politik zu engagieren, erst einige Wochen vor den Präsidentschaftswahlen am 16.Dezember, nämlich als die FNCD (Nationale Front für Veränderung und Demokratie, eine kleine Linkspartei), sich an ihn wandte, um den von den alten Duvalieristen in der Person des ehemaligen Innenministers von Duvalier und bekannten Folterers, Roger Lafontant, unternommenen Versuch, die Diktatur wiederherzustellen, zu verhindern.

Polarisierung durch Aristide

Von dem Moment an, als sich Aristide zur Wahl aufstellen ließ, spaltete sich der Wahlkampf in zwei Lager: auf der einen Seite die Basisorganisationen, Gewerkschaften und demokratischen Gruppierungen, auf der anderen Seite die neoliberale Koalition von Marc Bazin, dem nach Aristide aussichtsreichsten Kandidaten für diese Wahl und den Duvalieristen, die sowieso gegen Aristide als Präsidenten waren, hatte er doch mehrfach erklärt, sie für die dreißig Jahre Diktatur, in die sie das Land gestürzt hatten, zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen haben deutlich gemacht, daß diese sich in eine Volksabstimmung für Aristide verwandelt hatten. Père Aristide hatte 67% der Stimmen erhalten, wogegen Bazin lediglich 13% erzielen konnte. Die restlichen Stimmen verteilten sich auf die anderen Parteien wie die des Agronomen Louis Dejoie (PAIN – Partei der Landwirtschaft und Industrie), die PDCH (Christlich-Demokratische Partei Haitis) des Pastors Sylvio Claude und die MDN (Mobilisierung für die Nationale Entwicklung), die Partei von Hubert de Ronceray, einem ehemaligen Duvalier-Minister. Der Erfolg von Aristide gegenüber seinem neoliberalen Rivalen Marc Bazin ist auch der Erfolg eines Gesellschaftsprojektes, das auf eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung am politischen Geschehen zielt, wogegen das andere Projekt sich eher als autoritärer Technokratismus bezeichnen ließe. Das Credo von Marc Bazin, dem Kandidat der Amerikaner und der haitianischen Bourgeoisie, war durchweg den Entwicklungshandbüchern des IWF und denen der Weltbank entnommen, bei der er lange Zeit als Beamter geabeitet hat. Bazin hatte sich als der Kandidat präsentiert, der aufgrund seiner guten Kontakte zu den internationalen Organisationen in der Lage sei, das Land aus der Isolation zu führen. Die Glanzleistung von Aristide bestand gerade darin, zumindest auf der politischen Ebene eine Alternative zu der neoliberalen Welle aufzuzeigen und den Völkern der Region neue Hoffnung auf ihre Selbstbestimmung zu geben. In den letzten fünf Jahren war es klargeworden, daß nur eine Mobilisie¬rung des Volkes, ungeachtet der von der Armee und den ehemaligen Machtha¬bern der Duvalier-Diktatur verübten Massaker, den 1986 errungenen Sieg über die Diktatur und die Durchsetzung des Kandidaten Aristide bringen konnte.

Aufgaben und Probleme der neuen Regierung

Der Präsident Aristide sieht sich allerdings äußerst vielfältigen Problemen gegenüber. Eine der dringendsten Aufgaben seiner Regierung wird darin bestehen, die Tontons-Macoutes endgültig aufzulösen und die von dreißig Jahren Diktatur tief geprägte Verwaltung zu sanieren. Einen Monat vor seinem Amtsantritt hatte der von seinem persönlichen Feind Roger Lafontant zusammen mit einigen Armeeoffizieren und Präsidentschaftskandidaten der letzten Wahlen organisierte Staatsstreich gezeigt, wie groß die politischen Schwierigkeiten seiner Regierung sein werden. Die sich in diesem Putsch manifestierende Frechheit und der Mangel an Respekt für ein Volk, daß zu mehr als zwei Dritteln der Stimmen seinen Präsidenten gewählt hatte, hat gezeigt, daß sie nichts unversucht lassen werden, um eine erfolgreiche Regierungspolitik von Aristide zu verhindern. Die Bevölkerung mußte, nachdem sie massenhaft für Aristide gestimmt hatte, am 6.Januar auf der Straße die Ergebnisse der letzten Wahlen verteidigen. Der eklatante Wahlerfolg von Aristide täuscht allerdings über seinen geringen Handlungsspielraum hinweg. Aristide, der nur sechs Wochen vor den Wahlen seine Kandidatur erklärt hatte, konnte sich nicht gleichzeitig auch noch auf die legislativen und die Senatswahlen konzentrieren, die