Lies das gesamte Interview in unserem aktuellen Heft!
„DIE KUNST IST EINE GROSSE VERBÜNDETE FÜR ALLES, WAS AUF DER STRASSE PASSIERT“
Mariela Scafati (Foto: Jorge Miño)
Sie kommen gerade von einer Ausstellung in Madrid, jetzt sind Sie in Berlin und fahren bald nach Kassel zur Documenta. Wie sind diese Ausstellungen verbunden?
Es gibt eine klare Verbindung, und das ist der Globale Süden: In Kassel sind wir alle Gruppen aus dem Globalen Süden, Künstler*innen, die nicht zum hegemonialen Zentrum gehören. In Madrid ist es eine Ausstellung lateinamerikanischer Grafiken, die aus einer sechs Jahre langen Recherche entstanden ist. Dort war es einfach, sich wohlzufühlen, zwischen all den Menschen, mit denen man etwas gemeinsam hat. Zwischen dieser Ausstellung und der Documenta 15 gibt es eine zentrale Verbindung: das Nachdenken über und das Arbeiten mit dem Ort. Die Arbeiten entstehen im Museum, verlassen dieses dann, gelangen in Form von Workshops in die Nachbarschaft, um wieder ins Museum zurückzukehren. Die Ideen von Ruangrupa für Kassel sind vergleichbar. Es ist ein dezentrales Denken. Das ist etwas, das hier in Berlin nicht wirklich passiert.
In welchem Verhältnis stehen Aktivismus und künstlerische Arbeit für Sie?
Es bestehen immer Spannungen: Die Kunst ist eine große Verbündete für alles, was auf der Straße passiert, aber sie folgt einer anderen Logik. Mich persönlich hat die Politik vor der Kunst gerettet. Das meine ich natürlich ironisch, aber ich fühle das vor allem auch umgekehrt: Die Kunst hat mich vor der Politik gerettet, sie hat mir eine Pause verschafft. Sie hat eine Zeit kreiert, die außerhalb der politischen Zeit liegt. In den letzten Jahren haben wir in Argentinien und in anderen Ländern des Kontinents nicht mehr innegehalten, wir mussten auf den Straßen sein. Das ist ein sehr physischer Akt, in dem der Körper eine große Rolle spielt und in Argentinien ist es unmöglich, dieser Realität zu entkommen. Diese politische Kultur hat die Kunst sehr stark geprägt.
Ihre Arbeit „Movilización“ (Mobilisierung) ist während der Corona-Pandemie entstanden. Hat die Arbeit einen Zusammenhang mit dem Pandemiegeschehen und den kollektiven Formen, die Sie eben beschrieben haben?
Ja, hier wird das Kollektive sehr deutlich. Bereits bevor die Pandemie begann, waren die Leinwände auf dem Weg nach Berlin. Diese bildeten stehende Körper von Freundinnen und Freunden, kurz bevor wir zu einer Demonstration gehen. Mit dem Beginn der Pandemie hatte ich das Gefühl, dass das zu viel Fiktion war und nichts mit dem Moment zu tun hatte.
Inwiefern?
Ich dachte an die Außensicht: Was erwartet ein europäisches Publikum von Lateinamerika? Heldenhafte Körper, die protestieren gehen, die sich widersetzen. Während des Lockdowns begann ich die Kurator*innen davon zu überzeugen, dass die Körper liegen müssten. Zunächst sagten sie, dass auf dem Boden liegende Körper Assoziationen zu Leichen hervorrufen würden. Es sind jedoch keine Leichen, sondern die Art und Weise, wie meine Freundinnen und Freunde während der Pandemie protestierten, war eben auf dem Boden liegend.
Haben Sie künstlerische Vorbilder?
Für mich sind die größte künstlerische Inspiration die Großmütter und Mütter der Plaza de Mayo. Ich denke dabei an den siluetazo, eine Strategie der Menschenrechtsbewegung in Argentinien. Er ist von Künstlerinnen und Künstlern entwickelt worden, aber ohne den Dialog mit den Müttern und Großmüttern wäre das nicht möglich gewesen. Die ursprüngliche Idee war, die Silhouetten auf den Boden zu malen. Doch für die Mütter und Großmütter konnten ihre Kinder nicht auf dem Boden liegen, weil es keine Leichen waren. Deshalb wurden die Silhouetten auf Papier gezeichnet und an Wände geklebt. Dieser Gedanke ist sehr künstlerisch. Darin liegt die Macht, die zwischen Kunst und Politik entsteht.
Die Farbe Weiß ist bis heute mit der Geschichte der Mütter und Großmütter verbunden. Sie arbeiten viel mit Farben, welche Bedeutung hat das für Sie?
Farben sind nicht neutral. In Madrid war ich mit dem Kollektiv Cromoactivismo eingeladen, wir verstehen uns als Anti-Pantone-Gruppe; als Künstlerinnen und Künstler betreiben wir einen poetischen und transversalen Aktivismus mit Farbe. Wir arbeiten auf der Straße.
Als während des Macrismo versucht wurde, die Strafen für Folterer der Diktatur zu reduzieren, waren wir geschockt, niemand hätte das für möglich gehalten. Unsere Reaktion bestand darin, mit weißen Stoffen auf die Straße zu gehen. Dadurch entstand eine öffentliche Debatte. Einige sagten, dass das Weiß heilig sei, es sei das Tuch der Mütter. Genau in diesem Moment trat die indigene Aktivistin Milagro Sala hervor und hielt ein weißes Tuch an zwei Ecken in die Luft. Damit war der pañuelazo (kollektive Protestaktion mit dreieckigen Tüchern, Anm. d. Red.) geboren, den wenig später die feministische Bewegung aufgriff. Es ist ein weiteres Werkzeug des Protests, das allen gehört.
Der pañuelazo entfaltet seine volle Wirkung nur im Kollektiv. Solche Arbeitsweisen spielen in Ihrer Praxis eine große Rolle…
Das ist ähnlich wie das, was ich über die Beziehung zwischen Kunst und Politik gesagt habe: Zwischen meiner persönlichen Arbeit und der Arbeit im Kollektiv bestehen Spannungen und gegenseitige Befruchtungen. Meine persönliche Arbeit besteht aus Geschichten, Dialogen und kollektiven Erinnerungen. Die Sätze, mit denen wir mit der Gruppe Serigrafistas Queer arbeiten, ergeben sich auf den Straßen, auf den Plätzen, gemeinsam mit anderen Gruppen. All das sieht man nicht, aber es geht um die Botschaften, die dabei entstehen. So ist auch die Arbeit „Algo se rompió“ (Etwas ist zerbrochen) im Hamburger Bahnhof zu verstehen: sie ist voller Zitate aus meiner Umgebung, es ist eine Arbeit von mir, aber ohne andere könnte sie nicht bestehen.
„DU HAST DIE KUGEL – WIR HABEN DAS WORT“
Foto: CADEHO
Dieses Wandbild befindet sich an einer Außenmauer in der Malmöer Straße 29 in Berlin und gedenkt mit Berta Cáceres und Marielle Franco zwei Aktivistinnen, die sich in Honduras und Brasilien für grundlegende Menschenrechte einsetzten und aufgrund ihres Engagements ermordet wurden. Angestoßen wurde das Projekt von CADEHO (Menschenrechtskollektiv für Honduras) und orangotango (Kollektiv für kritische Bildung und kreativen Protest). Gemeinsam mit den kolumbianischen Wandbildkünstler*innen Fonso, Soma und La Negra und unter Beteiligung weiterer in Berlin lebender Aktivist*innen wurde 2019 die Idee des Wandbilds erarbeitet und schließlich künstlerisch in die Tat umgesetzt.
Als Collage sind Kämpfe für eine intakte Umwelt und indigene Selbstbestimmung, gegen Rassismus und Polizeigewalt dargestellt. Zudem thematisiert das Wandbild die deutschen Verbindungen zu den Morden an den beiden Aktivistinnen: Berta Cáceres kämpfte gegen ein illegales Wasserkraftwerk auf dem Gebiet der indigenen Lenca, an dem ein Siemens-Joint Venture als Turbinenlieferant beteiligt war. Der Auftrag für ihre Ermordung kam direkt aus dem Betreiberunternehmen des Wasserkraftwerks (siehe LN 563). Marielle Franco wurde mit einer Waffe der Marke Heckler & Koch ermordet. Dieses Fabrikat war an Spezialeinheiten der Polizei in Rio de Janeiro geliefert worden. Deutsche Waffenexporte unterliegen einer speziellen Kontrolle, die eigentlich die Weitergabe an nicht autorisierte Dritte unterbinden soll. Trotzdem war diese Waffe in Hände von Milizen in Rio geraten (siehe LN 537).
ALS KUNSTSCHAFFENDE UND CHILEN*INNEN ZUSAMMENKOMMEN
Chilean Conexión 2020 Foto von der dritten Ausgabe des Kunstfestivals in Berlin (Foto: Magma Studio @magmastudio)
Wie kam es zu der Idee für Chilean Conexión?
Das war 2018. Ich habe damals mit ziemlich vielen chilenischen Künstlern und Musikern zusammengearbeitet – vor allem mit denen, die nach Berlin kamen. Sie fragten mich ständig nach Orten, an denen sie ihre Kunst ausstellen oder ein Projekt auf die Beine stellen könnten. Da kam dann die Idee auf, Meetups mit kreativen Chilenen zu veranstalten, also Räume, in denen wir uns treffen und Synergien aufbauen, unsere Erfahrungen teilen und uns gemeinsam verbessern können. Als ich dann einige befreundete chilenische Künstler einlud, sagten viele zu, aber am Ende wurde doch nichts daraus (lacht). Es verging ein Jahr und im Sommer kamen mich wieder Freunde besuchen. Super gute Musiker, die es leid waren, jedem Berliner Club eine Mail zu schreiben, ohne eine Antwort zu bekommen.. Und da kam mir Idee, einfach selbst ein Event zu schaffen, an dem unterschiedliche chilenische Künstler teilnehmen können: bildende Künstler, Musiker und so weiter. Ich meldete mich mit der Idee bei einigen Veranstaltungsorten und bekam sofort Antworten.
Der Fokus des Festivals ist eindeutig. Warum beschränkt ihr euch ausschließlich auf chilenische Künstler?
Als ich aus Chile wegging, war ich nicht gerade auf der Suche nach der chilenidad. Ich denke, dass viele Chilenen, vielleicht auch viele Lateinamerikaner, eher davoneilen als einfach nur weggehen. In Chile war die letzte Zeit außerdem politisch und gesellschaftlich gesehen ein besonderer Moment. Als ich hier ankam, war mir das alles sehr fern. Irgendwann habe ich aber gemerkt, dass ich zwar kein Patriot, aber doch irgendwie mit der Gemeinschaft verbunden bin. Denn obwohl ich mich nicht von der chilenischen Politik repräsentiert fühle, bin ich Teil dieser Gemeinschaft. Ich habe gemerkt, dass es vielen Chilenen hier so geht. Und außerdem spielten auch einige persönliche Interessen eine Rolle: Mich interessieren die Migrationsverbindungen und das, was die Menschen verbindet. So kam die Idee auf, einen Raum für Menschen mit einer gemeinsamen Herkunft zu schaffen.
Im vergangenen Jahr fand Chilean Conexión zum dritten Mal und im Schatten der Proteste in Chile statt. Was bedeutete es, in diesem Kontext zusammenzukommen?
Im letzten Jahr haben wir zum ersten Mal ein Thema für die Kuratierenden festgelegt. Das war angesichts der Ereignisse in der internationalen Politik und auch der Kunstwelt nötig, denn das Thema war überall und immer präsent. Es kam als Energie in unserem Umfeld auf – es gab dieses Thema und wir merkten, dass sich jemand damit beschäftigen muss. Es wäre uns komisch vorgekommen, einen Aufruf für ein Festival in die Kunstwelt zu schicken und das Thema nicht anzusprechen. Und es war toll, denn viele Künstler wollten gern darüber reden. Komplex war es aber auch, denn nicht alle arbeiten mit politischen Themen. So kam zum ersten Mal die Idee einer Kuration auf, die letztendlich sehr viel mehr Arbeit bedeutete.
Warum mehr Arbeit?
Die Herausforderung bestand darin, dass das Thema nicht nur ein Vorschlag war, sondern eine Vorgabe: Die Künstler arbeiteten genau zu diesem Thema. Manchmal hat das zu Verwirrung geführt: Es gab Leute, die schickten uns Vorschläge, aber keine Kunst, sondern eben Vorschläge für den Protest. Da mussten wir differenzieren. Es gab sehr viele Kunstwerke, und zwar alles mögliche. Die Künstler näherten sich dem Thema manchmal weniger eindeutig, als wir es erarbeitet hatten. In Chile arbeitete man vor allem explizit zum Thema Gewalt. Dabei gab es Dinge, die inhaltlich sehr hart, aber visuell gesehen nicht gewaltvoll waren. Den Leuten hat das Thema und die Art, wie es aufgearbeitet wurde, gefallen. Sehr viele Menschen sind der Einladung zum digitalen Teil des Festivals gefolgt.
Dank des digitalen Formats konnte das Werk auch von Chile aus gesehen werden. Wie wurde es dort aufgenommen?
Super gut. Ich denke, für ganz Lateinamerika gilt: Wenn in einem anderen Land etwas veranstaltet wird, was das eigene Land repräsentiert, dann erfüllt es die Leute mit Stolz. Das verleiht dem, was im Land passiert, noch mehr Geltung. Zum Beispiel haben wir 2020 in einem Streaming mit chilenischen Künstlern, vor allem Musikern, dazu aufgerufen, dass Leute auf der ganzen Welt eine Online-Demonstration über die Krise veranstalten. Das war genau zum ersten Jahrestag des estallido social. Es gab eine riesige Resonanz. Das Video dauerte am Ende mehr als zehn Stunden und wurde mehr als 80.000 Mal angesehen. Außerdem gab es Veröffentlichungen in sozialen Netzwerken und Zeitschriften. Die Interventionen, die wir im öffentlichen Raum veranstalteten, haben auch viel Aufmerksamkeit bekommen. Zum Beispiel haben wir ein paar Projektionen am Alexanderplatz gemacht. Die Fotos gingen um die Welt. Am Ende tat es sehr gut zu sehen, dass wir großen Eindruck hinterlassen hatten.
