Auf wackligen Friedenspfaden

In Oslo geht es los, in Havanna geht es weiter. Der grobe Fahrplan für die Friedensverhandlungen zwischen den Bewaffneten Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) und der kolumbianischen Regierung steht. Zentraler Punkt der in sechsmonatigen Sondierungsgesprächen ausgehandelten Vereinbarung zur Beendigung des Konflikts ist eine Fünf-Punkte-Agenda: landwirtschaftliche Entwicklung, politische Teilhabe der Opposition, die Niederlegung der Waffen der Rebellen sowie der Kampf gegen den Drogenhandel und die Wahrung der Rechte der Opfer des Konfliktes. Darüber soll auf Kuba verhandelt werden. Nach Übereinkunft über diese Punkte und der Unterzeichnung eines Friedensvertrages soll in einer dritten Phase dessen Implementierung folgen.
Wenngleich die breite Mehrheit der gesellschaftlichen Gruppen die Nachricht mit Wohlwollen aufgenommen hat, gibt es einige Gründe skeptisch zu sein. Eine zentrale Rolle kommt im Zuge der Verhandlungen der ländlichen Entwicklung zu, die das erste Thema der Verhandlungen sein wird. Das verwundert wenig: Die Ausbeutung der Rohstoffe im Zuge der „Lokomotive Bergbau“ sowie großflächige Agrarindustrieprojekte sind ein zentraler Eckpfeiler der kolumbianischen Wirtschaft, Sektoren mit großem Wachstumspotenzial und zugleich Ursache vieler lokaler und regionaler Sozialkonflikte (siehe LN 459).
Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos hat in den letzten Wochen immer wieder betont, dass es gelte die „Fehler“ der gescheiterten Verhandlungen von San Vicente de Caguán (1999 – 2002) zu vermeiden. Damals wurde der FARC die Region Caguán komplett überlassen. Diese Einstellung Santos‘ liegt auch darin begründet, dass die „Lokomotive“ durch die vollständige militärische Kontrolle auch abgelegener Regionen ihre Fahrt fortsetzen und Investor_innen das Feld bereiten kann. Beispielsweise planen kolumbianische und internationale Unternehmen, die östliche Flachlandregion Llanos Orientales nach dem Vorbild Brasiliens in eine „Kornkammer“ der Region zu verwandeln beziehungsweise Produkte wie Ölpalmen und Soja für die Herstellung von Biosprit anzubauen.
In diesem Sinne lässt sich ebenfalls die Bereitschaft der Regierung Santos interpretieren, Friedensverhandlungen mit der Guerilla aufzunehmen: Im Falle einer Demobilisierung der Guerilla würde sich das Investitionsklima weiter verbessern und der Staat die Kontrolle über jene ländlichen Regionen erhalten, in denen die Guerilla stark präsent ist (Region Tumaco, Catatumbo, Putumayo, Caquetá, Arauca, Norte de Antioquia, Cauca, Tolima) und dergestalt den Aktionsradius wirtschaftlicher Initiativen ausweiten.
Nicht umsonst beeilten sich Regierung und Wirtschaftsvertreter_innen kurz nach der Ankündigung von Friedensgesprächen zu betonen, dass die kolumbianische Wirtschaft im Falle eines Friedensabkommens und den Freihandelsverträgen mit EU und Vereinigten Staaten um bis zu acht Prozent jährlich wachsen könnte. Die Aufnahme des Präsidenten des wichtigen Wirtschaftsverbandes ANDI, Luis Carlos Villegas, in die Verhandlungsdelegation ist ebenfalls als Signal zu verstehen, die bisherige Linie in der Wirtschaftspolitik nicht aufgeben zu wollen.
Organisationen wie die linke Sammelbewegung Marcha Patriótica weisen darauf hin, dass es „kein Ende des Konflikts ohne eine Änderung des neoliberalen Kurses geben wird, der auf Ausbeutung von Primärressourcen bei gleichzeitiger Kürzung sozialer Leistungen basiert“. Dass die Regierung bereit ist, ihren Wirtschaftskurs mit der Guerilla auf Kuba zu diskutieren, ist eher zweifelhaft. Andererseits deutet diese Analyse an, was in den allgemeinen Jubelstürmen anlässlich der Ankündigung von Friedensverhandlungen weitgehend unterging: Zwar würde ein Niederlegen der Waffen einige Probleme der ländlichen Regionen lösen, doch wird dabei übersehen, dass die starke Militarisierung der Gesellschaft und das Problem des Neoparamilitarismus davon unberührt bliebe.
Die offiziell als kriminelle Banden (BACRIM) bezeichneten Gruppierungen sind weit davon entfernt, den Einfluss der unter Uribe demobilisierten paramilitärischen Selbstverteidigungsgruppen (AUC) zu erreichen. Doch die BACRIM haben in einigen Regionen enormen Einfluss beziehungsweise haben punktuelle politische Verbindungen zu lokalen Politiker_innen und Unternehmer_innen.
Darüber hinaus sorgen die sozialen Probleme und die ökonomische Ungleichheit im Land nicht nur dafür, dass diese bewaffneten Strukturen nach wie vor Zulauf haben, sondern auch dafür, dass soziale Forderungen und die Stärkung kleinbäuerlicher Strukturen immer wieder auf gewaltsamen Widerstand von Akteur_innen des Drogenhandels sowie der Regionaleliten stoßen. Deren lautester Fürsprecher ist Álvaro Uribe, der Vorgänger von Santos im Präsidentenamt.
Die Regierung dürfte bereit sein, Ländereien beispielsweise für die Schaffung der sogenannten kleinbäuerlichen Reservate (reservas campesinas) bereitzustellen. Ein Blick in die jüngere Geschichte der Reservate lehrt freilich Skepsis: Die aus den 80er Jahren stammende Idee soll gewisse Gebiete vor der Konzentration von Landbesitz in den Händen weniger schützen und die kleinbäuerliche Produktion stärken. Waren die reservas campesinas unter der Regierung Uribe praktisch von der politischen Bildfläche verschwunden, hat dieses Konzept unter der Regierung Santos zumindest diskursiv einen erneuten Schub erhalten.
An der Spitze des zuständigen Instituts zur ländlichen Entwicklung (Incoder) steht seit April 2012 Miriam Villegas, die als Akteurin des EU-finanzierten Friedenslaboratoriums im Magdalena Medio die Einrichtung der reserva campesina im Valle del Rio Cimitarra begleitet hat. Villegas gilt zwar einerseits als Vertreterin der Interessen der bäuerlichen Bevölkerung, verteidigt andererseits aber auch die sogenannten Produktionsallianzen (alianzas productivas) zwischen Unternehmer_innen und Bäuerinnen und Bauern, wie sie beispielsweise im Falle der Palmölkulturen gängig sind.
Die Regierung geht derzeit davon aus, dass die Verhandlungen in Kuba lediglich sechs bis acht Monate in Anspruch nehmen werden. Dieser Einschätzung hat der FARC-Chef Timochenko kürzlich entschieden widersprochen. In einem Interview mit der kommunistischen Wochenzeitung VOZ sagte er, eine Vereinbarung während der Sondierungsgespräche sei gewesen, keine Zeitlimits zu setzen. Ziel der Regierung könnte sein, so schnell wie möglich und weitestgehend abgeschottet von der kolumbianischen Öffentlichkeit, den formalen Frieden herzustellen und sodann mit der dritten Phase des Friedensprozesses fortzufahren.
Unklarheit besteht ebenfalls darüber, inwieweit und über welche Wege die Zivilgesellschaft an den Verhandlungen beteiligt sein wird. Kritiker_innen hatten bemängelt, dass Vertreter_innen der Gewerkschaften, Indigene und Bauernverbände (im Gegensatz zu Militärs, Polizei und Wirtschaft) keinen Platz am Verhandlungstisch erhalten werden. Darüber hinaus vertritt die Guerilla bei weitem nicht alle Interessen der ländlichen Bevölkerung und steht teilweise in offenem Konflikt mit ihnen. Der viel zitierte Satz Timochenkos, der Schlüssel zum Frieden liege beim kolumbianischen Volk, muss vor diesem Hintergrund angezweifelt werden.
Während die sozialen Bewegungen deshalb vor allem auf die Mobilisierung auf der Straße setzen, um Themen an den Verhandlungstisch zu tragen, sieht eine „institutionelle Lösung“ vor, die aus dem Kongress hervorgehende Nationale Friedenskommission wiederzubeleben, in der neben Parlamentarier_innen auch Vertreter_innen sozialer Organisationen einen Platz haben sollen. Die Stigmatisierung der sozialen Bewegungen, insbesondere der im April ins Leben gerufenen Sammelbewegung Marcha Patriótica, als von der Guerilla finanzierte Organisationen könnte im Kontext von Mobilisierungen alte Traumata wiederbeleben.
Das beste Argument der Guerilla gegen die Option einer politischen Opposition innerhalb der staatlichen Institutionen war in der Vergangenheit immer das Schicksal der Unión Patriótica gewesen, einer 1985 gegründeten FARC-nahen Partei. Ende der 80er Jahre wurden 2.000 bis 3.000 Mitglieder der UP, die FARC spricht von bis zu 5.000, von Paramilitärs wie der AUC gezielt ermordet. Die Sammelbewegung Marcha Patriótica, die sich aus rund 2.000 Bauern-, Studierenden-, Indigenen- und Menschenrechtsorganisationen zusammensetzt und deren sichtbarste Figur die ehemalige Senatorin Piedad Córdoba ist, könnte das gleiche Schicksal ereilen. Die Marcha wurde seit ihrer Gründungsdemonstration im April von Politik, Militär und einigen Medienvertreter_innen bewusst stigmatisiert und als von der Guerilla gegründete und gesteuerte Bewegung bezeichnet. Wiederholt kam es in den vergangenen Wochen vor, dass ihre Mitglieder unter dem Vorwurf, Mitglieder der FARC zu sein, von Staatsanwaltschaft und Polizei kurzzeitig festgenommen wurden, ohne dass entsprechende Beweise vorlagen. Unbestreitbar ist, dass sich Guerilla und einige Mitgliedsorganisationen der Marcha ideologisch nahe stehen, beispielsweise in der Ablehnung der neoliberal orientierten Wirtschafts- und Sozialpolitik. Ob die Marcha eine „politische Landebahn“ für die Guerilla sein kann, ist eine der spannenden Fragen, die der Prozess aufwirft. Ab Mitte Oktober kommen die Antworten näher.

