KEINE ZEIT ZUM TRAUERN

Am 24. November wurde das abschließende Gutachten der Autopsie des gewaltsam verschwundenen Aktivisten Santiago Maldonado veröffentlicht. Seine Leiche war nach monatelanger Suche am 17. Oktober im Fluss Chubut gefunden worden. Das nun veröffentlichte Gutachten besagt, dass sein Tod durch Ertrinken hervorgerufen wurde, begleitet von Unterkühlung. Mit drei verschiedenen Methoden wurde berechnet, wie lange sich die Leiche vor dem Fund bereits im Wasser befunden hatte. Der Aktivist war am 1. August bei einer Protestaktion um Landrechte der Mapuche in der Provinz Chubut verschwunden und blieb 78 Tage vermisst. Je nach Methode wird davon ausgegangen, dass der tote Körper zwischen 53 und 73 Tagen im Wasser gewesen sein muss. Die Berechnung der Dauer ist wichtig, um herauszufinden, was vor seinem Tod passiert sein könnte. Denn trotz abgeschlossener Autopsie sind die Umstände seines Todes immer noch ungeklärt und es gibt keine Informationen darüber, was in den mindestens fünf Tagen geschehen ist, die zwischen seinem Verschwinden und seinem Tod liegen. Nach Abschluss der rechtsmedizinischen Untersuchung fordern die Familienangehörigen von Santiago Maldonado weiterhin eine unparteiische, unabhängige und umfassende Untersuchung, um ihren Forderungen nach Wahrheit und Gerechtigkeit für Santiago einen Schritt näher zu kommen. Der zuständige Richter Gustavo Lleral hatte zuvor eine unabhängige Untersuchungskommission abgelehnt. In den nächsten Wochen sollen neue Beweise aufgenommen werden.

Während der öffentlichen Trauerfeier für Maldonado in der Kleinstadt 25 de Mayo in der Provinz Buenos Aires verbreitete sich die Nachricht von einem weiteren Todesopfer im Kontext des gleichen Konflikts um die Besetzung von Mapuche-Gebieten im Süden Argentiniens. Der 22-jährige Rafael Nahuel wurde von Sicherheitskräften der Spezialeinheit „Albatros“ der argentinischen Marine während der Räumung einer Besetzung in der Nähe des Mascardi-Sees bei Bariloche von hinten erschossen. Nahuel war kein bekannter Aktivist, aber hatte sich ähnlich wie Maldonado mit den Protesten solidarisiert und war zur Unterstützung seiner Familie in die Gemeinde Lafken Winkul Mapu gereist. Der Mord fand im Rahmen einer mehrtägigen Operation staatlicher Sicherheitskräfte statt, bei der drei Tage zuvor bereits vier Frauen und fünf Kinder festgenommen worden waren. Am 25. November gab es neben dem Mordopfer zwei weitere Festnahmen von Aktivisten, die, nachdem sie vier Stunden an den bereits verstorbenen Nahuel angekettet waren, in Isolationshaft gesteckt wurden. Fausto Jones Huala und Lautaro González wurden am 27. November wieder freigelassen. Sonia Ivanoff, Mapuche-Anwältin und Vizepräsidentin der Vereinigung von Anwält*innen für indigenes Recht in Argentinien, sprach angesichts des erneuten Mordes von einer „Jagd auf Mapuche“, die von der Regierung als „Gefahr“ dargestellt würden. Im ganzen Land von Tucumán bis Bariloche gingen Menschen auf die Straße, um gegen den Mord von Rafael Nahuel und die Kriminalisierung der Mapuche zu demonstrieren.

Die Sicherheitskräfte und die argentinische Regierung erklärten wiederholt, dass der Mord an Rafael Nahuel eine Reaktion auf Beschuss durch die Besetzer*innen gewesen sei, konnten aber – genau wie im Fall von Santiago Maldonado – bisher außer selbst gefertigten Berichten keine Belege für diese These vorlegen. Aktivist*innen hingegen bestreiten diese Angaben und in Untersuchungen konnten keine Spuren von Schusswaffengebrauch an den Händen der Festgenommenen festgestellt werden. Auch der erste Autopsiebericht bestätigt, dass Nahuel von hinten erschossen wurde. An der Besetzung beteiligte Aktivist*innen wiederholen immer wieder, dass sie unbewaffnet gewesen seien. „Wir hatten Steine und Stöcke. Was hätten wir damit machen können? Eine Kugel tötet!“, so ein anonymer Sprecher der Gemeinde in der Zeitschrift Cítrica.

Schrei nach Gerechtigkeit für Rafael und Santiago (Foto: Voijf – lavaca.org)

Sicherheitsministerin Patricia Bullrich und Justizminister Germán Garavano reagierten mit einer Pressekonferenz, in der sie zu verstehen gaben, dass es Konsequenzen habe, wenn Personen gegen das Gesetz verstoßen würden. Der offene Zynismus mit dem Bullrich hier argumentiert ist mehr als nur grotesk: Im Landkonflikt wird systematisch und andauernd gegen internationale Konventionen und Gesetze auf Provinz- und Landesebene verstoßen. Die Version der Sicherheitskräfte sei die „Wahrheit“, und Beweise für das, was Sicherheitskräfte in einem Einsatz mit richterlichem Befehl machten, müssten nicht erbracht werden. Die Argentinier müssten lernen, dass Gewalt keine Lösung sei, so Bullrich. Gewalt geht allerdings vor allem von staatlicher Seite aus.

Die zunehmende Militarisierung Patagoniens durch die Gendarmerie zeigt die angespannte Stimmung in einem Konflikt, der unter dem argentinischen Regierungsbündnis Cambiemos noch zusätzlich an Brisanz gewinnt. Präsident Macris Regierung, die nach nur zwei Jahren Amtszeit schon zur autoritärsten Regierung der letzten 30 Jahre in Argentinien geworden ist, hat die Entscheidung getroffen, die Interessen großer Unternehmen bis aufs Äußerste zu verteidigen. Denn es sind seine eigenen.

Unterstützung erhoffen sich die argentinischen Behörden mittlerweile auch von chilenischer Seite. Der argentinische Staatsanwalt José Gerez traf sich am 4. Dezember mit Amtsvertretern aus der chilenischen Provinz Araucanía, wo die Behörden schon jahrelange Erfahrung mit der Militarisierung und Repression gegen Mapuche-Aktivist*innen haben, um Informationen und Strategien auszutauschen. Die argentinische Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Besetzungen und andere Aktionen der Mapuche in Argentinien nur mit logistischer Unterstützung von Gruppen aus Chile haben stattfinden können. Das Treffen der Staatsanwälte verlief vorerst ergebnislos, allerdings erklärten beide Seiten, dass sie in Zukunft zusammenarbeiten würden.

„Bei dem Boden, den die Mapuche unter den Füßen haben, sind Millionen Dollar im Spiel“, erklärt die Mapuche-Aktivistin Moira Millán das starke Interesse in der Region in Anbetracht der Rohstoffe in Patagonien. „Aber es geht auch um eine ideologische Konfrontation. Es sind zwei konzeptuell verschiedene Welten, für die eine Welt ist das Privateigentum heilig, für die andere das Leben.“ Dass diese Logik anderen Teilen der Gesellschaft bewusst werden könnte, die dann die Ideen der Mapuche als Alternative erkennen könnten, um die Geschichte zu ändern, mache der Regierung Angst und daher konstruiere sie die Mapuche als inneren Feind der Demokratie. Millán spricht von einem „Zirkus der Demokratie“. Vielleicht ganz treffend, denn der zuständige Richter, der den Fall Nahuel untersuchen soll, ist Gustavo Villanueva, der auch den Befehl zur Räumung gegeben hat, die zu Nahuels Tod geführt hat. Villanueva zeigt sich auch verantwortlich für die Verhaftung eines anderen Mapuche-Aktivisten.