zum selben Zeitpunkt stattfanden. Auch die FNCD, d.h. die Partei, die ihn unterstützt, brachte nicht genügend Kandidaten für Parlament und Senat zusammen. So hat die FNCD weder im Parlament (27 Sitze von 81) noch im Senat (13 Sitze von 27) die absolute Mehrheit und ist auf Koalitionen mit den Mitte-Links-Parteien und einigen unabhängigen Abgeordneten und Senatoren angewiesen. Sollte es Aristide gelingen, den sozialdemokratischen Flügel des Dreiparteienbündnisses ANDP (Nationale Allianz für Demokratie) für sich zu gewinnen, so verfügt er über eine starke und ausrei¬chende Mehrheit. Allerdings ist der Handlungsspielraum des Präsidenten Aris¬tide auch wegen der Verfassung von 1987 begrenzt, die – um das zu stark auf den Präsidenten zugeschnittene System zu reformieren – der möglichen Errichtung einer Diktatur vorgebaut hat. So genießt die Armee als Institution eine gewisse Unabhängigkeit und kann nicht, wie es unter Duvalier der Fall war, dem Präsidenten direkt unterstellt werden. Der vom Präsidenten und seinem Kabinett vorgeschlagene Premierminister braucht die Zustimmung von Senat und Parlament, was diesen beiden Institutionen eine größere politische Bedeutung verleiht als in den vergangenen dreißig Jahren, als sie von den Duvaliers vollkommen kontrolliert waren. Natürlich kann man einwenden, daß sich Haiti seit 200 Jahren die schönsten Verfassungen gibt, ohne damit die Errichtung von Diktaturen verhindern zu können. Der einzige Unterschied ist, daß die letzte Verfassung von 90% der Bevölkerung gewählt worden ist und diese gezeigt hat, daß sie bereit ist, sie mit allen Mitteln zu verteidigen.

Nationale und internationale Perspektiven der neuen Politik

Wenn auch der Handlungsspielraum von Präsident Aristide begrenzt ist, so bedeutet dies nicht, daß er nicht doch die Macht hat, einen strukturellen Wandel in Haiti in die Wege zu leiten. Seine moralische Autorität und das große Vertrauen, das die Bevölkerung in ihn setzt, werden ihm erlauben, die dringendsten politischen Probleme zu lösen, die die Duvalier-Diktatur hinterlassen hat und eine Politik einzuleiten, die die Haitianer mobilisiert für essentielle Fragen: den Kampf gegen den Analphabetismus, die ökologische Katastrophe, von der das Land betroffen ist, die Respektierung der Menschenrechte, eine größere soziale Gerechtigkeit, die Stärkung der demokratischen Prozesse und so der zivilen Gesellschaft. Schwierig wird es dagegen für die Regierung auf dem Gebiet der ökonomischen Fragen. Das Erbe der Duvaliers und der vielen provisorischen Regierungen seit Februar 1986 hat das Land an den Rand des finanziellen Ruins gebracht. Die neoliberale Politik der Grenzöffnung und der Schließung der staatlichen Unternehmen hat die Arbeitslosigkeit noch weiter verschärft, in einem Land, wo 70% der Bevölkerung ohne Arbeit ist. Die bis auf die Spitze getriebene neoliberale Strategie der Generäle in den letzten Jahren hat dazu beigetragen, aus Haiti eine große Freihandelszone für Waren aus Florida zu machen. Die Konsequenzen daraus sind eine Ausweitung des Schmuggels, eine noch größere Verelendung der Bauern (70% der Bevölkerung), die dem Konkurrenzdruck der amerikanischen Nahrungsmittelimporte nicht mehr standhalten können und zusätzlich unter der Schließung der einheimischen Unternehmen zu leiden haben. Wenn man davon ausgeht, daß der Präsident Aristide seit Jahren diese in Haiti in Zsusammenarbeit mit der Weltbank und den internationalen Hilfsorganisationen eingeführte Politik bekämpft hat, kann man sich vorstellen, daß es schwer sein wird für ihn, die in seinem Programm vorgestellte autozentrierte Wirtschaftsstrategie einzuführen. Aristide ist sich allerdings dieser Schwierigkeiten bewußt. Indem er einen ausgebildeten Agronomen (und keinen Politiker) zum Premierminister ernannt hat – René Préval – und indem er statt professioneller Politiker eher Fachleute ins Kabinett berufen hat, zählt Aristide darauf, breitere Sektoren der haitianischen Gesellschaft um sein Programm zu sammeln und die politische Polarisierung zu beenden, die den Wahlkampf gekennzeichnet hat.