Chávez ist ein „Stabilitätsfaktor in Lateinamerika“

Die Ära Chávez geht weiter. Trotz Krebserkrankung und der offensichtlichen Bürokratisierungserscheinungen seiner bolivarianischen Revolution hat Präsident Chávez es wieder geschafft, aus den Wahlen am 7. Oktober erneut als Sieger hervorzugehen und sich ein Mandat bis 2019 zu sichern. Zu eindeutig repräsentierte der Kandidat der Rechten, Ex-Bürgermeister Henrique Capriles Radonski, die traditionellen Eliten, die auch nach 13 Jahren Linksregierung über unglaublichen Reichtum verfügen und der übrigen Bevölkerung überwiegend mit Verachtung begegnen. Capriles, der von brasilianischen Wahlkampfexpert_innen beraten wird, bemühte sich zwar um eine sozialdemokratische Rhetorik und versprach, an den bestehenden Sozialprogrammen festzuhalten. Trotzdem ist absehbar, welche Veränderungen ein Sieg der Opposition nach sich ziehen würde: Venezuela würde sich wieder stärker den ökonomischen und geopolitischen Interessen der USA unterordnen (das heißt auch eine deutlich geringere Beteiligung an den Öleinnahmen akzeptieren) und zur neoliberalen Privatisierungspolitik zurückkehren.
Ein wesentliches Problem für die bürgerlichen Parteien ist weiterhin, dass sie – anders als etwa die Rechte 1990 in Nicaragua – nicht auf den Angstfaktor zählen kann. Bei der Abwahl der sandinistischen Revolution 1990 spielte die Furcht, ein neuerlicher Sieg der Linken könnte den Contra-Krieg neu aufflammen lassen, eine entscheidende Rolle. In Venezuela heute ist es umgekehrt: Ungewiss ist die Zukunft ohne Chávez. Denn eine Rechtsregierung müsste mit heftigem Widerstand aus der Bevölkerung und Teilen des Staatsapparates rechnen. Vieles spricht dafür, dass ihr die Lage dabei außer Kontrolle geraten könnte.
Doch was macht Chávez – der schon jetzt mehr Wahlen gewonnen hat als fast alle europäischen Politiker_innen (selbst Helmut Kohl wurde nur dreimal im Amt bestätigt) – eigentlich so erfolgreich? Eigentlich gäbe es ausreichend Gründe für eine Abwahl des Präsidenten: Obwohl in der Verfassung vom Aufbau einer Beteiligungs- und Rätedemokratie die Rede ist, erweist sich der Klientel-Staat in Venezuela als quietschlebendig. Die im ganzen Land gegründeten Nachbarschaftsräte (Consejos Comunales), die eigentlich die lokale Selbstregierung sicher stellen sollten, sind heute in erster Linie damit beschäftigt, sich untereinander um den Zugang zu Geldern zu streiten. Gleichzeitig ist im und beim Staat eine neue, aufstrebende Oberschicht entstanden, die berüchtigte „Boli-Bourgeoisie“. Anders als viele Linke unterstellen, hat das weniger mit „Verrat“ als mit der staatlichen Struktur selbst zu tun: Da der gesellschaftliche Reichtum in Venezuela von den Öleinnahmen abhängt und diese über den Staat verteilt werden, bilden Staatsbeamt_innen und Privatunternehmer_innen immer wieder von Neuem einen unauflösbaren polit-ökonomischen Filz aus. Oder wie es beim frühen Marx so schön heißt: Wenn sich Idee und Interesse begegnen, blamiert sich in der Regel die Idee.
Auch der Umbau Venezuelas in Richtung einer weniger vom Rohstoffexport abhängigen sozialistischen oder wenigstens gemischten Ökonomie ist kaum vorangekommen. Der chavistische Ökonom Victor Álvarez hat das in einer aktuellen Studie skizziert: Der Anteil der verarbeitenden Industrie ist seit 1987 von 22,1 % des Bruttoinlandsprodukts auf 14,4 % gefallen. Zwar ist die Wirtschaft im gleichen Zeitabschnitt stark gewachsen, doch davon haben vor allem Handel und Bausektor profitiert, die sich in den Händen der Privatwirtschaft befinden. Dank der Sozial- und Beschäftigungspolitik der Regierung ist zwar die Armut deutlich zurückgegangen und auf den Straßen sind kaum noch Menschen zu sehen, die im Müll nach Verwertbarem suchen. Doch der Anteil der Löhne am Gesamteinkommen ist nicht gestiegen. Er liegt mit 37% auf dem gleichen Niveau wie 1997 (während das Einkommen aus Kapitalbesitz weiterhin bei 42% liegt). Die Kooperativen schließlich, denen in der demokratisch-sozialistischen Umgestaltung eine Schlüsselrolle zugedacht war, sind ebenfalls kaum von der Stelle gekommen: Gerade einmal 2% der ökonomischen Aktivitäten gehen auf das Konto des Genossenschaftssektors.
Dramatisch ist die Gewaltsituation: Auch wenn die genauen Zahlen umstritten sind, lässt sich nicht leugnen, dass Caracas eine der höchsten Mordraten in Lateinamerika hat. Stadtteil-Aktivist_innen weisen in diesem Zusammenhang immer wieder darauf hin, dass die „bolivarische Revolution“ einen großen Teil der Jugendlichen offensichtlich überhaupt nicht erreicht. Das soziale Ansehen des mit Konsumgütern ausgestatteten Kriminellen ist höher als das eines Jugendlichen, der seinen Abschluss an einer der vielen neu gegründeten Fachhochschulen macht und zwar einen Job, aber eben keinen besonderen Reichtum erwarten kann.
So bleiben als große innenpolitische Errungenschaften der letzten Jahre vor allem die Misiones – eine Reihe von Sozialprogrammen, die 1998 von Chávez einberufen wurden und der Armutsbekämpfung und der sozialen Sicherheit der Bevölkerung dienen sollen. 40 Milliarden US-Dollar hat der staatliche Erdölkonzern PDVSA allein 2011 in die Bildungs-, Gesundheits-, Wohnungsbau- und Entwicklungsprogramme investiert. Ermöglicht wurde das nicht nur durch die hohen Ölpreise, sondern auch durch die Bereitschaft der Regierung, die Öleinnahmen zugunsten der Bevölkerungsmehrheit zu verwenden. In Zeiten neoliberaler Raubideologie wahrlich keine Kleinigkeit. Doch es gibt auch noch ein zweites wichtiges Argument, warum die arme Bevölkerung mehrheitlich nach wie vor hinter Chávez steht.
Die Veränderungen in Venezuela werden von Gegner_innen wie Anhänger_innen Chávez meist ausschließlich mit dem Präsidenten selbst erklärt. Dabei wird ausgeblendet, dass die Bevölkerung seit 1989 immer wieder gegen die politische Klasse rebelliert und dem Neoliberalismus schon vor Chávez‘ Amtsantritt eine entscheidende Niederlage zugefügt hatte. Der konstante, kaum von Organisationen getragene Widerstand machte das Land in den 1990er Jahren faktisch unregierbar. Der Soziologe Andrés Antillano spricht in diesem Sinne vom Entstehen einer „plebejischen Macht“, die seiner Meinung nach den entscheidenden Motor der Veränderungen im Land darstellt.
Antillano zufolge ist das Verhältnis dieser gesellschaftlichen Kraft zur Regierung durchaus komplex. Viele Venezolaner_innen würden präzise zwischen Oficialismo und Chavismo unterscheiden: Man verweigere sich jeder politischen Repräsentation, auch der der Regierungspartei PSUV, aber man sei für den Präsidenten. In den Worten Antillanos: „Chávez wird als Negation der Repräsentation betrachtet: der Kommandant, der die Abwesenheit eines Chefs gewährleistet, der Caudillo als Garant der Selbstbestimmung. Oder wie es in einer Parole heißt: ‚Mit Chávez regiert das Volk‘.“
Das mag bizarr klingen – doch richtig daran ist, dass Chávez, obwohl alle Entscheidungen im Land über ihn laufen, immer wieder für ein Machtvakuum sorgt, in dem Slum-Bewohner_innen und Kleinbäuer_innen zum ersten Mal in der Geschichte etwas zu bestimmen haben.
Auch außenpolitisch würde eine Niederlage des Präsidenten in der Region Einiges zum Schlechteren drehen. Dabei sind die Prinzipien der venezolanischen Außenpolitik in vieler Hinsicht skandalös. Das Gerede von der „antiimperialistischen Schwesterrevolution im Iran“ oder die demonstrative Freundschaft mit Despotien in der ganzen Welt können einem – auch wenn man die Demokratie- und Menschenrechtsrhetorik von EU und USA nicht minder abstoßend findet – nur den Magen umdrehen. Die Chávez-Regierung hält offensichtlich entschlossen an der ebenso simplen wie unsinnigen Position fest, dass gut sein muss, was Washington für schlecht befindet.
Doch selbst wenn es daran nichts zu verteidigen gibt, stimmt auf der anderen Seite eben, dass die Außenpolitik Venezuelas in Lateinamerika zu einer Verschiebung der Kräftekonstellation beigetragen hat. Die US-Dominanz scheint gebrochen. Selbst treue Verbündete wie Kolumbien, das in den vergangenen 15 Jahren zu den wichtigsten Empfängern von US-Militärhilfe in der Welt gehörte, sind ein Stück von Washington abgerückt.
Tatsächlich war die lateinamerikanische Politik im vergangenen Jahrzehnt von einer bemerkenswerten Arbeitsteilung zwischen Brasilien und Venezuela bestimmt: Während die Chávez-Regierung „für´s Grobe“ zuständig war – antiimperialistische Rhetorik, Bündnisse mit „Schurkenstaaten“ und der Aufbau eines sozialistischen Lagers mit Kuba, Bolivien und Ecuador –, hat Brasilien den Aufbau eigenständiger lateinamerikanischer Strukturen vorangetrieben: Mit der UNASUR (Union Südamerikanischer Nationen) existiert heute eine amerikanische Staatengemeinschaft, in der Washington nichts mehr zu melden hat. Auf die Staatsstreiche und Umsturzversuche in Honduras, Paraguay und Bolivien hat die Staatengemeinschaft dementsprechend, anders als früher, mit einer Isolation der Putschist_innen reagiert. Handels- und Entwicklungsvereinbarungen trifft man heute lieber vor Ort. Ob sich dadurch etwas Grundsätzliches ändert, mag dahingestellt sein. Brasilianisches Kapital treibt die Erschließung von Erdölvorkommen in Regenwaldregionen, die Ausweitung von Soja-Plantagen oder den Bau von Super-Häfen entschlossen voran. Die Entwicklungsmodelle bleiben die alten, nur die Staatsangehörigkeit der Investor_innen ändert sich. Immerhin: Wenn man bedenkt, mit welcher Aggressivität Lateinamerika von Europa und den USA ausgeplündert wurde, stellt ein solcher Perspektivwechsel wahrscheinlich doch einen Fortschritt dar.
Die Chávez-Regierung ist noch in weiterer Hinsicht außenpolitisch erfolgreicher, als es auf den ersten Blick scheint. Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos, Vertreter der traditionellen Oberschicht seines Landes, überraschte die Öffentlichkeit vor einigen Monaten mit der Aussage, Chávez sei ein Stabilitätsfaktor in der Region. Viele glaubten kaum, was sie da hörten: Ausgerechnet Chávez, der von Washington der Unterstützung von Guerillas und islamischen Netzwerken bezichtigt wird, soll ein Stabilitätsfaktor sein?
Offensichtlich kommt es auf die Perspektive an. Dass bewaffnete Aufstände heute in Lateinamerika diskreditiert sind, hat auch mit Venezuela zu tun. Der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, der eher einer Renaissance des Wohlfahrtsstaates als einem Sozialismus ähnelt, verweist auf die Möglichkeit, dass sich durch Wahlen bisweilen doch etwas verändern lässt.
Nicht zuletzt für Kolumbien ist die Perspektive interessant. Es ist kein Zufall, dass die Chávez-Regierung eine zentrale Rolle bei der Vorbereitung der Friedensverhandlungen zwischen Bogotá und der FARC-Guerilla (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) gespielt hat. Schon vor Jahren ist Venezuela auf Distanz zu den kolumbianischen Guerillas gegangen und hat diese zu einer Beendigung des bewaffneten Kampfes aufgefordert.
Das Schicksal der südamerikanischen Nachbarstaaten ist miteinander verwoben. Wie erwähnt, ist die Lage in Venezuela durchaus explosiv – und zwar nicht aufgrund „chavistischer Sabotage“, sondern wegen der sozialen Widersprüche im Land selbst. Vor allem im Westen Venezuelas haben Großgrundbesitzer_innen, kolumbianische Paramilitärs und Drogenhändler_innen, korrupte Einheiten der Nationalgarde sowie – untereinander teilweise verfeindete – Guerilla-Gruppen aus Venezuela (FBL – Bolivarische Befreiungskräfte) und Kolumbien (FARC und ELN – Nationale Befreiungsarmee) parallele Machtstrukturen aufgebaut. Ohne Chávez, der ein gewisses Gleichgewicht garantiert, könnte daraus schnell ein Flächenbrand werden. Man muss keine prophetischen Fähigkeiten besitzen, um zu begreifen, dass ein solcher Konflikt an den Landesgrenzen nicht halt machen würde.

Der Aufstand des Gewissens kommt!

Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind unter zehn Jahren an Hunger. Für Medien hat das einen Nachrichtenwert wie „Hund beißt Mann“. Der alltägliche Skandal findet in den Medien nicht statt. Schlagzeilen machen „nur“ eskalierende Hungerkrisen, die spektakuläre Bilder liefern. Welche Erwartungen hegen Sie mit ihrem Buch „Wir lassen sie verhungern“, das den alltäglichen Hunger thematisiert?
Zu allererst wollte ich mit diesem Buch eine Bilanz über meine Tätigkeit als erster UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung (2000-2008) vorlegen. Nun kann ich endlich offen sagen, wer die Halunken sind und worin die Hoffnung liegt, den Kampf gegen den Hunger erfolgreich zu führen. Das tägliche Massaker des Hungers ist ein nicht hinnehmbarer Skandal: 18 Millionen Menschen sterben jährlich an Hunger, Unterernährung und daraus resultierenden Mangelkrankheiten. Hunger ist bei weltweit 70 Millionen Toten im Jahr die mit Abstand führende Todesursache.

An einem objektiven Mangel liegt das nicht …
Keineswegs. Das geschieht auf einem Planeten, der vor Reichtum überquillt. Der World-Food-Report der Welternährungsorganisation FAO dokumentiert diesen Widerspruch augenscheinlich: Er beziffert die Zahl der permanent Unterernährten auf eine Milliarde – ein Siebtel der Menschheit. Andererseits sagt exakt dieser Bericht, dass die Weltlandwirtschaft in der heutigen Phase der Entwicklung der Produktionskräfte problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren könnte – also fast das Doppelte der Weltbevölkerung. Karl Marx dachte noch, dass der objektive Mangel den Menschen über Jahrhunderte begleiten würde. Aber der objektive Mangel ist überwunden. Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet. Das Fazit ist eindeutig: Es gibt keinen objektiven Mangel, es gibt ein objektives politisches Versagen.

Wer sind denn die Halunken?
Vor allem die zehn weltweit führenden Nahrungsmittelkonzerne. Entscheidend ist der Zugang zur Nahrung. Und wer entscheidet darüber? Die zehn Konzerne wie Cargill, Archer Midland, Bunge oder Louis Dreyfus, die weltweit 85 Prozent des Handels mit Grundnahrungsmitteln beherrschen. Diese Konzerne entscheiden jeden Tag – über ihren Einfluss auf die Preisbildung – ganz konkret, wer lebt und wer stirbt.

Eindeutig ist: Die Lebensmittelpreise zeigen in den letzten sechs, sieben Jahren trotz Schwankungen eine klare Tendenz nach oben. Fast alle Expert_innen halten die Spekulation für einen der gewichtigsten Preistreiber. Wie könnten die Regierungen sie bekämpfen?
Die Tendenz ist überdeutlich: Seit zwölf Monaten ist der Maispreis auf dem Weltmarkt um 63 Prozent gestiegen. Der Preis für die Tonne Weizen hat sich verdoppelt. Der Weltmarktpreis für Reis ist um 31,8 Prozent gestiegen. Und was passiert? Die Investmentbank Goldman Sachs legt munter neue Derivate auf, statt auf faule Immobilienkredite aber jetzt auf Soja, Reis, Mais oder Weizen. Die Spekulation mit Nahrungsmitteln läuft ungebremst weiter und ist durchaus legal.

Ist Spekulation auf Märkten nicht „normal“?
Mag sein. Aber sie könnte in Deutschland morgen gestoppt werden. Dafür reichte ein Bundestagsbeschluss, der das Börsengesetz entsprechend ändert. Jedes Land hat die gesetzgeberischen Möglichkeiten, die Spekulation einzudämmen. Allein 2008/2009 hat der internationale Bankenbanditismus 85 Billionen Dollar an Vermögenswerten vernichtet – die sogenannte Finanzkrise. Seither sind die großen Hedge-Fonds und Großbanken massiv auf die Rohstoffbörsen umgestiegen – insbesondere auf die Nahrungsmittelbörsen und machen dort astronomische Profite. Damit gefährden und zerstören sie das Leben von Millionen Menschen in der Dritten Welt. Nach der aktuellen Weltbankstatistik leben 1,2 Milliarden Menschen in extremer Armut, das heißt statistisch von weniger als 1,25 Dollar pro Tag.

1,25 Dollar pro Tag ist aus westeuropäischer Sicht unvorstellbar. Wie haben Sie solche Verhältnisse konkret erlebt?
Zum Beispiel in den Favelas von Rio de Janeiro und São Paulo, in den Calampas von Lima, in den Slums von Karatschi. Die Mütter haben dort ganz wenig Geld, um die nötigen Nahrungsmittel zu kaufen. Und wenn die Preise explodieren, gehen die Kinder an permanenter schwerer Unterernährung zugrunde.

Wie sieht es in Kuba aus?
Kuba fällt positiv aus dem Rahmen. Dort gewährleistet die Libreta (Bezugsheft für Grundnahrungsmittel und Güter des täglichen Bedarfs, d. Red.) grundlegend und tatsächlich das Recht auf Nahrung.

Die Zukunft der Libreta wird im Zuge der Reformen diskutiert. Kuba stellt sich die Frage, ob es angesichts knapper Mittel nicht sinnvoller wäre, „nur“ die Bedürftigen zu subventionieren statt alle Bürger und Bürgerinnen. Wie sehen Sie das?
Sie werden das Richtige entscheiden. Kuba verteidige ich aus Überzeugung. In Kuba essen die Kinder, gehen zur Schule, werden gepflegt, Punkt. Auf diesem Kontinent ist das schon sehr viel.

Sie loben Kuba. Wie schätzen Sie die Politik in Brasilien ein? Der aus bitterarmen Verhältnissen stammende ehemalige Präsident Lula legte die Anti-Hunger-Kampagne „Fome Zero“ auf. Andererseits ist die Landreform, auf die vor allem die Landlosenbewegung MST gehofft hat, in seiner Amtszeit (2003-2011) ausgeblieben. Daran scheint sich auch unter seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff nichts zu ändern. Ist die Agrarindustrie-Lobby zu stark?
Ich nehme Lula sein aufrichtiges Bemühen im Kampf gegen den Hunger auf alle Fälle ab. Er hat in seiner Präsidentschaft erfolgreiche Sozialpolitik betrieben, aber auf Strukturreformen verzichtet. Dafür gibt es meines Erachtens zwei Erklärungen. Lulas Partei, die PT, hat weder im Senat noch im Abgeordnetenhaus, also in keiner der beiden Kammern des Kongresses, eine eigene Mehrheit. Das zwingt zu Kompromissen und erschwert eine radikale Politik. Andererseits liegt es auch an der Person Lula selbst. Ich habe ihn persönlich kennengelernt. Von seinen Überzeugungen her ist er ein christlicher Gewerkschafter. Er sagte ganz offen, dass es ihm an theoretischer Bildung fehle. Dafür hatte er seinen Berater Marco Aurélio Garcia, ein Marxist, der während der Diktatur in Paris im Exil war. Lula ist ein typischer Gewerkschafter, der im Arbeitskampf groß geworden ist, im Klassenkampf im Betrieb. Er ist ein bewundernswerter Gewerkschafter, aber seine analytischen Fähigkeiten sind trotzdem begrenzt. Deswegen ist er den Großkonzernen ziemlich hilflos ausgeliefert.
 
2005 verkündete die Regierung Lula das Nationale Biodieselprogramm. Mit ihm soll der Plan Pró Álcool ausgebaut werden, der in Brasilien seit 1975 die Produktion von Agrotreibstoffen aus Zuckerroh vorantreibt. Wie bewerten Sie diese Strategie?
Das ist eine Katastrophe. Die Umsetzung vom Plan Pró Álcool hat zu einer raschen Konzentration des Bodens in den Händen einiger Zuckerbarone und transnationaler Konzerne geführt. In einem Land wie Brasilien, in dem Millionen Menschen ihr Besitzrecht auf eine kleine Parzelle verzweifelt verteidigen und in dem die Ernährungssicherheit bedroht ist, stellt das Land Grabbing durch die Multis und Souveräne Staatsfonds einen zusätzlichen Skandal dar.

Brasiliens Regierung argumentiert, dass Zuckerrohr keine Nahrungspflanze ist und damit die Ernährungssicherheit gar nicht tangiert …
Das ist ein Totschlagargument. Die Agrargrenze verschiebt sich fortwährend. Und in dem Maße, wie Brasilien den Lebensmittelanbau durch Zuckerrohrpflanzungen ersetzt hat, wird es in den Teufelskreis des internationalen Lebensmittelmarktes hineingezogen: Gezwungen, Lebensmittel einzuführen, die es nicht mehr selbst erzeugt, verstärkt es die globale Nachfrage, die wiederum die Preise nach oben treibt. Insofern ist die Ernährungsunsicherheit, in der trotz „Fome Zero“ viele Brasilianer leben, unmittelbar mit dem Pró Álcool-Programm verknüpft.

