LÖWINNEN GEGEN WOLFSRUDEL

© Fabula

„Wie viele Frauen sind verschwunden, wie viele hat die Erde verschluckt?“ fragt Ana Tijoux im Titelsong zu La Jauría (Die Meute). In der Serie ist es die Jugendliche Blanca Ibarra, deren Verschwinden acht spannende Folgen füllt.

Alles beginnt mit Protesten an einer katholischen Privatschule, die sich mit Missbrauchsvorwürfen mehrerer Schüler*innen gegen einen Lehrer konfrontiert sieht. Ganz im Stil der zahlreichen feministischen Schul- und Universitätsbesetzungen im Jahr 2018 (siehe LN 528) blockieren die Schüler*innen die Eingänge und fordern Aufklärung. Als mit Blanca ihre Anführerin verschwindet, steht fest: Die Protestierenden werden nicht aufhören, bis der beschuldigte Lehrer entlassen und ihre Freundin zurück ist.

Nicht nur die Jugendlichen, auch die Kommissarinnen der chilenischen Ermittlungspolizei PDI, eindrucksvoll gespielt von Antonia Zegers, María Gracia Omegna und Daniela Vega (rechtes Bild), sehen sich im Fall Blanca Ibarra mit den immer gleichen Narrativen konfrontiert. Sie hätte es doch gewollt, durch ihr Auftreten provoziert, es gebe keine Beweise, sonst würde man den jungen Frauen natürlich sofort glauben, so verkünden es die Mitschüler aus der Rugbymannschaft, der Priester und Schulleiter und der Polizeichef. Auch dann noch, als ein Video auftaucht, auf dem Blanca von mehreren Männern vergewaltigt wird.

Statt eines großen gesellschaftlichen Aufschreis bräuchte man einfach eine Festnahme, so die hohen Tiere in den Behörden – allesamt Männer. Doch die Ermittlungen zeigen schon bald, dass Blanca kein Einzelfall ist. Tatsächlich entspinnt sich ein Netz von Verbrechen, die vom „Spiel des Wolfes“, einem männerbündischen digitalen Netzwerk mit Anführer, ausgehen. Die Suche nach dem Wolf und seinen Rudeln aus hasserfüllten Männern dringt nicht nur in das Privatleben und die Vergangenheit der Kommissarinnen ein, sondern bringt auch Blancas Schwester Celeste, stark verkörpert von Paula Luchsinger, in Gefahr.

Das Produzent*innenteam um die Brüder um Juan de Dios und Pablo Larraín hat für dieses besondere Projekt weite Teile der chilenischen Filmprominenz um sich versammelt. Die schon in Pablo Larraíns Ema (siehe LN 557) überzeugende Mariana di Girolamo ist ebenso dabei wie ihre Tante, die bekannte Fernsehschauspielerin und Theaterregisseurin Claudia di Girolamo. Daniela Vega aus Una mujer fantástica brilliert diesmal als geniale Kommissarin. Und auch Ana Tijoux tritt nicht nur als Sängerin der Titelmelodie auf. Umso erfreulicher also, dass die Serie, die zuerst auf Chiles staatlichem Fernsehsender TVN ausgestrahlt wurde, nun auch international zu sehen ist.

Dabei ist beeindruckend, wie viele hochaktuelle Dimensionen geschlechtsspezifischer Gewalt La Jauría auf die Bildschirme bringt. Es geht eben nicht um Gewalt an Frauen als „Liebesdrama“, wie es allzu oft dargestellt wird, sondern um jene Strukturen und Narrative, die sie immer wieder und in dieser Größenordnung möglich und meist straflos machen: Männerbünde, Incel-Culture und digitale Gewalt werden ebenso problematisiert wie der alltägliche Sexismus in Gesellschaft, Kirche und Polizei. Gerade in Chile, wo das Thema seit einigen Jahren mehr Aufmerksamkeit erhält (siehe LN 547, 555/556), ist dies eine wichtige Aussage.

Zwar wirkt die Kulisse von La Jauría mit dem Reichenviertel Las Condes in Santiago etwas austauschbar und macht die Gewalt in ärmeren Gesellschaftsschichten in vielen Szenen unsichtbar. Hier und da driftet die Serie in klassische Krimimuster ab und büßt dafür an Realitätsnähe ein. Doch spannend ist La Jauría trotzdem, dafür sorgt neben zahlreichen Twists auch ein packender Soundtrack.

Immer wieder wird deutlich, dass das Thema der weiblichen Selbstbestimmung die Gesellschaft spaltet. Da fragt die Mutter eines beschuldigten Schülers Kommissarin Fernández in der Vernehmung eiskalt und spöttisch: „Meinen Sie etwa, wir erleben jetzt hier einen Moment der Schwesternschaft?“. Die gibt es hingegen unter den Schüler*innen umso öfter. Es ist das yo sí te creo hermana, „Ich glaube dir, Schwester“ und die geteilten Erfahrungen, die sie aus der Wut immer wieder Kraft schöpfen lassen. Dass die Serie junge Frauen nicht nur als passive Opfer, sondern vor allem als mutige Löwinnen darstellt, ist besonders wichtig.