Auf der internationalen Ebene möchte er Haiti aus der Isolation herausholen und die internationalen Beziehungen weniger einseitig gestalten. Seine erste Auslandsreise führte ihn nach Frankreich, was nicht zuletzt seinem Wunsch entspricht, den zu großen Einfluß der USA auf die haitianischen Angelegenheiten auszugleichen. Seine Regierung wird auch von neuem den Anschluß an Lateinamerika suchen. Die Anwesenheit des venezolanischen Präsidenten Carlos Andrés Pérez bei seiner Amtseinführung und die häufigen Kontakte die dieser mit Aristide vor und nach seiner Wahl gehabt hat, zeigt zwischen den Zeilen eine Achse Caracas-Port-au Prince. Die lateinamerikanischen Delegationen waren bei der Amtseinführung stark vertreten und der Sieg Aristides war von mehreren Staatschefs und Vertretern der Theologie der Befreiung begrüßt worden (es wurden auch mehrere Solidaritätsgruppen für Haiti gegründet). Ein besonderes Ereignis verdient noch Erwähnung: bei der Amtseinführung war auch eine große kubanische Delegation verteten, dreißig Jahre nachdem F.Duvalier die diplomatischen Beziehungen zu Kuba abgebrochen hatte. Père Aristide hat letzte Woche versichert, daß er die Beziehungen zu Kuba wieder aufnehmen wird. Dies ist vielleicht das deutlichste Zeichen der Reintegration der beiden Länder, die aus unterschiedlichen Gründen in der Region isoliert sind.

Der Krieg am Golf und die Anti­kriegsbewegung

Seit dem 16. Januar ist Krieg. Und schon jetzt ist er Routine. Das Hören von Mili­tärkommuniques im Frühstücksrundfunk ist zur täglichen Gewohnheit gewor­den. Dies liegt in erster Linie an der Nicht-Berichterstattung, die uns hier erreicht. Über die Zensur und die technokratische Darstellung der Bombardements durch die Massenmedien bis zur Manipulation von Informationen, insbesondere des US-amerikanischen Fernsehens, sind die wichtigsten Dinge in der Beilage zum Golf­krieg in dieser Aussage gesagt.
Seit Beginn des Krieges hat es in Deutschland vielfältigen Protest gegeben. Sicher, die Friedensbewegung gibt es in dem Sinne nicht. Sie ist politisch hete­rogen, und es finden sich sowohl antiimperialistische Positionen wie christlich motivierte Friedensgruppen. Auch in der Redaktion dieser Zeitschrift gehen die Meinungen in vielen Fragen auseinander. Aber die Bewegung, die da massenhaft mobilisiert hat und zu der auch wir uns zählen, ist sich in einem einig: Sie kämpft gegen diesen Krieg. Sie ist eine “Antikriegsbewegung”. “Kampf dem Krieg” ist dabei weit mehr als eine moralische Forderung, die einer berechtigten Betroffen­heit, Ohnmacht und Ängsten entspringt. Sie wendet sich gegen die, die diesen Krieg möglich gemacht haben und an ihm verdienen, sie wendet sich gegen undemokratische gesellschaftliche Strukturen, die sich durch diesen Krieg gerade wieder verfestigen. Damit wird sie zu einer eminent politischen Forde­rung.
Die Kritik richtet sich gegen das Regime des Irak, das aus ökonomischen und hegemonialen Interessen Kuwait überfallen hat. Sie richtet sich gegen die USA, denen es von vorneherein nicht um die Wiederherstellung des Völkerrechts son­dern um ökonomische Interessen und die Zerstörung einer hegemonialen Macht in der Golfregion ging. Durch die ständig stattfindenden Bombardements und die damit bewußte Inkaufnahme der Vernichtung eines ganzen Volkes wollen die USA ihre Weltmachtstellung in der Golfregion erneut unter Beweis stellen.
Die Alliierten haben sich durch die von den USA durch massive Truppenentsen­dungen geschaffenen Fakten in der UNO unter Druck setzen lassen und aus eigenen ökonomischen und politischen Interessen das Spiel mitgespielt. Jahr­zehntelang haben sie selbst in dieser und anderen Regionen der Dritten Welt Völkerrechtsverletzungen begangen oder geduldet, Invasionen durch die USA hingenommen oder Völkermord schlichtweg übersehen.