Ein traditionelles Problem für den Süden sind die Exportsubventionen für die nördliche Agrarindustrie. Ist da Besserung in Sicht?
Nicht im Ansatz. Die Agrar- und Export-Subventionen der Industriestaaten sind mit Abstand am verheerendsten. Diese Subventionspolitik tötet Menschen. Lebensmittel aus der EU überschwemmen Afrikas Märkte. Sie können dort fast überall Produkte aus Deutschland, Frankreich oder Griechenland kaufen, die ein Drittel billiger sind als die einheimischen. Kein Wunder, schließlich haben im Jahr 2010 die in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) vereinigten Staaten ihre Bauern mit 349 Milliarden Dollar unterstützt. Damit zerstören sie die Lebensgrundlage von Millionen Kleinbauernfamilien und stoßen sie ins Elend. Und wenn sie dann auf der Arbeitssuche nach Europa flüchten, versucht die EU, das mit militärischen Mitteln (Frontex) zu verhindern.

In Deutschland sind ein paar Banken aus dem Rohstoffhandel ausgestiegen. Zeichnet sich ein Wandel ab?
Nein. Die Banken sagen viel, wenn der Tag lang ist. Die kannibalische Weltordnung lässt ethisches Bankverhalten letztlich gar nicht zu. Ich rede mit Bankern, zum Beispiel vom Jabre-Fonds in Genf, und kann ihr Verhalten durchaus nachvollziehen. Die sagen mir klar, dass sie im Auftrag ihrer Kunden handeln. Die reichen Anleger wünschten eine möglichst profitable Geldanlage. Die Verpflichtung des Fonds sei es, die lukrativsten Anlagemöglichkeiten zu suchen. Verpflichtung?! Gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein hat da keinen Platz. Es geht um strukturelle Gewalt. Jean-Paul Sartre sagt: „Um die Menschen zu lieben, muss man sehr stark hassen, was sie unterdrückt.“ Nicht wer sie unterdrückt. Die kannibalische Weltordnung besteht aus der strukturellen Gewalt. Insofern halte ich es auch für reine Augenwischerei, wenn Banken ankündigen, sie würden aus dem lukrativen Rohstoffhandel aussteigen. Es sei denn, es wird gesetzlich angeordnet.

Dass ein Land vorprescht und die Nahrungsmittelspekulation verbietet, ist nicht absehbar.
Doch. In Spanien hat die Vereinte Linke im spanischen Parlament eine Gesetzesvorlage zum Verbot der Börsenspekulation mit Nahrungsmitteln eingebracht. Nach einem neuen UNICEF-Bericht vom Mai 2012 sind als Folge der absurden Austeritätspolitik der konservativen Regierung unter Ministerpräsident Mariano Rajoy 2,2 Millionen spanische Kleinkinder unter zehn Jahren permanent schwerst unterernährt. In Spanien, mitten in Europa! Und es gibt ähnliche Zahlen für England, Oxfam hat darüber eine Erhebung gemacht. Der wild wütende Raubtierkapitalismus rückt immer weiter vor nach Europa. Die hohen Lebensmittelpreise zerstören längst Familien in der Dritten Welt, in Lateinamerika, in Südasien und so weiter. Und bei uns fängt das jetzt an. Hartz IV ist nur ein Vorgeschmack. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Menschen bei uns in Europa das einfach so hinnehmen.

In diesem Kontext ist der Vorstoß der Vereinten Linken in Spanien ehrenwert, dass das jetzige Parlament sich dem anschließt, aber ausgeschlossen. Wo soll der Vorreiter denn herkommen?
Ich setze auf Deutschland. Deutschland ist die größte, lebendigste Demokratie des Kontinents und die dritte Wirtschaftsmacht der Welt. Das Grundgesetz erlaubt alles, alles. Die Waffen sind da. Die Politik hat die Möglichkeiten und in einer Demokratie kann sie vom Souverän, dem Volk, zu entsprechendem Handeln gezwungen werden. Merkel und Schäuble sind ja nicht von Gottes Gnaden in ihren Ämtern. Die sind da, weil sie die Mehrheit im Bundestag haben. Das kann sich ändern. Und man kann die Bundesregierung stürzen oder dazu zwingen, ihre Politik radikal zu ändern, was die Nahrungsmittelverteilung auf dem Planeten anbetrifft. Alle die mörderischen Mechanismen von Spekulation bis zum Land Grabbing sind Menschen gemacht – alle können demokratisch morgen früh gebrochen werden.
Was bis jetzt noch fehlt, ist das organisierte kollektive Widerstandsbewusstsein der Zivilgesellschaft. Aber das kommt. Der Aufstand des Gewissens, der kommt, der steht bevor. Er kündigt sich bereits an. Die Welt ist in Bewegung. Dafür sorgen Attac, Greenpeace, auch einige kirchliche Hilfswerke wie die Caritas, Care, Brot für die Welt etc. Das sind lebendige Organisationen. Sie machen mehr und mehr Druck.

Sie sind Optimist?
Ich halte es mit Antonio Gramsci: „Der Pessimismus des Verstandes verpflichtet zum Optimismus des Willens.“ Ich setze große Hoffnung auf die Zivilgesellschaft. Che Guevara hat gesagt: „Auch die stärksten Mauern fallen durch Risse.“ Und Karl Marx sagte: „Der Revolutionär muss das Gras wachsen hören.“

Wo wächst es?
Zum Beispiel in vielen Ländern des Südens, auch wenn die europäische Presse darüber schweigt – die Lateinamerika Nachrichten sind wahrscheinlich eine der wenigen Ausnahmen. Da sind die Bauernaufstände. Unglaublich, was da passiert in Honduras, auf den Philippinen, in Indonesien oder im Norden Senegals. Dort kämpfen Bauern mit bloßen Händen oder mit ganz wenigen Waffen darum, ihr Land zurückzugewinnen. Es gibt blutige Auseinandersetzungen jenseits der Öffentlichkeit. Oder die brasilianische Landlosenbewegung MST. Dort sind vier Millionen landlose Bauern organisiert – in einer Bewegung, das ist doch großartig. In all diesen Organisationen ruht große Hoffnung. Und die Via Campesina – eine internationale Bewegung von Kleinbauern, Pächtern, Tagelöhnern und Landarbeitern mit mehr als 200 Millionen Mitgliedern – hat auf den Weltsozialforen und darüber hinaus eine unglaubliche Arbeit bei der Vernetzung der kleinbäuerlichen Bewegungen geleistet und umfasst inzwischen mehr als 100 Organisationen aus Europa, Amerika, Asien und Afrika. Es gibt diesen kollektiven Widerstand und der ist großartig. Sie haben unsere Solidarität mehr als verdient.

Die Via Campesina setzt sich auch für eine völkerrechtlich bindende Erklärung im Menschenrechtsrat ein, die die Rechte von Kleinbauern und ländlicher Bevölkerung festschreiben soll. Rechnen Sie mit einem Erfolg?
Ich hoffe darauf. Die Revolution ist ein mysteriöser Prozess. Immanuel Kant schreibt: „Die Unmenschlichkeit, die einem anderen -angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.“ Der Aufstand des Gewissens steht bevor.

Infokasten:

Jean ziegler

Aus Schaden wird man klug. Jean Ziegler hat neuerdings eine Klausel im Vertrag stehen, dass der Verlag für die Anwaltskosten aufkommen muss, wenn es Klagen gibt. Der Hintergrund: Mit seinem Buch „Die Schweiz wäscht weißer“ zog sich Ziegler in den 90er Jahren den geballten Unmut der Schweizer Banken zu. Sie drängten erfolgreich auf die Aberkennung seiner Immunität als Schweizer Parlamentsabgeordneter und überzogen ihn mit Klagen wegen Rufmordes. Als Vizepräsident des beratenden Ausschusses für Menschenrechte genießt Ziegler derzeit UNO-Immunität. So sieht er eventuellen Klagen gegen sein gerade erschienenes Buch „Wir lassen sie verhungern – Die Massenvernichtung in der Dritten Welt“ gelassen entgegen. Einige seiner Bücher wie „Das Imperium der Schande“ und „Der Hass auf den Westen“ wurden internationale Bestseller. Ziegler, Bürger der Republik Genf, ist Soziologe und emeritierter Professor der Universität Genf sowie der Sorbonne in Paris. Er war bis 1999 Nationalrat (Abgeordneter) im Eidgenössischen Parlament und von 2000 bis 2008 Sonderberichterstatter der UNO für das Recht auf Nahrung. Ziegler ist Träger verschiedener Ehrendoktorate und internationaler Preise wie des Internationalen Literaturpreises für Menschenrechte (2008).

Vivan L@s Campesin@s!

Es klingt paradox: 80 Prozent der Hungernden leben auf dem Land und die Hälfte davon entstammt Kleinbauernfamilien. Die Hälfe von weltweit 925 Millionen Menschen! So viele werden derzeit laut der Welternährungsorganisation FAO in der Statistik der Hungernden geführt. Für 18 Millionen pro Jahr ist die Unterernährung tödlich – meist Kinder unter fünf Jahren.
Offensichtlich kommen diejenigen, die Nahrungsmittel produzieren, häufig selbst zu kurz. Ein Missstand, den zu ändern sich die Via Campesina zum Auftrag gemacht hat. Und dabei ist die mehr als 200 Millionen Menschen repräsentierende globale Landlosen-, Kleinbäuerinnen- und bauern-Bewegung wieder einen wichtigen Schritt vorangekommen: Ende September hat sich der UN-Menschenrechtsrat gegen die Stimmen der USA und der derzeit darin vertretenen EU-Staaten dafür ausgesprochen, eine „Konvention für eine Stärkung der Rechte von Kleinbauern und anderen Arbeitern in ländlichen Regionen“ auf den Weg zu bringen. Eingebracht hatten die Resolution neben dem federführenden Bolivien noch Kuba, Ecuador und Südafrika.
Damit hat ein Prozess begonnen, an dessen Ende eine UN-Deklaration stehen wird, die die Rechte von Kleinbäuerinnen und -bauern, Fischer_innen und Landarbeiter_innen schützen soll – einschließlich eines rechtlich verbindlichen Instruments gegen Land Grabbing (Landraub). In zwei Jahren soll eine Arbeitsgruppe ihre ersten Ergebnisse vorlegen.
Auch wenn Papier bekanntlich geduldig ist – völkerrechtlich verbindliche Konventionen sind mehr als ein Muster ohne Wert. Eine umfassende Konvention, die das Recht auf angemessene Ernährung sowie den Zugang zu Land, zu Wasser und zu Saatgut auf diese Weise festschreibt, erschwert es den Regierungen in Nord und Süd sowie den multinationalen Konzernen, diese Rechte weiter ungestraft mit Füßen zu treten. Allein 2009 fielen laut der Menschenrechtsorganisation FIAN 80 Millionen Hektar dem Land Grabbing zum Opfer. Millionen Menschen, die diese Flächen bisher traditionell beackerten, ohne einen Grundbuchtitel zu haben, hatten gegenüber internationalen Großinvestor_innen das Nachsehen. Eine Entwicklung, die durch hohe Nahrungsmittelpreise und den Ausbau der Agrotreibstoffproduktion weiter angeheizt wird.
Die USA und die EU-Staaten haben mit ihrer Ablehnung der Resolution im Menschenrechtsrat einmal mehr deutlich gemacht, dass sie den Welthunger nicht ernsthaft bekämpfen wollen. „Freiwilligen Leitlinien“ wie sie die FAO gegen den Landraub vorgeschlagen hat, stimmen sie ob ihrer Unverbindlichkeit gerne zu. Es kostet nichts und es ändert nichts. Die FAO hegt die Illusion, dass mit solchen Leitlinien alle zu ihrem Recht kommen: die Investor_innen, aber auch die Kleinbäuerinnen und -bauern, sowie die armen Länder.
US-Präsident Barack Obama ist da schon realistischer. Mit seiner im Mai auf dem G8-Gipfel lancierten „Neuen Allianz für Ernährungssicherheit und Ernährung“ setzt er ganz offen auf eine Kooperation mit der Privatwirtschaft. In der Liste der Partner finden sich so illustre Namen aus dem Agrobusiness wie der US-amerikanische Saatgutriese Monsanto, der Schweizer Pflanzenschutzmittelhersteller Syngenta, die Multis Cargill oder Unilever. Dass die deutsche Regierung davon begeistert ist und ihre Unterstützung zugesagt hat, verwundert nicht. Bei Entwicklungsminister Dirk Niebel gilt noch allemal das Motto „Satt macht, was Profite schafft“.
Via Campesina wird auch dieser Initiative ihr Konzept entgegensetzen: Selbstbestimmte Ernährungssouveränität anstelle von paternalistischer Ernährungssicherheit von Regierungsgnaden. Es gilt der alte Grundsatz: Das Land denen, die es bebauen. Eine verbindliche Konvention kann dabei nur helfen. Je schneller sie kommt, desto besser.