 

EIN ALTER LANDKONFLIKT ESKALIERT

Man geht vom Schlimmsten aus. Die Menschen leben in der ständigen Angst, von bewaffneten Gruppen angegriffen zu werden. Das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas (Frayba) ist in der Region aktiv und warnt vor einer weiteren Eskalation. „Laut unseren Informationen werden Waffen gekauft, sie [Paramilitärs] belagern die Gemeinden und terrorisieren sie“, sagte der Direktor der Organisation Pedro Faro Ende November 2017. Über 5.000 Menschen sind aus den Gemeinden der Munizipien Chenalhó und Chalchihuitán in die Berge geflohen. Viele haben mit dem Konflikt gar nichts zu tun, müssen sich aber in den Bergen verstecken, bei Kälte, mit wenig Essen, von den Angreifer*innen eingekesselt und von der Außenwelt durch blockierte Straßen abgeschnitten.

Immer wieder flammt der Konflikt auf, „vor vier Jahren flohen wir und auch vor drei Jahren. Jetzt sind wir wieder Vertriebene. Wir leiden sehr, es gibt alte Menschen und es ist sehr kalt. Die Kinder sind krank“, beschreibt eine betroffene Frau die Situation.

Seit im Oktober 2017 Samuel Pérez Lunain in der Region von Chalchihuitán bei der Arbeit auf seinem Feld erschossen wurde, häufen sich die Angriffe – auch in der Region Chenalhó. „Als sie auf uns schossen, schliefen wir. Die Kugel ging über uns durch die Luft“, schildert eine Mutter den nächtlichen Angriff auf ihr Haus. Zwischen den bewaffneten Gruppen kommt es immer wieder zu Schießereien. Enige Häuser wurden verbrannt. Die Menschen fürchten um ihre Tiere und Ernten, ihre Lebensgrundlagen.

Der Konflikt begann im Jahr 1973 mit einer Agrarreform. Damals wurde die Grenze zwischen Chenalhó und Chalchihuitán anhand eines Flussverlaufes gezogen. 1981 verschoben Bewohner*innen Chalchihuitáns diese Grenze durch Mauern und Zäune auf die Seite Chenalhós und vereinnahmten den Zugang zum Fluss. In der Folge rissen Bewohner*innen Chenalhós die Grenzbefestigung ein. In kurzer Zeit entwickelte sich daraus ein bewaffneter Konflikt. Chalchihuitán reklamierte 800 Hektar von Chenalhó, in beiden Munizipien bildeten sich bewaffnete Gruppen und Familien wurden vertrieben. Laut dem Menschenrechtszentrum Frayba präsentierte eine Kommission im vergangenen Jahr einen Lösungsvorschlag, doch die Regierung habe die Voraussetzungen für ein Übereinkommen mit den Betroffenen nicht geschaffen. Auch seien die Betroffenen nicht in den Prozess eingebunden worden.

„Man weiß nicht, welche Interessen es dort sind, diese Region wieder in einen Krieg zu stürzen. Unsere Erklärung ist, so weit wir es einschätzen können, dass seit dem Massaker in Acteal (1997 wurden dort 45 Menschen ermordet, Anm. d. Red.) ein Klima der Straffreiheit geschaffen wurde. Die Akteure mit Verbindung zur Regierung können machen was sie wollen“, schildert Direktor Faro. Mit einer öffentlichen Erklärung und einer Eilaktion versucht Frayba nu,n auf das Risiko für Leben und Sicherheit der Gemeinden aufmerksam zu machen.

Die Regierung von Chiapas reagierte inzwischen mit medizinischer Hilfe und Polizei- und Militärpräsenz, einen Monat nach dem Beginn der Auseinandersetzung und nach einem Aufruf der UNO an die mexikanische Regierung, die humanitäre Krise zu beachten.

Darüber hinaus äußerte die UN-Sonderbeauftragte für die Rechte indigener Völker, Victoria Tauli-Corpuz, nach einem Besuch der Region Mitte November ihre generelle Sorge über systematische Menschenrechtsverletzungen in Mexiko. Sie habe „schwerwiegende Muster von Ausgrenzung und Diskriminierung“ beobachtet, „die das Fehlen von Zugang zur Justiz und andere Menschenrechtsverletzungen reflektieren.“

 

WO IST SANTIAGO MALDONADO?

In der argentinischen Verfassung sind indigene Rechte verankert. Anspruch und Wirklichkeit klaffen jedoch weit auseinander: Das Recht der indigenen Bevölkerungen auf Schutz ihrer Territorien wird häufig mit Füßen getreten. Im Süden des Landes schwelt seit Jahren ein Konflikt mit den Mapuche, zu denen sich etwa 100.000 Menschen in Argentinien zugehörig fühlen. Bereits seit ihrer Vertreibung und Dezimierung in der Kolonialzeit fordern die Mapuche ihre Gebiete zurück. Doch erst als in den neunziger Jahren große Ländereien in Patagonien an private Investor*innen verkauft wurden und mit Öl- und Gasbohrungen unter den Regierungen der Kirchners (2003-2015) fortgeschritten wurde, brachen die Konflikte zwischen Mapuche und argentinischem Staat offen aus. Die derzeitige Regierung von Mauricio Macri versucht, die Mapuche als Terrorist*innen und Gefahr für die innere Sicherheit darzustellen. Sie hat sogar nachweislich den argentinischen Geheimdienst mit der Aufgabe betraut, Delikte zu erfinden, die die Indigenen hinter Gitter bringen.

Auch das lof (“Gemeinde” auf Mapudungún) Cushamen gehört zum Konfliktgebiet, da es auf dem 900.000 Hektar umfassenden Grundstück des italienischen Kleiderherstellers und Multimillionärs Luciano Benetton liegt. Nach dem Staat und den Provinzen besitzt Benetton am meisten Land in Argentinien. Mehrmals versuchte die Polizei bereits gewaltsam das lof zu räumen. Ihr lonko (“Anführer”), Facundo Jones Huala, sitzt seit Ende Juni im Gefängnis.

Am 1. August griff die Polizei bei einer Straßenblockade für die Freilassung Hualas erneut hart durch. Laut der Aussage von Zeug*innen ging die Polizei mit Schusswaffen gegen die Mapuche vor und brannte deren Zelte nieder. Auch Santiago Maldonado war vor Ort. Maldonado ist selbst kein Mapuche, solidarisiert sich aber mit ihren Forderungen und war zu diesem Zweck in die Gemeinde gereist. Nach dem Angriff der Polizei floh er mit den anderen Aktivist*innen in Richtung eines Flusses. Da er jedoch nicht schwimmen kann, kehrte er auf halbem Weg wieder um. Maldonado versteckte sich in einem Busch, wo die Polizei ihn aufspürte. Die Polizeibeamt*innen verprügelten den jungen Mann, zerrten ihn in ihr Polizeiauto und verschwanden. Laut der Mapuche leitete Pablo Noceti, die rechte Hand von Innenministerin Patricia Bullrich und Vorsitzender des Kabinetts des Ministeriums für innere Sicherheit, die Operation. Dies konnte später durch Fotos und Filmaufnahmen belegt werden.