Bei Chilean Conexión scheint es auch darum zu gehen, die Künstler*innen auf der Ebene ihrer persönlichen Laufbahn anzusprechen. Ich denke da an die angebotenen Seminare, Diskussionsveranstaltungen, Workshops.
Mir war es schon immer wichtig, dass es nicht nur eine Ausstellung ist, sondern dass auch die Künstler sich weiterbilden können. Deswegen organisieren wir schon seit der zweiten Ausgabe des Festivals viele Seminare. Bei dieser Gelegenheit gab es zwei: eines über das Urheberrecht in der Kunst und eines darüber, wie man selbst eine Ausstellung organisiert. Und klar, das Format Ausstellung ist attraktiver für das Publikum, aber auch für die Künstler: es ist eine Win-Win-Situation. Das ist ein weiterer Unterschied zu klassischen Meetups. Denn bei diesen Treffen geht es zwar um Austausch zwischen Künstlern, aber nicht um gegenseitige praktische Unterstützung. Im Fall von Chilean Conexión gibt es beides. Der Austausch ist hier indirekter: es gibt keinen Tisch, an dem sich alle versammeln und über visuelle Kunst diskutieren. Aber es kommen mehrere visuelle Künstler aus Chile, die in Berlin leben, zusammen und schaffen diesen Austausch. Chilean Conexión ist also ein Festival, bei dem die Künstler ihre Arbeit zeigen, Musik machen und so weiter, aber vor allem ist es ein Ort, an dem die Leute ihre Erfahrungen austauschen können.
Warum ist der Austausch von Erfahrungen für dich so wichtig?
Die Bedeutung, die ich dem Teilen von Erfahrungen zuschreibe, hat nicht nur mit der Kunst zu tun, sondern mit meinem persönlichen Blick auf menschliches Schaffen. Ich bin Architekt und habe es immer von der Architektur aus betrachtet. Ich habe schon immer mit partizipativer Architektur gearbeitet. Dabei ist die Partizipation fundamental, um Wissen aufzubauen, Dinge zu verbessern und Entwicklung zu fördern. In dem Moment, in dem Menschen ihre Erfahrungen teilen, profitiert man nicht nur von den Erfahrungen des andern, sondern stärkt auch das soziale Gefüge. Im Teilen liegen zwei wichtige Dinge: man hat Zugang zu Wissen, ohne selbst bestimmte Erfahrungen gemacht haben zu müssen und man schafft einen Akt der Gemeinschaft. Das gibt Kraft. Als Migrant ist das fundamental.
Warum?
Wenn du als Migrant nicht in der Lage bist, dich gut zu integrieren oder dich mit den anderen in einem neuen Land zurechtzufinden, bist du verloren. Wenn Chilenen, Argentinier oder sonstwer zu mir kommen und mich nach etwas fragen, denke ich jedes Mal: „Ich wünschte, ich hätte damals jemanden wie mich gefunden, der mir so klar sagen kann, wo es langgeht, was man machen kann, wie es geht.” Ich teile Wissen mit ihnen, das zu sammeln mich selbst sechs oder sieben Jahre gekostet hat. Auf diesem Weg kannst du wirklich verloren gehen. Aber wenn du ein soziales Gefüge findest, schaffst du den Weg wahrscheinlich schneller. Ich denke, Chilean Conexión hat es geschafft, ein solches Gefüge in diesen Bereich zu bringen.
Also ist das Festival auch eine Art Vermittler?
In der Welt der Kunst gibt es nicht so viele Orte, an denen Menschen zusammenkommen, um von den Erfahrungen des anderen zu lernen. Deshalb denke ich, das ist ein großer Vorteil des Festivals. Denn es ist keine Biennale der Kunst, sondern ein Treffen von Künstlern. Das Festival hat ein künstlerisches Standbein, aber auch ein soziales, denn das Ziel ist, dass die Künstler ihre beruflichen Möglichkeiten erweitern und verstärken können. Und das nicht nur als Künstler, sondern auch als Migranten. Dass sie sich im Austausch mit den anderen stärken, verstehen, was andere machen oder einfach nur mit anderen sprechen und ihren Weg kennenlernen. Da ist eine Plattform wie Chilean Conexión, auf der Menschen der gleichen Kultur zusammenkommen, ein großer Vorteil.
ZWISCHEN INDIVIDUELLER UND KOLLEKTIVER ERINNERUNG
San Felipe VI, 2005-2018 Konfrontation mit dem Großvater im Kunstwerk © Yoel Díaz Vázquez
Mit welchen Thematiken beschäftigt ihr euch in eurer künstlerischen Arbeit?
María Linares: In meinen Arbeiten beschäftige ich mich hauptsächlich mit Diskriminierung und Rassismus. Die Mittel, die ich verwende, sind verschieden. Ich arbeite gerne im oder mit dem öffentlichen Raum, mit der Öffentlichkeit. Oft arbeite ich auch mit Videos.
Daniela Lehmann Carrasco: Die Hauptthematik meiner Arbeit sind Symbolbilder des Kollektivgedächtnisses. Im Grunde archaische, ikonografische Bilder, die im kollektiven Gedächtnis eingebrannt sind und in Beziehung zu individuellen Erinnerungsbildern stehen. Ich als Autor schaue auf die Welt und entdecke die kollektive Bilderwelt und meine eigene Wahrnehmung.
Ana María Millán: Im Mittelpunkt meiner Arbeit stehen die Beziehungen zwischen Politik, Animation und Video in Bezug auf Propaganda, politische Propaganda, Gewalt und Gender.
Yoel Díaz Vázquez: Die Arbeit, die ich in dieser Ausstellung zeige, ist ein fotografisches Projekt, das ich mit meinem Großvater durchgeführt habe. Darin reflektiere ich die zentralen politischen Widersprüche zwischen verschiedenen Generationen von Kubanern bezüglich ihrer Wahrnehmungen der kubanischen Revolution. Ich wollte verschiedene Perspektiven aufzeigen, in diesem Fall die Generation meines Großvaters und meine als Künstler. Für dieses Projekt habe ich meinen Großvater gefragt, ob ich ihn vor der Kamera bei der Interaktion mit zwei Objekten unterschiedlicher Verwendung und unterschiedlicher Symboliken darstellen könne. Das eine ist ein Diplom, das er für seine damalige gute Arbeit als Gastronom erhielt. Er erhielt überhaupt viele Diplome im Laufe seines Lebens, man könnte sagen, er war ein echter Held der Arbeit. Das andere ist eine Saugglocke fürs Badezimmer, die ich absichtlich ausgewählt habe, um ihn ein wenig zu provozieren, um Gefühle der Introspektion, sogar der Ablehnung hervorzurufen.
RENOMBREMOS EL 12 DE OCTUBRE, 2019 Teilnahme im partizipativen Projekt, © María Linares
María, deine Arbeit RENOMBREMOS EL 12 DE OCTUBRE (2019), die du in Berlin zeigst, enthält eine Petition und eine Datenbank zur Umbenennung des „Tags der Rasse“. Wie verläuft dein Arbeitsprozess und was ist dafür zentral?
ML: Die Arbeit gehört zu meiner Promotion als Künstlerin, wo ich mich seit Längerem mit Rassismus und dem, was „Rasse“ heißt, auseinandergesetzt habe. Ich bin Kolumbianerin, ich bin dort aufgewachsen und habe dabei tausendmal den sogenannten „Tag der Rasse“ mitgefeiert. Heute sehe ich mich ein bisschen in einem Niemandsland bezüglich der Sprache und so ist es auch mit dem Dasein: Ich bin hier fremd und habe einen fremden Blick, genauso bin ich aber in Kolumbien fremd, wo ich seit 25 Jahren nicht mehr lebe. Ich glaube, wenn ich noch dort wäre, wäre mir das mit dem „Tag der Rasse“ nicht aufgefallen. Dieser Blick entsteht nur durch diese Kontextverschiebung, die dieses im Niemandsland-Sein ermöglicht. Der Vorteil des Künstlerseins ist, dass man Sachen sieht, die man nicht sieht, wenn man tief drin ist.
Der 12. Oktober hat unterschiedliche Namen in verschiedenen Ländern Lateinamerikas. Woher kam der Anstoß zur Umbenennung?
ML: Als man sich auf die Fünfhundertjahrfeier der „Entdeckung“ vorbereitete, sagte die mexikanische Kommission: wir sind die Kommission „del Encuentro de dos Mundos“ (Begegnung zweier Welten). In Mexiko heißt der Tag noch immer so. Aber auch das ist nicht gut gegangen, mittlerweile haben Minderheiten ihre Stimme erhoben. Ab den 90er Jahren fand ein Paradigmenwechsel statt, in dem Multikulturalität im Zentrum stand. In Argentinien heißt der Tag heute „Día de las Culturas“. Dort gibt es eine Soziologin, die sagt, es heißt jetzt zwar „Tag der Kulturen“, aber das ist nur eine Maske für dasselbe, ein Weißwaschen. Für jeden Namen, der umgesetzt wurde, gibt es eine Gegenkritik, die die Assimilation entlarvt.
In der Datenbank hat der „Abya Yala Tag“ die meisten Stimmen. Meine These ist, dass das wieder ein ganz anderes Paradigma aufweist, das auf globaler Ebene an Bedeutung gewinnt: Es ist nicht mehr der Mensch im Zentrum. Sprechen wir vom „Tag der Kulturen“, sprechen wir vom „Tag des indigenen Widerstands“, wie in Venezuela, dann sind immer noch Menschen im Zentrum des Diskurses. Abya Yala lässt den Menschen weg, es bezieht sich auf die Geografie, auf die Umgebung, auf die Natur. Da könntest du auch einen Fluss feiern.
Círculo, 2021 Verbindet kollektive und individuelle Erinnerungen, Videostill, © Daniela Lehman Carrasco
Daniela, in deine Videoarbeiten Le Glück Quantitativ (2010) und Círculo (2021) sind Dokumentarfilme eingeflossen, wie La Batalla de Chile von Patricio Guzmán. Was ist die Idee dahinter?
DLC: Guzmán hat ja alles dokumentiert, was in der Allende-Zeit passiert ist, es gibt aber nur wenig filmische Dokumente aus der Putschzeit. La Batalla de Chile ist eigentlich das einzige Zeugnis dieser Zeit, das ich kenne. Man hat ja wenig privat gefilmt früher und mir war es wichtig, die Gewalt und die Erinnerungen daran zu zeigen. Le Glück Quantitativ zeigt die sozialen Utopien der 60er Jahre – gerechte Verteilung für alle, damit bin ich groß geworden. Die neue Arbeit heißt Círculo, weil ich gesehen habe, dass sich viele Dinge wiederholen, sowohl von der Gewalt, die das Militär gegenüber den Studenten, oder Schülern vielmehr, aufgebracht hat, als aber auch diese ganze utopische Kraft der Menschen, die jetzt dazu geführt hat, dass sie eine neue Verfassung schreiben, was ich ja ganz großartig finde.
Du stellst ganz bewusst nicht nur die beiden Zeiten, sondern auch die beiden Länder in einen Dialog. Basiert das auf einer Außenperspektive oder ist das auch deine Geschichte?
DLC: Also, ich bin Deutsch-Chilenin. Meine Eltern sind nach Deutschland exiliert, wir waren da noch sehr klein und ich bin in Frankfurt aufgewachsen, aber meine deutschen Berliner Großeltern väterlicherseits sind wegen der Nazis nach Chile ausgewandert. Meine Oma ist Jüdin gewesen. Dieses Zurückbesinnen hat etwas damit zu tun, in welchem Kontext ich aufgewachsen bin, in der Frankfurter Soli-Bewegung für die chilenischen Gefangenen. Die chilenische Community, die linke, egal welcher Partei du angehörtest, war sehr eng, hat sehr viel gemeinsam unternommen, hat sich stark orientiert aneinander. Ich bin aber ein bisschen anders aufgewachsen als viele anderen Chilenen, weil ich auch diesen deutschen Part habe. Ich bin mit den „Deutschland im Herbst“-Sachen (deutscher Episodenfilm von 1978 über die RAF-Zeit, Anm. d. Red.) aufgewachsen. Wir waren auf Demos und Kundgebungen, deshalb habe ich das zusammengemischt. Es geht in dieser Arbeit um meine Kindheit und Jugendzeit, ich habe das Trauma darin gesucht.
Elevación, 2019 Politik und Animation, Video Still © Ana María Millan
Ana María, warum hast du einen kollaborativen Prozess als Grundlage für deine Animation Elevación (2019) gewählt? Wie gehst du bei deiner Arbeit vor?
AMM: Ich habe begonnen, die Themen politische Propaganda, Gewalt und Geschlecht aus dem Studio heraus zu bearbeiten. Ich habe mit Materialen in Bezug auf bestimmte politische Narrative experimentiert. Mit der Zeit habe ich eine partizipative Methodik gefunden: Ich führe Rollenspiele mit Leuten durch, wir lesen einen Text und die Leute kreieren Charaktere, um die historischen Situationen, die in diesem Text genannt werden, zu bewältigen. In diesem Fall geht es um die Frage, wie der Widerstand in Kolumbien entstanden ist. Durch den kollaborativen Prozess suchen wir gemeinsam nach Lösungen. Hier werden diese in Bilder übersetzt, in einem anderen Fall können es spezifische Richtlinien sein, es ist ein pädagogischer Prozess. Außerdem zeige ich dieses Werk gerne hier, weil Deutschland einer der Garanten des Friedensprozesses in Kolumbien ist. So ist es auch ein Hilferuf, dass das Friedensabkommen erfüllt wird.