Westliche Unternehmen, insbesondere deutsche Firmen, machen diesen Krieg zu einem großen Geschäft. Sie verdienten jahrelang am Waffen- und Giftgasexport in den Irak, sie verdienen gerade jetzt durch den Krieg, und sie wollen ein drittes Mal verdienen, wenn in der zerstörten Region der Wiederaufbau ansteht.
Die Position der deutschen Regierung und ebenso der SPD-Opposition ist schlicht heuchlerisch. Jahrelang hatte sie diese Entwicklung mitgetragen, um sich nun, da auch Israel bedroht ist, als Retter in der Not mit historischem Gewissen zu erweisen.
Seit dem 19. Januar bereits wurde es den Herrschenden in Deutschland zuviel. Es bestand die Gefahr, daß sich eine Antikriegsstimmung in der Masse der Bevölke­rung hätte durchsetzen können. Die zunächst tollerierten bis funktionalisierten Antikriegsdemonstrationen brachten doch zu stark die Unglaubwürdigkeit und Widersprüchlichkeit der deutschen Politik zum Aus­druck. Über bestimmte Medien wurde daher eine wahre Hetzkampagne gegen die Pro­teste gestartet. Um “Antiamerikanismus” handelte es sich plötzlich, und es hieß, die Interessen Israels würden ignoriert.
Muß denn nochmal wiederholt werden: Selbstverständlich wendet sich die Anti­kriegsbewegung – und da weiß sie sich mit dem Widerstand in San Francisco oder New York einig – gegen die US-Interventions- und Kriegspolitik. Wie viele Male mußten in dieser Zeitschrift US-amerikanische Militärinterventionen und die US-amerikanische Unterstützung von Militärputschen und Folterregimen in Lateinamerika angeprangert werden! Interventionen in Nicaragua, Kuba, der Dominikanischen Republik, Grenada und erst vor gut einem Jahr in Panama – diese Völkerrechtsverletzungen, gegen die die UNO nichts unter­nommen hat, können kaum in Vergessenheit geraten sein. Heute versuchen die ökonomisch geschwächten USA erneut mit militärischen Mitteln ihre Welt­machtstellung zu behaupten. Ihre Rolle als Weltpolizist hat gerade im lateiname­rikanischen Raum die ökonomischen und politischen Verhältnisse bestimmt. Der Golfkrieg wird auch für Lateinamerika politische und ökonomische Folgen nach sich ziehen, wie zum Beispiel durch die Erhöhung des Ölpreises und steigende Aktienkurse. Wir wollen in diesem Heft einige lateinamerikanische Reaktionen auf den Krieg wie­dergeben und weitere Verbindungslinien zwischen Lateinamerika und der Golf­kriegsregion ziehen.
Die Antikriegsbewegung ist eine politische Kraft, die Produktion und Export von Kampfgasen, Raketen und Panzern seit jeher kritisiert hat. Es sind westliche und insbesondere deutsche Rüstungsexportprodukte, die nun auch gegen Israel gerichtet sind und die das irakische Regime erst zum Angriff befähigt haben. Sie hat kein gebrochenes Verhältnis zum israelischen Volk, wenn sie die Rolle Israels kritisiert, die durch die Blockierung der Friedensbemühungen im Nahen Osten und eine Expansionspolitik ebenso gekennzeichnet ist, wie durch den Terror und die permanente Verletzung der Rechte des palästinensischen Volkes. Die israeli­sche Regierung hat nichts zu einer friedlichen Konfliktlösung nach der Besetzung Kuwaits beigetragen. Dazu steht nicht im Widerspruch, daß wir das Existenz­recht Israels anerkennen und mit dem israelischen Volk solidarisch gegen die irakischen Angriffe sind. Antikriegsbewegung bedeutet aber auch, sich dafür einzusetzen, daß die Palästinenser und Kurden endlich ihre Rechte erhalten. Wir sind solida­risch mit dem Kampf für die Interessen des palästinensischen Volkes und müs­sen gerade deswegen heute die Unterstützung seiner politischen Orga­nisationen für die verbrecherische Politik Saddam Husseins kritisieren. Eine fatale politisch-militärische Logik ist da aus einer jahrezehntelang ausweglos gehaltenen politi­schen Situation entstanden.
Auch gegen die Verletzung der Rechte der PalästinenserInnen und KurdInnen haben die kriegsalliierten westlichen Nationen geschwiegen, zum Beispiel als Saddam Hus­sein 1987 kurdische Dorfgemeinschaften mit deutschem Gas ver­nichten ließ. Und dieselben “Völkerrechtsvertreter” schweigen auch heute, wenn die verbündete türkische Regierung Befehl zum massenhaften Mord an Kurden gibt.