Nach dem Verschwinden von Santiago Maldonado machten zahlreiche Gerüchte die Runde. Zuerst äußerte die Regierung Zweifel daran, dass er zum Tatzeitpunkt überhaupt am Ort des Geschehens war. Bald fanden Ermittler*innen jedoch in dem Gebüsch, wo sich der Aktivist laut Zeugenaussagen versteckt gehalten hatte, seine Mütze und Blutspuren. Die Auswertung der DNA ist noch nicht abgeschlossen. Regierungsnahe Medien verbreiteten die Aussagen von Personen, die Maldonado gesehen oder sogar im Auto mitgenommen haben wollten. Tatsächlich handelte es sich jedoch nicht um den Verschwundenen. Innenministerin Bullrich ließ verlauten, dass die Familie Maldonado nicht ausreichend mit der Justiz kooperiere, weshalb die Ermittlungen nur schleppend vorankämen.

Die Regierung kommt zunehmend in Erklärungsnöte.

Die Regierung kommt zunehmend in Erklärungsnöte. Dafür sorgt auch eine Liste der unterlassenen oder verspätet eingeleiteten Maßnahmen durch die Verantwortlichen. Denn inzwischen gibt es Informationen darüber, dass auf dem Grundstück Benettons, nahe Cushamen, ein Posten der Militärpolizei stationiert ist. Von dort aus koordiniert die Polizei Aktionen gegen die Mapuche. Doch trotz der Aussagen einiger Zeug*innen, Maldonado sei dorthin verschleppt worden, ordnete der verantwortliche Richter bislang keine Durchsuchung an. Ebenso wenig wurden die Telefonate von Pablo Noceti mit der Polizei ausgewertet. Die Begründung: Es läge kein Verdacht gegen Noceti vor. Menschenrechtsorganisationen sind überzeugt, dass die Ministerin selbst ein Vorankommen bei der Suche nach Maldonado verhindere. Sie fordern ebenso wie viele andere Argentinier*innen ihren Rücktritt.

Währenddessen haben die Familie Maldonado und eine Reihe sozialer und politischer Organisationen eine Öffentlichkeitskampagne gestartet. “Lebend haben sie ihn mitgenommen, lebend wollen wir ihn zurück – JETZT” lautet das Motto, das jede Aktion begleitet. Das Gesicht des 28-Jährigen und die Frage nach seinem Verbleib haben inzwischen die Grenzen des Landes überschritten. Fotos machen die Runde, auf denen Persönlichkeiten wie Noam Chomsky oder die Fraktion von Podemos im spanischen Parlament Poster mit Maldonados Konterfei hochhalten. Hinzu kommen Solidaritätsaktionen vor der argentinischen Botschaft in unterschiedlichen Ländern – so auch in Berlin am 1. September. Auch Lieder, Gottesdienste und Nachtwachen sind Teil der Kampagne. “Es ist entscheidend, soviel Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen, um Druck auf die Verantwortlichen auszuüben. Nur so können wir hoffen, dass die Untersuchungen weitergehen, Santiago lebendig auftaucht und niemand ungestraft davonkommt, so wie es leider schon in anderen Fällen geschehen ist”, sagt Roberto Cipriano, Anwalt und Vorsitzender des Exekutivstabs der Gedächtniskommission der Provinz von Buenos Aires, der als Nebenkläger an dem Fall beteiligt ist.

Am 1. September, einen Monat nach dem Verschwinden Maldonados, fand in Buenos Aires eine Demonstration statt. Mehr als 250.000 Menschen versammelten sich auf der zentralen Plaza de Mayo. Am Ende der Demonstration lieferten sich Polizei und Demonstrant*innen Auseinandersetzungen. Mehr als 30 Personen wurden festgenommen. Zahlreiche Hinweise darauf, dass Polizeibeamte den Protestzug infiltriert und Gewalt provoziert hätten, sorgten für Empörung in der Bevölkerung. Die Festgenommenen mussten jedoch nach 48 Stunden freigelassen werden, da es keine Beweise gab und soziale Bewegungen starken Druck ausübten. Ein kleiner Erfolg für die Protestbewegung. Doch von Maldonado fehlt nach wie vor jede Spur…

DER RUF DES WALDES

Fotos: Pororoca.red

Es ist Donnerstagabend. Morgen früh beginnt das achte Panamazonische Sozialforum (FOSPA) auf dem Gelände der Universität von Tarapoto, einer mittelgroßen Stadt im Nordosten Perus. Auf dem Campus wird noch eifrig gewerkelt: Bühnenbauer*innen verlegen Drainagen, streuen säckeweise Sägespäne und schimpfen auf den Klimawandel. Nach zwei Tagen tropischem Dauerregen steht im großen Veranstaltungszelt knöcheltief das Wasser. Techniker*innen verlegen trotzdem mutig Internetkabel. Internationale Freiwillige rücken Plastikstühle zurecht und machen die Scheinwerfer der Hauptbühne wasserdicht. Nun kann es eigentlich losgehen.
Doch bevor die Veranstaltung beginnt, müssen noch die Geister des Dschungels beschwichtigt werden. Es darf auf keinen Fall wieder regnen! Wie gut, dass das diesjährige FOSPA mit einem spirituellen Eröffnungsritual beginnt. Dieses findet nicht im doch recht lauten Tarapoto statt, sondern im benachbarten Dörfchen Lamas. Hier versammeln sich am Freitagvormittag etwa zweihundert Menschen. Die Aktivist*innen kommen aus Peru, aber auch aus den Nachbarstaaten Bolivien oder Brasilien. Und manch einer hat sogar eine weite Reise auf sich genommen und ist aus dem Kongo oder Haiti zum Forum angereist, um den internationalen Erfahrungsaustausch anzuregen. Europäer*innen sieht man hingegen kaum.

Langsam setzt sich die Menge in Bewegung, zu der parkähnlichen Plaza, auf der die Zeremonie stattfindet. Es geht einen Hügel hinab und einen anderen wieder hinauf, mit spektakulärem Ausblick auf die nebelverhangenen Bergketten von Lamas. Als alle Kinder der Pachamama (Quechua: Mutter Erde) angekommen sind, werden sie herzlich begrüßt, um dann der Erde ihren Dank auszusprechen. Verbunden natürlich mit der Bitte, für gute Energie und gutes Wetter in den kommenden Tagen zu sorgen.

„Die Politiker sollten den Begriff ‚Gutes Leben‘ nicht mal in den Mund nehmen dürfen!“

Und das hat gut geklappt! Auf dem Universitätsgelände von Tarapoto, dem Ort des eigentlichen Geschehens, strahlt am nächsten Morgen die Sonne vor einem wolkenlosen Himmel. Unter dem grünen Blätterdach eines großen Baumes steht ein weißes Zelt. Hier befindet sich das mobile Studio von La Nave Radio, einem Zusammenschluss von Medienmachenden aus dem Amazonasgebiet. In den Sendungen sollen Besucher*innen und Akteur*innen des Forums frei und ehrlich erzählen: was ihnen politisch wichtig ist, warum sie überhaupt hier sind oder welche Konflikte sich gerade in ihren Dörfern und Städten abspielen. La Nave Radio sendet live vom Forum, ist aber auch im Internet zu hören.