Der ungelöste Fall der „Cuban 5“

„Fünf Tage für die Fünf“: Unter diesem Motto versammelten sich Aktivist_innen aus zahlreichen Staaten Ende April in Washington D.C., um auf den Fall der „Cuban Five“ aufmerksam zu machen. 272 US- und internationale Organisationen sowie 2.000 Personen unterstützten die vom Internationalen Komitee für die Freiheit der „Cuban 5“ initiierten Aktionen in der Solidaritätswoche. 25 ausgewählte Unterstützer_innen führten in zwei Dutzend der Kongress-Büros Gespräche über diesen Skandal. Sie erreichten dort allerdings nur Mitarbeiter_innen und keine Abgeordneten. Immerhin wurde der Fall der Cuban 5 damit erstmals im Kongress besprochen.
Hintergrund der Geschichte ist der Zusammenbruch der realsozialistischen Staatengruppe Osteuropas nach 1989. Damit brachen für Kuba von einem Tag auf den anderen 85 Prozent des Außenhandels weg, was zu einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um ein Drittel führte. Dies wiederum stimulierte bei den Konservativen in den USA und vor allem bei den reaktionären Kreisen der Exilkubaner_innen in Florida die Hoffnung, nun endlich auch Kuba bezwingen zu können. Um den Zusammenbruch und den Regimewechsel in Kuba zu fördern, wurden zwei wichtige Gesetze durchgesetzt („Torricelli-Gesetz“ 1992, „Helms-Burton-Gesetz“ 1996). Und einige Gruppen verstärkten ihre kriminellen und terroristischen Aktivitäten gegen Kuba. Dazu gehörten Bombenanschläge auf Tourismuseinrichtungen. Bei einem davon wurde 1995 ein italienischer Tourist getötet. Als alle Beschwerden der kubanischen Regierung an die US-Administration nicht zu einer stärkeren Kontrolle solcher von Florida ausgehenden Aktivitäten führten, schleusten sich mehrere Kubaner als Kundschafter in kubafeindliche Gruppen – wie Alpha 66, Brigade 2506, Brothers to the Rescue, Independent and Democratic Cuba, Comandos L, Cuban American National Foundation – in Miami ein. Sie sammelten dort Informationen, mit denen zahlreiche Anschläge gegen Kuba vereitelt und nachweislich Menschenleben gerettet werden konnten. Kubanische Behörden luden das FBI nach Havanna ein, legten die Erkenntnisse der Kundschafter offen und händigten meterweise Akten aus. Mit dieser Übergabe war die Hoffnung verbunden, dass nun die Anschläge gegen Kuba beendet und die Täter in den USA zur Verantwortung gezogen werden würden. Aber es wurden nicht etwa die Terroristen in Florida festgenommen, sondern die erwähnten fünf Kubaner.
Gerardo Hernández, Antonio Guerrero, Fernando González, René González und Ramón Labañino wurden 17 Monate in Isolationshaft in verschiedenen US-Hochsicherheitstrakten gehalten. Sie berichten, dass es dort kein Fenster gab, das Licht 24 Stunden lang gebrannt und die Schlafstelle aus einer schmalen Betonfläche und einem Laken bestanden habe. Strafmaßnahmen wie Isolationshaft dürfen in den USA jedoch nicht länger als 60 Tage andauern und nur bei Gefangenen angewendet werden, die gewalttätig wurden. Aber gegen die „Cuban 5“ dauerten sie 17 Monate und wurden nur aufgrund internationaler Proteste begrenzt.
Die „Cuban 5“ wurden schließlich angeklagt – wegen Spionage. Das Gerichtsverfahren wurde in Miami durchgeführt, obwohl dort eine aggressive antikubanische Atmosphäre herrscht und die Jury-Mitglieder eingeschüchtert wurden. Von NGOs in den USA wurde im Sommer 2011 mit Hilfe des „Freedom of Information Act“ aufgedeckt, dass die US-Regierung die feindselige Berichterstattung heimlich und illegal durch Zahlungen an prominente und einflussreiche Journalisten in Florida unterstützt hat. Der anfangs gegen die „Cuban 5“ erhobene Vorwurf der Spionage war nicht haltbar. Daher wurde die Anklage umformuliert zu einer „Verschwörung zu einem Verbrechen gegen die USA“. Dazu brauchten keine Beweise vorgelegt zu werden. Man bestrafte eine angenommene Absicht – in drei Fällen mit lebenslänglich. Die Strafmaße sind völlig unverhältnismäßig, denn Strafen bei vergleichbaren Anklagen betragen höchstens fünf bis zehn Jahre, bei Vergehen mit falschen Ausweispapieren wird zudem oft nur eine Ausweisung verfügt. Zu den inhumanen Haftbedingungen gehört auch, dass Familienmitgliedern, wie zum Beispiel der Ehefrau Gerardos, das garantierte Besuchsrecht vorenthalten wurde. Aufgrund von Verfahrensfehlern wurden die Strafen geringfügig reduziert. Die „UN-Arbeitsgruppe zu willkürlichen Inhaftierungen“ hat das Vorgehen der US-Behörden gegen die „Cuban 5“ als „willkürlichen Freiheitsentzug“ eingestuft. Und Amnesty International forderte 2010, den Fall erneut zu prüfen und die Ungerechtigkeit durch Gnadenerlass abzumildern. Zahlreiche internationale Solidaritätsgruppen und Persönlichkeiten, darunter Nobelpreisträger wie Günter Grass, kritisieren diese Rechtsverstöße der USA und fordern die unverzügliche Freilassung der „Cuban 5“.
In Kuba wird deren Schicksal intensiv verfolgt, sie werden dort als Volkshelden, als „Cinco héroes“ bezeichnet. Es vergeht keine Konferenz oder Veranstaltung, auf der nicht ihrer gedacht und ihre Freilassung gefordert wird. Nach Auffassung von Kenner_innen des Falles sind die „Cuban 5“ in den USA Opfer eines politischen Prozesses geworden. Dies wird in einschlägigen Texten (zum Beispiel der Dokumentensammlung „Der Fall der Cuban 5, eine schwer vermittelbare Geschichte“, Hrsg. Josie u. Dirk Brüning) und dem Film des US-Politikwissenschaftlers Saul Landau („Will the real terrorist please stand up?“) deutlich. In den weltweit engagierten Solidaritätsgruppen wird dies so interpretiert wie vom Netzwerk Cuba: „Verurteilt wurden die fünf dafür, dass sie ihr Land vor terroristischen Anschlägen bewahrten, und sie werden dafür bestraft, dass sie aufrecht bleiben. Beispielhaft stehen sie für das Recht einer eigenständigen Entwicklung ihres Landes, für die Tatsache, dass Kuba sich seit nunmehr 50 Jahren von einem Hinterhof der USA in ein souveränes, sozialistisches Land verwandelt hat und dies trotz der umfassenden Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade durch die USA und ihrer europäischen Partner.“ (www.netzwerk-cuba.de). Einer der „Cuban 5“, René González, wurde am 7. Oktober 2011 nach Verbüßung seiner 13-jährigen Haftstrafe entlassen. Er muss sich jedoch noch drei weitere Jahre in Florida aufhalten, wo er aufgrund der gegen Kuba agierenden Gruppen mit Übergriffen zu rechnen hat und sich in Lebensgefahr befindet. Kürzlich wurde ihm gestattet, für zwei Wochen nach Kuba zu reisen, um seinen krebskranken Bruder zu besuchen.
Nachdem die juristischen Mittel für die „Cuban 5“ im Rechtssystem der USA ausgeschöpft sind, wird nun auf politischen Druck gesetzt. Ein Höhepunkt dieser Bemühungen war im Jahr 2011 eine internationale Unterschriftenkampagne, bei der circa 400.000 Unterschriften gesammelt werden konnten. Die Unterzeichner_innen appellierten an US-Präsident Barack Obama, die „Cuban 5“ freizulassen. Der Präsident der USA ist dazu befugt. Und die jüngste Solidaritätswoche in Washington, D.C. stellt einen neuen Höhepunkt dar. Neben den Gesprächen im Kongress fanden Buch- und Filmpräsentationen, Veranstaltungen mit Kirchen und weiteren Zielgruppen sowie eine spektakuläre Kundgebung vor dem Weißen Haus statt. Aus Deutschland nahm der Völkerrechtler Prof. Norman Paech teil, der sich seit Jahren mit dem Fall befasst. Er resümiert die Solidaritätswoche so: „Wir haben Aufklärungsarbeit geleistet, wobei man uns schnell zu verstehen gab, dass vor den Wahlen im Herbst mit keiner Initiative der Parlamentarier zu rechnen ist.“ Im Herbst wird in Berlin das Europatreffen der Solidaritätsgruppen stattfinden und über weitere Aktivitäten beraten.

Die merkwürdigen Chinesen

Der Mord ist aufwendig inszeniert. Mit auf die Brust geritzten geheimnisvollen Zeichen hängt der alte Pedro Cuang nackt an einem Deckenbalken. Der Zeigefinger seiner linken Hand ist abgetrennt, in der anderen Hand befinden sich zwei Kupfermünzen, die die gleichen Symbole tragen wie seine Brust. In einem Kreis kreuzen sich zwei Pfeile, vervollständigt durch vier kleine Kreuze. Teniente Mario Conde, seines Zeichens Liebhaber von gutem Essen, Alkohol, tiefgründiger Prosa und hübschen Frauen, hat eigentlich Urlaub. Seine attraktive afrochinesische Kollegin Patricia Chion überredet ihn jedoch dazu, in dem ominösen Mordfall Ermittlungen anzustellen. Diese führen Conde in das chinesische Viertel von Havanna, das Barrio Chino, wo er zunächst Hilfe bei Patricias Vater Juan Chion sucht. Die Indizien deuten im Laufe der Geschichte in Richtung Drogenhandel, religiöse Kulte und Wettmafia, ohne dass es Conde so recht gelingen mag, das Barrio Chino und dessen Bewohner_innen zu verstehen. Über plumpe Klischees kommen seine Gedanken nicht hinaus, denn „eigentlich kam ihm alles merkwürdig vor am Leben dieser Chinesen, die seit mehr als einem Jahrhundert mitten in Havanna lebten und dennoch Fremde geblieben waren”.
Mit Der Schwanz der Schlange kehrt Leonardo Padura in das Jahr 1989 zurück, in dem die ersten vier Folgen der Conde-Serie spielen. Trotz der Gleichzeitigkeit zählt der Autor das Buch literarisch jedoch nicht zum Havanna-Quartett. In Kuba erschien die Geschichte in einer früheren Form bereits als Erzählung, nun hat Padura sie für die Veröffentlichung in Europa zu einem Roman umgearbeitet. Der verharrt in weiten Teilen leider an der Oberfläche der Geschichte, die Figuren sind schwach entwickelt, die Aufklärung des Falls birgt nur wenig Spannung in sich.
Nun standen zwar auch im Havanna-Quartett nie die Kriminalfälle im Vordergrund. Diese dienten Padura stets nur als Handlungsgerüst, um in den kubanischen Alltag einzutauchen. Mit Hilfe der Figur des Polizisten Conde gelang es dem Autor meisterhaft, die Stimmung der kubanischen Krise einzufangen, wie sie durch das nahende Ende der Sowjetunion unausweichlich wurde. Auch die beiden weiteren Conde-Romane, in denen der Protagonist der Polizei frustriert den Rücken gekehrt hat und sich als Antiquar verdingt, funktionieren nach diesem Schema. Doch zeichneten sich die anderen Geschichten stets durch eine intelligente und tief gehende Beschäftigung mit den jeweiligen Themen aus, sei es etwa die Korruption hoher Parteikader oder Homosexualität in Kuba. Die hohen Erwartungen, die Padura durch die bisherigen sechs Conde-Romane geweckt hat, erfüllt Der Schwanz der Schlange daher kaum. Hier und da wird angedeutet, was die Conde-Serie interessant macht. Wer dem kubanischen Ermittler auf diese Weise erstmals begegnet, kommt ohne weiteres in dessen übersichtliche Welt hinein, weil alle für die Serie wichtigen Personen eingeführt werden. Als Einstieg sind die großartigen Romane des Havanna-Quartetts aber allemal vorzuziehen.

Leonardo Padura // Der Schwanz der Schlange // Aus dem kubanischen Spanisch von Hans-Joachim Hartstein // Unionsverlag // Zürich 2012 // 180 Seiten // 19,95 Euro //CHF 28,90 // www.unionsverlag.com

Erfolgloses Embargo gegen Kuba

Was die Polizei erlaubt, erlaubt das Embargo noch lange nicht. Diese bittere Erfahrung musste der dänische Polizist Torben Nødskouv Christensen im Februar machen. Über seine dänische Hausbank wollte der nebenberufliche Onlinehändler 26.000 US-Dollar an einen Hamburger Händler für die Lieferung von kubanischen Zigarren überweisen. Die Bank wollte den Transfer von Dänemark nach Deutschland wegen der Währung über die Zwischenstation USA abwickeln und übersah die Tücken des Embargos: Die US-Regierung beschlagnahmte kurzerhand die gesamte Überweisung. Kein Handel mit Kuba!
50 Jahre und kein bisschen weiser: Am 7. Februar 1962 verhängten die USA unter dem Präsidenten John F. Kennedy ein umfassendes Wirtschaftsembargo gegen Kuba, das fünf Wochen später auf Importe aus Drittländern mit kubanischem Wertschöpfungsanteil ausgeweitet wurde. Die Karibikinsel war nach der Revolution 1959 zum Stachel im Fleisch des Imperiums geworden. Verstaatlichungen, Enteignungen, Annäherung an die Sowjetunion hatten Washington im Kalten Krieg bis aufs Blut gereizt und zu einer kläglich gescheiterten Invasion in der Schweinebucht im April 1961 provoziert. Statt auf Wandel durch Annäherung setzten und setzen die USA in Kuba seither auf wirtschaftliche Strangulation.
Washingtoner Voraussetzung für eine Aufhebung der Sanktionen ist eine kategorische Absage an den Sozialismus und eine Entschädigung der enteigneten US-Unternehmen seitens Kuba. Auch 2012 ist dies politisch und ökonomisch undenkbar.
Doch John F. Kennedys Kalkül ging definitiv nicht auf. Neun Präsidentenwechsel im Weißen Haus später ist ein Systemwechsel immer noch nicht in Sicht. Sicher ist, dass die Blockade in Kuba, aber auch in den USA und Drittländern, beträchtlichen ökonomischen Schaden angerichtet hat: die kubanische Regierung beziffert die Kosten auf 104 Milliarden US-Dollar. Sicher ist aber auch, dass das Embargo innenpolitisch Kuba eher gegen den Feind nach außen mobilisiert als eine Öffnung befördert.
Die USA sind in Sachen Blockade außenpolitisch mehr denn je isoliert. Seit 1992 stimmt innerhalb der UNO auf Antrag Kubas eine wachsende Mehrheit für die Aufhebung der Handels-, Wirtschafts- und Finanzblockade seitens der US-Regierung. 2011 waren es 186 Staaten, nur die USA und Israel stimmten dagegen, die drei Inselstaaten Mikronesien, Marshall-Inseln und Palau enthielten sich.
Washington zeigt sich freilich auch unter Barack Obama von den UNO-Beschlüssen gänzlich unbeeindruckt. Mehr als sanfte Lockerungen des Embargos wie Reiseerleichterungen und großzügigere Geldüberweisungsmöglichkeiten brachte Obama in seiner Amtszeit nicht auf den Weg. Die Angst vor dem Einfluss der Hardliner unter den Miami-Kubanern und ihren medialen Unterstützer_innen ist nach wie vor groß, auch wenn inzwischen eine knappe Mehrheit der Exil-Kubaner_innen für die Aufhebung der Blockade ist.
So starr die USA am Systemwechsel festhalten, so flexibel agieren sie teils, wenn es um eigene Wirtschaftsinteressen geht. So konnte die Agrarlobby um die Jahrtausendwende durchsetzen, dass sie ihre Überschüsse gegen Bargeld auch an Kuba verkaufen darf. Die US-Agrarexporte auf die Karibikinsel belaufen sich inzwischen auf über 500 Millionen US-Dollar im Jahr. Alles andere als Peanuts.
Bis heute hatte keine US-Regierung den Mut, das offensichtliche Scheitern des Embargos einzugestehen. Den 50. Jahrestag überging das offizielle Washington mit viel sagendem Schweigen. In Havanna ist man sich deswegen sicher, den längeren Atem zu haben.
Der Tabakhändler Christensen wartet derweil weiter auf sein Geld. Die USA bleiben stur, so dass ihm nur noch die Klage gegen die eigene Bank bleibt. Und sein Vorrat an Cohibas zum Dampf ablassen neigt sich dem Ende entgegen – ganz im Gegensatz zum Embargo.

Wettbewerb für die Revolution

Das imposante Panorama würde jede Postkarte schmücken. Ein strahlend blauer Himmel, die Dachlandschaft von Santa Clara im postkolonialen Stil und ganz im Osten der Hügel von Capiro. Von dort hatte Che Guevara mit seiner Rebellenarmee Ende 1958 den Truppen von Diktator Fulgencio Batista den entscheidenden Schlag versetzt, um die Stadt im geographischen Zentrum Kubas zu befreien.
„Ein Ausblick, der mich jedes Mal inspiriert“, sagt Raúl Mendoza. Genießen kann er ihn in seiner lichtdurchfluteten geräumigen Dachwohnung im Zentrum Santa Claras, wo der 47-Jährige mit seiner Familie lebt – und arbeitet. Das zur Werkstatt umfunktionierte Wohnzimmer ist sein Firmensitz. „Reparaciones Modelo“, wie er seinen ersten eigenen Betrieb genannt hat, widmet sich der Reparatur und Wartung von Computern und elektronischen Geräten. Um dorthin zu gelangen, müssen die Kund_innen den Umweg über die vier Stockwerke des benachbarten Hotels Modelo machen. Das gehörte einst seinem Großvater und wurde konfisziert, als Mendoza drei Monate alt war, wie der Enkel ohne Groll erzählt.
Mendoza war stets ein Anhänger der Revolution. Die gelte es weiterzuentwickeln, etwa durch die bisher noch recht vorsichtige wirtschaftliche Öffnung. Der verdanke er die Möglichkeit seiner Selbständigkeit: „Wettbewerb ist wichtig für das Land, nur so kann die Qualität der Dienstleistungen verbessert werden.“ Mendoza selbst hat noch recht wenig Konkurrenz, weil es außer der staatlichen Firma Copextel, für die er selbst sechs Jahre arbeitete, keinen weiteren Anbieter für derlei Dienstleistungen gibt. Bei hoher Nachfrage. Computer müssen in einem Land, wo neue Geräte zu fast unerschwinglichen Preisen zu kaufen sind, mindestens 15 Jahre halten. Aufgrund des Mangels an Ersatzteilen ist also ein gut durchdachtes Recycling angesagt.
Es war eine Marktlücke, in die Mendoza stoßen konnte. Das Patent bekam er fast problemlos. Hilfreich dabei waren die veränderten Rahmenbedingungen für Kleinunternehmer_innen, sein Titel („Ingeniéro en Control Automático“), seine Erfahrung und sein guter Ruf. Zunächst arbeitete er allein, im letzten Sommer kam dann ein ehemaliger Copextel-Kollege hinzu. Beide sind Computer-Spezialisten, aber mit unterschiedlichen Schwerpunkten, was eine gute Arbeitsteilung ermöglicht.
Mittlerweile zählen auch zwei Lehrlinge zur Belegschaft. Einer von beiden, Carlos Enrique Cao García, brach sein Elektronik-Studium ab. „Ich wollte einfach nur arbeiten“, begründet der 22-Jährige diesen Schritt, den das Auseinandernehmen, Wiederzusammensetzen und Reparieren von Lampen, Radios oder Fahrrädern schon immer fasziniert hat. Am Anfang habe der Tüftler dabei noch viel kaputt gemacht, doch sei er ganz schnell zum Reparaturexperten der Familie aufgestiegen. Sein ganzer Stolz ist ein aus gebrauchten Ersatzteilen zusammengebauter Verstärker, der über zwei auch selbst kreierte Boxen durchaus passabel klingt.
Trotz aller Eigeninitiative: Mendoza ist der Chef. Er sorgt für die Aufträge, schickt seine Leute zu Kund_innen schickt und legt die Preise fest. Seinen Auszubildenden zahlt er einen für kubanische Verhältnisse respektablen Lohn von 500 Peso im Monat – minus 80 Peso Sozialabgaben. Sein eigenes Einkommen schwankt zwischen 2.000 und 3.000 Peso (zwischen 65 und 97 Euro). Damit kann er seine siebenköpfige Familie besser als zu Copextel-Zeiten versorgen. Und er genießt es, sein „eigener Boss“ zu sein. Die Gehälter machen etwa die Hälfte des monatlichen Umsatzes von rund 10.000 Peso aus, wovon zehn Prozent nebst einer Fixsumme von 90 Peso als Steuer an den Staat gehen. „Das ist okay“, sagt Mendoza.
Für die Zukunft ist eine Geschäftsexpansion nicht ausgeschlossen. Bisher hat der Ingenieur nur zwei staatliche Kunden, will diesen Zweig aber unbedingt ausbauen. „Viele haben noch Angst, sich für uns zu entscheiden, auch wenn unsere Dienstleistungen preiswerter und besser sind“, erklärt er. Sobald wie möglich wolle er ein Lager und mittelfristig auch einen Raum für eine Werkstatt in der Stadt anmieten. Damit aus dem aktuellen Arbeits- wieder das ursprüngliche Wohnzimmer der Familie wird. Den traumhaften Ausblick könnte der Kleinunternehmer dann allerdings erst wieder nach Feierabend genießen.