Es ist die doppelte Moral, mit der die Hetzkampagne gegen die Antikriegsbewe­gung betrieben wird, die offengelegt werden muß. Dahinter werden erst die handfe­sten Interessen der Herrschenden sichtbar. Diese muß die Antikriegsbe­wegung bekämpfen.

Bomben und Proteste gegen den fernen Krieg und die nahen Yankees

Einige hundert Menschen demonstrierten in Santiago de Chile vor dem Sitz des größten chilenischen Rüstungsproduzenten CARDOEN. CARDOEN exportierte seit 1982 Waffen an den Irak, unter anderem eine Sorte C-Bomben, “Erstickungsbomben”, die ein Pulver versprühen, das den Sauerstoff in der Luft bindet. Anzahl und Preis der gelieferten Bomben sind nicht bekannt. 1986 halfen Techniker von CARDOEN beim Bau einer Bombenfabrik in Bagdad. Die Rü­stungsverkäufe dauerten nach offiziellen Angaben bis zum UN-Ultimatum gegen den Irak vom August vergangenen Jahres an. CARDOEN war unter der Militär­diktatur Pinochets unter dessen persönlicher Protegierung entstanden. Auch zur neuen Regierung Chiles dürften die Beziehungen blendend sein: Der Besitzer ist mit einer Nichte des christdemokratischen Präsidenten Aylwin verheiratet. CARDOEN versucht nun, den Ausfall der Lieferungen an den Irak zu ersetzen; es erging ein Angebot an Saudi-Arabien zur Lieferung von 30.000 Bomben.
Eine Guerilla-Gruppe “Frente Revolucionario Anti-Imperialista” hat verkündet, daß US-Einrichtungen in Chile angegriffen werden sollen. Es gab bereits An­schläge auf einen Mormonen-Tempel und auf Filialen der US-amerikanischen “Security Pacific”- und “Republic National”-Banken. Die “Patriotische Front Ma­nuel Rodriguez” (FPMR) schickte eine Raketenattrappe und Flugblätter in die Residenz des israelischen Botschafters in Santiago.
Auch die brasilianischen Rüstungskonzerne “Avibras Aeroespecial” und EN­GESA, die bisher den Irak mit einer ganzen Palette von Rüstungsgütern beliefer­ten, wollen nun den Handel mit Saudi-Arabien aufnehmen. Ein Manager be­gründete die Unbedenklichkeit der Lieferungen in den Irak in der Vergangenheit damit, daß “Deutschland und Frankreich die chemischen Einrichtungen” stellten, dann könne ja wohl gegen die Lieferung der Trägersysteme nichts einzuwenden sein.
Der Vertreter der palästinensischen Befreiungsorganisation PLO in Bolivien warb für Unterstützung für den Irak durch Demonstrationen und “andere Kampfformen”. Die Guerilla-Gruppe “Nationales Befreiungsheer” bezeichnete in einem Kommuniqué alle US-Einrichtungen in Bolivien als anschlagsrelevante Ziele.
In Ecuador gab es Bombenanschläge gegen die US-amerikanische und die fran­zösische Botschaft. Andererseits besetzten 12 Mitglieder der Gruppe “Alfaro Vive Carajo” (AVC) kurzzeitig die französische Botschaft und forderten eine Ver­handlungslösung.
Im von den USA teilbesetzten und kontrollierten Panama übernahm das “Volksheer für die Nationale Befreiung” (EPLN) die Verantwortung für einen Bombenanschlag auf die US-Botschaft und kündigte weitere Anschläge an. Der Marionetten-Präsident Endara hatte bereits im November kurzzeitig die Durch­fahrt aller Schiffe aus oder nach Irak durch den Panama-Kanal verboten.
In Venezuela verübte eine “Internationalistische Brigade” einen Brandanschlag auf einen Mormonen-Tempel in Barquisimeto. Die Mormonen wurden als US-Spione bezeichnet. Die Menschenrechtsorganisation “Fundalatin” forderte den venzolanischen Kongreß auf, für die Dauer des Krieges alle Öllieferungen an die Länder der westlichen Allianz am Golf einzustellen.