Wie verhalten sich Realität und Fiktionalität in deiner Arbeit zueinander? Ist das Medium des Videos eine Möglichkeit, sich die Realität anzueignen? Deine Arbeit basiert außerdem auf einem Comic, wie ist die Verbindung?
AMM: Die Fiktion ist eine Möglichkeit durch fiktive Figuren in eine Erzählung und in die Realität einzutreten, um an einen unbewussten Vorgang zu appellieren, der von einem historischen Prozess spricht. Marquetalia. Raices de la Resistencia (Wurzeln des Widerstands) ist ein Comic, der sich auf die erste unabhängige Republik der Bauern in Kolumbien bezieht und zeigt, wie die Gewalt des Staates sie zerstörte. Der Comic ist ein beliebtes Werkzeug, denn er kann pädagogisch verstanden werden und uns zum Reden bringen, zum Aufwerfen von Fragen zum Friedensprozess. Die Gewalt des Staates hört bis heute nicht auf. Es ist, als würde sich die Geschichte immer wieder wiederholen. Kolumbien ist eines der wenigen Länder, das noch keine Agrarreform hatte und dafür gibt es einen großen Kampf. Denn das Problem ist nach wie vor die Abhängigkeit von dem Land, das vier kolumbianischen Familien gehört. Eine Landreform ist dringend notwendig. Kunst hat die Fähigkeit, das Problem anzuprangern, zu kommunizieren, zu verkünden, was dieser Comic tut.
Yoel, du zeigst deine fotografische Arbeit San Felipe (2005-2018). Setzt du dich in deinen Arbeiten mehr mit der Geschichte deiner Familie oder eher mit einer kollektiven Geschichte Kubas auseinander?
YDV: Es ist eine kollektive Geschichte. Ich komme aus einer einfachen Familie, mein Großvater war ein Arbeiter, der auf dem Bau arbeitete, sogar in den Zuckerrohrfeldern, und er folgte, wie viele seiner Generation, dem Líder Fidel. Das ist die große Geschichte Kubas: Fidel Castro war eine Persönlichkeit mit viel Charisma und gewann die Sympathie des kubanischen Volkes. Das Ziel der Revolution war in erster Linie die Errichtung der Demokratie in Kuba, die Wiederherstellung der Verfassung von 1940 und natürlich die Absetzung des Diktators Fulgencio Batista. Und was ist passiert? Mit all diesen Zielen gewann Castro die Sympathie des ganzen Volkes, der kubanischen Mittelschicht und sogar der amerikanischen Mittelschicht, die auch die kubanische Revolution mitfinanzierte.
Mein Großvater hat durch die Revolution keine Art von Verlust erlebt und er spürte, dass die Reden, die Fidel hielt, für ihn waren. Fidels Rede lösten in ihm viele Erwartungen für sein Leben und für das Leben seiner Familie aus. Mit anderen Worten: All der Wohlstand, den Fidel ihm versprochen hat, für Kuba, für das Volk im Allgemeinen, für seine Kinder, für seine Enkelkinder, ist etwas, das wir Enkel jetzt nicht mehr sehen. Und das ist die Enttäuschung, die ich mit diesem Objekt der Saugglocke hervorrufe. Ich konfrontiere meinen Großvater ein wenig mit einem symbolischen politischen Dialog, denn ein normaler Dialog ist unmöglich.
Wie ist es für dich, ein Werk hier in Deutschland auszustellen, das so viel kubanische Geschichte und so viel gesellschaftlichen Kontext enthält? Wie sind die Reaktionen?
YDV: Hier war es schon immer sehr einfach, politische Arbeiten auszustellen. Alle Künstler, die dem Aktivismus nahestehen, haben in Deutschland eine ideale Plattform, um ihre Kunst zu zeigen. Ich habe hier immer ein offenes Publikum vorgefunden, vor allem wegen der Geschichte, die uns verbindet, nämlich die Geschichte der DDR. Das heißt, ein Teil der Deutschen hat diese Erfahrung, die ich in vielen meiner Arbeiten in Bezug auf Kuba erzähle, schon gemacht.
Es ist eine Frage, die ich mir immer gestellt habe: Wann werden wir in unseren nicht-westlichen Ländern das Vergnügen haben, ohne Angst vor Unterdrückung aufzutreten, unsere Ideen, unsere Kunst auszustellen, ohne Angst, verurteilt und eingesperrt zu werden.
KUNSTSCHAFFENDE ALS ERKLÄRTE FEINDE
Nicht mehr für den Unterricht Bücher über Schwarzen Widerstand während der Kolonialzeit (Foto: Bahoe Books)
Als der brasilianische Präsident und Pandemieleugner Jair Bolsonaro im Juni 2020 dazu aufrief, Krankenhäuser zu stürmen, die Covid-Patienten behandelten, erschien im Blog des Journalisten Ricardo Noblat eine Karikatur des Zeichners Renato Aroeira. Diese zeigte Bolsonaro mit Farbtopf und Pinsel in der Hand, mit denen er das Rote Kreuz – als Symbol für medizinische Hilfe – zum Hakenkreuz verändert hatte. Nach der Veröffentlichung leitete das Justizministerium ein Ermittlungsverfahren gegen Zeichner und Blogbetreiber wegen Verleumdung des Präsidenten ein – in Brasilien kann das bis zu vier Jahre Gefängnis bedeuten. Medienschaffende und Intellektuelle reagierten empört: Unter dem Hashtag #somostodosaroeira (#wirsindallearoeira) wurden Hunderte von Zeichner*innen aktiv.
Unter ihnen war auch Carol Ito, die in ihrem Beitrag den Hashtag-Slogan um die weibliche Endung von „alle“ ergänzte: „Somos todos – e todas! – Aroeira“. Ito ist Journalistin und Cartoonistin, Autorin des Comicstrips Quarentiras und betreibt den Cartoon-Blog Salsicha em Conserva, dabei engagiert sie sich für die Sichtbarkeit von Frauen und trans Personen. Ihre Kritik geht daher über die Kampagne hinaus. Im Gespräch mit LN sagte sie dazu: „Es kommt nicht von ungefähr, dass der Diskurs über die freie Meinungsäußerung zumeist von weißen Männern geführt wird – die sich nämlich befähigt fühlen, über alles zu sprechen und zu urteilen.“ Frauen nähmen sich noch viel zu selten diesen Raum und von ihnen würden auch eher „weibliche“ Themen erwartet. Um dies aufzubrechen, gründete Carol Ito 2017 mit einigen Mitstreiter*innen im Web Políticas, eine Plattform für politische Karikaturen aus der Feder von Frauen. Das Echo war jedoch bescheidener als erwartet.
Die Hetze gegen Künstler*innen schätzt sie so ein: „Frauen werden weniger eine Zielscheibe von Repressionen oder Zensur, sie werden gar nicht erst groß beachtet.“ Sie selbst sei noch nicht öffentlich angegriffen worden, was aber wenig verwunderlich sei, denn wie so viele Frauen publiziere sie vorwiegend selbst „im Web, wo einen die Leserschaft aufsucht und meist derselben Meinung ist.“
Kritische Kunst erfährt Zensur
Rogério de Campos von Veneta, einem Independent-Verlag aus São Paulo, thematisiert eine andere ideologische Kampagne der Rechten: „Bolsonaro lässt aus den Lehrbüchern für Geschichte das Wort Diktatur streichen“. Als Verleger kritischer Werke kennt de Campos die Folgen. Kulturelle Angebote seien in Brasilien ohnehin Luxus, der Buchmarkt nicht gerade stark, doch „in Brasilien ist der Staat ein wichtiger Abnehmer für die Verlage, er kauft ihre Bücher, so sie als didaktisch wertvoll erachtet werden, für Schulen und Bibliotheken.“ Es sei großartig gewesen, dass die 2014 und 2017 erschienenen Bücher des Autors Marcelo D’Salete über Schwarzen Widerstand während der Kolonialzeit, Cumbe und Angola Janga, für den Geschichtsunterricht angeschafft worden seien. Heute aber könne jeder Titel Probleme bringen, der auch nur den Anschein hat, nicht mit der Linie Bolsonaros konform zu sein, und zwar lange, bevor diese gesetzlich vorgegeben oder institutionell durchgesetzt sei: „Die Drohgebärden, die aggressiven Ansagen reichen aus und die Menschen trauen sich nichts mehr“.
Zu Verfechter*innen der öffentlichen Moral zwischen zwei Buchdeckeln würden auch Einzelpersonen, berichtet der Verleger weiter. So verhinderten etwa besonders verantwortungsbewusste Bibliothekar*innen oder Buchhändler*innen, dass Bücher an ihr Ziel fänden, ebenso im Vertrieb arbeitende Anhänger*innen evangelikaler Kirchen. Im Fall von Veneta war es der beauftragte Logistiker, der im Januar 2020 den Transport von Belegexemplaren an den Lizenzgeber in Frankreich verweigerte, wegen „nicht erlaubten Inhalts“ – auf dem Cover war eine Frau abgebildet, die ihre Bluse öffnet, die Brustwarzen sichtbar.
Verbote steigern die Auflage
Die Debatte lässt sich nutzen
Im Fall des Ermittlungsverfahrens gegen Renato Aroeira ging der Zensurversuch nach hinten los: Gemeinsam mit mehr als 100 Zeichner*innen der Solidaritätskampagne erhielt Aroreira Ende 2020 den Vladimir-Herzog-Sonderpreis für Journalismus für Menschenrechte. Eine Auszeichnung, die in Brasilien sehr wichtig ist, so Paulo Ramos, Comicforscher an der Universidade Federal de São Paulo. Sie war verknüpft mit einem „Dialog verschiedener Sektoren der Gesellschaft“, weit über die Künstlerszene hinaus. Und dieser breiten „kollektiven Reaktion auf einen klaren Versuch von Zensur und Einschüchterung folgten weitere“, schildert Ramos, dessen Buch über Zensur von Comics und Cartoons in Brasilien bald erscheint. So hätten sich viele Anwält*innen bereit erklärt, sich kostenfrei für Opfer von Einschüchterungsversuchen durch die Regierung einzusetzen.
Denn es mangelt nicht an Fällen von Zensur: Das Observatório de Censura à Arte (Beobachtungsstelle zur Zensur von Kunst) stellte seit 2017 in Brasilien rund 60 Fälle von – nicht nur durch die Regierung – zensierter Kunst fest. Dort werden jedoch nicht alle Angriffe auf die Meinungsfreiheit registriert. So fehlt zum Beispiel der Fall der in der Zeitung Folha de São Paulo erschienenen Cartoons, in denen ein von der Polizei verübtes Massaker an Teilnehmenden einer öffentlichen Funk-Party in einer Favela kritisiert wurde. Im September 2019 wurden vier der Cartoonist*innen, u.a. Alberto Benett, dafür abgemahnt.
Für Renato Aroeira und den Blogbetreiber Ricardo Noblat ging es am Ende gut aus – im März dieses Jahres wurde das Verfahren eingestellt. Auch dazu stellt Comicforscher Ramos fest: „Der Inhalt des Zensierten bekommt mit einem Mal eine viel größere Reichweite. Und es gibt inzwischen die kollektive Wahrnehmung, dass wir in Zeiten einer echten Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats leben. Seit Jahrzehnten habe ich in diesem Land nicht mehr so viele Autoren gesehen, die sich äußern wollen, sei es in Zeitungen oder in sozialen Netzwerken.“
MUSEUM DER WÜRDE
Camilo Catrillanca Porträt des 2018 ermordeten Aktivisten vom Kollektiv Serigrafía Instantánea (Fotos: Museo de la Dignidad)
„Das Team des Museums der Würde besteht aus sieben Personen. Wir wollten die Kunstwerke konservieren, damit eine Aufzeichnung der Geschichte bleibt und wir nie vergessen, warum wir im Oktober 2019 auf die Straße gingen“, erklärt Felipe.
Die Öffentlichkeit schätzt die Arbeit der Initiator*innen; die Kunstwerke sind bisher von Eingriffen verschont geblieben. „Das Einrahmen der Werke bringt die Kunst den Menschen auf eine alltägliche Art nahe. So kann sie Tag für Tag genossen werden, ungeplant, ohne eine Eintrittskarte zu kaufen oder eine Einladung haben zu müssen“, erläutert Felipe
Aufgrund der unzählbaren Masse an Werken, muss das Team einige auswählen. Zum Redaktionsschluss verzeichnete das Museum der Würde 15 Werke, darunter Grafittis, Collagen, Digitaldrucke auf Papier und Gemälde. Waren die Künstler*innen zunächst anonym geblieben, ermittelte das Museumsteam ihre Namen, um sie für die Öffentlichkeit sichtbar zu machen.
„Ein Ereignis hat uns sehr inspiriert. Ein oder zwei Tage, nachdem wir zum ersten Mal losgezogen sind, um die Rahmen anzubringen, fanden wir alle Wandgemälde innerhalb der Umgebung grün überstrichen vor. Es gab zwei deutliche Anhaltspunkte, die darauf schließen ließen, dass es die Polizei selbst gewesen sein musste. Es wurde alles in grüner Farbe überstrichen und in weißen Lettern Phrasen zur Unterstützung der Polizei geschrieben. Die Botschaft war wörtlich: „Carabineros von Chile, Vielen Dank!“ In dieser Nacht hatten sie alle Kunstinterventionen in der Zone übermalt. Die einzigen, die sie verschonten, waren jene mit dem goldenen Rahmen des Museums der Würde. Wir dachten uns danach: „Krass! Das hier hat bereits eine gewisse Bedeutung erlangt“, erzählt Felipe. Die nächste Herausforderung besteht nun darin, die Werke auf lange Sicht zu erhalten und natürlich weiterhin all jene zu rahmen, die neu erscheinen und den Anforderungen des Museums entsprechen.