Kasten:

Wirtschaftsreformen in Kuba
Hintergrund des Umbaus der kubanischen Wirtschaft ist die größte ökonomische Krise seit der Sonderperiode, die 1991 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe eingeführt wurde. Die Krise wurde durch einen massiven Rückgang der Wirtschaftsleistung seit 2008 ausgelöst, die Kuba an den Rand der Zahlungsunfähigkeit gegenüber seinen internationalen Gläubigern brachte. Dies veranlasste die Regierung unter Präsident Raúl Castro zu Reformen.
Ihr Ziel: Ausweitung der selbständigen Arbeit als Alternative zur staatlichen Beschäftigung, das heißt Aufwertung der Privatinitiative vom notwendigen Übel (wie zuvor) zum Hebel für Produktivität und Effizienz. Es handelt sich dabei laut Raúl Castro trotz der Liberalisierung des Arbeitsmarktes und folgenreicher Strukturanpassungsmaßnahmen um keine „Privatisierung“, sondern um eine „ökonomische Dezentralisierung“, bei der sich der Staat in vielen „nicht-strategischen“ Bereichen vom Verwalter zum Regulierer wandelt. Die wichtigen Produktionsmittel bleiben staatlich, am Gesundheitssystem, Bildung und weiteren Errungenschaften wird nicht gerüttelt.
Nach der Freigabe von 180 Berufen für die Selbständigkeit (im Oktober 2010), bei 83 mit der Möglichkeit der Gewerbetreibenden, eine begrenzte Anzahl von Arbeitskräften einzustellen, ist die Zahl der Selbständigen bis heute von 144.000 auf mehr als 357.000 gestiegen. Viele davon aus dem Staatssektor, in dem von 2011 bis 2015 1,8 Millionen Stellen (bei insgesamt 5 Millionen Beschäftigten auf Kuba) abgebaut werden sollen. Bis 2015 soll der Privatsektor auf mehr als 35 Prozent der Beschäftigten sowie 45 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausgeweitet werden. Mit weiteren, zuvor in der gesamten Bevölkerung diskutierten Maßnahmen wie Kreditprogramme für die Privaten sowie die Freigabe des Kaufs- und Verkaufs von Autos und Immobilien wurden auf dem VI. Kongress der Kommunistischen Partei Kubas im April 2011 der wirtschaftliche Reformwille unterstrichen.

„Wir können uns keine Fehler leisten“

Vielen Unternehmer_innen in Kuba geht es nicht schnell genug mit den Reformen. Warum mahnt Raúl Castro zur Geduld statt den Umbau der kubanischen Wirtschaft wie auf dem Parteitag beschlossen voranzutreiben?
Es passiert doch kontinuierlich etwas. Jede Woche gibt es eine neue Maßnahme, neue Bestandteile einer Reform. Am 20. Dezember wurde eine Maßnahme bekannt gegeben, am 23. Dezember eine weitere; nun am 4. Januar wieder eine – es geht schon voran, aber in kleinen Schritten.

In sehr kleinen Schritten, denn die Reform des Gesetzes 259, welches die Landwirtschaft im zweiten Anlauf wieder flott machen soll, wurde vertagt…
Die Entscheidungen sind gefallen, nur die Ausformulierung zum Gesetz scheint nicht fertig zu sein. Unstrittig ist, dass die Bauern das Land länger vom Staat zur Verfügung gestellt bekommen; unstrittig ist auch, dass die Bauern auf dem Land nun Häuser, Lagerhallen und dergleichen bauen dürfen. Es ist nicht so, dass hier nichts passiert. Vor ein paar Tagen sind Maßnahmen beschlossen worden, die den einkommensschwachen Schichten ermöglichen, Baumaterialien zu kaufen und ihre Häuser zu reparieren – dafür soll es auch Kredite geben.
Seit Monaten warten die Selbständigen in Kuba auf die Einrichtung von Großmärkten, um Arbeitsmaterialien zu kaufen. Warum lässt man die Leute so lange warten?
Die Leitlinien zur wirtschaftlichen Neuausrichtung reichen bis in Jahr 2015 und es gibt einen Zeitplan. Man will nichts überstürzen und es gibt Leitlinien, die schnell umgesetzt werden können wie die Aufhebung von Verboten, andere sind komplexer und brauchen mehr Zeit. Geplant ist aber, dass in den Jahren 2012 und 2013 die wichtigsten Entscheidungen getroffen werden. Die wichtigsten Maßnahmen, so hat es Marino Murillo Jorge, der Beauftragte für die Umsetzung der Beschlüsse des Parteitags angekündigt, werden derzeit ausgearbeitet. Zudem hat es einige Maßnahmen in den letzten Woche gegeben, die für Schlagzeilen gesorgt haben – der freie Autoverkauf, der freie Hausverkauf, die ersten Maßnahmen in der Landwirtschaft, die Kreditprogramme…

Dennoch: Wenn man in Havanna mit Handwerker_innen und Selbständigen im gastronomischen Sektor spricht, fällt immer wieder das Wort Großmärkte. Warum gibt es die bisher immer noch nicht? Warum müssen die Selbständigen ihre Produkte zu Einzelhandelspreisen kaufen?
Bisher gibt es diese Märkte nicht, aber es wurden im Dezember die ersten Maßnahmen verabschiedet, die in diese Richtung gehen. Es soll einen Preisnachlass von 20 Prozent für Lebensmittel in Großhandelsmengen geben – zum Beispiel werden 5-Liter-Kanister mit Speiseöl und Mehlsäcke für die Gastronomie billiger.

Ein Schritt, aber noch keine Lösung.
Ja, aber man muss auch etwas Geduld haben, wie Raúl Castro mehrfach angemahnt hat. Alle Welt will einen schnellen Reformprozess, aber ich ziehe eine langsamen und dafür soliden Weg vor. Wir können uns keine Fehler leisten. Man muss auch bedenken, dass es bis heute keine Rückschläge gibt – keine Maßnahme wurde zurückgenommen. Es geht nur in eine Richtung.

Wie sieht es denn im Bereich der freiberuflichen Tätigkeit aus? Wird es in absehbarer Zeit Neuerungen geben?
Ja, es gibt neue Pläne, aber keine konkreten Zeitpunkte. Aber eine interessante Maßnahme gibt es. Die staatlichen Reparaturunternehmen sollen allesamt privatisiert werden. Das betrifft Elektriker, die Fernseher, Radios oder Uhren und Nähmaschinen reparieren. Aus diesen Bereichen wird der Staat sich zurückziehen. Bisher gibt es rund 340.000 erteilte Lizenzen für die Freiberuflichkeit in Kuba – diese Zahl soll weiter zunehmen und hat sich 2011 fast verdoppelt.

Wie steht es um die anvisierten Kredite von Seiten des Staates? Hat die Regierung ausreichend Kapital, um diese Kredite zu gewähren?
In nationaler Währung ja, in harten Devisen nicht. Mit den Krediten betreten wir Neuland, denn Kredite in nationaler Währung und in CUC, dem Devisenpeso, hat es bisher in Kombination nicht gegeben. Da muss sich das Banksystem vollkommen neu aufstellen.

Warum hat die Regierung in Havanna bisher die Angebote aus Brasilien und der EU nicht angenommen sich bei den Kreditprogrammen helfen zu lassen? Mehr als 20 Millionen US-Dollar wurden angeboten.
Es hat eine Reihe von Angeboten gegeben, aber die Regierung will anscheinend mit den eigenen Ressourcen zurechtkommen. Ob es zu einem späteren Zeitpunkt zu Kreditprogrammen kommen wird, die vom Ausland finanziert werden, muss man abwarten. Der Prozess geht etwas langsam voran, das ist richtig.

Welche Bedeutung hat die Bohrinsel, die seit einigen Wochen vor Kuba nach Öl bohrt?
Aus ökonomischer Perspektive keine, denn selbst wenn man Öl finden sollte, wird es mindestens fünf Jahre dauern bis gefördert werden kann. Aber natürlich gibt es eine große Hoffnung, dass Öl in kommerzialisierbarer Menge und Qualität gefunden wird. Sollte das eintreten, dann wird es auch Geld für die Förderplattformen geben. Kuba könnte zum Ölexporteur werden oder zumindest unabhängig von Importen und das wäre schon ein großer Schritt für die Erholung der Wirtschaft. Derzeit importieren wir ungefähr 50 Prozent unseres Erdölbedarfs.

Ist denn die Produktivität gestiegen? Es hat den Anschein, dass sich die Regierung schwer tut Maßnahmen wie die Legalisierung von kleinen Genossenschaften umzusetzen.
Grundsätzlich stellt uns hier die Alterung der Bevölkerung vor neue Aufgaben. Der Anteil der Jungen ist stark rückläufig und der Anteil der älteren Menschen steigt kontinuierlich. Wer soll dann für die Alten in Zukunft arbeiten? Wir müssen deswegen die Produktivität erhöhen, dazu gibt es keine Alternative. Das Genossenschaftsgesetz wird in diesem Jahr verabschiedet werden. Es betrifft den nicht-landwirtschaftlichen Sektor und kann einiges zu mehr Produktivität beitragen.

Gibt es ein konkretes Datum?
Nein, nein, konkrete Daten werden nie im Vorfeld bekannt gegeben.

Viele der Maßnahmen, die angedacht sind und in diesem Jahr umgesetzt werden sollen, kosten Geld. Wie steht es um die finanzielle Situation der Regierung?
Es gibt sicherlich nicht genug Geld, aber anders als früher setzt die Regierung auf eine restriktive Geldpolitik. Die hat es ermöglicht, dass das Gros der Schulden bei den Unternehmen, die in Kuba agieren, bezahlt wurden. 2009 wurden mehrere Konten eingefroren, weil Kuba in finanziellen Schwierigkeiten war. Diese Konten sind nun allesamt wieder frei und die Außenstände bezahlt. Derzeit gibt es die Leitlinie, Schulden zu zahlen, speziell die kurzfristigen Verbindlichkeiten mit China und anderen Ländern zu begleichen. Ohne die Bedienung der Schulden wird Kuba keine neuen Kreditlinien erhalten, so einfach ist das und deshalb versucht die Regierung besser zu wirtschaften. Wir wollen unsere finanzielle Situation verbessern, aber derzeit sind die Beträge, die ins Land kommen, noch zu gering.

Bis zum 1. April 2011 sollten eigentlich eine halbe Million Kubaner_innen in staatlicher Beschäftigung entlassen werden, um das Budget zu entlasten. Die Entlassungen wurden im Februar aber unterbrochen. Sollen sie wieder aufgenommen werden?
Sie wurden nie ganz eingestellt, aber es ist richtig, dass nie die Zielperspektive erreicht wurde. Es sind 127.000 Kubaner entlassen worden und ich bin der Meinung, dass man das eine mit dem anderen kombinieren muss – Reformen mit Entlassungen. Das ist genauso wichtig, wie die Löhne zu erhöhen. Natürlich ist es Ziel, die Unterbeschäftigung zu beenden, doch das geht nur graduell und sollte kombiniert werden mit Lohnanreizen. Ich glaube, dass wir in diesem Jahr etwas produktiver werden.

Wo sehen Sie die wichtigsten Herausforderungen? In der Landwirtschaft?
Da sind erste Ansätze zu sehen, es gibt einige Anbauprodukte, bei denen die Erträge gestiegen sind. Ich denke, dass es eminent wichtig ist, dass die Leute sehen, dass es vorangeht, dass sich etwas bewegt. Immerhin wurde mehr als eine Million Hektar Fläche an Klein- und Neubauern verteilt – da sollten sich Erfolge einstellen, denn grundsätzlich produzieren die privaten deutlich mehr als die staatlichen Unternehmen. Das liegt nicht nur an den Besitzverhältnissen, sondern auch an den Produktionsverhältnissen und den Strukturen. Wie organisieren sich die Bauern, wie verkaufen sie ihre Produkte und so fort. Das sind Herausforderungen, vor denen wir stehen, und wir müssen es schaffen, die Bauern zu animieren, die Erträge zu steigern. Zudem müssen wir auch Mittel für Investitionen generieren.

Woher sollen die kommen? Die Regierung hat kaum Mittel und die Investor_innen stehen nicht gerade Schlange.
Die Regierung sucht Investoren für Großprojekte und einige schreiten voran, wie der Ausbau des Hafens von Mariel, für den Brasilien Kredite gewährt hat. Der Ausbau der Raffinerie in Cienfuegos geht dank der Kredite aus China und Venezuela voran. Daneben gibt es kleinere Projekte, doch generell erwarte ich mehr Investitionen erst im Jahr 2013.