Gerade moderieren der Musiker Lucho und der Geschichtenerzähler Leonardo. Beide kommen aus Peru. Ihre Gemeinden Nieva und Nauta liegen am gleichen Fluss, dem Río Marañón, einem Quellfluss des Amazonas. Mit dem Mikrofon kämpfen sie seit Jahren gegen Ölförderung, Holzeinschlag und Infrastrukturprojekte in ihren Gebieten. Themen, die auch ihren heutigen Studiogästen Domingo und Elvia vom ecuadorianischen Indigenen-Dachverband CONFENIAE unter den Nägeln brennen: „Wir entwickeln gerade das Projekt ‚Cuencas Sagradas‘“, verrät Domingo dem Publikum. Übersetzt heißt das die ‚Heiligen Quellflüsse‘. Für ihren Schutz setzt sich CONFENIAE ein. Denn im Río Napo und Río Marañón liege der Ursprung der gesamten Artenvielfalt der Region. „Alle Bodenschätze dort müssen unangetastet bleiben!“, fordert Domingo. So neu klingt das nicht, sondern eher nach Yasuní. Bereits im Jahr 2010 erklärte sich Ecuador dazu bereit, kein Erdöl im Yasuní-Nationalpark zu fördern. Wenn, so die Bedingung, die internationale Staatengemeinschaft dafür Kompensationszahlungen leistete. Doch am Ende fehlte es an willigen Spendern, um die 3,5 Milliarden Euro zusammenzubekommen. Und die ecuadorianische Regierung vollzog eine Kehrtwende: Zwar wird offiziell weiter das „Buen Vivir“ gepredigt, das „Gute Leben“, bei dem Mensch und Natur im Einklang miteinander leben. Tatsächlich verkauft der Staat jedoch seit 2013 auch Förderlizenzen im Yasuní-Park. Die Indigenen sind nicht länger Verbündete. Domingos Mitstreiterin Elvia ist empört: „Von welchem Guten Leben spricht die Regierung, wenn Mutter Erde zerstört wird? Die Politiker sollten diesen Begriff nicht mal in den Mund nehmen dürfen!“

Vor dem Radio-Zelt von La Nave hat sich eine Menge gebildet, die gebannt zuhört. Auch nach der Sendung diskutieren die Zuhörer*innen mit Elvia und Domingo noch lange auf der Straße über den Vorschlag weiter: Würde sich China wirklich auf einen Schuldenschnitt mit Ecuador einlassen und so der Regierung Handlungsspielraum verschaffen? Was ist der im vergangenen Jahr von der UNO geschaffene Klima-Topf wert, wenn am Ende doch niemand einzahlt? Alles Fragen, über die in den kommenden Tagen noch zu reden sein wird.

Starke Frauen: Die Teilnehmerinnen verschaftten sich lautstark Gehör

Rund 1.500 Aktivist*innen, in der Mehrzahl Indigene, haben es zum Sozialforum nach Tarapoto geschafft. Auf die Beine gestellt wird das FOSPA von Vertreter*innen der Basisgruppen und NGOs aus allen teilnehmenden Ländern. Sie schicken Hilfskräfte und bringen so gut wie möglich ihre finanzielle Unterstützung ein. Wen man hier wenig sieht, sind Vertreter*innen aus den größeren Medien. Mitorganisatorin Leslie bedauert das. Zur FOSPA-Pressekonferenz, die im Vorfeld in Lima stattgefunden hat, seien wieder nur die „üblichen Verdächtigen“ gekommen: „Es ist sehr schwer, andere Medienvertreter für unsere Sache zu gewinnen,“ sagt sie und hofft, dass die peruanische Presse vielleicht in Zukunft auch mal gesellschaftspolitisch ambitioniertere Themen auf die Titelseite bringt, als den täglichen Einheitsbrei aus Korruption und Gewalt in den Städten. Doch bis es soweit ist, bleibt die Berichterstattung des FOSPA vor allem in den Händen von Community-Medien, allen voran La Nave Radio, mit ihren Moderator*innen aus dem Amazonasgebiet.

Im weißen Radiozelt macht derweil die Kolumbianerin Dora Muñoz von den indigenen Nasa die Situation in der südwestlichen Provinz Cauca zum Thema. Dora, selbst seit fünfzehn Jahren Medienmacherin, unterstreicht, wie wichtig es sei, dass Indigene selbst über ihre Realitäten berichteten – denn nur so würden Zusammenhänge klarer. Für die Nasa etwa habe sich seit den Friedensverträgen zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerilla vieles geändert: „Einerseits wurde es ruhiger: Man hört keine Flugzeuge mehr, keine Bomben und keine Schießereien.“ Allerdings sei es zu früh, um von einem wirklichen Frieden zu sprechen. Für Dora handelt es sich eher um eine fragile Art von Befriedung. „Es gibt immer noch Morde und Morddrohungen. Auch in diesem Jahr sind bereits fünfzehn soziale Aktivisten ums Leben gekommen. Vertretern von Menschenrechtsorganisationen werden bedroht. Für die Regierung sind das Einzelfälle; doch es steckt ein System dahinter”.

Starke Frauen wie Dora sind auf dem Forum überall präsent.

Erst Mitte April ist Gerson Acosta, ein Sprecher der Nasa, an seinem Wohnort erschossen worden. Seine Gemeinde war bereits 2001 von Paramilitärs angegriffen und vertrieben worden. Es gibt Hinweise, denen zufolge diese bei ihrer Aktion von der kolumbianischen Armee unterstützt wurden. Und die Armee wiederum soll von rechten Unternehmer*innenkreisen dafür bezahlt worden sein. Alles, um sich das ressourcenreiche Gebiet der Indigenen unter den Nagel zu reißen: ein in Kolumbien nicht unüblicher Vorgang. Aktivist Acosta, der immer wieder Ermittlungen zu den Drahtzieher*innen gefordert hatte, war schon mehrfach mit dem Tod bedroht worden. Schließlich hatte er sogar Personenschutz von der Regierung erhalten – und bezahlte doch mit dem Leben. Radiomacherin Dora Muñoz erzählt anschaulich von der Lage in den zuvor von den FARC (der größten kolumbianischen Guerilla) kontrollierten Gebieten, in denen sich jetzt Paramilitärs und Rebellen-Splittergruppen ungehindert breit machen. Doch die indigenen Nasa seien jetzt dabei, eine Gegenstrategie zu entwickeln. Im April hat eine Vollversammlung in Corinto stattgefunden. Dort haben die indigenen Gemeinden und Bäuerinnen und Bauern die Guardia Indígena wieder aktiviert, „mit dem Ziel, keine bewaffneten Gruppen mehr auf ihr Gebiet zu lassen“.

Starke Frauen wie Dora – sie sind auf dem FOSPA überall präsent. Am dritten Tag des Forums findet diesbezüglich noch mal ein Höhepunkt statt: „El Tribunal de las mujeres“ – das Tribunal der Frauen. Auf dem Podium in dem voll besetzten Hörsaal sitzen vier Feministinnen. Heute sind sie Richterinnen. Sie hören sich die Geschichten von kämpferischen lateinamerikanischen Frauen an, die ermordet wurden, deren Täter aber straflos bleiben – wie im Fall der honduranischen Umwelt-Aktivistin Berta Cáceres. Oder die akut vom Tode bedroht sind – wie die Kleinbäuerin Máxima Acuña. Ihre Ackerfläche liegt in der Provinz Cajamarca, im Nordwesten Perus. Mitten in einem Gebiet, in dem die Mega-Goldmine Conga entstehen soll. Wäre da nicht Máxima, die sich weigert zu gehen und ihr Land den Interessen des Extraktivismus zu opfern. Die Gewalt, der sie seitdem unterworfen ist, hat viele Gesichter: Zerstörung ihres Hauses und ihrer Anbauflächen, körperliche Angriffe auf sie und ihre Familie, sexualisierte Gewalt, Hetzkampagnen in der Presse und den sozialen Medien, und schließlich juristische Prozesse, die sie mürbe machen sollen. Zwar haben alle Instanzen bislang zugunsten der Campesina Máxima entschieden. Und für die Richterinnen des Tribunals ist klar: Der Staat muss Máxima vor den Interessen des Unternehmens schützen. Ob die Entscheidungsträger*innen das gehört haben? Vielleicht. Jedenfalls entschied der Oberste Gerichtshof einige Tage nach Ende des Forums im Interesse der Kleinbäuerin. Conga Ade! (siehe Kurznachricht in dieser Ausgabe) Vorerst jedenfalls.