Chiles Guernica von Miguel Ángel Kastro
Eine Hauptattraktion des Museums ist die chilenische Version von Guernica. Urheber Miguel Ángel Castro berichtet: „Ich habe mitbekommen, dass mein Guernica Teil des Museums der Würde ist, als ich an einem Tag durch die Straßen ging und es eingerahmt vorfand. Es war sehr bewegend für mich, da es eines der ersten Wandgemälde ist, das von dem Museum eingerahmt wurde.“ Der Künstler erklärt zudem, dass er seine chilenische Version von Guernica zunächst auf Instagram veröffentlichte. Einer seiner Follower nahm es und druckte es aus, sodass das Werk von heute auf morgen Teil des Museums der Würde wurde. „Guernica ist der größte künstlerische Anti-Kriegsausruf des 20. Jahrhunderts. An einem Sonntag mitten im spanischen Bürgerkrieg wurde ein spanisches Dorf bombardiert, wobei fast 3000 Menschen starben. Diese Geschichte erzählt Pablo Picasso in seinem Originalwerk. Als Appell an den Präsidenten Sebastián Piñera, der die Situation in Chile als Krieg bezeichnete, erstellte ich dann eine an die örtliche Realität angepasste Version von Guernica. Ich verfügte über so viele Informationen, dass es mir leicht fiel, für jedes Detail des Gemäldes eine passende Figur zu finden“, so Castro.
Santísima Dignidad von Paloma Rodríguez
Die Heilige Würde (Santísima Dignidad), symbolisch als Wächterin des Aufstandes. In dieser Darstellung finden sich einige zentrale Symbole der Proteste: Das grüne Halstuch für das Recht auf legale und sichere Abtreibung. Die hervorgehobene Figur steht für die Frauen Chiles, welche die Bewegung anführen und in ihren Armen hält sie einen Pikachu. Als Pikachu war eine Lehrerin verkleidet, die sehr viel Sichtbarkeit bei Freitagsdemonstrationen erlangt hatte.
Gabriela Mistral von Fabián Ciraolo
Unter den ausgewählten Werken sticht eines hervor, das die Dichterin Gabriela Mistral darstellt. „Mit jugendlichem Anmut vereint sie alle Elemente, die heute in Chile zur Diskussion stehen: Die Verfassung, über deren Änderung im April durch eine Volksabstimmung entschieden wird, das grüne Halstuch, Symbol der feministischen Bewegung und der Legalisierung der Abtreibung, die schwarze Flagge, die zum Zeichen der Revolution wurde und Gabriela Mistral, die selbst eine Botschaft darstellt.“, so Felipe. Würde Gabriela Mistral noch leben, würde sie ohne Zweifel ihr Gedicht „Wir sollten einst alle Königinnen sein“ wiederaufleben lassen.
Jesús von Caiozzama
Die chilenische Polizei wurde aufgrund ihrer exzessiven Anwendung von Gewalt sehr stark in Frage gestellt. Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses zählte das Nationale Institut für Menschenrechte (INDH) 3.583 Verletzte, darunter 359 mit Augenverletzungen. Sie verloren ihr Augenlicht teilweise oder komplett auf Grund von Gummigeschossen, die direkt auf die Augen abgefeuert wurden. In einer Collage des Künstlers @caiozzama ist Jesus dargestellt, der vor Carabineros flieht: In Anlehnung an die letzte Botschaft Jesu, hält der Verfolgte ein Schild hoch mit der Aufschrift „Vergib ihnen nicht, denn sie wissen genau, was sie tun“.
„ICH HOLE MIR DIE STRASSEN ZURÜCK“
Porträt des ermordeten Komikers Jaime Garzón Das Wandbild der M.A.L. Crew ist an einer der wichtigsten Straßen Bogotás (Fotos: M.A.L. Crew)
Sie haben beide an der Kunsthochschule in Bogotá studiert und beherrschen verschiedene Kunsttechniken. Wodurch zeichnet sich Streetart im Vergleich zu anderen Techniken aus?
Ángela Atuesta: Als Künstlerin im urbanen Raum lernst du Orte und Menschen und ihre Lebensumstände kennen. Der kreative Prozess, der eigentlich etwas sehr intimes ist, wird in die Öffentlichkeit gebracht und alle können Teil davon werden. Du kannst zum Beispiel mit Kindern zusammenarbeiten, denen sonst der Zugang zu künstlerischer Arbeit verschlossen bliebe. Streetart ist weniger elitär als die Kunst aus Museen und Galerien. Nicht alle haben die Möglichkeit, dort Cocktails zu schlürfen. Wenn du möchtest, kannst du im Schlafanzug an einem Wandbild vorbeigehen und es dir ansehen.
Camilo Alfonso: Für mich bedeutet Streetart auch immer „Reclaim your City“, ich hole mir die Straßen zurück, weil sie auch mir gehören. Vielleicht bin ich gezwungen, an einem Ort zu leben, aber ich kann ihn durch mich verändern. Das ist ein ziemlich starker Prozess, der auch mit etwas sehr kleinem anfangen kann. Außerdem ermöglicht dir Streetart, Orte kennenzulernen, die du sonst nie kennenlernen würdest. Besonders nicht in einer so fragmentierten Gesellschaft wie der kolumbianischen. Es gibt Viertel oder auch Dörfer, in die du niemals gehen würdest, wenn du nicht auf der Suche nach einer Wand wärst. Das Schöne an der Malerei ist auch, dass du nicht als Tourist kommst, in gewisser Hinsicht bist du ebenso bei der Arbeit, wie alle anderen Menschen aus der Gegend. Damit hast du einen anderen Zugang zu den Menschen, die vorbeikommen und zusehen, was du gerade tust.
Ist Streetart für Sie immer politisch, ganz unabhängig von dem, was auf der Wand künstlerisch thematisiert wird?
Ángela Atuesta: Ja, auf jeden Fall.
Camilo Alfonso: Ich denke, jede Kunst ist im Kern politisch. Wenn du dich für ein bestimmtes Bild entscheidest, schließt du alle anderen möglichen Bilder aus. Ich könnte ein iPhone malen und den Menschen weismachen, dass alles gut sei. Oder ich male ein Mädchen, das stirbt. Diese Entscheidung ist sehr politisch.
Bogotá gilt als ein Zentrum der globalen Streetart-Szene. Ist es dort möglich, ohne Repression zu sprayen oder zu malen?
Ángela Atuesta: In Bogotá haben Streetart-Künstler*innen eine sehr privilegierte Stimme, vor allem, wenn es um sozialen oder politischen Protest geht.
Camilo Alfonso: Das hat seinen Ursprung 2011. In dem Jahr wurde Diego Felipe Becerra ermordet, ein 16- jähriger Sprayer. Die Polizei hat ihn beim Sprayen erwischt, er wollte fliehen und sie haben ihm in den Rücken geschossen, als ob er ein Dieb wäre. Einige Monate später kam der Popstar Justin Bieber um ein Konzert zu geben. Anschließend ist er losgezogen, um in einer der Hauptstraßen Bogotás ein Graffiti zu malen. Die Polizei hat ihm dafür Polizeischutz gegeben. Das hat einen riesigen Protest ausgelöst und 24 Stunden lang haben hunderte Leute in den Straßen von Bogotá Graffitis gemalt. Der damalige Bürgermeister Gustavo Petro musste reagieren. Er hat mehr legale Möglichkeiten geschaffen, Finanzierungsoptionen, Ausschreibungen und vieles mehr. Dabei wird aber immer noch unterschieden zwischen Streetart und vermeintlichem Graffiti-Vandalismus. Ich finde diese Trennung totalen Mist.
Ángela Atuesta, wie ist es für Sie als Frau, Kunst im urbanen Raum zu machen? Merken Sie einen Unterschied zu den männlichen Künstlern?
Ángela Atuesta: Auf jeden Fall macht es einen Unterschied, aber das zieht sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche. Camilo zum Beispiel kann super entspannt nach drei Uhr nachts in den Straßen unterwegs sein und malen, für Frauen ist das viel gefährlicher. Er hat sehr viele Freiheiten, dafür hasse ich ihn (lacht).
Die Wand, das Viertel und Jaime Das Wandbild wurde seit 2012 mehrmals umgestaltet
Sie haben gemeinsam in dem Künstler*innenkollektiv M.A.L. Crew gemalt, aber auch unabhängig voneinander. Sie waren auch schon in verschiedenen Regionen der Welt. Welches war das Projekt, das Ihnen am meisten bedeutet hat?
Ángela Atuesta: Das Wandbild von Jaime Garzón, einem Komiker, der 1999 in Kolumbien ermordet wurde, war das beste, was wir bisher gemacht haben.
Camilo Alfonso: Ja, definitiv. Die erste Version des Wandbildes haben wir 2012 in zwei Tagen gemalt, an einer 300 Meter langen Wand, an der Calle 26, einer der wichtigsten Straßen von Bogotá. Wir hatten keine Genehmigung. Neben das Porträt von Jaime Garzón haben wir „País de mierda” (Scheißland) geschrieben. Das hatte ein Nachrichtensprecher im Fernsehen gesagt, nachdem er über die Ermordung von Jaime informierte.
Ángela Atuesta: Über die Jahre wurde das Bild von der M.A.L Crew mehrmals umgestaltet und Jaime in verschiedenen Facetten gezeigt. 2017 das bisher letzte Mal. Ich habe dieses Projekt koordiniert.
Warum haben Sie sich gerade mit Jaime Garzón so intensiv beschäftigt?
Camilo Alfonso: Jaime Garzón war eine wichtige politische Person in Kolumbien. Er hatte verschiedene politische Ämter inne, hat dann aber beschlossen, als Komiker aktiv zu werden.
Ángela Atuesta: Verkleidet interviewte er Politiker und konfrontierte sie direkt. Er sagte die Wahrheit. Er wurde in Bogotá ermordet, nachdem er mehrere Morddrohungen erhalten hatte. Er wusste, dass er sterben würde.
Camilo Alfonso: Wir waren damals noch Kinder und verstanden nicht alle seiner Witze und Anspielungen. Aber wir haben gemerkt, dass er etwas zu sagen hatte, etwas, was die Menschen bewegte.
Ángela Atuesta: Über der Wand war inzwischen eine riesige Werbetafel der Partei Centro Democrático, darauf stand: „El Centro Democrático es confianza“ („Das Centro Democrático bedeutet Vertrauen“). Die Partei sieht sich in der Tradition des ultra-rechten Ex-Präsidenten Álvaro Uribe. Viele werfen Mitgliedern der Partei vor, den Mord an Jaime Garzón in Auftrag gegeben zu haben. Wir haben erst überlegt, ob wir es irgendwie übermalen können, denn es befand sich direkt über dem Gesicht von Jaime Garzón, mit einem Gesichtsausdruck, der sagen könnte: „Das ist eine Lüge“. Wir haben überlegt, woher wir die längste Teleskopstange der Welt bekommen, um die Werbetafel zu übermalen. Dann kam ein Freund und hat mit einer Drohne ein Foto vom Plakat und dem Wandbild gemacht…
Camilo Alfonso: Das Foto ging ziemlich viral. Alle möglichen Medien wollten mit uns sprechen, es war ein echter medialer Knall und hat viele Diskussionen angestoßen.
Ángela Atuesta: Aber das Schönste und Überraschendste war…
Camilo Alfonso: …dass nach zwei Tagen das Centro Democrático die Werbetafel entfernen ließ, weil sie festgestellt haben, dass sie dort definitiv keine gute Werbung für sich machen.
Ángela Atuesta: Damit mussten wir auch nicht mehr die längste Teleskopstange der Welt finden. Es ist einfach nur zynisch, dass eine Partei, die absolut nicht vertrauenswürdig ist, sich ein solches Motto gibt. Die sollen uns nicht verarschen. Wir haben aber etwas Metaphorisches und Poetisches daraus gemacht. Es war eine ziemlich krasse Aktion, und das ganz ohne Gewalt.
Sie haben aktuell in Berlin gemeinsam ein Wandbild gestaltet, das Berta Cáceres und Marielle Franco gedenkt…
Camilo Alfonso: Ángela und ich haben das Wandbild gemeinsam mit Soma, einer anderen kolumbianischen Künstlerin, gestaltet. Zusammen haben wir eine visuelle Sprache entwickelt, die das komplexe Thema in ein Bild bringt. Es ist eine Collage, die aus mehreren Schichten besteht und verschiedene Facetten zeigt: Den Kampf der beiden Frauen und die Interessen, die sich ihnen entgegenstellen. Die gemeinsame Reflexion hat uns ermöglicht etwas zu entwickeln, was wir alleine niemals hinbekommen hätten.
Ángela Atuesta: Ich hatte das Glück, mit einer Gruppe Wandbild-Künstler*innen nach Honduras zu reisen, dort habe ich festgestellt, dass Berta überall extrem präsent ist. Sie war eine kämpferische, starke und einzigartige Frau, man kann sie in ihrer Wirkung mit Jaime Garzón in Kolumbien vergleichen. Sie haben sich beide hingestellt und „Nein!“ zu den bestehenden Verhältnissen gesagt. Genau wie Marielle Franco.
EIN VERFECHTER POLITISCHER KUNST
Francisco Toledo Nicht nur in Oaxaca unvergessen (Foto: Francisco Toledo, 2005, Wikimedia Commons / Copyrighted free use)
Toledo war nicht nur einer der wichtigsten zeitgenössischen Künstler Mexikos, sondern auch ein großer Förderer der Kunst und Verteidiger der kulturellen Vielfalt im indigen geprägten Bundesstaat Oaxaca. Darüber hinaus setzte er sich Zeit seines Lebens für die Rechte der indigenen Bevölkerung ein, unterstützte deren Kampf gegen Landraub und Megaprojekte und förderte Menschenrechts- sowie Umweltorganisationen.