Die Bourgeoisie übt Sozialdemokratie

Am Ende machte der Favorit klar das Rennen. Wie erwartet wird Henrique Capriles Radonski als Präsidentschaftskandidat des venezolanischen Oppositionsbündnisses Tisch der demokratischen Einheit (MUD) bei den Präsidentschaftswahlen am 7. Oktober Amtsinhaber Hugo Chávez herausfordern. Mittels offener Vorwahlen der MUD bestimmten die Wähler_innen am 12. Februar zudem zahlreiche oppositionelle Gouverneurs- und Bürgermeisterkandidat_innen für die im Dezember stattfindenden Regionalwahlen. Capriles, bisher Gouverneur des zentral gelegenen Küstenstaates Miranda, erreichte etwa 63 Prozent der abgegebenen Stimmen. „Ich möchte Präsident der Weißen, Grünen, Orangen, Roten und derer ohne Farbe sein”, sagte er nach Bekanntgabe seines Triumphes.
Den zweiten Platz belegte der Gouverneur des westlichen Bundesstaats Zulia, Pablo Pérez, mit etwa 31 Prozent. Die anderen Kandidat_innen blieben wie in den Umfragen vorhergesehen chancenlos. Die rechte Abgeordnete María Corina Machado erreichte vier Prozent, der Ex-Diplomat Diego Arria gut ein Prozent. Der Gewerkschafter Pablo Medina landete mit deutlich unter einem Prozent auf dem fünften Platz. Nach Bekanntgabe des Ergebnisses stellten sich die unterlegenen Kandidat_innen demonstrativ hinter den siegreichen Capriles. „Mein Freund, Du wirst der nächste Präsident Venezuelas sein“, sagte Pérez und sicherte dem Präsidentschaftskandidaten seine Unterstützung im kommenden Wahlkampf zu. Der Rückzug des ursprünglich sechsten Kandidaten zugunsten Capriles hatte dessen Ausgangsposition bereits im Vorfeld der Abstimmung verbessert. Leopoldo López, Ex-Bürgermeister des wohlhabenden Viertels Chacao im Osten der venezolanischen Hauptstadt Caracas, tritt als Wahlkampfkoordinator seitdem an der Seite von Capriles auf.
Mit rund drei Millionen abgegebener Stimmen lag die Wahlbeteiligung laut Angaben des Wahlkommission des MUD bei knapp 16 Prozent. Gemessen an den 5,6 Millionen Stimmen, die die Opposition bei den Parlamentswahlen 2010 – ihrem bisher bestem Ergebnis – erreichte, beteiligten sich somit mehr als die Hälfte ihrer potentiellen Wähler_innen. Die hohe Wahlbeteiligung und vereinzelte Betrugsvorwürfe sorgten im Anschluss für Kontroversen über die Transparenz der Vorwahlen. Diese wurden durch den Nationalen Wahlrat CNE logistisch durchgeführt, die Kontrolle des Wahlablaufes, die Auszählung der Stimmen und die Verkündung des Endergebnisses oblag jedoch dem MUD selbst. Vereinbart war vorab, dass die in Venezuela gängigen Verfahren zur Vermeidung von Mehrfachvoten einzelner Wähler_innen nicht obligatorisch sind. Dazu zählen die Abgabe eines elektronischen Fingerabdrucks und die Verwendung unlöslicher Tinte. Bereits kurz nach der Vorwahl meldeten verschiedene Vertreter der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) ihre Zweifel an, ob die hohe Wahlbeteiligung mit rechten Dingen zu Stande gekommen sei. Parlamentspräsident Diosdado Cabello sagte, es sei aufgrund der Anzahl verwendeter Wahlmaschinen unmöglich, an einem Wahltag auf eine derart hohe Anzahl von Stimmen zu kommen. Jorge Rodríguez, amtierender Bürgermeister von Caracas und ehemaliges Mitglied im Direktorium des CNE, meldete ebenfalls Zweifel an und kritisierte die geplante Zerstörung der Wahlakten. Dennoch verbrannte die Opposition rasch die Unterlagen, so dass eine Überprüfung der Wahlen nun nicht mehr möglich sein wird. Sprecher_innen des MUD begründeten dies mit der Wahrung des Wahlgeheimnisses. Der CNE wies die Befürchtungen, das Wahlgeheimnis sei in Gefahr, als unbegründet zurück.
Pikant ist in diesem Zusammenhang zudem, dass die Opposition mit der Zerstörung eine vom Obersten Gericht (TJS) nach der Vorwahl erlassene einstweilige Verfügung offen missachtete. Der Vorkandidat für einen Bürgermeisterposten im Bundesstaat Yaracuy, Rafael Velászquez Becerra, hatte von Unregelmäßigkeiten im Wahlprozess, wie zum Beispiel der Abgabe von Mehrfachvoten berichtet und den Antrag beim TSJ gestellt. Daraufhin hatte das Oberste Gericht angeordnet, die Wahlakten nicht zu zerstören. Der Vorstandssekretär des MUD, Ramón Guillermo Aveledo, kritisierte die Verfügung des Gerichtes als „verfassungswidrig und unverhältnismäßig“.
Letztlich bleiben die Vorwürfe im Raum stehen, werden aber wohl keine größeren Konsequenzen haben. Die meisten Politiker_innen des Regierungsbündnis schossen sich in ihren Statements nach der Vorwahl denn auch rasch auf Capriles ein. „Der Kandidat des Imperiums [der USA, Anm. d. Red.] hat nun ein Gesicht“, sagte Vizepräsident Elias Yaúa. Der Vizepräsident des Parlaments, Aristóbulo Isturiz, warf Capriles vor, Venezuela in die Situation bringen zu wollen, „die Europa gerade erlebt“. Der Oppositionskandidat stehe für „die Vergangenheit, weil er uns in den Neoliberalismus führen will“.
Der 39-jährige Capriles ist Sprössling einer Familie von Medienunternehmern. Der Jurist war Mitglied der früheren christdemokratischen Regierungspartei COPEI und später Mitbegründer der Partei Primero Justicia (Gerechtigkeit Zuerst), die unter anderem von der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützt wird. Er startete seine politische Karriere als Abgeordneter und war zwischen den Jahren 2000 und 2008 Bürgermeister des wohlhabenden Gemeindebezirks Baruta im Großraum Caracas. Während des Putsches gegen Chávez im April 2002 beteiligte sich Capriles angeblich an Aggressionen gegen die kubanische Botschaft. Er selbst behauptete hinterher, in der damaligen Situation nur vermittelt zu haben. 2008 gewann er die Wahl zum Gouverneur in Miranda gegen den heutigen Parlamentspräsidenten Diosdado Cabello.
Im Wahlkampf versuchte sich Capriles nun als Mitte-Links-Kandidat zu profilieren. Seine politischen Vorstellungen verglich er mit der Regierungszeit von Luíz Inácio Lula da Silva in Brasilien. Hatte die Opposition nach Chávez‘ erstem Wahlsieg 1998 jahrelang durch einen reinen Konfrontationskurs von sich Reden gemacht, setzte sich bei den Vorwahlen nun eine gemäßigte Linie durch. Im Wahlprogramm, das der MUD Ende Januar beschlossen hat, wendet sich das Oppositionsbündnis gegen staatliche Eingriffe in die Wirtschaft wie Nationalisierungen, Preis- und Devisenkontrollen. Die Erdölproduktion soll mit Hilfe privater Investitionen erhöht werden. Die 1999 in Kraft getretene Verfassung erkennt der MUD ausdrücklich an, will aber die Rolle der Legislative und der bundesstaatlichen Kompetenzen gegenüber dem Präsidenten stärken.
Viele der Errungenschaften der Chávez-Regierung wie etwa die Sozialprogramme oder die basisdemokratischen Kommunalen Räte will die Opposition laut ihrem Programm nicht abschaffen, aber reformieren. In der Medienpolitik strebt sie eine Minimierung des staatlichen Einflusses an. Die hohe Kriminalitätsrate soll durch eine umfassende Entwaffnung der Bevölkerung und mehr Polizei gesenkt werden.
Capriles kündigte an, bis zu den Wahlen im Oktober „jede Ecke Venezuelas” zu besuchen und gibt sich in seinem Diskurs bisher betont moderat. Es gehe ihm darum, für Venezuela die „Tür zur Zukunft” zu öffnen. In dem „Omnibus des Fortschritts” sei Platz für alle, unabhängig der Zugehörigkeit zu einer politischen Strömung oder Partei. Während Chávez seinen Herausforderer als „Bourgeois” und „Kandidat des Imperiums“ bezeichnet, hält sich Capriles mit Beleidigungen bewusst zurück. Laut den Umfragen vor den Vorwahlen gilt Chávez als klarer Favorit bei den Präsidentschaftswahlen. Im Gegensatz zum Jahr 2006, als die Opposition weniger geeint auftrat und mit Manuel Rosales einen schwachen Kandidaten aufstellte, dürfte der Wahlkampf dieses Jahr jedoch spannender werden. Für Ungewissheit sorgt zusätzlich der Gesundheitszustand von Chávez, dessen Krebserkrankung im Juni 2011 öffentlich gemacht wurde. Zwar galt er vorerst für geheilt, Ende Februar musste sich der venezolanische Präsident in Kuba jedoch erneut einer Operation unterziehen.
Allem rhetorischen Geplänkel zum Trotz sind die Vorwahlen, die völlig frei und ohne größere Zwischenfälle abliefen, eine Bestätigung dafür, dass es um die Demokratie in Venezuela wesentlich besser steht als von der Opposition selbst und in den meisten Medien dargestellt. Ob sich die Opposition selbst durch den Wahlakt auch intern demokratisiert hat und darauf Verlass sein kann, dass sie einen Machtwechsel zukünftig ausschließlich im Rahmen der Verfassung anstrebt, ist dadurch jedoch noch nicht garantiert. Letztlich war es bei der Vielzahl der großen Egos in den Reihen der heterogenen Opposition pragmatisch betrachtet kaum möglich, auf andere Weise als durch eine Vorwahl die Präsidentschaftskandidatur zu bestimmen. Die früher üblichen Hinterzimmerabsprachen hätten zur Herstellung einer Einheit nicht getaugt. Noch fraglicher ist der progressive Anstrich, den Capriles der Opposition durch seine verbale Sozialdemokratisierung a là Lula verpassen will. Es erscheint allzu offensichtlich, dass es sich um eine Wahlkampfstrategie handelt, um Wählergruppen anzusprechen, die aus Unzufriedenheit mit der Chávez-Regierung eher nicht wählen gehen würden als ihr Kreuzchen bei der Opposition zu machen. Die nach wie vor ausgeprägte Korruption, die Ineffizienz staatlicher Politik in vielen Bereichen und die hohe Gewaltrate sorgen auch in den Reihen des Chavismus für Unmut. Nachdem der Konfrontationskurs der Opposition schon lange als gescheitert gilt, ist die Hinwendung zu einer moderaten Rhetorik, die auch soziale Ziele mit einschließt, nur folgerichtig. Darüber, dass sich hinter Capriles zu großen Teilen der private Unternehmenssektor, die alten Eliten und an den USA orientierte Konsument_innen versammeln, kann die Rhetorik allerdings kaum hinwegtäuschen. An den Vorwahlen konnte nur teilnehmen, wer in der Lage war, rund 230.000 US-Dollar Startgebühr aufzutreiben. Dass die offizielle Ausrufung des MUD-Kandidaten in der teuren privaten Universidad Metropolitana (UNIMET) organisiert wurde, passt taktisch nicht gerade zu dem Vorhaben, auch enttäuschte Chavistas für sich zu gewinnen.
Die selbst gesteckten Ziele scheinen indes auf beiden Seiten kaum erreichbar zu sein. Die Chavisten, die bei den Präsidentschaftswahlen 2006 mit 7,3 Millionen Stimmen das bisher beste Ergebnis für ihren Kandidaten eingefahren hatte, streben zur Mobilisierung, wie damals auch schon, 10 Millionen Stimmen an. Pablo Pérez gab sich im Namen der Opposition etwas bescheidener. „Das Ziel ist es, neun Millionen Stimmen zu erreichen, um die Präsidentschaft an Capriles Radonski zu überreichen”.

Was bleibt von der Revolution?

Es scheint, als gäbe es keine Filme über Kuba, die sich nicht auf die eine oder andere Weise zur politischen und gesellschaftlichen Situation äußern, sei es als Dokumentarfilm oder Fiktion, solidarisch oder ablehnend. A Letter to the Future ist da keine Ausnahme. Dennoch hat es der brasilianische Regisseur Renato Martins vermieden, ein politisches Pamphlet zu machen und stattdessen ein sehenswertes kleines Werk geschaffen. Solidarisch, aber vielschichtig ließ Martins seine Protagonist_innen, die Familie Torres, ihre Familiengeschichte von vier Generationen bis in die Gegenwart erzählen. Seit 2004 begleitete das Filmteam die Familie mehrere Jahre.
Im Zentrum des Films steht Miriam Torres, die als junge Frau die kubanische Revolution erlebte. Bei ihr wohnen ihr 90-jähriger Vater, „Pipo“ Torres, und ihre Tochter, Yulmi, mit den Kindern Diego und Cristina. In dieser Spannbreite von Lebenserfahrungen über mehrere Jahrzehnte entwickelt der Film ein Gesellschaftsbild Kubas. Die Kamera agiert als intime Zeugin der Familie und ihrer persönlichen Reflexionen, ohne Effekt heischende Szenen einzufangen oder zu kommentieren. Gesten und Worte, die als scheinbar zufällig eingefangen wurden, lassen die Zuschauer_innen zu Gästen der Torres werden und deren Gedanken, Überzeugungen, Erinnerungen, aber auch Zweifel und Alltäglichkeiten miterleben.
Renato Martins vermeidet eine einseitige Darstellung, indem er weitere Protagonist_innen einführt. Zum Beispiel Luis Alberto Ramos, der als Fahrer für ein Ministerium arbeitet. Ein nachdenklicher Mann, der sich der Schwierigkeiten bewusst ist, dennoch an die Revolution glaubt, auch wenn er weit weniger gut situiert ist als die Torres. Ein paar Jahre später ist er arbeitslos. Die Zweifel über die Zukunft stehen plötzlich zentral im Raum.
Renato Martins lässt Geschichten erzählen, die so verschieden sind wie seine Protagonist_innen, die in Havanna in unterschiedlichen Milieus leben, jedoch das Ideal der kollektiven Solidarität teilen. Auch entgeht er der stereotypen Darstellung der Stadt mit den nostalgisch ruinösen Häuser des historischen Stadtzentrums. Stattdessen hat die Kamera auch jenseits der Interviews starke und gleichzeitig alltägliche Bilder eingefangen.
Allerdings fehlen zeitliche und politische Bezüge zu aktuellen Ereignissen und Reformen, die den persönlichen Geschichten mehr Kontext geboten hätten. Am Ende scheint vieles offen – angesichts der Zweifel über eine bessere Zukunft vor allem für die Jugend. Verhalten klingt jedoch Hoffnung an, als der dreizehnjährige Diego einen Aufsatz über seine Träume und die Zukunft schreibt.
Es ist diesem Film zu wünschen, dass er inmitten der vielen Produktionen über Lateinamerika die ihm angemessene Aufmerksamkeit erhält.

A Letter to the Future // Renato Martins // Brasilien/Portugal/Deutschland 2003-2011 // farbfilm verleih // 85 Minuten // www.alettertothefuture.de

// Nicht nur Symbolik

Der Enthusiasmus war kaum zu bremsen: Kubas Staatschef Raúl Castro sprach vom „größten Ereignis der vergangenen 200 Jahre“, sein uruguayischer Amtskollege, José Mujíca, von einer „zweiten Unabhängigkeit“. Hugo Chávez, Präsident Venezuelas und Gastgeber des Treffens in Caracas, sagte, dies sei „der entscheidende Baustein für Einheit, Unabhängigkeit und Entwicklung“.

Anlass für die Jubelhymnen war die Gründung der Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (CELAC) Anfang Dezember. Erstmals in der Geschichte des Kontinents gibt es nun ein regionales Integrationsbündnis, dem alle 33 lateinamerikanischen und karibischen Staaten angehören, ohne dass die USA und Kanada oder Spanien und Portugal mit am Tisch sitzen. In der Abschlusserklärung heißt es, die CELAC solle „den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Integrationsprozess vorantreiben“ und ein „Gleichgewicht zwischen Einheit und Vielfalt“ herstellen.

In der Tat ist es nicht übertrieben, bezüglich der Entwicklung der regionalen Integration in den letzten Jahren von historischen Dimensionen zu sprechen. Die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR), der die zwölf souveränen südamerikanischen Länder angehören, zeigte etwa bei der Beilegung der Tiefland-Unruhen in Bolivien im Jahr 2008 eine institutionelle Reife und Handlungsfähigkeit, wie sie bei deren Gründung im selben Jahr kaum jemand für möglich gehalten hätte. Die für die Zukunft geplanten Integrationsschritte – von einer eigenen Währung bis hin zu eigenen Finanzinstitutionen – sind ambitioniert. Das Selbstbewusstsein, mit dem Lateinamerika heute seine Probleme angeht, schien vor einer guten Dekade noch unvorstellbar. Und absolut undenkbar war es bis vor kurzem, dass sich sämtliche Staaten der Region – auch die konservativ regierten – für die Aufhebung der Kuba-Blockade durch die USA oder für den Anspruch Argentiniens auf die Islas Malvinas (Falkland-Inseln) aussprechen. Dass der übernächste Gipfel (nach Chile) in Kuba stattfinden wird, ist ein klares Zeichen gegen die anmaßende und politisch gescheiterte Isolierung Kubas durch die USA.