Überzeugend: Interview mit indigener Aktivistin

Am 1. Mai ist Tag der Arbeit und zugleich der letzte Tag des Panamazonischen Sozialforums. Geregnet hat es in den ganzen Tagen kaum einen Tropfen, und auch die Energie der Teilnehmenden ist weiterhin gut. Im Hauptzelt werden vormittags die Beschlüsse der einzelnen Arbeitsgruppen vorgestellt und die „Charta von Tarapoto“ verlesen. Darin steht, dass der Kapitalismus, welcher sich aktuell in rücksichtslosem Rohstoffabbau und „grüner Ökonomie“ ausdrücke, im Amazonas die Rechte der Bevölkerung und der Natur in Frage stelle. Er bedrohe die Nachhaltigkeit indigener Territorien und die Ernährungssicherheit der Bevölkerung. In dem Abschlussdokument des diesjährigen FOSPA wird einmal mehr das „Gute Leben“ als neues Paradigma des Zusammenlebens angepriesen. In mehr als zwanzig Unterpunkten werden konkrete Ideen und ehrgeizige Forderungen formuliert: vom Ende der Monokulturen, über die bessere Verwirklichung von Minderheiten- und Frauenrechten bis hin zu einer neuen Beziehung zwischen ländlichen und urbanen Räumen.

Bei den Besucher*innen und auch bei La Nave Radio stehen die Uhren auf Abschied. Die letzten Sendungen werden gefahren, dann soll das Zelt abgebaut und eingepackt werden, bis zum nächsten Jahr. Dann soll das Forum in Kolumbien stattfinden. Da taucht Domingo von der CONFENIAE noch mal auf. Er lächelt für ein Gruppenfoto. Und erzählt von den Schritten, die er in den letzten Tagen unternommen hat, um das Schutzprojekt der Cuencas Sagradas auf die Beine zu stellen: „Wir haben hier mit vielen peruanischen Basisgruppen gesprochen. Anfang Juli werden wir uns in San Lorenzo, Peru, noch einmal alle zusammenfinden.“ Und bereits vorher soll es ein Treffen mit der ecuadorianischen Regierung geben. Im Herbst, bei dem Weltklimagipfel in Bonn, wird dann auch in Deutschland von den heiligen Quellflüssen und dem Schutz der Amazonas-Region die Rede sein. Gerade wegen der vielfältigen Probleme sei es unerlässlich, Ideen und Perspektiven zu entwickeln, die über nationalstaatliche Initiativen hinausgingen, sagt Domingo: “Wir müssen unsere Kräfte vereinen, uns die Hände reichen und endlich die Grenzen zwischen den Ländern vergessen. Das ist das Wichtigste.”

“WIR HOFFEN, MIT DEM STAAT IN EINEN DIALOG ZU KOMMEN”

Sie haben den UN-Menschenrechtsrat in Genf vor der Überprüfung der Menschenrechtslage im April besucht. Welche Eindrücke haben Sie dort gesammelt und welche Erwartungen haben Sie an das Gremium?
Mónica Vera Puebla (MVP): Unsere Erwartungen sind, dass wir durch unseren Beitrag den Mitgliedern des Menschenrechtsrates vermitteln konnten, wie sich die Ernährungs- und Menschenrechtslage in Ecuador derzeit gestaltet. Dabei geht es insbesondere um den Zugang zu Land, Saatgut und Krediten, aber auch das Thema der Vertreibung, ohne andere Themen auszusparen. Uns ging es darum, einen integralen Blick auf die Menschenrechtsverletzungen darzulegen. Unsere Zielsetzung ist es, Räume für einen Dialog zu eröffnen, wie diesen Menschenrechtsverletzungen beizukommen ist. Unser Eindruck ist, dass uns das in Genf gelungen ist. Wir haben Statistiken über die Ernährungs- und Menschenrechtslage vorgestellt und Lösungsvorschläge unterbreitet, die auf offene Ohren gestoßen sind. Leider war es erforderlich, bis nach Genf zu fahren, um solche Dialogräume zu eröffnen. Dort sind wir mit der diplomatischen Vertretung Ecuadors ins Gespräch gekommen, die erste Annäherung an die ecuadorianische Regierung. In Ecuador selbst ist uns das mit der Regierung von Rafael Correa nicht gelungen. Unsere kritischen Anmerkungen zur Menschenrechtslage sind dort nicht gut aufgenommen worden. Unsere Dialogangebote wurden ausgeschlagen, auch der Versuch über die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) zu einem Dialog zu kommen, schlug fehl. Deswegen versuchen wir nun den Weg über die UNO und ihren Menschenrechtsrat.

In Ecuador gab es gerade Präsidentschaftswahlen. Der Kandidat der Regierungspartei, Lenín Moreno, hat knapp gewonnen, die zehnjährige Ära von Rafael Correa geht am 24. Mai zu Ende. Könnte es mit dem neuen Präsidenten nicht mehr Raum für Dialog geben?
MVP: Diese Hoffnung haben wir in der Tat. An einem möglichen Dialog sollten alle sozialen Organisationen teilnehmen. Wir hoffen, dass Moreno einen partizipativen Prozess mit der Zivilgesellschaft einläutet, so wie er das in Aussicht gestellt hat. Das halten wir für extrem wichtig, um die existierenden Spannungen zu mildern. Wichtig ist auch, dass Menschenrechtsverteidiger in diesem Raum geschützt werden und ihre Arbeit als wichtig anerkannt wird, statt als unbotmäßige Kritik zurückgewiesen zu werden.

Erwarten Sie von Moreno einen Kurswandel beim Wirtschaftsmodell, das vor allem auf Rohstoff- und Agrarexporten beruht?
MVP: Davon gehe ich nicht aus, zumindest keinen grundsätzlichen. Lenín Moreno kommt von der amtierenden Regierungspartei Alianza País und ist mit ihrem Personal verflochten. Zu erwarten ist, dass das vorherrschende Modell fortgesetzt wird. Das heißt eine Kontinuität des sogenannten Extraktivismus (Rohstoffförderung plus Export, Anm. d. Red.) und der Agrarindustrie. Dieses Modell ist bereits durch die Alianza País verankert worden. Moreno hat in Aussicht gestellt, den Dialog über den einen oder anderen Aspekt zu führen, aber es gibt keinerlei Signal, dass vom Modell abgewichen werden soll. Das bereitet uns durchaus Sorge. Zum einen geht mit der Agroindustrie eine Monokultur mit ihren ökologischen Risiken einher, zum anderen ist die Ausweitung des Bergbaus mit vielen lokalen Konflikten verbunden, weil die ansässige Bevölkerung ihre Lebensgrundlagen gefährdet sieht.

Herr Carpio Cedeño , Sie gehören der Bauerngemeinde ASOMAC an. Viele Bauernfamilien wurden im Zuge eines Landkonflikts von staatlichen Sicherheitskräften vertrieben. Wie steht es in diesem Konflikt derzeit?
Carlos Carpio Cedeño (CCC): Unsere Hoffnung besteht darin, dass wir mit dem Staat in einen Dialog kommen. Man muss klar feststellen, dass die Räumungen und Vertreibungen 2015 illegal waren. Die Familien, die der Bauerngemeinschaft ASOMAC angehören, hatten die Felder seit Generationen bestellt. Der Staat hatte ihren Anspruch auf das Land vor zehn Jahren anerkannt. Die Räumung erfolgte ohne vorherige Ankündigung, was gegen ecuadorianisches Recht verstößt. Die Sache ist vor dem Verwaltungsgericht gelandet, dort ist noch nicht abschließend geklärt worden, wie die Besitzansprüche sind. Es ist ein Konflikt unter Brüdern, unter unterschiedlichen Bauernfamilien über das Recht, bestimmtes Land bebauen zu dürfen, zwischen Bäuerinnen und Bauern sowohl von ASOMAC als auch der Asociación La Lagartera. Die Räumung war Folge eines Regierungsbeschlusses aus dem Jahr 2011, das Gebiet von ASOMAC um 150 Hektar zu verkleinern.