So hinterlässt die erste Staffel das Fazit, dass gegen eine misogyne Meute nur eines hilft: sich zuhören, Vertrauen schenken, verbünden, zusammen jede Art von Gewalt sichtbar machen und dagegen kämpfen. Auf die Rache an den Wölfen in den angekündigten Staffeln 2 und 3 lässt sich schon jetzt hoffen. Ob die so radikal wird, wie der Soundtrack es andeutet, bleibt abzuwarten: „Nein zur Kirche, nein zum Staat, dieser ganze komplizenhafte Apparat ist schuld. Über meinen Körper bestimme ich, deine Gesetze will ich nicht. Über meinen Körper bestimme ich!“

„EIN RAUM FÜR UNS“

Kampf für einen Ort der Erinnerung Straßenperformance des Kollektivs La Jauría (Foto: Celeste Pérez Álvarez. Colectiva La Jauría)

„Venda Sexy“ oder „Discotéque“ heißt das ehemalige Folterzentrum, in dem während der chilenischen Militärdiktatur vor allem studentische Mitglieder der Bewegung der revolutionären Linken (MIR) festgehalten, gefoltert und sexuell missbraucht wurden. „Venda“ heißt Augenbinde und soll darauf hindeuten, dass die Verhafteten mit verbundenen Augen in das Haus kamen. Der Name „Discotéque“ ist eine Anspielung auf die laute Musik, die während der Foltersitzungen gespielt wurde, um die Schreie der Opfer zu übertönen. „Die Opfer waren sowohl Frauen wie Männer“, erklärt Patricia Artés vom feministischen Kollektiv La Jauría. „Allerdings wurde die Gewalt an Frauen besonders systematisch und unverhältnismäßig ausgeführt. Daher kann man hier auch von geschlechtsspezifischer Gewalt sprechen.“
Das Anwesen im Stadtviertel Macul, das dem ehemaligen Geheimdienst DINA in den Jahren 1974 und 1975 als Folterzentrum diente, ist heute in Privatbesitz. 2016 wurde es vom Ministerium für öffentliche Liegenschaften zum Erinnerungsort erklärt, gleichzeitig bot der Staat der Familie, in deren Besitz sich das Haus befand, 356 Millionen Pesos (umgerechnet 450.000 Euro) für den Verkauf an. Diese lehnte allerdings mit der Begründung ab, der angebotene Preis sei zu gering. Im Mai dieses Jahres wurde jedoch bekannt, dass sie das Haus für einen geringeren Betrag an eine Immobilienfirma verkauft hat. Dabei dürfen Erinnerungsorte nach chilenischem Gesetz nicht ohne staatliche Erlaubnis verkauft oder umgebaut werden.

„Cuerpas en guerra“ Das Kollektiv La Jauría inszeniert in Santiago „Körper im Krieg“ (Foto: Celeste Pérez Álvarez. Colectiva La Jauría)

Nun arbeiten verschiedene Gruppen mit Überlebenden des Folterzentrums zusammen, um das Gebäude wiederzuerlangen. Eine dieser Organisationen ist das Kollektiv La Jauría, das aus einem feministischen Theaterprojekt entstand. Anfangs näherte sich das Kollektiv den Beziehungen Frau-Körper, Frau-Liebe und Frau-Klasse vom Theater her an. Ausgehend von der Erforschung dieser Aspekte, die verschiedene Vorstellungswelten, Aussagen und Erfahrungen miteinander verband, entwickelten die Frauen das Theaterstück „Cuerpas en Guerra“ (Körper im Krieg). Dieses Jahr haben sich die Aktivistinnen im Wirbel feministischer Bewegungen an verschiedenen Besetzungen von Bildungseinrichtungen vor dem Hintergrund der Forderung nach einer nicht-sexistischen Bildung beteiligt. „Wir hatten als Kollektiv das Gefühl, dass das Theaterstück als Mittel für unseren Kampf nicht ausreichte, also haben wir angefangen, Performances auf der Straße zu machen“, erklärt Patricia Artés.
Eine ihrer ersten Aktionen realisierte die Gruppe während des Papst-Besuchs in Chile, dann brachten sie sich bei den feministischen Bewegungen ein und schließlich auch bei den überlebenden Frauen der Militärdiktatur. Dabei befassen sie sich hauptsächlich mit sexueller Belästigung als geschlechtsspezifische Form der Aggression. „An diesem Punkt knüpfen wir an die Erinnerungsarbeit des Kollektivs Rebeldías Feministas an“, so Patricia Artés. „Seit letztem Jahr machen wir zusammen mit ihnen Performances für die Zurückgewinnung des ehemaligen Folterzentrums. Es soll den Frauen als Ort der Konstruktion eines kollektiven Gedächtnisses überlassen werden.“