Auf der anderen Seite fällt es nicht schwer, der enthusiastischen Lesart der CELAC-Gründung mit einer gehörigen Portion Skepsis zu begegnen. Die Geschichte Lateinamerikas sprießt nur so von Gründungsgipfeln regionaler Organisationen, die stets von hochtrabender Rhetorik begleitet wurden. Nie gelang es jedoch, jenseits politischer Willensbekundungen nachhaltige Strukturen regionaler Integration zu schaffen. Heute ist die Integration auf dem Papier zwar so weit fortgeschritten wie noch nie, aber noch weit entfernt von den hehren selbst formulierten Zielen, wie etwa der Etablierung der geplanten neuen regionalen Finanzarchitektur. Offensichtlich herrscht in der Region in der Frage einer gemeinsamen politischen Vision für das 21. Jahrhundert keine Einigkeit. Solidarischer Handel wird bisher lediglich – von Venezuelas Petrodollars subventioniert – zwischen den Ländern der Bolivarianischen Alternative (ALBA) betrieben, an anderer Stelle agiert etwa Brasiliens Agrarindustrie neoimperialistisch, während konservativ regierte Länder wie Kolumbien und Chile sich trotz ihrer Teilnahme an neuen lateinamerikanischen Bündnissen wie UNASUR und CELAC weiterhin eng an die USA binden. Die dabei in den vergangenen zehn Jahren erzielten Fortschritte können nicht genug gewürdigt werden. Auch wenn die CELAC die von den USA dominierte Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), in der Kuba kein Mitglied ist, nicht zur Bedeutungslosigkeit verdammen wird, steckt mehr als nur Symbolik hinter der Neugründung. Dass über die Probleme Lateinamerikas und der Karibik immer seltener in Washington entschieden wird, ist eine bedeutsame Korrektur historischer Ungerechtigkeiten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

(K)ein Zuhause in der Fremde

Um der Haft zu entgehen, war Schillers Flucht zugleich Rettung, aber auch Abschied für eine ungewisse Zeit, wenn nicht für immer. Der Beginn der Erzählung fängt auf eindringliche Weise diese Stimmung ein. Als Mitglied der Roten Armee Fraktion (RAF) hatte sie bereits zwei Haftstrafen von insgesamt fast sieben Jahren hinter sich. Als 1985 eine dritte Inhaftierung droht, beschließt Schiller, die BRD und Europa über die DDR zu verlassen.
Sie erhält nach mehreren Wochen Warten politisches Asyl in Kuba und eine kleine finanzielle Unterstützung. Doch empfindet sie eine Fremdheit, zunächst noch wegen der fehlenden Sprachkenntnisse, später umso deutlicher aufgrund der eigenen vergangenen politischen Praxis und kulturellen Sozialisation. Das kubanische politische System ist vertikal durchstrukturiert, eine politische Betätigung außerhalb des vorgegebenen Rahmens nicht möglich. Arbeit erhält sie erst viel später.
Margrit Schiller beschreibt den Alltag und ihre Begegnungen mit verschiedenen Leuten und ihre Versuche, ein geregeltes Leben mit Arbeit und sozialem Umfeld zu schaffen. Anekdoten und aufmerksame Beobachtungen wechseln sich ab mit Exkursen über die politischen und historischen Ereignisse und aktuellen gesellschaftlichen Debatten. Dazwischen steht immer wieder die Reflexion über die eigene Biografie und gegenwärtige Selbstverortung, bei welcher der Freude über die Freiheit Selbstzweifel und Isolierung gegenüberstehen.
Schiller erfährt über die kubanischen Freund_innen und ihren späteren Ehemann Zusammenhalt und solidarische Unterstützung als wesentliches Merkmal der kubanischen Gesellschaft. Die Frauen sind hier das Fundament der sozialen und familiären Strukturen, doch gleichzeitig werden die Geschlechterrollen, die vorherrschenden Vorstellungen von Heterosexualität und der Machismo von kaum jemandem thematisiert und kritisiert. Mit ihren eigenen Ansichten und Überzeugungen eckt die Autorin immer wieder an. Angesichts der Weisung der Behörden, über ihr politisches Asyl und ihre Vergangenheit als RAF-Mitglied zu schweigen, wiegen die wiederkehrenden Gefühle von Fremdheit und Einsamkeit umso schwerer. Das schließt auch jegliche offene politisch-intellektuelle Tätigkeit aus. Sie muss ihre Vergangenheit verschließen, das Gute und Schlechte ihrer eigenen Geschichte vergessen, um vorangehen zu können.
Das Schweigen wird zur Last und schließlich zur Sprachlosigkeit. Die Sehnsucht nach Verständnis, die alltäglichen Aufgaben sowie die Sorge um ihre inzwischen geborenen Zwillinge erdrücken Schiller. Die Zerrissenheit zwischen der Dankbarkeit über das gewährte politische Asyl und der Traumatisierung der Flucht, in der die Auswirkungen der Haftjahre noch nachklingen, steht zwischen den Zeilen. Die wirkliche Bedeutung und Dimension von Haft und Exil erhält unter den gelebten Umständen durch die Umwelt keinen Raum. Nur Exilierte können einander begreifen.
Und so erhält Schiller erst viele Jahre später die Bestätigung durch eine andere ehemalige Gefangene aus Uruguay: „Wenn wir, die im Exil waren, uns treffen, sind wir bis heute erstaunt darüber, wie verschieden wir die Fremde erlebt haben im Vergleich zu Reisenden, die aus anderen Gründen im Ausland waren und sich frei bewegen konnten. Diese Empfindlichkeit, die das Exil bewirkt, die Verletzlichkeit, dieses Gefühl, dass das Innere bloß liegt und man sich einigeln muss, um sich zu schützen, macht einen grundlegenden Unterschied zu anderen Arten des Fremdseins aus. Ich kann es nicht besser erklären, aber man verliert die Basis der eigenen Stärke, wenn man gehen muss und nicht zurückkann.“
Als mit dem Fall der Mauer 1989 und dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 auch Kuba in eine wirtschaftliche und finanzielle Krise gerät und das weitere Bestehen des politischen Systems gefährdet ist, beginnt eine harte Zeit für die kubanische Bevölkerung. Die tägliche Sorge um das Allernötigste kann nur mithilfe persönlicher Beziehungen und informeller Geschäfte etwas erleichtert werden. Für Margrit Schiller bedeutet es plötzlich auch einen ungesicherten politischen Status, weil ihre Papiere nicht verlängert werden. Aus Sorge um ihre Zukunft und die ihrer Kinder entschließt sie sich, nach Uruguay zu gehen und verlässt 1993 Kuba mit ihrer Familie.
Ein neues Exil unter anderen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Vorzeichen. In Uruguay gibt es viele Menschen, die aufgrund der Militärdiktatur (1973-1985) Schillers Erfahrungen von Gefängnis und Exil teilen. Die deutsche Immigrantin sucht die Nähe und den Austausch vor allem mit den Frauen. Auch eine gesellschaftliche und politische Debatte scheint hier möglich. Doch Gefängnishaft, Folter und Exil werden lange tabuisiert. Die Zurückgebliebenen interessiert das Exil nicht, den Geflüchteten wird mit einem indirekten Vorwurf begegnet, sie hätten es im Ausland leichter gelebt und den Bezug zu den Hinterbliebenen verloren. Erst allmählich beginnt ein Austausch und eine Auseinandersetzung über das Trauma der Haft und des Exils. Auf der anderen Seite formiert sich eine öffentliche Bewegung der Angehörigen der Verschwundenen. Wieder sind es die Frauen, die den ersten Schritt tun.
Schillers Erinnerungen sind sehr persönlich. Dieser Intimität stehen die historischen und politischen Einschübe gegenüber. Auch die politischen Debatten auf Kuba oder die Repression gegen die Bevölkerung während der Militärdiktatur in Uruguay. Bisweilen hätten diese kurzen Exkurse länger und abgerundeter sein können. Zusammen jedoch ermöglichen sie ein komplexes Bild der sozialen und politischen Umstände, unter denen Schiller gelebt hat.
Am Ende steht das letzte und nicht minder schwierige Thema – die Rückkehr. Ist sie überhaupt möglich? Können alte Beziehungen wieder geknüpft werden und neue entstehen? Und vor allem: Enden nun endlich Fremdheit und Sprachlosigkeit?
Margrit Schiller ist vor acht Jahren den Weg in ein verändertes Deutschland zurückgegangen. Sie hat ihrer Vergangenheit nicht abgeschworen und hat fast zwei Jahrzehnte Exil mit sich gebracht. Das Schreiben hat ihr das Sprechen erhalten. Noch in Kuba begann sie mit den ersten Aufzeichnungen, die mehrere Jahre später in ihrem ersten Buch Es war ein harter Kampf um meine Erinnerung. Ein Lebensbericht aus der RAF von 1999 veröffentlicht wurden. Schillers neues Buch schließt an diese Erinnerungen an. Sie endet mit den Worten einer Freundin zu einer der wesentlichen Erfahrung ihrer Geschichte: „Exil hört nie auf.“

Margrit Schiller // So siehst du gar nicht aus! Eine autobiografische Erzählung über Exil in Kuba und Uruguay. Mit einem Vorwort von John Holloway // Assoziation A // Berlin Hamburg 2011 // 172 Seiten // 16 Euro

Trotzkis Schrei im Ohr

Ohrenbetäubend erschallt der Schrei am 20. August 1940 durch den Innenhof. Vergeblich wehrt sich der von Stalin zum Tode Verurteilte Lew Dawidowitsch alias Leo Trotzki gegen sein vorgezeichnetes Schicksal. Ein Schrei, ein Biss in jene Hand, die ihm soeben einen Eispickel in den Schädel geschlagen hat, zu mehr reicht die Kraft nicht aus. Trotzkis mühevoll vorgebrachte Worte an seine Wachleute, dass sein Mörder „reden“ müsse, retten diesem das Leben. Am folgenden Tag stirbt Trotzki an den Folgen des Attentats, sein Mörder wird in Mexiko zu 20 Jahren Haft verurteilt.
In seinem neusten Roman Der Mann, der Hunde liebte erzählt der kubanische Schriftsteller Leonardo Padura in drei Erzählsträngen die Geschichte der Ermordung Trotzkis aus den Perspektiven von Mörder und Ermordetem. Damit begibt sich Padura, hierzulande bisher vor allem durch seine exzellenten gesellschaftskritischen Krimis um den kubanischen Teniente und späteren Antiquar Mario Conde bekannt, auf die Spuren eines im Realsozialismus links liegen gelassenen Mannes. Schon Trotzkis Lebensgeschichte alleine böte genügend Stoff für eine große Erzählung: erfolgreicher Revolutionär, Begründer der roten Armee, aber auch Blockierer einer möglicherweise demokratischen Entwicklung durch die Niederschlagung des Kronstädter Matrosenaufstandes, schließlich der verlorene Machtkampf mit Stalin und der erzwungene Gang ins Exil.
Im ersten Strang erzählt Padura aus Trotzkis Leben vom Zeitpunkt seiner Verbannung nach Alma-Ata bis zu seiner Ermordung in Mexiko. Nach Zwischenstationen in der Türkei, Frankreich und Norwegen wird Trotzki in Mexiko zunächst von den Maler_innen Frida Kahlo und Diego Rivera im blauen Haus in Coyoacán aufgenommen. Immer wieder spürt er den Atem Stalins im Nacken, der ihn aber noch als Verkörperung der Konterrevolution braucht, um seine Macht zu festigen. Trotzki selbst bleibt daher zunächst am Leben, viele seiner Genoss_innen fallen in unterschiedlichen Ländern jedoch Attentaten zum Opfer. Währenddessen laufen in Moskau Schauprozesse gegen vermeintliche Trotzki-Anhänger_innen, die immer heftiger ausarten.
Weniger bekannt, aber nicht minder spannend ist die Lebensgeschichte seines Mörders Ramón Mercander, die im zweiten Strang erzählt wird. Als Kommunist im spanischen Bürgerkrieg gerät Mercader in das Umfeld des Stalin ergebenen sowjetischen Geheimdienstes. Die Ablehnung des „konterrevolutionären“ Trotzkis und seiner Anhänger_innen wird für ihn zur Obsession. Er verschreibt sich ganz dem Projekt Stalins und wird in den inneren Zirkel der straff und sektenähnlich organisierten sowjetischen Kommunist_innen aufgenommen. Kontakt hat er fast ausschließlich mit seinem extrem wandlungsfähigen Vorgesetzten Kotow, der ihn als Agent des sowjetischen Geheimdienstes vom spanischen Bürgerkrieg über Frankreich bis nach Mexiko in den Kampf schickt. Dieser erscheine, wie Ramón eingebläut wird, „manchmal erbarmungslos“, sei aber „immer gerecht“. Der Katalane verinnerlicht das Credo, dass für den Sozialismus „jedes Opfer, jede Tat historisch gerechtfertigt sei und nicht die geringste Abweichung hingenommen werden” könne. Über die vorgetäuschte Zuneigung zu der Trotzkistin Sylvia Agelof verschafft sich Ramón unter falscher Identität schließlich direkten Zugang zu Trotzkis Umfeld. Seine unvermeidliche Tat für den Sozialismus steht von Anfang an fest.
Im dritten Strang trifft der kubanische Schriftsteller Iván am Strand von Havanna auf einen geheimnisvollen kranken Mann, der stets mit zwei eleganten Windhunden spazieren geht. Dieser erzählt ihm die unglaubliche Geschichte von Trotzkis Mörder mit einem Reichtum an Details, über die letztlich nur eine einzige Person verfügen kann. Iván beschafft sich Material über Trotzki, der im Kuba der 1970er von offizieller Seite aus als „die personifizierte Eiszeit, die potenzierte Ideologische Verruchtheit“ galt. Als der Mann plötzlich nicht mehr auftaucht, steht Iván vor der Entscheidung, was er mit seinem Wissen anfangen soll. Jahrzehnte später erst erlangt er Klarheit über die Frage.
Im Gegensatz zu den anderen beiden Erzählsträngen, die trotz literarischer Verarbeitung auf recherchierten Fakten beruhen und von Personen der Zeitgeschichte handeln, ist Iván ein fiktiver Charakter. Anhand seiner Lebensgeschichte thematisiert Padura kritikwürdige Zustände auf Kuba wie den Konformismus an den Universitäten und die Repression gegen Schwule in den 1970er Jahren, sowie die schwierigen Lebensverhältnisse nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Gleichzeitig belichtet der Autor die bisher wenig bekannte Tatsache, dass Ramón Mercader in den 1970er Jahren unter offiziellem Schutz in Kuba gelebt hat.
Trotz der Kritik am Sozialismus und den Verhältnissen auf Kuba konnte das Buch auf der Insel erscheinen, wenn auch in vergleichsweise niedriger Auflage. Zur Zeit des vom Autor geschilderten kulturpolitisch repressiven grauen Jahrfünfts in den 1970er Jahren wäre dies unmöglich gewesen.
Anhand der Biografien von Mörder und Ermordeten lässt Padura das 20. Jahrhundert von Stalin und Hitler, über den Zweiten Weltkrieg, den Prager Frühling bis hin zum noch immer sozialistischen Kuba an der Schwelle zum neuen Jahrtausend Revue passieren. Mit seiner großartig erzählten Geschichte, die trotz des weitgehend bekannten Endes im Verlauf an Spannung zunimmt, zieht er eine bittere, realistische Bilanz des Realsozialismus und der verhängnisvollen Lesart von Marx‘ Ideen. Der Umgang mit Trotzki stellt für Padura dabei einen entscheidenden Moment des Scheiterns dar. Selbst Ramón und sein früherer Vorgesetzter Kotow können dem später kaum widersprechen. Jahre nach Stalins Tod treffen sie sich als von der Geschichte nunmehr zur Farce karikierte, gebrochene Persönlichkeiten in Moskau wieder. Die Erinnerung an Trotzkis Schrei und eine Narbe an der Hand von Ramón zeugen von einem Verbrechen, das sich auch für dessen Protagonisten nicht gelohnt hat.