Wie wirkt sich die Räumung auf die Lebensumstände der Familien aus?
CCC: Katastrophal. Häuser, Felder und Bewässerungssysteme wurden komplett zerstört. Obdachlosigkeit und fehlende Einkommen führen seitdem zu Mangelernährung, Krankheiten und psychischen Problemen, insbesondere bei Frauen und Kindern. Niemand will dafür die Verantwortung übernehmen. Zudem haben wir den Zugang zu Wasser verloren und unser Versuch, wieder Zugang zu erhalten, blieb unbeantwortet. Ohne Wasser können wir nicht säen. Wir suchen nach Antworten. Das Verwaltungsgericht in Guayaquil hat uns im März 2016 recht gegeben und den Regierungsbeschluss für unzulässig erklärt. Das zuständige Ministerium legte jedoch Berufung ein. Nun muss der Oberste Gerichtshof in Quito entscheiden, sodass die Rechtsunsicherheit bestehen bleibt.

Und wie macht ASOMAC unterdessen weiter?
CCC: Wir kämpfen weiter um unser Land. Wir sind Landwirte, ohne Land und ohne Wasser können wir nicht leben. Das Agrarministerium fordert Geld für die nur noch 325 Hektar, die uns zur Bebauung zugesprochen wurden. Aber wie sollen wir sie ohne Wasser kultivieren? Wie sollen wir unter diesen Bedingungen Erträge erwirtschaften, um zahlen zu können? ASOMACs Verschuldung steigt und steigt. Was können wir machen, ohne die Möglichkeit, Land zu bepflanzen? Als wir das brachliegende Gebiet damals besetzten, hatten wir eine klare Linie: Besetzen, um Lebensmittel für unsere Familien zu produzieren. Dieses Land haben sie uns nun genommen.

Der Gegner im Rechtsstreit ist die Asociación La Lagartera. Was verbirgt sich dahinter, eine große Firma oder Kleinbauer*innen?
CCC: Es sind auch Kleinbauern. Sie machen auch gute Projekte. Das Problem ist einfach, dass sie nicht berücksichtigt haben, gar nicht untersucht haben, dass wir bereits auf der Fläche des leer stehenden Gutes Leopoldina Landwirtschaft betrieben haben. Trotzdem hat die Asociación La Lagartera Ansprüche auf das Land angemeldet. Der Staat hört auf La Lagartera, aber auf ASOMAC reagiert er nicht.

Und wie lässt sich dieser Konflikt beilegen?
CCC: Über Dialog. Da wir in Ecuador nicht gehört wurden, haben wir als Opportunitätsfenster diesen internationalen Weg über den Menschenrechtsrat gewählt. Wir wollen einen Dialog, wir wollen eine Untersuchung darüber, was ASOMAC auf dem Land betrieben hat und was nun La Lagartera dort betreibt. Wir haben Flora und Flauna gepflegt, wir haben keine Bäume gefällt, wir haben der Umwelt keinen Schaden zugefügt. Aber was sehen wir jetzt: Monokultur! Bäume wurden gefällt, um Reis als Monokultur anzubauen.

Welche Bedeutung hat die Unterstützung von Solidaritätsgruppen und Organisationen wie FIAN für ASOMAC?
CCC: FIAN hat uns großartig geholfen, uns neue Wege gezeigt, wie wir unser Recht einfordern können. Dafür sind wir zu großem Dank verpflichtet. Umso mehr, als wir beim Staat kein Gehör für unsere Anliegen gefunden haben. Einer dieser Wege ist die Kleinbauernvereinigung Tierra y Vida (Land und Leben), der wir uns angeschlossen haben, um uns gegenseitig moralisch zu unterstützen und zu sehen, was wir gemeinsam in unseren Kämpfen bewegen können. An diesem Punkt befinden wir uns zur Zeit.

Zum Jahresbeginn ist ein Freihandelsabkommen zwischen Ecuador und der Europäischen Union in Kraft getreten, dem sich Ecuador lange verweigert hatte. Sind die Auswirkungen absehbar?
MVP: Der Freihandelsvertrag, der von der Regierung in Quito beschönigend als Übereinkommen bezeichnet wird, wurde Ende 2016 unterzeichnet, mitten im Wahlkampf, so dass es keine größeren Informationen für die Bevölkerung darüber gab. Die Organisationen der Zivilgesellschaft und ihre Befürchtungen wurden auch nicht im Verhandlungsprozess berücksichtigt. Auch die indigenen Völker wurden bei den sie betreffenden Punkten nicht konsultiert, obwohl sie darauf einen Rechtsanspruch haben. Unsere Erwartungen beruhen auf den Erfahrungen der Nachbarländer Peru und Kolumbien, bei denen dieses Freihandelsabkommen, dem Ecuador nun verzögert beigetreten ist, schon seit Mitte 2013 in Kraft ist. Was sich dort abzeichnet, ist eine Zunahme an Konflikten rund um die Kleinbauern, die durch die Marktöffnung einer europäischen Konkurrenz ausgesetzt sind, der sie nicht gewachsen sind.
In Bezug auf Ecuador müssen wir noch untersuchen, wie sich dieses Freihandelsabkommen auswirken wird. Wir befürchten dasselbe Szenario, wie in Peru und Kolumbien, auch in Ecuador: Sprich, dass eine Zunahme der agroindustriellen Monokultur die Kleinbauern verdrängt und die Konflikte um den Zugang zu Land sich verschärfen, wenn die Türen für Investitionen geöffnet werden. Transnationale Investoren werden vermutlich tausende von Hektar kaufen, um Plantagenwirtschaft in Monokultur zu betreiben. Damit besteht das Risiko, dass die kleinbäuerliche Familienlandwirtschaft verschwindet. Wir müssen sehen, wie sich die Preise bei Milch, Bananen, Früchten, beim Saatgut entwickeln. In Kolumbien gingen schon viele Milchbauern wegen der Einfuhr von EU-Milchpulver Pleite. Die Konkurrenz für und unter den Kleinbauern wird zunehmen.

“DAS URTEIL IST VÖLLIG HALTLOS!”

Am 11. Juli 2016 hat ein paraguayisches Gericht elf Kleinbauern zu Strafen von bis zu 30 Jahren Haft – 40 Jahre mit Sicherheitsverwahrung – für das Massaker von Curuguaty verurteilt. Das Gericht befand die Aktivist*innen schuldig, mehrere Verbrechen begangen zu haben, unter anderem Mord, Besetzung fremden Eigentums und Bildung einer terroristischen Vereinigung. Was halten Sie von diesem Verfahren?

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Aitor Martínez Jiménez hat als Anwalt die Klage gegen Paraguay vor dem Interamerikanischen Gerichtshof vorgebracht. Martínez ist derzeit Professor für Jura an der Universität Nebrija, Madrid, zuvor hatte er einen Lehrauftrag für Menschenrechte an der Autonomen Universität von Asunción, Paraguay. Er hat an der Universität Carlos III in Madrid über internationales Recht promoviert. Aitor Martínez beschäftigt sich mit Paraguay, seit er 2007 für die spanische Botschaft in Paraguay arbeitete. Dabei hat er dauerhafte Kontakte zur paraguayischen Zivilgesellschaft aufgebaut und in mehreren Fällen die Opfer von Menschenrechtsverbrechen verteidigt. Er arbeitet auch für das International Legal Office for Cooperation and Development, das von dem bekannten Juristen Baltasar Garzón geführt wird.