Francisco Toledo wurde 1940 in Juchitán im Isthmus von Tehuantepec geboren und gehörte wie viele Menschen in der Region dem indigenen Volk der Zapoteken an. Seine indigenen Wurzeln haben nicht nur sein künstlerisches Schaffen, sondern auch sein politisches Engagement stark geprägt. Nach mehreren Umzügen innerhalb Mexikos lebte die Familie ab Anfang der fünfziger Jahre in Oaxaca de Juárez, der Hauptstadt des Bundesstaates. Hier besuchte der junge Toledo das Gymnasium und begann seine künstlerische Ausbildung. Als Fünfzehnjähriger ging er nach Mexiko-Stadt, um am Instituto Nacional de Bellas Artes y Literatura (INBAL) zu studieren.
Noch während der Zeit in der Hauptstadt zeigte Toledo seine Kunst in ersten Einzelausstellungen. Eine Ausstellung in Fort Worth (Texas) fand sogar internationale Aufmerksamkeit. Im Alter von neunzehn Jahren verließ Francisco Toledo Mexiko und reiste nach Europa. In Paris traf er Octavio Paz und Rufino Tamayo, einen ebenfalls aus Oaxaca stammenden Maler mit zapotekischen Wurzeln. Durch die Freundschaft zu Paz und die Unterstützung Tamayos wurde Toledo schnell in der Pariser Galerieszene bekannt. Bald folgten Ausstellungen in Amsterdam, London und New York. Fünf Jahre lebte und arbeitete Toledo in Europa, bevor er 1965 nach Mexiko zurückkehrte. In seinem späteren Werk sind deutliche Einflüsse dieser Reisen zu erkennen. Ab 1967 lebte Toledo in seiner Geburtsstadt Juchitán. Hier begann auch sein politisches Engagement für die indigene Bevölkerung der Region. Mitte der siebziger Jahre siedelte er dauerhaft nach Oaxaca de Juárez über.
Autoretrato Ein Selbstporträt Toledos (Francisco Toledo, Wikimedia Commons / Copyrighted free use)
In seinem künstlerischen Schaffen war Toledo sehr vielfältig. Er nutzte nicht nur verschiedene Maltechniken wie Aquarell oder Gouache, sondern arbeitete auch als Graveur und Lithograph, war Bildhauer, gestaltete Keramiken und entwarf Teppiche, die er von Weberinnen in der zapotekischen Gemeinde Teotitlan del Valle herstellen ließ. Nach seiner Rückkehr aus Europa intensivierte sich Toledos Interesse an der zapotekischen Kultur und deren mythologischen Wurzeln. Sein Werk spiegelt so die kulturelle Vielfalt, die er in seiner Heimat Oaxaca vorfand. Neben den noch aktiv gelebten indigenen Kulturen ist diese stark durch die Kolonialgeschichte geprägt.
Seit seiner Rückkehr nach Oaxaca hat Francisco Toledo das kulturelle und künstlerische Leben seiner Heimatstadt nachhaltig geprägt. So gründete er eine Reihe der wichtigsten kulturellen Institutionen Oaxacas oder hat an deren Gründung mitgewirkt. In seinem ehemaligen Wohnhaus in der zentralen Fußgängerzone der Stadt befindet sich heute das IAGO, Oaxacas Grafik-Institut. Institutionen wie diese haben die Stadt zu einem der wichtigsten Zentren der bildenden Kunst in Mexiko gemacht.
Im Jahr 2005 wurde Francisco Toledo für seinen Einsatz für das kulturelle Erbe und den Umweltschutz in Oaxaca mit dem Alternativen Nobelpreis geehrt. Anfang der 2000er Jahre war es dem Künstler dort gelungen, die Eröffnung einer McDonalds-Filiale im historischen Zentrum der von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannten Stadt zu verhindern. Sein politisches Engagement brachte dem Künstler allerdings nicht nur Ehrungen und Freund*innen ein: 2006 wurde sein Haus Ziel eines Anschlages, bei dem Unbekannte insgesamt neun Schüsse abgaben. Der Anschlag erfolgte unmittelbar nachdem sich der Künstler gegen die Unterdrückung der Proteste der Lehrer*innengewerkschaft in Oaxaca ausgesprochen hatte – Toledo aber ließ sich davon nicht einschüchtern. Als die Proteste der Lehrer*innen wenige Wochen später gewaltsam niedergeschlagen wurden, richtete er zusammen mit Medizinstudierenden einen Erste-Hilfe-Stützpunkt in dem von ihm gegründeten Grafik-Institut im Zentrum der Stadt ein. Nach der Niederschlagung des Aufstandes setzte sich der Künstler für die Freilassung der 140 politischen Gefangenen ein und zahlte einen Großteil der für ihre Freilassung erhobenen Kautionen.
Der landesweiten Protestbewegung nach dem gewaltsamen Verschwindenlassen der 43 Studenten des Lehramtsseminars von Ayotzinapa vor fünf Jahren schloss sich Toledo mit einer Kunstaktion an: Der Maestro gestaltete 43 Drachen mit den Porträts der Verschwundenen, die er über der Fußgängerzone im historischen Zentrum Oaxacas aufsteigen ließ – seine Weise, Gerechtigkeit für die jungen Männer zu fordern. Auch als vor zwei Jahren ein Erdbeben mit der Stärke 8,2 die Pazifikküste Mexikos erschütterte, war Francisco Toledo einer der ersten, der der Not leidenden Bevölkerung im Isthmus von Tehuantepec zu Hilfe eilte. Über Monate unterhielt er mehr als vierzig kommunale Küchen in Juchitán und anderen zerstörten Orten. Toledo setzte sich darüber hinaus dafür ein, dass beim Wiederaufbau der zerstörten Gemeinden die indigene Identität ihrer Bewohner*innen berücksichtigt wird.
Noch Anfang dieses Jahres kritisierte Francisco Toledo die derzeitige sozialdemokratisch orientierte Regierung von Präsident Lopez Obrador für ihr Vorgehen bei der Umsetzung des Prestigeprojektes Tren Maya. Die Bahnlinie soll auf der Halbinsel Yucatán durch unberührten Regenwald und über indigenes Territorium gebaut werden. Viele indigene Gemeinden lehnen das Megaprojekt allerdings ab. In einem Brief forderte Toledo den Präsidenten dazu auf, das Recht der indigenen Gemeinden auf eine Konsultation gemäß der Vorgabe der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO zu respektieren. Bislang hat die Regierung jedoch nur eine informelle Befragung durchführen lassen, für die es nicht einmal eine gesetzliche Grundlage gibt.
Als Francisco Toledos Tod Anfang September öffentlich bekannt wurde, kamen tausende Menschen in das von ihm gegründete Grafik-Institut, um von dem Mann Abschied zu nehmen, der nicht nur die Kunstszene, sondern auch die politische Landschaft Oaxacas nachhaltig geprägt hat.
GLÜCK UND TRAGÖDIEN, TRADITIONEN UND SITTEN
Wie haben Sie Interesse an der Fotografie gefunden?
Ich habe damals in der Luftfahrt als Schweißer gearbeitet. Gelegentlich konnte ich mit dem Flugzeug aufs Land fliegen. So habe ich einmal das Dorf besucht, in dem ich als Kind gelebt habe. Dort lernte ich einen Lehrer kennen, der von seinen Schülern Fotos machte. Ich konnte einen Blick in die Arbeit dahinter werfen, die mich ausgesprochen faszinierte und so sagte ich mir: „Das ist, was ich gerne machen würde.“ In Havanna begann ich dann mit russischen und mit deutschen Kameras, also einer bunten Mischung, zu experimentieren. Zuerst kamen Hochzeiten, Geburtstage, um mir mein Leben zu finanzieren. Im Jahre 1991 stolperte ich in die Ausstellung des kubanischen Fotografen Alfredo Sarabia. Als ich seine Arbeiten sah, wollte ich mich genauso wie er ausdrücken. Seine Fotografie und sein Stil waren sehr magisch.
Wie und wann wurden Sie zum Fotografen?
Ich bin Autodidakt. In Kuba gab es keine Schulen für Fotografie. Ich begann im Grunde damit, dass ich in die Bibliothek ging, um Kunst im Allgemeinen zu studieren. Dort lernte ich dann die Werke großer Fotografen aus der ganzen Welt kennen, wie die von Sebastião Salgado. Aber mir gefällt auch die bildende Kunst, die großen Impressionisten und Surrealisten. Die Surrealisten haben mich jedoch am meisten beeinflusst. Vielleicht hat deswegen meine Fotografie einen surrealistischen, mysteriösen Touch. Am Anfang machte ich Fotos nur um des Fotos Willen, denn ich wusste nicht, wie eine richtige Fotoarbeit aussieht. Später jedoch fiel mir auf, dass es besser ist, Arbeiten nach Themen zu erstellen.
Deswegen habe ich verschiedene Themen in meinen Arbeiten, die von Stadt, Land, Alter bis Religion reichen. Als ich noch ein Kind war, habe ich auf dem Land gelebt. Dieses Bild, das ich vom Land habe, wollte ich dann als Fotograf zelebrieren. So ging ich immer häufiger aufs Land hinaus. Und deswegen ist die Fotostrecke Tierra (Land) mein bestes und am weitesten fortgeschrittenes Projekt.
Was sind die Motive, die man immer in Ihrer Fotografie auffinden kann?
Ich bilde nicht die Landschaft, sondern den Menschen ab. Ihm gilt mein Interesse, und dabei besonders dem anthropologischen Aspekt des Mensches. Dabei bearbeite ich viele Themen. Was ich mache, sind fotografische Essays. So arbeite ich an einem Thema über mehrere Jahre lang. Jedes Thema wird weiterentwickelt. Keins beendet. Es ist anthropologisch. Und wenn ich mal draußen bin, auf der Straße, so kann es sein, dass ich mehrere Themen gleichzeitig bearbeitet, oder dass die Fotografie am Ende gar zu einem anderen Thema passt.
So verknüpfte ich letztlich verschiedene Themen miteinander. Ich habe jedoch stets eine vordefinierte Idee von meinen Arbeiten. Diese haben aber immer etwas mit meinem eigenen Privatleben zu tun.
Was möchten Sie mit Ihrer Fotografie erreichen?
Ich arbeite nicht für die Presse. Meine Arbeit ist sehr persönlich. Es ist meine Sicht, mein Blick durch das Auge einer anderen Person. Wenn man ein Bild sieht, ist es mein Leben, das Leben auf Kuba. Mit meiner Arbeit möchte ich das widerspiegeln, was derzeit auf Kuba passiert. So sieht man Strukturen von Kultur und Politik. In meiner Fotografie suche ich keinen einzigen, sondern mehrere Bildhintergründe mit einer oder mehreren Geschichten zur selben Zeit. Nur ganz selten schieße ich normale Porträts. Denn alles, was drumherum passiert, macht die Fotografie interessanter.
Warum sind Ihre Fotografien in schwarz-weiß?
Ich habe nichts gegen die Farbfotografie. Es ist bloß, dass ich eher von der Schwarz-Weiß-Schule bin. Ich mag Farbe trotzdem, deswegen habe ich auch Farbfotos. Dennoch bleibt für mich die Fotografie monochrom. Im Grunde ist das Wichtigste, dass die Fotografie am Ende gut ist, dass sie Dinge, Ideen, Emotionen vermittelt. Die Kunst musst du auch nicht unbedingt erklären.
In Ihren Fotos sind keine Stereotype zu erkennen. Wie genau repräsentiert Ihre Fotografie Kuba?
Die Fotos gehen auf die Essenz Kubas zurück. Die Fotografie darf sich nicht in einen Tourist verwandeln, denn man muss die Essenz des jeweiligen Landes erkennen können. Meine Fotografie repräsentiert meine Person und meine Gefühle. Ich weiß daher nicht, ob ich etwas Bestimmtes über Kuba sagen möchte. Es ist eher eine anthropologische, dokumentarische Arbeit zu Kuba. Diese Ausstellung in Berlin ist wichtig für mich, weil ich noch nie in Berlin war. Ich möchte ein Stückchen von Kuba hierherholen, damit man ein wenig von Kuba sieht.
Kuba hat eine facettenreiche Geschichte. Können Sie mir etwas über Kuba zu der Zeit erzählen, als Sie mit der Fotografie angefangen haben?
Ich habe mit der Fotografie in den 90er Jahren begonnen. Es war ein schwieriger Moment, um sich der Fotografie anzunehmen. Zu dem Zeitpunkt war gerade erst das sozialistische Lager gefallen. Da wir wirtschaftlich von den sozialistischen Ländern abhängig waren, fiel das Land in eine Krise. Es gab weder Brennstoff noch Essen. Also ein totales Chaos. Dieser Moment war schwierig für die Fotografie, weil kein Material mehr nach Kuba geliefert wurde. Und wenn ein Fotograf anfängt, braucht er viele Ressourcen, um zu lernen. Ich hatte am Anfang eine alte Kamera, denn wir konnten nur mit abgelaufenem Material arbeiten. So habe ich ganze vier Jahre lang nicht fotografieren können, weil es nichts gab.
Als ab 1998 der Tourismus nach Kuba kam, suchte man sich Freunde im Ausland. Sie fragten mich,, was ich brauchte, weil auf Kuba alles fehlte. Ich wollte jedoch nur Filmrollen. Manchmal wirst du kreativ, denn andernfalls würdest du es niemals schaffen. Am Ende jedoch brauchen die Menschen gar nicht so viele Dinge.
Und wie ist es heute Fotograf auf Kuba zu sein?