Leonardo Padura // Der Mann, der Hunde liebte // Aus dem kubanischen Spanisch von Hans-Joachim Hartstein // Unionsverlag // Zürich 2011 // 736 Seiten // 28,90 Euro

Die Landfrage bleibt ungelöst

Landwirtschaft ist wieder schwer in Mode. Aufgrund des stetig steigenden Bedarfs an Lebensmitteln und der Begrenztheit der Anbauflächen, verheißt der Agrarsektor auf lange Sicht gute Geschäfte. Regierungen und Unternehmen, Investment- und Pensionsfonds kaufen oder pachten weltweit Ackerland, um das anzubauen, womit gerade Geld zu verdienen ist. Verlierer_innen des globalen Trends sind die kleinbäuerliche Landwirtschaft, die Umwelt und die eine Milliarde hungernder Menschen weltweit. Vom sogenannten Land Grabbing sind vor allem Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika betroffen. Allesamt Regionen, in denen in unterschiedlichem Maße Hunger existiert, also im Jargon der internationalen Organisationen die Ernährungssicherheit nicht garantiert ist.
Ungerechte Strukturen von Landbesitz, die Involvierung internationaler Akteure und die Marginalisierung kleinbäuerlicher Landwirtschaft sind in Lateinamerika alles andere als neu. Seit der Kolonialzeit, der daraus resultierenden Verdrängung indigener Landwirtschaftskonzepte und Enteignungen kommunalen Besitzes, ist die Landfrage auf dem Kontinent von Bedeutung. Das landwirtschaftliche System der Kolonialzeit, wo die haciendas weniger Großgrundbesitzer_innen einen Großteil des Landes umfassten, überstand die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten relativ unbeschadet. Trotz zahlreicher Versuche, Landreformen durchzuführen, hat sich an der ungleichen Landverteilung bis heute wenig geändert.
Schon im 19. Jahrhundert führte die Agrarfrage zu Konflikten. Den ersten tatsächlichen Einschnitt erlitt das hacienda-System aber erst mit der mexikanischen Revolution (1910 bis 1920). Emiliano Zapata führte im Süden Mexikos eine revolutionäre Agrarbewegung an und verteilte Land an jene „die es bearbeiten“. Im Norden konfiszierte Pancho Villa ebenfalls große Ländereien und stellte diese unter staatliche Verwaltung. Die vor allem im Süden stattfindende Agrarrevolution wurde letztlich rechtlich in der Verfassung von 1917 kanalisiert. Kernpunkt war Artikel 27, durch den gemeinschaftlich genutztes Land juristisch anerkannt wurde. Diese so genannten ejidos durften weder verkauft noch geteilt werden. Die in der Verfassung vorgesehenen Reformen kamen allerdings erst unter der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas (1934 bis 1940) in Fahrt, an deren Ende das Gemeindeland knapp die Hälfte der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Mexikos ausmachte. Das hacienda-System verlor somit erstmals in einem lateinamerikanischen Land die Vormachtstellung. Die Agraroligarchie blieb während der Regierungszeit der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) dennoch politisch einflussreich und sicherte sich staatliche Subventionen und Kredite.
Das zweite Beispiel einer bedeutenden Landreform fand ab 1953 in Bolivien statt. Im Rahmen der Revolution wurden massiv Ländereien an Kleinbäuerinnen und Kleinbauern verteilt. Die traditionellen Landrechte der indigenen Mehrheitsbevölkerung wurden jedoch nicht wieder hergestellt. Vielmehr sorgte die Agrarreform für eine kapitalistische Modernisierung des Agrarsektors, der durch ein wirtschaftlich ineffizientes Feudalsystem geprägt war. Das Latifundium an sich blieb weiterhin bestehen, vor allem im östlichen Tiefland. Die reine Verteilung von Minifundien blieb aufgrund einer fehlenden weiterführenden Agrarpolitik unzureichend.
Ein weiterer ambitionierter Versuch einer Landreform scheiterte 1954 gewaltsam. In Guatemala besaß die US-amerikanische United Fruit Company (heute Chiquita) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwa 42 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzflächen und stellte machtpolitisch einen „Staat im Staate“ dar. 85 Prozent der Ländereien ließ das Unternehmen brach liegen. Ab 1944 enteigneten die sozialdemokratische Regierungen unter Juan José Arévalo und Jacobo Árbenz insgesamt ein Fünftel des Agrarlandes. Dem zehnjährigen politischen Frühling setzte der Putsch, der logistisch wie finanziell von den USA unterstützt wurde, ein jähes Ende. Der Agrarreformprozess wurde anschließend rasch umgekehrt, Guatemala leidet bis heute an den Folgen.
Die größten Auswirkungen auf die Agraroligarchien des Kontinents hatte im 20. Jahrhundert die kubanische Revolution von 1959, die eine radikale Landreform in Gang setzte. Großgrundbesitz wurde enteignet und Kleinbäuerinnen und -bauern zur Verfügung gestellt. Um Protesten und Widerstandsbewegungen in anderen Ländern der Region den Wind aus den Segeln zu nehmen und ein Übergreifen der Revolution zu verhindern, machten sich die USA für geordnete Landreformen auf dem Kontinent stark. Im Rahmen der von US-Präsident John F. Kennedy ins Leben gerufenen „Allianz für den Fortschritt“ führten in den 1960er und 1970er Jahren die meisten lateinamerikanischen Länder Agrarreformen durch, wobei sie überwiegend Staatsland verteilten. Zwar konnte der kleinbäuerliche Sektor in einigen Ländern durchaus von den Landverteilungen profitieren, der nachhaltigere Effekt bestand jedoch in einer kapitalistischen Modernisierung der großen Produktionseinheiten. Im Rahmen des hacienda-Systems war die Produktivität zuvor gering gewesen, viel Land lag brach. Um Enteignungen zu verhindern, die rechtlich häufig ab einer bestimmten Größe des Latifundiums möglich waren, teilten einige Großgrundbesitzer_innen ihre Ländereien in mehrere Einheiten unter der Familie auf oder verkauften einen Teil. Es entstand ein zweigeteiltes System aus modernem Agrobusiness und kleinbäuerlicher Landwirtschaft, die zum großen Teil als Subsistenzwirtschaft betrieben wurde.
In den meisten Ländern waren die Agrarreformen darüber hinaus recht oberflächlich. Die weitestgehenden Umverteilungen fanden im 20. Jahrhundert im Rahmen von revolutionären Prozessen statt. In Bolivien und Kuba wurden etwa 80 Prozent des gesamten Agrarlandes umverteilt. In Mexiko, Chile (unter Eduardo Frei und Salvador Allende) , Peru (unter dem linken Militär Velasco Alvarado) und später Nicaragua (unter den Sandinist_innen ab 1979) war es etwa die Hälfte. Zwischen 15 und 25 Prozent des Bodens wurden in Kolumbien, Venezuela, Panama, El Salvador und der Dominikanischen Republik verteilt. In Ecuador, Costa Rica, Honduras und Uruguay und Paraguay waren es noch weniger. In Brasilien kam es erst ab Mitte der 1980er Jahre zu kleineren Umverteilungen, in Argentinien fand hingegen gar keine Landreform statt.
Zwar spielten Bauernbewegungen in vielen dieser Prozesse eine fordernde Rolle und wirkten bei der Ausgestaltung von Landreformen mit. Durchgeführt wurden die in Folge der kubanischen Revolution angeschobenen Reformen aber weitestgehend von Regierungsseite her. Die Agrarfrage konnte letztlich in keinem Land zugunsten der campesin@s gelöst werden. Weitergehende finanzielle und technische Unterstützung für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern blieb in der Regel aus, nach einigen Jahren konzentrierte sich der Landbesitz wieder zunehmend. Durch den Modernisierungsschub profitierte das Agrobusiness von den Reformen weitaus mehr als der kleinbäuerliche Sektor.
Die neoliberale Wende, die fast alle Länder des Kontinents in den 1980er und 1990er Jahren erfasste, sorgte für ein vorläufiges Ende der von oben forcierten Landreformen. Ausgehend von Chile, wo die Militärdiktatur nach dem Putsch gegen Salvador Allende bereits in den 1970er Jahren mit neoliberaler Wirtschaftspolitik experimentierte, sollte die Landwirtschaft nun vor allem dazu dienen, exportfähige Waren zu produzieren. Durch den Anbau nicht-traditioneller Agrargüter wie Blumen, Äpfel oder Nüsse sollten gemäß der Theorie des Freihandels komparative Kostenvorteile ausgenutzt werden. Nach der Schuldenkrise Anfang der 1980er Jahre, verordneten der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die US-amerikanische Regierung den meisten lateinamerikanischen Ländern Strukturanpassungsprogramme. Die staatliche Unterstützung kleinbäuerlicher Landwirtschaft wurde radikal zurückgefahren. Die gleichzeitig einsetzende Handelsliberalisierung fiel für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in ganz Lateinamerika verheerend aus und sorgte für dramatische soziale Folgen. Während ihnen der Zugang zu nordamerikanischen oder europäischen Märkten bis heute weitgehend verschlossen bleibt, konnten sie mit hochsubventionierten Agrarimporten aus dem Ausland nicht konkurrieren. Als Symbol für die neoliberale Zerstörung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft gilt die Gleichstellung des seit 1917 in der mexikanischen Verfassung verankerten ejidos mit Privatland (siehe Artikel von Alke Jenss in diesem Dossier). Um die Auflagen für das Inkrafttretens des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) zu erfüllen, wurde im Jahr 1992 unter der Präsidentschaft von Carlos Salinas de Gortari der entsprechende Verfassungsartikel 27 aufgehoben, so dass ejidos nun geteilt, verkauft, verpachtet oder als Sicherheit bei Krediten verwendet werden konnten. Der neozapatistische Aufstand, der am 1. Januar 1994, dem Tag des Inkrafttretens von NAFTA für Aufsehen sorgte, ist auch in dem Zusammenhang zu sehen.
Unter völlig anderen wirtschaftlichen Vorzeichen als in den 1960er Jahren stieg in den 1990er Jahren die Weltbank in das Thema der Landverteilung ein. Durch die marktgestützte Landreform sollte Brachland aktiviert und ein Markt für Land etabliert werden. Die Idee war, dass unter Vermittlung des Staates willige Verkäufer_innen und Käufer_innen zusammengeführt werden. Dafür notwendige Kredite sollten später aus den Erträgen zurückgezahlt werden. Abgesehen davon, dass die guten Böden in der Regel sowieso nicht zum Verkauf standen, hatten Kleinbäuerinnen und -bauern sowie Landlose nichts von dem Konzept. Weder verfügten sie über Kapital noch über die Aussicht, unter den gegebenen neoliberalen Rahmenbedingungen einen Kredit jemals zurückzahlen zu können. Zur gleichen Zeit begann der US-amerikanische Biotech-Konzern Monsanto seinen Siegeszug von gentechnisch veränderten Organismen in Lateinamerika. Argentinien war 1996 das Einfallstor für den Anbau von Gen-Soja in Südamerika. Fast die gesamte in Argentinien angebaute Soja ist heute Monsantos genetisch modifiziertes Roundup Ready, das gegen das gleichnamige hochgiftige Herbizid resistent ist, welches von Monsanto im Gesamtpaket gleich mitgeliefert wird. Dieses vernichtet Unkraut, Insekten und alles weitere außer der Sojapflanze selbst. Als häufigste Folgen des flächendeckenden Pestizideinsatzes sind bei Menschen unter anderem Erbrechen, Durchfall, Allergien, Krebsleiden, Fehlgeburten und Missbildungen sowie gravierende Schäden für die Umwelt dokumentiert. Seit der Einführung von Gen-Soja in Südamerika ist der Einsatz von Herbiziden drastisch gestiegen. Durch industrielle Landwirtschaft und den damit einhergehenden Monokulturen verschlechtert sich zudem die Bodenqualität, wird Wald abgeholzt, die Artenvielfalt dezimiert und es gehen traditionelle Anbaumethoden sowie die Vielfältigkeit einheimischen Saatguts verloren.
Um sich gegen den fortwährenden Niedergang der kleinbäuerlichen Landwirtschaft zur Wehr zu setzen, begannen Organisationen von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sowie Landlose, eine eigene Agenda zu verfolgen. 1993 gründete sich mit La Via Campesina (Der bäuerliche Weg) ein weltweiter Zusammenschluss kleinbäuerlicher Organisationen, der in den folgenden Jahren zu einem bedeutenden politischen Akteur aufstieg. Einen großen Anteil an der Entstehung und internen Entwicklung von La Via Campesina hatte die brasilianische Landlosenbewegung MST, die bereits 1984 gegründet worden war und in Brasilien bis heute Landbesetzungen durchführt. La Via Campesina kritisiert das herrschende Paradigma der Lebensmittelproduktion in seiner ganzen Breite, angefangen bei der Monokultur über industrielle Großlandwirtschaft bis hin zur Biotechnologie. Während internationale Organisationen meist Ernährungssicherheit propagieren, bei der es ausschließlich darum geht, den Menschen Zugang zu Lebensmitteln zu ermöglichen, egal ob diese importiert werden oder nicht, hat das Netzwerk den Begriff der Ernährungssouveränität entwickelt. Dieser zielt auf Lebensmittelproduktion auf lokaler Ebene ab und sieht vor, dass sich Bauern und Bäuerinnen selbstbestimmt und demokratisch für ihre Formen der Produktion und des Konsums entscheiden. Weitere Bestandteile des Konzepts beinhalten eine integrale Landreform, den Verzicht auf Gentechnik oder die Produktion gesunder Lebensmittel.
Im vergangenen Jahrzehnt haben die Ideen von La Via Campesina sogar Anklang bei lateinamerikanischen Linksregierungen gefunden. Das Konzept der Ernährungssouveränität wird in den Verfassungen von Venezuela, Bolivien und Ecuador explizit als Ziel benannt. Auch das Thema Agrarreform wurde in diesen Ländern von Regierungsseite her wieder aufgegriffen, Enteignungen gelten im Gegensatz zur neoliberalen Ära nicht mehr als Tabu. Den teilweise radikalen Diskursen der Regierenden stehen in der Realität allerdings nur geringe Fortschritte gegenüber (siehe Artikel von Börries Nehe zu Bolivien in diesem Dossier). Die Agrarreformen kommen nur schleppend voran und die betroffenen Großgrundbesitzer_innen und Agrounternehmen wehren sich mit allen Mitteln. So sind etwa in Venezuela im vergangenen Jahrzehnt rund 300 Bauernaktivist_innen ermordet worden. Die in der Justiz verbreitete Korruption und fehlender politischer Wille verhindern fast immer strafrechtliche Konsequenzen. Auch die linken Regierungen in Lateinamerika halten zudem grundsätzlich an einem extraktivistischen, auf höchstmögliche Ausbeutung von Rohstoffen und Land gerichteten Wirtschaftsmodell fest.
Die Rahmenbedingungen für Landreformen haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend verschlechtert. Anstelle der einheimischen, mitunter physisch präsenten Großgrundbesitzer_innen treten nun häufig Unternehmen des Agrobusiness und international tätige Investmentgesellschaften mit teils undurchsichtigen Besitzstrukturen. Internationale Freihandelsverträge und bilaterale Investitionsschutzabkommen erschweren Enteignungen, indem sie hohe und kostspielige Hürden errichten. Die Höhe der bei Enteignungen zu zahlenden „angemessenen“ Entschädigungen liegt in der Regel deutlich über dem Niveau, das nach jeweiligem Landesrecht beziehungsweise den finanziellen Möglichkeiten einer Regierung möglich wäre.
Die Agrarfrage in Lateinamerika ist auch heute nach wie vor ungelöst. Noch immer ist Lateinamerika die Region mit der ungleichsten Landverteilung weltweit. Ein modernes Agrobusiness, das kaum Leute beschäftigt, steht einem marginalisierten kleinbäuerlichen Sektor gegenüber. Dieser gilt in Entwicklungsdebatten häufig als anachronistisch, obwohl er für die Ernährungssicherheit und -souveränität unabdingbar ist. In vielen Ländern hat die kleinbäuerliche Landwirtschaft vor der politisch übergestülpten Handelsliberalisierung einen Großteil der Lebensmittel produziert, die heute importiert werden. Die Landbevölkerung lebt in allen Ländern Lateinamerikas in relativer und häufig auch absoluter Armut. Zudem werden zahlreiche Landkonflikte gewaltsam ausgetragen. Soja- und Ölpalmanbau sorgen für Vertreibungen in Ländern wie Kolumbien, Honduras, Paraguay oder Brasilien. Auch wenn Landreformen alleine nicht ausreichen, sind sie zumindest Grundbedingung, um den kleinbäuerlichen Sektor zu stärken und mehr Menschen ein Auskommen und Nahrung zu ermöglichen. Die bäuerlichen sozialen Bewegungen gewinnen an Stärke. Doch sie stehen einem kapitalistisch-industriellen Agrobusiness gegenüber, das weltweit agiert und hochprofitabel wirtschaftet. Würden die Folgekosten für Umwelt und Gesundheit mit einberechnet, sähe es hingegen anders aus.

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