Das Gerichtsverfahren wurde von Anfang an mit einem Ziel geführt, die Kleinbauern zu verurteilen, die Verbrechen gegen die Kleinbauern wurden nicht einmal untersucht. Zivilgesellschaftliche Organisationen haben mehrere schweren Menschenrechtsverbrechen, die während des Massakers von den Sicherheitskräften begangen worden sind, dokumentiert und angezeigt: Es wurden Leichen von Kleinbauern gefunden, denen in den Mund geschossen worden war. Fernsehsender filmten am nächsten Tag Leichen von Kleinbauern, die offensichtlich nach ihrem Tod in Maisfeldern versteckt wurden. Und das sind nur einige Beispiele für die Beweismittel, die wir bei der Staatsanwaltschaft eingereicht haben. Doch die ging nicht darauf ein, von Anfang an ging es nur darum, die Kleinbauern zu verurteilen.

Sie haben 2014 eine Beschwerde gegen Paraguay vor dem Interamerikanischen Gerichtshof gegen das Gerichtsverfahren zum Massaker von Curuguaty vorgebracht. Auf was bezieht sich die Beschwerde konkret?

Dabei geht es vor allem um Verstöße gegen die Amerikanische Konvention für Menschenrechte (CADH). Zum einen wurden die Angeklagten ohne hinreichende Beweise angeklagt und wichtige Beweismittel, die auf dem Tatort gefunden wurden, fanden keine Verwendung. Bei dem Verfahren kam es zu massiven Verstößen gegen die Prozessordnung. Außerdem gab es Verstöße gegen das Menschenrecht, Zugang zur Justiz und gerichtlichen Schutz zu bekommen. Aber die Staatsanwaltschaft hat keine Klagen gegen die involvierten Sicherheitsbeamten angenommen. Polizisten wurden wegen außergerichtlicher Hinrichtungen, Versuch des Verschwindenlassens, Folter und anderer Delikte angezeigt. Mehrere Anzeigen mit umfangreichen Beweismitteln wurden eingereicht, dennoch hat die Staatsanwaltschaft nie in diese Richtung ermittelt. Den Opfern wurde also der Zugang zur Justiz verweigert.

Der Interamerikanische Gerichtshof hat dem paraguayischen Staat im vergangenen Jahr eine Frist von drei Monaten gewährt, um auf diese Beschwerden einzugehen. Was ist daraus geworden?

Die paraguayische Justiz antwortete, dass den Verurteilten noch immer innerhalb Paraguays Rechtsmittel zur Verfügung stünden, deshalb sei der Interamerikanische Gerichtshof noch nicht für den Fall zuständig. Tatsächlich steht im Fall Curuguaty immer noch ein Berufungsverfahren aus, das im August 2016 eingereicht worden ist. Doch die Justiz hat noch nicht darauf reagiert, obwohl die Fristen, die sich die paraguayische Justiz selbst setzt, abgelaufen sind. Es ist also doch so, dass für die Angeklagten keine weiteren Rechtsmittel zur Verfügung stehen, denn es ist ja der paraguayische Staat selbst, der das Berufungsverfahren blockiert.
Gehen wir auf die Einzelheiten des Falls ein. Dem Urteil des Gerichts zufolge hat der Anführer der Landbesetzer, Rubén Villalba, der Polizei eine Falle gestellt und dann den Polizeioffizier Erven Lovera auf kurze Distanz mit einer Schrotflinte erschossen. Daraufhin sei dann ein Schusswechsel ausgebrochen, bei dem weitere 16 Personen starben. Viele zweifeln an dieser Version. Was glauben Sie, was in Curuguaty wirklich passiert ist?
Dem Gericht zufolge hat Rubén Villalba mit einer Schrotflinte auf Erven Lovera geschossen, aber aus dem polizeilichen Gutachten geht hervor, dass aus dieser Flinte gar nicht geschossen worden ist. Man hat die Patronenkammer und den Lauf untersucht und fand keine Schmauchspuren.
Während der Beweiserhebung wurde der Antrag gestellt, die Fingerabdrücke der Angeklagten mit denen zu vergleichen, die man auf dieser und anderen beschlagnahmten Waffen gefunden hat. Aber das wurde einfach nicht gemacht, ein eklatanter Mangel an Sorgfalt. Und das sind nur einige krasse Beispiele für die Unstimmigkeiten in diesem völlig haltlosen Urteil. Was wirklich in Curuguaty passiert ist, kann man deshalb nicht wissen. Die Staatsanwaltschaft, also die Institution, die den Auftrag hatte, die Geschehnisse zu untersuchen, hat ihre Aufgabe nicht erfüllt.

Sie berichteten von unterdrückten Beweismitteln, das ging auch durch die Presse. Können sie noch mehr Beispiele für Beweismittel geben, die einfach „verschwunden“ sind?

Wenn man den Bericht über die Beweismittelsammlung am Tatort mit dem Bericht über die Beweismittel vergleicht, für die forensische Gutachten erstellt wurden, sieht man sofort, dass die nicht zusammenpassen. Es gibt Beweismittel, die am Tatort gesammelt worden sind, die aber nicht begutachtet wurden. Andere Gegenstände wurden nicht am Tatort gesammelt, aber dennoch gibt es Gutachten über sie.
Auf der anderen Seite tauchen fundamental wichtige Beweismittel nirgendwo auf, wie etwa die Videoaufnahmen, die vom Helikopter aus gemacht wurden, der die Polizeioperation begleitete. Ebenso die vielleicht wichtigsten Beweismittel, die hunderten Patronenhülsen vom NATO-Kaliber 5,56mm, die am Tatort gefunden worden sind. Diese Patronen werden in automatischen Waffen verwendet. Über Monate hinweg hat der Staatsanwalt Jalil Rachid behauptet, dass nur Munitionshülsen von Schrotflinten gefunden wurden. Videoaufnahmen eines Fernsehsenders zeigen aber, wie er selbst Taschen voller 5,56mm Patronenhülsen am Tatort entgegennimmt.

Nichtregierungsorganisationen, wie etwa die Koordination Menschenrechte Paraguay CODEHUPY kritisieren die Rolle, die der Staatsanwalt Jalil Rachid in dem Fall gespielt hat. Wie bewerten Sie dir Rolle von Jalil Rachid? War es eine politische Entscheidung, ihm den Fall zu übertragen?

Wenige Tage nach dem Vorfall, als bekannt wurde, dass das Parlament ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Fernando Lugo wegen des Massakers anstrengen wird, wurde der zuständige Staatsanwalt ausgetauscht. So kam Jalil Rachid an den Fall. So wurde sichergestellt, dass die Justiz die Argumentation, mit der die Absetzung Lugos begründet werden sollte, bestätigt: Dass Kleinbauern, die durch Lugos Politik für eine Landreform radikalisiert worden seien, die Polizei angegriffen hätten.
Jalil Rachid ist der Sohn von Bader Rachid, dem ehemaligen Vorsitzenden der Colorado-Partei, die für die Absetzung Lugos gestimmt hatte. Und Jalil Rachid ist selbst Parteimitglied der Colorados. Er war also ein Vertrauensmann für die Opposition.
Darüber hinaus ist die Familie Rachid befreundet mit der Familie des verstorbenen Blas N. Riquelme, der auch ein ehemaliger Vorsitzender der Colorados war. Riquelme war der vorgebliche Besitzer des Grundstücks Marina Kué.