Nach Meinung des kubanischen Präsidenten Fidel Castro ist derjenige für den Krieg verantwortlich, der zuerst schießt. Der Krieg bedeute “das Scheitern der UNO und der Politiker”. Die beteiligten Parteien hätten nicht genügend Ver­ständnis aufgebracht und der Irak habe ethische, historische, religiöse und ara­bisch-nationalistische Argumente benutzt, als eine realistische Vernunft erfor­derlich war. Kuba hat zur Versorgung der Zivilbevölkerung eine Ärztebrigade in den Irak entsandt.
(Quellen: ANN, PONAL, LA Weekly, Monitor-Dienst)

Manifestationen eines Kinos in der Krise

In diesem Jahr ist das Festival dem Fernsehen gewidmet und wird damit dem hohen Stellenwert gerecht, den TV-Produktionen im audiovisuellen Bereich ein­genommen haben. Gleichzeitig deutet die Würdigung des lateinamerikanischen Fernsehens aber auf die Krise des lateinamerikanischen Kinos hin. In einer Pres­sekonferenz werden wir auch schon gleich zu Anfang der Festspiele darüber in­formiert, in welchem Kontext die aufgeführten Filme zu sehen sind: Die Wirt­schaftskrise in den lateinamerikanischen Ländern, die sich in hoher Auslandsver­schuldung, Rückgang des Bruttosozialprodukts, fallenden Löhnen und immen­sen Inflationsraten äußert, hat auch vor dem Kino nicht haltgemacht. In Brasilien wurde aufgrund von Sparmaßnahmen über Nacht die Filmförderung ausgesetzt und das Filminstitut “Embrafilme” aufgelöst. Der Entzug der staatlichen Mittel führte dazu, daß 1990 statt den durchschnittlich über 50 langen Spielfilmen nur noch ein einziger gedreht wurde. Das kleinere Filmland Ecuador hat es in den letzten fünf Jahren gerade mal auf einen Film gebracht. Und in Argentinien, so Cipe Fridman, die Produzentin von “Flop” kann man nur noch als Verrückter Filme machen. Das argentinische Filminstitut – immerhin noch nicht aufgelöst wie das brasilianische – hat dieses Jahr nicht die vom Finanzministerium zuge­sagten Mittel erhalten. Die argentinischen Kinos sind wie überall auf dem Sub­kontinent von US-amerikanischen Filmen überschwemmt. Produktionskosten, die zwischen einer halben und eineinhalb Millionen US$ liegen, können nicht al­leine durch Zuschauererlöse gedeckt werden. Wer geht schon bei einem monatli­chen Einkommen zwischen 20 und 50 US$ in einen Film, für den er ungefähr einen Dollar Eintritt zahlen soll?
In noch folgenden Pressekonferenzen und Seminaren wurde dann auch nach Lö­sungen, wie das lateinamerikanische Kino überleben kann, gesucht und Ansätze vorgestellt. Zum einen sind da die Koproduktionen des spanischen Fernsehens. Dessen finanzielle Beteiligung – in den letzten vier Jahren an über 100 Projekten – machte angesichts der schlechten finanziellen Lage lateinamerikanischer Produ­zentInnen und Filminstitute oft erst die Herstellung von Kino- Fernseh- und Vi­deofilmen möglich. Beispiele hierfür sind die auch schon in Deutschland gezeig­ten “Ultimas imagenes del naufragio ” (Letzte Bilder des Schiffbruchs), “La nación clandestina” (Die heimliche Nation) und “Un señor muy viejo con unas alas enormes” (Ein sehr alter Herr mit gewaltigen Flügeln) sowie “Sandino”, auf den ich später noch eingehen werde. Zum andern existiert zwischen den Filmbehör­den verschiedener lateinamerikanischer Länder ein Abkommen über einen ge­meinsamen Filmmarkt, womit Filme aus den beteiligten Ländern die gleichen Vergünstigungen erhalten wie die eigenen Filme. Das “Abkommen zur latein­amerikanischen Integration im Filmwesen”, das im November 1989 in Caracas von Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Kuba, Ecuador, Mexiko, Nicaragua, Pa­nama, Peru, Venezuela, der Dominikanischen Republik und Bolivien verabschie­det wurde, soll die Vermarktung von Kino- Ferseh- und Videofilmen in den je­weils anderen lateinamerikanischen Ländern erleichtern und damit sowohl zur kulturellen Integration als auch zur Verteidigung gegen die kulturelle Überfrem­dung seitens der US-amerikanischen Filme beitragen. Ansonsten gab es eine Menge Appelle, das bestehende Konkurrenzverhältnis zwischen Kino, Fernsehen und Video in den lateinamerikanischen Ländern in ein Miteinander umzuwan­deln.