Mein Leben als Fotograf auf Kuba ist nichts Besonderes − Alltag. Immer wenn ich Zeit habe, gehe ich raus. Es ist zum Bedürfnis geworden. So versuche ich, das ganze Jahr über auf Kuba zu reisen. Ich werde nie müde, denn ich liebe es, Kuba zu bereisen. Ich bin deswegen nicht gerne für lange Zeit weg – sechs Tage, nicht mehr. Am Anfang war es schwierig für mich. Nun aber lebe ich von der Fotografie, reise, verkaufe meine Fotos und arbeite weltweit mit Werkstätten zusammen. Aber ja, es war anstrengend wie eben auf der ganzen Welt. Jetzt habe ich mehr Arbeit, viel mehr Projekte. Und anscheinend auch viel Anerkennung. Meine Werke haben etwas, einen Stil. Ich weiß nicht, was die Personen in ihnen sehen. Ab 1999 habe ich recht viel von der Welt gesehen. Ich war in den USA, in England, Norwegen, Frankreich, Belgien, Mexiko, in vielen Ländern. Aber man kennt mich eher auf Kuba. Ja, auf Kuba werde ich wiedererkannt. Ich bin nun sogar Fotografiemeister.
Kuba ist weitaus mehr als nur die Politik. Können Sie mir etwas über die Kunst auf Kuba erzählen?
Ich glaube, auf Kuba haben wir viel Kunst. Die Kunst ist nämlich sehr lebendig; in allen Bereichen – in der bildenden Kunst, im Theater, in der Plastik, überall. Denn trotz der vielen Mängel gibt es sehr gute Akademien auf Kuba. Und sehr gute Künstler. Da ich Autodidakt bin, kann ich wenig über die Kunstszene erzählen. Aber die kubanische Fotografie hat sich verändert. Vor den 90er Jahren war sie sehr revolutionär, dann erfuhr sie jedoch eine radikale Veränderung. Man hatte dann etwas Anderes, das man vermitteln wollte. Aber ich glaube, das war in allen Kunstformen so.
DIE STIMME DER MARGINALISIERTEN HOMOSEXUALITÄT
Foto: © Joanna Reposi Garibaldi, Gabriela Jara
Wer ist Pedro Lemebel? Er ist ein Erdbeben. Er ist die Straße. Er ist die unaufhaltsame Kraft, die von der armen, marginalisierten Homosexualität ausgeht. “Wenn dieser Homosexuelle AIDS hat, aus der dritten Welt kommt, arm und Indianer ist, wird er ermordet”, sagt Lemebel.
Er ist einer der bedeutendsten Künstler und Schriftsteller Chiles, in der Welt jedoch so gut wie unbekannt. Mit seinem Werk konfrontierte er das Land sowohl während der Pinochet-Diktatur als auch während der jüngsten chilenischen Demokratie in den neunziger Jahren mit unbequemen Themen.
© Joanna Reposi Garibaldi, Gabriela Jara
Wer sich für Ihn interessiert, hat jetzt die Möglichkeit den Dokumentarfilm Lemebel (Panorama Dokumente) von der Regisseurin Joanna Reposi Garibaldi auf der 69. Berlinale zu sehen. Der Film benutzt zahlreiche Archivaufnahmen seiner provokanten und teils riskanten Performances, die sich an Grenzsituationen vorwagen, sowie öffentliche Lesungen seiner scharfzüngigen Texte und TV–Interviews, die den/die Zuschauer*innen Lemebel’s Werk und Genie entdecken lassen.
Gleichzeitig ist der Film eine Art audiovisuelles essayhaftes Porträt und Erinnerungsstück, das die Regisseurin mit intimen Aufnahmen und Interviews anreichert. Während der acht Jahre bis zu seinem Tod im Jahr 2015 wurde Lemebel von ihr gefilmt. Persönliche Reflexionen des Künstlers über seine Kindheit, seine Ängste, seine Beziehung zu den Eltern, der Horror der Diktatur und Probleme mit Alkoholismus werden in diesem Material festgehalten. Lemebel’s Stimme führt durch den Film. Dazwischen sprechen sein Bruder Jorge und die Dichter*innen Sergio Parra und Carmen Berenguer. Die Regisseurin schafft durch die Projektion von Fotografien Lemebels und Bilder seiner Performances gegen die Wände in seinem einstigen Wohnviertel zusätzliche visuelle Ebenen. Eine innovative Art von Ästhetik, die sie als repetitives Hilfsmittel in dem Film einsetzt.
© Joanna Reposi Garibaldi, Gabriela Jara
Auf die traditionelle, dokumentarische Form und ebenso auf die Vermittlung von Hintergrundinformation über die chilenische Geschichte, die für den/die Zuschauer*innen wichtig sein könnten, verzichtet dieser Dokumentarfilm. Das Anliegen des Films von Joanna Reposi Garibaldi ist, vermittels des mit dem Künstler geführten intimen Gesprächs, sein Werk, seine Kraft und seine Stimme in der Welt bekannter zu machen.
Dafür ist die Berlinale die richtige Bühne.
WASSERLILIEN FÜR DIE KUNST
„Was wir erben“ von Irma Reyes
Das Umweltchaos unserer Gegenwart ist nicht nur ein Dauerbrenner des öffentlichen Diskurses, es gibt auch Orte, an denen das Problem bereits in Angriff genommen wird. Ein Beispiel dafür ist Taller DeLirio Oficios in Mexiko. Die Papiermanufaktur ist in der indigenen Gemeinde Huecorio im Bundesstaat Michoacán angesiedelt. Der See leidet wie die gesamte traditionell auf Fischfang ausgerichtete Region unter den Auswirkungen von intensiver Landwirtschaft sowie Schadstoffen in Haushalts- und Industrieabwässern.
Die Entdeckung gelang durch einen glücklichen Zufall
„Der See braucht deine Hilfe“ von Francisco Robles
Die Entdeckung gelang durch einen glücklichen Zufall. Denn als sich der Maler Esteban Silva und seine Frau Tania Domínguez vor sechzehn Jahren am Lago Pátzcuaro niederließen, waren sie eigentlich auf der Suche nach einem ruhigen Ort, um sich ihrer künstlerischen Arbeit zu widmen. „Eines Tages brachten wir von unserem Spaziergang am See eine Wasserpflanze mit einer seidig schimmernden Blüte mit nach Hause und sie entpuppte sich als eine ausgezeichnete Faser, um Papier herzustellen“, erzählt Tania. Von 2004 bis 2007 ließ sich das Paar im Kulturzentrum Hawahuatta in Seattle in chinesischen Techniken der Papierherstellung ausbilden, nach seiner Rückkehr nach Huecorio rief es eine mobile Experimentierwerkstatt für Kinder ins Leben. Anschließend gründeten die beiden Kunstschaffenden die Ländliche Produktionsgesellschaft DeLirio und stellte Frauen aus der Gemeinde als Mitarbeiterinnen ein. „Zwei von uns kommen aus Huecorio, zwei aus Pareo, und ich bin von der Insel Urandén. Wir sind alle alleinstehende Frauen und tragen die Verantwortung für unsere Familien. Aber hier haben wir eine Arbeitsmöglichkeit, um unsere Kinder zu versorgen“, berichtet Victoria Francisco Ganoa, während aus dem großen Topf vor ihr Dampf von den kochenden Pflanzen aufsteigt, die tags zuvor gesammelt wurden.
Im Grunde schildert Victoria die typische Situation der Region, die wirtschaftlich weitgehend auf Devisen aus den USA angewiesen ist: Männer und junge Erwerbsfähige emigrieren, zurück bleiben vor allem Kinder, Frauen und alte Menschen. Dabei gilt der Pátzcuaro-See mit 55 Kilometern Küste und sieben Inseln als beliebtestes Tourismusziel im Bundesstaat. Kulturell liegt er im Gebiet der Purépecha und ist Zentrum des berühmten mexikanischen Tags der Toten am 2. November. Aber wie vielerorts in Mexiko leiden die Menschen auch hier unter der alltäglichen Korruption und Gewalt, während ihrem Lebensraum Erosion, Verschmutzung und der sinkende Wasserspiegel des Sees zu schaffen machen. Im kontinuierlichen Kampf um eine gesunde Umwelt dienen Papier und Kunst dazu, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf die Problematiken von ungebremstem Raubbau am Wasser, der Erde und den Bergen zu lenken. Die bei DeLirio involvierten Frauen und Familien organisieren und koordinieren alle anfallenden Aufgaben von der Ernte der Wasserlilien über die Organisation und Durchführung von Workshops bis hin zu Verwaltung und Öffentlichkeitsarbeit. In den vergangenen zwei Jahren hat DeLirio insgesamt 120 Workshops in den Gemeinden am Ufer des Pátzcuaro und im Landesinneren des Bundesstaats durchgeführt, um das ökologische Bewusstsein der Bevölkerung zu schärfen. Die Menschen unterstützen das Projekt, in dem sie einen Ausweg aus der sozialen und ökologischen Katastrophe sehen. Die finanziellen Ressourcen dagegen sind ein Hindernis. „Wir haben kein Geld, um die Papeterie und Cafeteria an der Ruta Don Vasco fertig zu bauen und damit unseren Produkten und unserem gemeinschaftlichen Arbeitskonzept einen angemessenen Platz zu geben“, beklagt Tania Domínguez.
„Mein Kampf ist frei“ Javier Ornelas Huerta
Daher nahm sich DeLirio 2016 vor, mehr öffentliche Aufmerksamkeit für die Bedrohung des Sees zu gewinnen und lud 32 Künstler*innen zu einem grafischen Experiment ein: Unter dem Titel „El papel del carte“l (Wortspiel im Spanischen, da papel „Papier“ und „Rolle“ bedeutet und der Titel so zugleich auf den Einsatz des Plakats als auch des Papiers als Material hinweist, um Botschaften zu verbreiten; Anm. der Übs.) entstanden 62 Holzschnitte, in denen die Künstler*innen jeweils eine Botschaft transportieren.
Mit seinen groben und feinen Strichen zeigt beispielsweise „Lo que heredamos“ („Was wir erben“) von Irma Reyes einen niedergeschlagenen und verängstigten Fischer, der als Ausbeute seines Fangs Skelette aus dem Wasser zieht. Auf „Sin palabras“ („Ohne Worte“) von Jonathan Tapia ist ein Mensch zu sehen, dessen Körper von brennenden, müllverseuchten und verwüsteten Landschaften übersät ist, als trüge er sie als innere Last mit sich herum. „Suficiente para todos siempre“ („Für alle immer genug“) von Berenice Barajas wiederum vermittelt einen Hoffnungsschimmer: Um die Wasserlilie in der Mitte tummeln sich kleine Fische, sowie Axolotl, eine Amphibie aus der Familie der Molche. „Mi lucha es libre“ („Mein Kampf ist frei“) ist auf dem Druck von Javier Ornelas Huerta zu lesen. Über den Worten ist der maskierte Volksheld des mexikanischen Ringkampfes Lucha Libre mit einem mystischen Glorienschein abgebildet, umringt von Axolotl. Sein Kampf ist genauso heilig wie jener der 32 Künstler*innen, die weder Ideologien noch Religionen vertreten, welche Kritik und Dialog untersagen wollen. Sie alle richten sich gegen die mächtigen Kapitalistenstiefel, wie sie auf einem weiteren Bild zu sehen sind, und treten ein für die Landschaft um einen paradiesischen See, der kein Fantasieprodukt ist, sondern das, was er einmal war und wieder werden soll.
„Ohne Worte“ von Jonothan Tapia
Von Januar bis März 2017 lockte El papel del cartel über 15.000 Besucher*innen ins Museum für Zeitgenössische Kunst Alfredo Zalce in Morelia, der Hauptstadt des Bundesstaats Michoacán. Anschließend war die Ausstellung im Jesuitischen Kulturzentrum in der Stadt Pátzcuaro am Ufer des gleichnamigen Sees zu sehen. Viele Besucher*innen hätten sich für die Arbeit hinter der Ausstellung interessiert, berichtet Esteban Silva. SPAGO, ein junges Unternehmer*innenteam aus Italien auf der Suche nach nachhaltigen Projekten in Mexiko und Zentralamerika, führte ein Interview mit ihm, das auf dem Internationalen Dokumentarfilmfestival SiciliAmbiente vorgestellt wurde. Im März 2018 wurden die 62 Holzschnitte in der Galerie Division 9 im kalifornischen Riverside ausgestellt, inzwischen erfolgte eine Einladung nach Oakland, in Los Angeles sollen sie ebenfalls gezeigt werden. Der Koordinator der Ausstellung in den USA, Agustín Equihua Ortiz, freut sich, dass in Riverside bereits einige Abzüge verkauft wurden. „Mit dem Geld wird sich die Manufaktur erweitern und ihre Arbeit fortsetzen können. Sie möchte auch Künstlerresidenzen anbieten und außer der Papeterie ein Internetcafé für Jugendliche eröffnen“, erklärt er.
Gewidmet wurde „El papel del cartel“ dem 2016 verstorbenen Mitglied des Nationalen Indigenen Kongresses Federico Ortiz Arias, der sich für die Rechte der Indigenen in Mexiko auf Leben, Land, Wasser, Gesundheit und Bildung einsetzte. Als er die in Papierbögen verwandelten Wasserlilien sah, hatte Federico den doppelsinnigen Ausspruch el papel del cartel geäußert, um die Künstler*innen bei ihrer Arbeit zu motivieren und angesichts der verzweifelten Lage des Landes auf die Aussagekraft der mexikanischen Grafikkunst zu setzen. Tatsächlich knüpft das Projekt an eine lange Tradition an, die mit Künstler*innen wie José Guadalupe Posada schon im 19. Jahrhundert einen Höhepunkt erreichte. Im 20. Jahrhundert setzten Leopoldo Méndez, Pablo O’Higgins und Luis Arenal Grafiken im Zeichen des Widerstands als Informationsmedium gegen politischen Machtmissbrauch und soziale Ungleichheit ein.