 „Hier wurde gefoltert“ Das politisch-künstlerische Schaffen von La Jauría entspricht keiner festen künstlerischen Gattung (Foto: Celeste Pérez Álvarez. Colectiva La Jauría)

Vor dem Hintergrund des nun erfolgten Verkaufs des Hauses fordern Feministinnen und Menschenrechtsorganisationen die Intervention des Ministeriums für öffentliche Liegenschaften, damit der Verkauf nicht rechtskräftig abgeschlossen werden kann. La Jauría entwickelt zusammen mit anderen Organisationen ein generationenübergreifendes Projekt mit dem Ziel, „die Gewalt des Staates, die Gewalt des Patriarchats und die politisch-sexuelle Gewalt als geschlechtsspezifisches Verbrechen sichtbar zu machen“, erklärt Patricia Artés. Vor allem mit Beatriz Bataszew, einer der Überlebenden des Folterzentrums und Leiterin des feministischen Kollektivs Coordinadora 8M, arbeitet La Jauría eng zusammen. „Sie verleiht dir Energie, nicht nur durch die Tatsache, dass sie das Folterzentrum überlebt hat, sondern auch durch ihr konsequentes, politisches und feministisches Engagement“, meint Patricia Artés.
Das politisch-künstlerische Schaffen von La Jauría entspricht keiner festen künstlerischen Gattung, Aktionen im Sinne des experimentellen Theaters stehen im Vordergrund. Patricia Artés erklärt es so: „Das heißt nicht, dass uns Kunst nicht interessiert. In unserem künstlerischen Ausdruck kommt der Gegenstand aus der Wirklichkeit. Aus diesem Grund ist das Werk, das wir mit unseren eigenen Materialien ausgehend von dem Theaterprojekt erschaffen haben, ganz klar performativ und hat den Charakter eines Zeugnisses. In unserer Selbstverortung sind wir mit dem klassischen Kunst-Aktivismus verzahnt, den Feministinnen im Laufe der Geschichte entwickelt haben. Dieser Aktivismus ergibt sich aus der Dringlichkeit der Themen, aus der Anklage.“ Die Performances finden auf der Straße statt. Die Aktivistinnen besetzen bestimmte Plätze, verlesen Texte und stellen Szenen dar. Manchmal spielen sie auch Musik und singen. Dabei sind sie immer schwarz gekleidet, einige vermummt. Auf ihrer Kleidung tragen sie Botschaften, wie „Hier wurde gefoltert“.
Für Straßen-Performances vor dem „Venda-Sexy“ und einem weiteren ehemaligen Folterzentrum im September wurden Frauen mit und ohne Theatererfahrung aus verschiedenen Bereichen eingeladen. Diese Performances betrachtet das Kollektiv als Werkzeug, „das uns ermöglicht, uns auf den Straßen zu positionieren, um die sozialen und feministischen Kämpfe zu unterstützen.“ Der Kampf um die Zurückgewinnung des ehemaligen Folterzentrums ist nicht nur eine Verhandlung seitens der Bürokratie und der bekannten Menschenrechtsorganisationen. Die mögliche Zurückgewinnung wäre auch ein Erfolg der Mobilisierungen von Frauen und Feminist*innen. Für La Jauría und alle anderen Beteiligten besteht die Aufgabe laut Patricia Artés nun darin, „anzufangen, sich vorzustellen, was wir machen würden, wenn wir einen Raum nur für uns hätten“.

 

”UN LUGAR PARA NOSOTRAS”

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Lucha por un lugar del recuerdo Intervención callejera del colectivo La Jauría (Foto: Celeste Pérez Álvarez. Colectiva La Jauría)

“Venda-Sexy” o “Discotéque” es el nombre del ex centro de tortura, en el que durante la dictadura militar chilena fueron detenidos, torturados y abusados sexualmente sobre todo estudiantes miembros del Movimiento de Izquierda Revolucionaria (MIR).. “Venda” indica que los arrestadxs entraron con los ojos vendados a la casa. El nombre “Discotéque” es una alusión a la música alta que sonaba durante las sesiones de tortura para ahogar los gritos de las víctimas. “Las víctimas eran hombres y mujeres”, explica Patricia Artés, del colectivo feminista La Jauría. “Sin embargo, a las mujeres fue de manera sistemática y desproporcionada en comparación a los varones. Esto hace que la categoría de violencia de género exista de manera plena y radical en el contexto de las torturas”.
La propiedad en la comuna de Macul en Santiago, utilizada en 1974 y 1975 como centro de tortura por la DINA, el ex servicio secreto, ahora es de propiedad privada. En 2016 fue declarado sitio de memoria por el Ministerio de Bienes Nacionales, al mismo tiempo que el Estado ofreció a la familia dueña de la casa 356 millones de pesos para su venta. Esta se negó porque el precio ofrecido era muy bajo. En mayo de este año, sin embargo, se supo que la familia había vendido la casa a una compañía inmobiliaria por un monto menor. Según la ley chilena, los sitios de memoria no pueden venderse ni remodularse sin permiso estatal.