Nichtsdestotrotz gab es in den folgenden Tagen eine Menge lateinamerikanisches Kino zu sehen. Manchmal drängte sich dabei jedoch die Frage auf, was denn das “Neue” an diesen Filmen sei. Und ein kubanischer Mitarbeiter des Festivals ge­steht, daß die Auswahl der lateinamerikanischen Filme durch die Kommission doch recht beliebig gewesen sei. So mußten wir uns bei den zwar technisch per­fekt gemachten, aber inhaltlich und dramaturgisch schwachen venezuelanischen Filmen “Cuchillos de fuego” (Feuermesser) und “Con el corazón en la mano” (Mit dem Herzen in der Hand) langweilen, den derben Witz der argentinischen Fami­lienkomödie “Cien veces no debo” (100 mal soll ich nicht) ertragen und uns über das peinliche Portrait der kolumbianischen Gewerkschaftsführerin Maria Cano ärgern.
Die größte Enttäuschung stellte wohl ein mit berühmten Schauspielern realisier­ter und eine berühmte Person der lateinamerikanischen Geschichte dar­stellender Film eines berühmten Regisseurs dar. Die Rede ist von “Sandino” des Chilenen Miguel Littín (mit Kris Kristofferson und Angela Molina) über den gleichnami­gen Freiheitskämpfer Nicaraguas. Mit viel Spannung in Kuba erwar­tet, ent­puppte sich das Werk dann allerdings als oberflächliche, unpolitische Großpro­duktion im Stile Hollywoods, bestehend aus Liebe, Intrige und Schieße­reien. Böse Zungen behaupten, das Beste an dem Film sei, daß er Sandino zum Thema habe. Und der ehemalige sandinistische Innenminister Tomás Borge wollte erst gar keinen Kommentar zu dem Produkt Littíns abgeben.Aber noch einmal zu­rück zu dem Eröffnungsfilm “Caidos del cielo” (Vom Himmel Gefal­lene): In dem schon auf den Festivals von Montreal und Orleans ausgezeichneten Film erzählt der Regisseur Lombardi simultan drei tragisch absurde Geschichten. Da ist zum einen ein altes Ehepaar, das alle seine Wertgegenstände und sogar sein Haus verkauft, um den Preis für ein Mausoleum aufzubringen, eine im Slum lebende alte blinde Frau, die ihre Enkel schikaniert und schließlich als Futter für ein zu mästendes Schwein endet und ein mißgestalteter Sprecher eines Radio­programms unter dem Motto “Du bist dein Schicksal”, dem es im wirklichen Le­ben nicht gelingt, eine Selbstmörderin vom Sprung in die Tiefe abzuhalten.
Auch nicht gerade ein optimistisches Bild der lateinamerikanischen Realitäten vermittelt am nächsten Tag “Después de la tormenta” (Nach dem Sturm) des Ar­gentiniers Tristán Bauer. Ein Film, der auch für das Forum des jungen Films im Rahmen der Berliner Filmfestspiele ausgewählt wurde. Protagonist ist ein Mann, der im Zuge der Unternehmenszusammenbrüche in Argentinien seinen Arbeits­platz verliert und damit gleichzeitig seine Stellung als Familienoberhaupt infrage gestellt sieht. Die Komposition schöner, melancholisch stimmender Bilder und nicht zuletzt der Einsatz des Hauptdarstellers Lorenzo Quintero erinnern oft an “Ultimas imagenes del naufragio” (Letzte Bilder eines Schiffbruchs) und “Hombre mirando al sudeste” (Der Mann, der nach Südosten schaut), was die kubanische Zeitung Granma veranlaßte Bauers Film ironisch mit “El hombre mirando el naufragio despues de la tormenta” (Der Mann, der den Schiffbruch nach dem Sturm betrachtet) zu betiteln. Inhaltlich und dramaturgisch vermag er jedoch nicht so zu überzeugen wie seine Vorbilder. Besser gefallen haben mir zwei an­dere argentinische Produktionen: “Flop” von Eduardo Mignona, die (wahre) Ge­schichte eines Varietekünstlers im Argentinien der 40er Jahre, mit den Mitteln des Theaters spielend, witzig und traurig zugleich. Und “Yo, la peor de todas” (Ich, die schlimmste von allen) von Maria Luisa Bemberg. Die argentinische Re­gisseurin, die auch in den vergangenen Jahren mit ihren Filmen große Erfolge auf dem kubanischen Festival feiern konnte – dieses Jahr ist ihr Werk der absolute Favorit des Publikums und der Presse – widmete sich auch dieses Mal einem Frauenthema. Nach dem Roman von Octavio Paz stellte sie wichtige Situationen im Leben der Nonne Juana Inés de la Cruz dar, einer der bedeutendsten latein­amerikanischen Schriftstellerinnen im 17. Jahrhundert. Da diese sich nicht in Mann und Kindern selbstverwirklichen wollte und ihr als Frau der Weg in die Universität versperrt blieb, wählte sie das Kloster, um dort zu lesen, zu schreiben und zu forschen.