In diesem Sinne ist der wichtigste Erfolg der Papiermanufaktur DeLirio sicherlich die innige Allianz von Handwerker*innen und Künstler*innen, die wegen einer überlebenswichtigen Angelegenheit zusammengefunden haben: zur Rettung des Lago Pátzcuaro sowie der Menschen und Umwelt, die von ihm abhängig sind.
„THEATER ANIMIERT ZUR DISKUSSION“
Warum haben Sie ein Stück über Jorge Mateluna gemacht?
Jorge Mateluna war während der Militärdiktatur in der Guerilla Frente Patriótico Manuel Rodríguez aktiv. Wir hatten seine Erfahrung des Kampfes gegen die Diktatur in unserem Stück „Escuela“ integriert, und er hat an dem Stück mitgewirkt. Während wir es an verschiedenen Orten aufführten, erfuhren wir, dass Jorge als einer der Verdächtigen eines Bankraubs verhaftet worden war.
Wir waren alle völlig schockiert aber gleichzeitig wussten wir, dass er unschuldig war. Ein Freund von uns war dem korrupten Rechtssystem zum Opfer gefallen.
Sie glauben, dass der eigentliche Grund für Matelunas Inhaftierung seine Teilnahme am bewaffneten Widerstand während der Militärdiktatur ist. Wie argumentieren Sie?
Die vermeintlichen Beweise für seine Schuld am Bankraub sind sehr schwammig. Zum Beispiel war er während des Bankraubs weit entfernt von seinem Wohnort. Er hat dafür zwar eine Begründung angegeben, aber der Richter hat ihm nicht geglaubt. Auf solchen Nichtigkeiten beruht seine Verurteilung. Angeblich wurde er während des Verbrechens von Polizisten gesehen, die ihn eine drei Kilometer lange Strecke verfolgt hätten, was kaum zu beweisen ist und aufgrund der schmalen, teils gesperrten Straßen, durch welche die Verfolgungsjagd stattgefunden haben soll, auch schwer vorstellbar ist. Die Polizisten haben sich im Laufe des Verfahrens zudem gegenseitig widersprochen. Wir sind der Meinung, dass es eine enge Kollaboration zwischen Polizisten, Richtern und Staatsanwälten stattgefunden hat. Letztendlich wollen sie alle Mateluna zurück ins Gefängnis bringen. Sie sehen es als ihre Pflicht, ihn wieder einzusperren, da er vor zwölf Jahren dank einer Begnadigung frei gelassen wurde. Hinter der Festnahme steckt eine klare Absicht.
Was kann unter solchen Umständen überhaupt noch für ihn getan werden?
Es laufen mittlerweile Prozesse gegen die Polizisten, die falsche Aussagen abgelegt haben. Ein angeblicher Videobeweis wurde im Prozess disqualifiziert. Auch Fotos von der Kleidung, die Mateluna angeblich während der Flucht abgeworfen hatte, stellten sich als Montage heraus. Wir wollen, dass dies berücksichtigt wird, wenn der Prozess wieder eröffnet wird.
Mateluna war bereits zuvor im Gefängnis, da er während der Diktatur einer bewaffneten Widerstandsgruppe angehörte. Legitimieren Sie den bewaffneten Widerstand, indem sie in diesem Fall seine Verteidigung ergreifen?
Jorge war Teil einer Guerillagruppe, die mit Waffen gegen die Diktatur gekämpft hat. Während so einer Diktatur, ist der bewaffnete Kampf völlig berechtigt, denn die Regierung hat das Land unterdrückt und besetzt. Heutzutage ist institutionelle Gewalt noch immer ein Teil unserer Kultur. Nehmen wir beispielsweise den riesigen Konflikt mit dem Volk der Mapuche im Süden Chiles, die für die Rückgewinnung ihrer Gebiete kämpfen. Dieser Konflikt wird mittlerweile mit unverhältnismäßiger Polizeigewalt durchzogen, die mit aller Macht gegen die Mapuche eingesetzt wird. Ja, wir haben heutzutage freie Wahlen. Aber in die staatlichen Institutionen besteht zu Recht kein Vertrauen. Die Mapuche entwickeln also ihre eigenen Selbstverteidigungsmechanismen. Es ist nicht so, dass freie Wahlen diesen Zustand verändern – so einfach ist es nicht.
Der bewaffnete Kampf und seine Legitimität sind also immer vom politischen Kontext abhängig?
Ja. Nach dem Ende des europäischen Faschismus wurden diejenigen zu Helden erklärt, die – auch mit Waffengewalt – Widerstand geleistet hatten. In Chile war es anders. Diese Menschen wurden vertrieben, zu Bürgern zweiter Klasse degradiert. Und das passiert heute auch mit Jorge Mateluna. Er ist kein Einzelfall. Politische Verfolgung, ungerechte und korrupte Entscheidungen zum Schaden vieler, sind allgegenwärtig.
Sie selbst machen Theaterstücke und keinen bewaffneten Widerstand. Was kann Kunst bewirken?
Wenn die Institutionen versagen, dann bleibt uns Theater. Die Justiz hat ihre Aufgabe nicht erfüllt, deshalb machen wir diese Aufklärungsarbeit. Das bringt die Leute zusammen und mobilisiert sie. Natürlich hat Theater keine Lösung für alles, aber es schafft Gemeinschaft und animiert zur Diskussion. In unserem Fall gibt es nun eine Kampagne zu dem Thema.
Wir haben uns außerdem mehrmals mit Politikern, mit Kongressmitgliedern und mit der Menschenrechtskommission sowie mit Künstlern und Organisationen der Zivilgesellschaft getroffen. Das hat den Prozess und den ganzen Fall in Bewegung gebracht und Öffentlichkeit geschaffen. Würden die drei Polizisten, die falsche Aussagen abgelegt haben, verurteilt, könnte der Oberste Gerichtshof Matelunas Prozess wieder komplett neu eröffnen. Wir haben politische Unterstützung, aber aufgrund der Gewaltenteilung muss die Judikative den Prozess unabhängig durchführen.
Inwiefern trägt Ihr Stück auch zu einer alternativen Geschichtsschreibung bei?
Die Menschen, die gegen die Militärdiktatur Widerstand geleistet haben, wurden aus der Geschichte gelöscht. Sie wurden als Schandfleck angesehen. Ihr Kampf wurde nicht nur verschwiegen, sondern sie selbst haben ihre Vergangenheit geheimgehalten. Sie haben sich aus der Geschichte getilgt. Deshalb treten die Aktivisten in meinem Stück mit Masken auf: Es gibt diese Idee, dass man sich selbst unsichtbar machen muss und sich versteckt. Einerseits, weil man seine Niederlage nicht preisgeben möchte – die Niederlage der Revolution. Aber auch, weil es gefährlich ist, diese Vergangenheit zu erzählen. Dann passiert dir dasselbe, was Jorge Mateluna passiert ist. Erinnerungskultur ist daher umso nötiger. Es ist gefährlich, eine solche Geschichtsschreibung in die Hand zu nehmen. Aber gleichzeitig ist es die einzige Form, die diesen Kampf in einen neuen Kontext setzt: Nur so können die Menschen, die gekämpft haben, in einem neuen Licht gesehen werden. So wie meinetwegen Nelson Mandela gesehen wird: Sein Kampf wurde erkannt. Das machte ihn zum Präsidenten und verhalf ihm zum Friedensnobelpreis. Alles hängt also von der Geschichtsschreibung ab. Und dazu möchte ich mit meinen Stücken einen Beitrag leisten.
REVOLUTION DER KUNSTGESCHICHTE?
„Wir haben mit euch kommuniziert, ich weiß nicht, ob ihr auch mit uns kommuniziert habt“, lässt Javier Villa, einer der Kuratoren des Museo de Arte Moderno de Buenos Aires (MAMBA) bei einer Pressekonferenz im Museum für Moderne Kunst (MMK) in Frankfurt am Main verlauten und sorgt damit für Gelächter bei den anwesenden Journalist*innen. Damit trifft Villa den Kern eines sich nur langsam lösenden Problems. Künstlerischer und kultureller Austausch zwischen Lateinamerika, Europa und den USA bestand zwar immer, jedoch war dieser meist sehr einseitig.
Genau das sucht nun eine Ausstellung in Frankfurt zu ändern und nimmt sich damit Großes vor. Nicht weniger als die internationale Kunstgeschichtsschreibung soll revolutioniert werden. Mit „A Tale of Two Worlds. Experimentelle Kunst Lateinamerikas der 1940er- bis 80er-Jahre im Dialog mit der Sammlung des MMK“ wird der klassische kunsthistorische Fokus verschoben. Zwei Welten, aber nur eine Geschichte? Der sperrige Untertitel soll ein wenig Klarheit schaffen. Lateinamerikanische und europäische sowie US-amerikanische Kunst werden zusammengebracht und erzählen nun gemeinsam die Geschichte der westlichen Kunst von Deutschland bis Chile.
Francis Bacon, Nude (1960)(Foto: © The Estate of Francis Bacon. All rights reserved / VG Bild-Kunst, Bonn 2017, Foto/photo: Axel Schneider)
Luis Felipe Noé, Imagen agónica de Dorrego (1961) Foto: © Private Collection, Gustavo Sosa Pinilla)
Aber, wie wird aus der bis dato einseitigen Kommunikation in dieser Ausstellung ein Austausch? Indem die Kunst in den Vordergrund tritt und Werke verschiedener Länder und Jahrzehnte miteinander kommunizieren dürfen. Das kann beispielsweise so aussehen, dass sich in einer der Schrägen des Museums Francis Bacons Nude (1960) und Luis Felipe Noés Imagen agónica de Dorrego (Bild vom Tode Dorregos) (1961) förmlich anschauen. Zunächst scheinen die Malereien nicht sehr ähnlich, doch beide zeigen deformierte Körper. Die direkte Gegenüberstellung lässt einen unweigerlich nach weiteren Gemeinsamkeiten suchen und bietet auf diesem Wege erste Indizien für einen Dialog.
Die Ausstellung basiert auf einer neuartigen Form der Kooperation zweier Museen. Zwei lateinamerikanische Kurator*innen, Victoria Noorthoorn und Javier Villa des MAMBA, wurden eingeladen, um gemeinsam mit dem Frankfurter Klaus Görner eine Ausstellung zu realisieren, die bis Februar in Frankfurt und ab Juni 2018 in Buenos Aires zu sehen sein wird. Es ist das erste Mal, dass ein deutsches Museum Außenstehende auf diese Weise mitwirken lässt. Das ist besonders außergewöhnlich in Anbetracht von Renommee und Umfang der Sammlung des MMK. Mit etwa 5.000 Werken gilt sie als eine der bedeutsamsten in Deutschland.
Wandmalerei Der kolumbianische Künstler Antonio Caro bei der Arbeit (Foto: Hannah Katalin Grimmer)
Der Impuls für die Zusammenarbeit kam von außen, die Kulturstiftung des Bundes forderte mit dem Programm Museum Global deutschlandweit Museen dazu auf, ihre Sammlungen neu zu präsentieren. Jedes beteiligte Museum erhielt 800.000 Euro, das MMK ist das erste Museum, das dies in die Tat umsetzt. Folgen werden noch die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Düsseldorf, die Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin und das Lenbachhaus München.
Dieses Vorhaben ist im musealen Kontext tatsächlich nach wie vor außergewöhnlich. Die Revision des Kanons im extravaganten Bau des Architekten Hans Hollein, erstreckt sich über drei Stockwerke und beinhaltet über 500 Werke. Das Gebäude ist eine Herausforderung für Ausstellungsmacher*innen, überall befinden sich Schrägen und spitzzulaufende Ecken, kein Raum gleicht dem anderen.
Künstler*innen der Moderne und Avantgarde lenken die Erzählung diese Ausstellung. Görner, Noorthoorn und Villa beweisen Feingefühl, indem es ihnen gelingt zu verdeutlichen, dass solche Begriffe des kunsthistorischen Diskurses weder geografisch, noch temporär bestimmbar sind. Während die Sammlung des MMK auf die 1960er und 1970er fokussiert ist, beginnt die Erzählung zu Lateinamerika bereits 1944, mit der ersten Ausstellung zu Konkreter Kunst in Argentinien, und endet mit den 1980er.
Den Auftakt der Schau bildet, mit gleich mehreren Arbeiten, Lucio Fontana. Dieser darf am besten auch als Sinnbild für den gesamten Austausch aufgefasst werden: als Sohn italienischer Eltern in Argentinien geboren (1899-1968), lebte er auf beiden Kontinenten, beeinflusste diese gleichermaßen und verkörpert somit den gewünschten Dialog. Mit seinen Schnittbildern brachte er nicht nur die ehrwürdige Behandlung der Leinwand ins Wanken, er gab auch entscheidende Impulse für das Überwinden der bis dato getrennt betrachteten Kunstgattungen von Malerei und Plastik. Diese Grenzüberschreitung sollte die Kunst des turbulenten Jahrhunderts prägen wie kaum etwas anderes. Ein Einfluss, der beispielsweise in der Minimal Art der 1960er Jahre sichtbar wurde, eine Kunstrichtung, die zentraler Bestandteil der renommierten Sammlung des MMK ist. So finden sich Vertreter*innen dieser Epoche zum überaus fruchtbarem Dialog an mehreren Stellen dieser Ausstellung. Zu sehen sind beispielsweise Fred Sandbecks Untitled (1968) und Charlotte Posenenskes Vierkantrohre, Serie D (1967). Ähnlich minimalistisch muten Arbeiten aus Brasilien, wie von Hélio Oiticica (1937-1980) oder Lygia Clark (1920-1988) an und tatsächlich sind die südamerikanischen Werke in diesen Momenten der Ausstellung eindrücklicher präsentiert. Materialität und Industrialität sind zentrale Komponenten der Minimal Art, aber eben nicht nur, wie Besuchende in einem Raum im zweiten Stock namens „Alchemie und Kolonialisierung“ erfahren dürfen. Gold spielt dort eine zweideutige Rolle, es ist nicht nur Material, sondern auch Symbol von präkolumbischer Erinnerung, vor allem aber von Ausbeutung. Arbeiten von Mathias Goeritz (1915-1990) oder Mira Schlendel (1919-1988), in Europa geborene, lateinamerikanische Künstler*innen, geben also korrekterweise den Ton an, ihre Ästhetik ist ausschlaggebend dafür, dass ein wichtiges Sammlungswerk des MMK, Walter de Marias High Energy Bar (1966), auch einen Platz findet. In dieser Ausstellung gelingt also, was in Deutschland bisher selten ist: es ist die lateinamerikanische Perspektive, die das Ausstellungsnarrativ bestimmt.