„Cuerpas en guerra“ El colectivo La Jauría presenta “Cuerpas en guerra” en Santiago (Foto: Celeste Pérez Álvarez. Colectiva La Jauría)

Ahora, varios grupos están trabajando con los sobrevivientes del centro de tortura para recuperar el edificio. Una de estas organizaciones es el colectivo La Jauría, que surgió de un proyecto feminista de teatro. Inicialmente, el colectivo se acercó a las relaciones mujer-cuerpo, mujer-amor y mujer-clase desde el teatro. A partir de la investigación de esos ejes que cruzaban distintos imaginarios, testimonios y experiencias realizaron la obra “Cuerpas en Guerra”. Este año en medio de la vorágine de los movimientos feministas han participado en diversas ocupaciones de instituciones educativas en el contexto de la demanda de una educación no sexista. “Como colectivo, de pronto sentimos que la obra no era suficiente como medio para nuestra lucha, entonces nos pusimos a crear y hacer estas intervenciones callejeras “, explica Patricia Artés.
El grupo realizó una de sus primeras acciones durante la visita del Papa a Chile, luego se involucraron con los movimientos sociales del feminismo y finalmente también con las mujeres sobrevivientes de la dictadura cívico militar. Trabajan principalmente sobre las vejaciones sexuales como una forma de agresión específica de género. “En este punto, nos vinculamos con el trabajo de memoria del colectivo Rebeldías Feministas”, dijo Patricia Artés. “Desde el año pasado hemos estado actuando con ellas para recuperar el ex centro de tortura. Debería entregarse a las mujeres como un lugar para construir una memoria colectiva”.

 „Aquí se torturó“ La propuesta artística-política de La Jauría no obedece a un estilo artístico determinado (Foto: Celeste Pérez Álvarez, Colectiva La Jauría)

En el contexto de la venta de la casa, las organizaciones feministas y de derechos humanos exigen la intervención del Ministerio de Bienes Nacionales para que la venta no pueda tomar efecto legalmente. La Jauría, junto con otras organizaciones, desarrollan un trabajo transgeneracional con el objetivo de “hacer visible la violencia del Estado, la violencia patriarcal y la violencia político-sexual como crímen específico de género”, explica Patricia Artés. La Jauría en particular trabaja estrechamente con Beatriz Bataszew, una de las sobrevivientes del centro de tortura y directora del colectivo feminista Coordinadora 8M. “Ella te entrega energía, no solamente porque pasó por ese centro de tortura, sino también por su compromiso constante, por toda la construcción política, feminista y consecuente que ella ha tenido”, dijo Patricia Artés.
La propuesta artística-política de La Jauría no obedece a un estilo artístico determinado, el enfoque está en las acciones de carácter experimental. Patricia Artés lo explica así: “No significa que no nos interese el arte. En nuestra propuesta artística, el problema viene de la realidad. Por lo tanto, en la obra en que utilizamos nuestros propios materiales, el carácter performático y testimonial es evidente. Nuestro lugar está más bien vinculado al activismo artístico más clásico que han desplegado las feministas a lo largo de la historia. Su carácter activista responde a la urgencia de los temas, a la denuncia”. Las actuaciones tienen lugar en la calle. Las activistas ocupan ciertos lugares, leen textos y presentan escenas, a veces también tocan música y cantan. Siempre están vestidos de negro, algunas están disfrazadas. Llevan mensajes en su ropa, como “Aquí se torturó”.
Mujeres de diferentes ámbitos, tengan o no una formación relacionada con el teatro fueron convocadas para actuaciones callejeras en frente del “Venda-Sexy” y otro ex centro de tortura en septiembre. El colectivo considera estas actuaciones como una herramienta “que permite posicionarnos en la calle aportar a las luchas sociales y feministas”. La lucha por la recuperación del ex centro de tortura no ha significado solo una negociación del mundo burocrático y de organizaciones de los derechos humanos conocidas, sino que su posible recuperación también sería un éxito de la movilización de mujeres y otras activistas feministas. Para La Jauría y todos los demás involucradas, según Patricia Artés, la tarea ahora es “empezar a imaginar qué haríamos con un lugar solo para nosotras”.

 

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