Zwischen den Filmen mal eine Pause. Mit einem guagua, so heißen die Busse in Kuba, angeblich weil sie die Geräusche quengelnder Kleinkinder wiedergeben, geht es in einen Vorort von La Habana, eine Einladung zu einem trago, einem Schluck Rum, annehmend. Doch auch hier werden wir nicht von Filmen ver­schont. Das Oberhaupt der Familie, Doña Josefina, sitzt mit diversen Freunden, Bekannten und Nachbarn vor dem Fernseher und verfolgt gebannt die brasiliani­sche Fernsehserie “Roque Santeiro”. Zwischen Begrüßung, Fragen, wie mir denn Kuba gefalle und dem Ausschenken eines Glases Rum, diskutieren die Anwe­senden eifrig die neueste Missetat des Filmbösewichts. Antonio erklärt mir, daß seine Mutter keine der täglich zur besten Sendezeit ausgestrahlten Folgen aus­lasse und in den Unternehmen sogar ganze Betriebsversammlungen verschoben werden, damit die compañeros bei ihrer Lieblingstelenovela am Ball bleiben können.
Wieder zurück im dunklen Kinosaal der Innenstadt sehen wir uns den kubani­schen Film “Mujer transparente” (Durchsichtige Frau) an. Anders als die anderen von Kuba für den Wettbewerb ausgewählten Produkte, “Hello Hemingway”, ein nett gemachter Film, aber auch nicht mehr, der nach nicht ganz nachvollziehba­ren Kriterien den ersten Preis gewann und “Maria Antonia”, die beide in den 50er Jahren, also vor der Revolution spielen und es damit umgehen, sich mit der ge­genwärtigen Situation in Kuba auseinanderzusetzen, sind die sechs Kurzepiso­den von “Mujer transparente”, Portraits von sechs Frauen, in dem Kuba von heute angesiedelt. Besonders beeindruckend ist die Episode “Laura”. Eine junge Frau, besagte Laura, wartet auf ein Treffen mit ihrer ehemaligen Schulfreundin Ana, die vor zehn Jahren mit 100.000 anderen unzufriedenen KubanerInnen die Insel verlassen hat und nun, als Touristin nach Kuba zurückgekehrt, in einem teuren Dollar-Hotel abgestiegen ist. Der Film läßt die ZuschauerInnen an den Gedanken Lauras über die Beweggründe von Ana und die gegenwärtige Situa­tion in Kuba sowie an ihrer Wut über die Behandlung als Bürgerin zweiter Klasse gegenüber den devisenbringenden TouristInnen teilhaben. Die Stimmung im Kino ist aufgeheizt. Die Bilder auf der Leinwand treffen mit der Realität zusam­men: Gegen Dollars, deren Besitz den KubanerInnen streng verboten ist, kann man hier (fast) alles kaufen. Die normalen KubanerInnen haben dagegen schon seit Monaten keine Butter mehr gesehen und selbst das Grundnahrungsmittel Bohnen ist nur noch auf dem Schwarzmarkt zu bekommen. Dollars sichern auch den Zugang zu den Touristenhotels, während die Kubanerinnen ohne Einla­dungskarte draußen bleiben müssen. Im Kino wird dauernd Beifall geklatscht, Bravorufe ertönen, und auch bei der Abschlußveranstaltung – Laura gewinnt den ersten Preis in der Kategorie Kurzfilm – gibt es hier den meisten Applaus und die Regisseurin muß mehrere Male aufs Podium zurückkehren. Fidel Castro ist die­ses Mal nicht zur Preisverleihung erschienen, um eine seiner berühmten Reden zu halten. Die trägt er dann zwei Tage später bei einem Kongreß über Ersatzteile vor.
Und bei den rhythmischen, Optimismus verbreitenden Klängen der brasiliani­schen Band Morais Moraira – alles tanzt inzwischen, obwohl die Preise für die langen Spielfilme noch nicht vergeben sind – fragen wir uns wie es mit Kuba und dem lateinamerikanischen Kino weitergehen wird.

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