Ausstellungsansicht (Foto: Axel Schneider)
Parallelen in formaler und ästhetischer Perspektive tauchen in vielen weiteren Ecken der Ausstellung auf. Sieht man Antonio Caros Colombia-Coca Cola (1977) neben Jasper Johns Targets (1966) hängen, ist ihre Ähnlichkeit auf einmal eklatant. So hört Pop Art auf, eine vorrangig US-amerikanisch geprägte Strömung zu sein. Ähnliches funktioniert mit der Konzeptkunst, die, beispielsweise vertreten durch Ulises Carrión (1941-1989) oder Alberto Greco (1931-1965), zu einem globalen Phänomen wird.
Abgesehen von diesen vorrangig die äußere Form betreffenden Charakteristika, gliedert sich die Ausstellung noch viel deutlicher anhand gesellschaftspolitischer Fragestellungen. Die Militärdiktaturen in Lateinamerika, der Zweite Weltkrieg, Gewalt und Repression, (Post-)kolonialismus, Massenkonsum, indigene Traditionen, Umweltverschmutzung – kein Thema ist zu groß, zu schwierig, zu anstrengend. Es ist eine der bemerkenswerten Leistungen, dass die Kunst auf diese Weise nie als isolierte Sphäre erscheint, sie ist immer Spiegel ihrer Zeit. Lateinamerikakundige Besucher*innen werden dem Narrativ der sehr gut durchdachten Präsentation folgen können, für alle anderen wird mehr Vermittlung als gewöhnlich notwendig sein.
Nach dem Besuch dieser Ausstellung kann man sich der Gewissheit erfreuen, dass Austausch immer stattfand. Illustrativ dafür sind Fotografien, die Nicolás García Uriburus (1937-2016) Interventionen in Venedig, Paris, Buenos Aires, Kassel und New York dokumentieren. Hierbei färbte der argentinische Künstler mithilfe von Fluorescein Flüsse grün ein, um auf Umweltverschmutzungen aufmerksam zu machen. Schaut man an dieser Stelle der Ausstellung zurück, erblickt man ein Werk eines deutschen Umweltaktivisten par excellence: Joseph Beuys monumentale Installation Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch (1958-1985).
Es ist ein sehr ehrgeiziges Ziel, eine solche Sammlung retrospektiv in einen globalen Kontext zu setzen. Die Umsetzung ist nicht immer optimal, an einigen Stellen wünscht man sich, dass die Ursachen für die lange existierende Einseitigkeit deutlicher hervortreten. Ein selbstreflexiver Umgang mit historischen Verantwortlichkeiten wäre dabei nur einer der erstrebenswerten Nebeneffekte. Es bleibt also abzuwarten, ob diese Ausstellung dazu beiträgt, die Kunstgeschichte grundlegend umzugestalten. In jedem Fall ist es allerhöchste Zeit, dass mehr Museen ihrem Beispiel folgen und den Weg bereiten für eine ausgeglichenere Stimmverteilung aller Beteiligten in diesem Dialog. Im MMK wird schließlich keine neue Geschichte erzählt, sondern lediglich eine, die wir hier noch zu selten zu hören bekommen.
Die Ausstellung „A Tale of Two Worlds. Experimentelle Kunst Lateinamerikas der 1940er- bis 80er-Jahre im Dialog mit der Sammlung des MMK“ ist bis zum 15. April 2018 zu sehen. // Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main // Domstraße 10, 60311 Frankfurt am Main // www.mmk-frankfurt.de
KUNST UND KULTURELLE REVOLUTION IN LATEINAMERIKA
Im kolumbianischen Medellín fand 1981 die „Erste Lateinamerikanische Konferenz Nicht-Objekthafter Kunst“ statt. Im Museo de Arte Moderno (Museum für moderne Kunst) hatten sich Künstler*innen und Kunsttheoretiker*innen aus vielen Ländern Lateinamerikas versammelt, um über Theorie und Praxis zeitgenössischer Kunst zu diskutieren. Es ging um die soziale Relevanz von Kunstpraktiken nach dem Modernismus, jenseits von Wandmalerei im Stil des sozialistischen Realismus auf der einen und Abstraktion auf der anderen Seite.
Wichtigster Protagonist dieser Veranstaltung war der Kunsttheoretiker Juan Acha. In Peru geboren und aufgewachsen, hatte Acha in Deutschland Chemie studiert und war in den 1950er und 1960er Jahren als Kunstkritiker in Lima tätig. Von 1972 bis zu seinem Tod lebte und arbeitete er in Mexiko. Er gilt als einer der wichtigsten spanischsprachigen Kunsttheoretiker des 20. Jahrhunderts. Im deutschsprachigen Raum ist sein mehr als 20 Bücher und zahlreiche Artikel umfassendes Werk so gut wie unbekannt. Dabei würde es sich lohnen, seine Arbeiten wiederzuentdecken. Das gilt keineswegs nur für die Kunstsoziologie, sondern für seine Beschäftigung mit Fragen kulturellen Wandels überhaupt. Künstler*innen, schreibt etwa der Kurator und Theoretiker Joaquín Barriendos, waren für Acha nicht nur als Akteur*innen innerhalb des Kunstsystems interessant. Sie waren es auch und gerade deshalb, weil sie „auf dem Terrain mentaler und sinnlicher Veränderungen arbeiteten.“ Barriendos hatte im Frühjahr diesen Jahres eine Ausstellung zu Werk und Wirken Achas organisiert. Sie lief unter dem Titel „Despertar revolucionario“ („Revolutionäres Erwachen“) im Museo Universitario Arte Contemporáneo (Universitätsmuseum für zeitgenössische Kunst) in Mexiko-Stadt.
In Medellín hatte Acha 1981 sein wohl wirkmächtigstes Konzept vorgestellt: den no-objetualismo.
In Medellín hatte Acha 1981 sein wohl wirkmächtigstes Konzept vorgestellt: den no-objetualismo. Fast unmöglich zu übersetzen, geht es dabei um künstlerische Praktiken, die nicht an Objekte gebunden sind. In seinem Vortrag stellte Acha den no-objetualismo als Bruch mit der westlichen Kunstauffassung seit der Renaissance dar, die sich mit der Abgrenzung vom Handwerk etabliert hatte: Entscheidend für diese Auffassung von Kunst war bis ins 20. Jahrhundert hinein das individuelle Schöpfertum und das objekthafte Werk. Von Marcel Duchamps readymades (künstlerisch verwertete Alltagsgegenstände, Anm. d. Red.) über die konzeptuelle, auf Ideen basierende Kunst der 1960er und 1970er Jahre, zeichnet Acha die Entwicklung nicht-objekthafter Kunst in seinem 1979 veröffentlichten Buch Arte y Sociedad: Latinoamérica. El producto artístico y su estructura (Kunst und Gesellschaft: Lateinamerika. Das künstlerische Produkt und seine Struktur) nach. Der Begriff no-objetualismo umfasst dabei mehr als den Konzeptualismus oder der Konzeptkunst. Er richtet sich einerseits gegen die Fetischisierung von Objekten. Kunst braucht demnach keine Leinwände und Skulpturen, entscheidend sind die konzeptuellen Entwürfe und ihre Wirkung auf ein Publikum: Wie das Pissoir, das Duchamp 1917 in eine Ausstellung stellen ließ, gemacht ist und wie es aussieht, ist völlig egal. Interessant ist, wieso es als Kunstwerk angesehen wird. Andererseits zielt der Begriff no-objetualismo aber trotzdem auf den Umgang mit Materialien – Duchamps readymades waren schließlich auch Gegenstände –, mit dem Bildhaften und verschiedenen Wahrnehmungsformen.
Quer zu etablierten Kategorien wie Figuration, Abstraktion und Konzeptualismus kategorisiert Acha so die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts neu. Und zwar nicht nur diejenige Lateinamerikas. Während er einerseits alle wichtigen Personen und Stationen der nordamerikanisch-westeuropäisch geprägten Kunstverhältnisse reflektiert, weiß er – im Unterschied zu vielen seiner westlichen Kolleg*innen – zugleich um die eingeschränkte, eurozentrische Perspektive dieser Vorgehensweise. Schon die Unterscheidung in bildende Kunst, angewandte Kunst und Kunsthandwerk sei ein Effekt der kapitalistischen Entwicklung des Westens gewesen. Und die „bürgerliche Überbewertung der [bildenden] Kunst“, schreibt er in La apreciación artística y sus efectos („Die Kunstbewertung und ihre Effekte“) 1988, gründet demnach „auf der ideologischen Macht der westlichen Kultur.“ Diese werde abgesichert und reproduziert durch „institutionelle Kunstapparate“ wie Museen, Galerien, aber auch Kunstakademien und Kunstmessen.
Acha verknüpft in seinen kunst- und kulturtheoretischen Arbeiten marxistische Grundannahmen mit (post-)strukturalistischer Theorie.
Acha verknüpft in seinen kunst- und kulturtheoretischen Arbeiten marxistische Grundannahmen mit (post-)strukturalistischer Theorie. So geht er von einer ökonomischen Hegemonie aus, die auch Werte und Einstellungsmuster prägt. Zugleich zeichnet er aber auch die strukturellen Besonderheiten der Entwicklungen innerhalb der Kunst nach. Er untersuchte sowohl die Frage, auf welchen ideellen und materiellen Grundlagen ihre Produktion gründet, als auch die nach ihren kognitiven, sensorischen und gefühlsmäßigen Rezeptionsweisen. Schließlich ist es durchaus grundsätzlich erklärungsbedürftig, warum bestimmte Objekte als Kunst behandelt und konsumiert werden und andere nicht. Der Konsum stellt für Acha ohnehin einen zentralen und unterschätzten Bereich der Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur dar. Um den Prozess des Kunstkonsums und seine Effekte zu verstehen, bedürfe es also soziologischer, nicht nur philosophischer Instrumente. Es könne nicht nur um die Wahrnehmung der Betrachtenden allein gehen, schreibt er in Crítica del Arte („Kunstkritik“) im Jahr 1992. Man müsse auch ihre Erwartungen und Befähigungen mit einbeziehen, die, wie die künstlerischen Arbeiten selbst auch, nicht von dem sozialen Kontext zu lösen seien, in dem sie entstehen. Bei all dem geht er extrem systematisch vor, kaum eines seiner Bücher kommt ohne Schaubilder und Diagramme aus, die diese Systematik verdeutlichen sollen.
Acha war aber nicht nur Kunstexperte, sondern auch ein maßgeblicher linker Intellektueller. Die zeitgenössische Kunst nahm er häufig zum Anlass, um Fragen der „Unterentwicklung“ und der Folgen des Kolonialismus zu thematisieren. Dass ökonomische Herrschaft durch Wertvorstellungen abgesichert und vertieft wird, war eine seiner zentralen Thesen. Daher legte er auch so viel Wert auf kulturelle Veränderung: Kultur verstand er als Terrain, auf dem Sinn und Bedeutung hergestellt und verkörperlicht werden, sozusagen in Fleisch und Blut übergehen. Nach den Revolten von 1968 setzte er große Hoffnungen auf eine „kulturelle Revolution“, zu der auch Kunstschaffende beitragen sollten. Er begriff sie als „kulturelle Guerilla“ und verstand die oftmals aktivistische Kunst der 1970er Jahre als Teil eines sozio-politischen Transformationsprojektes.
Der große Einfluss seiner Thesen und Konzepte auf die zeitgenössische Kunst und die lateinamerikanische Linke der 1970er und 1980er Jahre ist unbestritten. Als sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre diverse Künstler*innen-Kollektive zur Bewegung Los Grupos („Die Gruppen“) zusammenfanden, war Acha einer ihrer wichtigsten Mentoren. Das betont etwa auch die feministische Performancekünstlerin Maris Bustamante. In den späten 1970er Jahren Mitglied des künstlerischen Kollektivs No Grupo („Keine Gruppe“), war Bustamante 1981 auch in Medellín dabei. 1983 war sie Mitbegründerin der feministischen Performancekunst-Gruppe Polvo de Gallina Negra („Pulver der Schwarzen Henne“). Im Rückblick hält sie Acha – neben dem marxistischen Kulturtheoretiker und Aktivisten Alberto Híjar Serrano – für den wichtigsten Vermittler marxistischer Ideen im kulturellen Feld Mexikos nach 1968 überhaupt.
In letzter Instanz, beschrieb Acha seine eigene Arbeit als Kunstkritiker, ginge es darum, ein „unabhängiges visuelles Denken“ zu ermöglichen. Die Forderung nach Unabhängigkeit war hier sowohl als Abgrenzung von einer elitistischen Kunstbetrachtung gedacht, als auch als Abkehr von einem Denken, das als Effekt der sozio-ökonomischen Abhängigkeit der Länder Lateinamerikas betrachtet wurde. Die Forderung ließe sich aber auch verallgemeinern als eine, die gegen Blickregime und Sehgewohnheiten aller Art gerichtet ist.