Wenige Monate nach dem Massaker von Curuguaty hat das Unternehmen Campos Morombi das Grundstück Marina Kué  dem paraguayischen Staat „geschenkt“, obwohl es ja eigentlich nie offiziell dem Unternehmen gehört hat. Warum wurde das gemacht? Wie bewerten sie die Tatsache, dass der Staat dieses „Geschenk“ angenommen hat?

Offensichtlich war das ein juristisches Manöver. Während der mündlichen Verhandlung des Massakers wurde schnell klar, dass das Unternehmen Campos Morombi sich das Grundstück illegal angeeignet hatte. Die Landbesetzer waren also im Recht. Wenn das juristisch festgestellt worden wäre, hätte man die Kleinbauern nicht wegen Besetzung fremden Eigentums belangen können. Und man hätte Untersuchungen gegen Campos Morombi und gegen die Richter und Staatsanwälte einleiten müssen, die im Juni 2012 die Räumung befohlen hatten.
Dieser Trick wurde aus folgendem Grund angewandt: Campos Morombi überschrieb das Grundstück dem Staat, und der nahm das Grundstück an. Nur auf dieser Grundlage konnte das Gericht argumentieren, dass zum Zeitpunkt der Besetzung das Land der Firma Campos Morombi gehörte und dementsprechend die Kleinbauern verurteilen.

Derzeit existiert ein weiterer Landkonflikt um einige Grundstücke in Guahory, die sich einige Farmer mit brasilianischem Migrationshintergrund illegal angeeignet haben. Was für eine Verbindung sehen Sie zwischen diesem aktuellen Fall und dem von Curuguaty?

In dem Fall von Guahory vertrete ich ebenfalls die Opfer vor dem Interamerikanischen Gerichtshof, das sind ungefähr 200 Familien. In diesem Fall haben wir eine einstweilige Verfügung beantragt, damit das Gericht interveniert. Die Familien wurden auf brutale Weise enteignet, wobei gegen jede Rechtsstaatlichkeit verstoßen wurde.
Die Räumung von Guahory wurde ohne gerichtliche Verordnung durchgeführt und von den Agrarunternehmern dieser Region finanziert, die offen zugegeben haben, dass sie die Sicherheitskräfte dafür bezahlt haben. Außerdem haben diese Agrarunternehmer sich aktiv an der Polizeiaktion beteiligt, indem sie die Hütten der Kleinbauern mit ihren Traktoren und Bulldozern zerstörten, mit dem einzigen Ziel, sich umstrittene Grundstücke anzueignen.
Der Fall von Guahory zeigt, wie der Staat und seine Institutionen vor den Interessen einer kleinen unternehmerischen Oligarchie zurückweichen.
In Curuguaty wurde nach demselben Modell vorgegangen. Das Grundstück Marina Kué gehörte dem Staat und war eigentlich für eine Landreform vorgesehen. Dennoch hat die Firma Campos Morombi – die dem Ex-Vorsitzenden der Colorados, Blas N. Riquelme gehörte – sich dieses Grundstück einfach angeeignet. Am Ende hat die Macht dieses privaten Unternehmens erreicht, dass eine illegale Räumung der Landbesitzer in einer Tragödie endete.
Man sieht: Die Parallelen sind deutlich. Sie korrespondieren mit dem wichtigsten strukturellen Problem in Paraguay, der extremen Ungleichheit der Landverteilung. Man muss daran denken, dass in diesem Land etwa 89 Prozent des Landes etwa zwei Prozent der Landbesitzer gehört.

„WIR GEBEN UNSER LAND NICHT AUF“

Unser Kleinbus schaukelt durch die Schlaglöcher einer Schotterpiste. Ab und zu bricht ein kurzer Regenschauer über uns herein. Je weiter wir uns von der Hauptstadt Tegucigalpa nach Norden Richtung Atlantikküste begeben, desto flacher wird es, umso tropischer werden die Temperaturen. Nach neun Stunden Fahrt sind wir froh, die erste Station unserer dreiwöchigen Reise zu erreichen: Trujillo, die ehemalige Hauptstadt zu frühkolonialen Zeiten. Wir, das sind sechs Menschen aus Honduras, Spanien und Deutschland, die sich in der Solidaritätsbewegung HondurasDelegation engagieren. Wir haben uns für diese Reise zusammengetan, um uns ein Bild von der aktuellen Menschenrechtslage in Honduras zu machen und in Deutschland darüber zu berichten. Seit dem Putsch 2009 ist es bereits die fünfte HondurasDelegation. Aus den Reisen entstanden zahlreiche Berichte, Filme und eine Fülle von Kontakten. Jede Delegation hatte andere Schwerpunkte, wir interessieren uns besonders für den Kampf der indigenen Bevölkerung um ihre Landrechte.

Fotos: Rita Trautmann

In Trujillo erwarten uns blauer Himmel und strahlender Sonnenschein. Das Meer liegt ruhig in der Bucht. Das Städtchen ist auf einer kleinen Anhöhe gelegen und neben einem Denkmal für Christoph Kolumbus, der hier 1502 erstmals den amerikanischen Kontinent betrat, haben wir einen guten Blick über die Bucht. Wir treffen Malvin Morales, Aktivist bei OFRANEH (Organización Fraternal Negra Hondureña), der Bewegung der afro-indigenen Garifuna. Malvin begrüßt uns herzlich und berichtet sofort von den Landkonflikten in der Bucht: „Wir haben als Garifuna seit 1901 kollektive Landtitel, die der damalige Präsident Manuel Bonilla ausstellte. Doch nach und nach hat man uns dieses Landes beraubt.“ Er zeigt auf die gegenüberliegende Landzunge: „Dort befand sich mein Dorf Puerto Castilla. Wir mussten der staatlichen Hafengesellschaft weichen und haben dabei einen guten Teil unseres Landes verloren. Nun wohnen wir südlich vom Hafen und sind wieder von einer Umsiedlung bedroht.“ Wir spähen gegen das Sonnenlicht herüber und können Umrisse der riesigen Container im Hafen erkennen. Von dort werden Bananen von den Plantagen in die USA verschifft.

Die Garifuna sind Nachfahren der karibischen Arawak-Indigenen und afrikanischer Versklavter, die Ende des 18. Jahrhunderts von englischen Kolonisator*innen nach Honduras deportiert wurden. Von dort aus besiedelten sie die Küste Zentralamerikas zwischen Belize und Nicaragua. Die meisten leben in 46 Gemeinden der honduranischen Karibikküste. Seit mehreren Jahren plant die honduranische Regierung in der Bucht von Trujillo eine sogenannte ZEDE (Zona de Empleo y Desarrollo Económico), auch bekannt als „Modellstadt“ oder Sonderwirtschaftszone (LN 466), die zusätzlich Investor*innen anlockt. „Alle Gemeinden sind von diesen Plänen gefährdet. Dazu kommen illegale Landverkäufe an Privatinvestoren“, fährt Malvin fort. „Auf der westlichen Seite der Bucht sind die Gemeinden Santa Fé, San Antonio und Guadelupe von Landraub durch einen kanadischen Investor betroffen“. Was all dies für die Garifuna-Gemeinden bedeutet, wird schnell klar. Sie werden vertrieben und verlieren ihre Lebensgrundlage, die vor allem auf Fischfang und kleinbäuerliche Landwirtschaft basiert. Die Regierung übt Druck auf die Garifuna aus: Während Malvin von den Regierungsplänen zur Schaffung der sogenannten Modellstadt in der Bucht von Trujillo berichtet, patrouillieren ständig Militärs an uns vorbei. Er lässt sich davon allerdings nicht beeindrucken.

Bereit zum Rückerobern: Landaktivist Malvin Morales

Malvin hat sich OFRANEH angeschlossen, um die kollektiven Landrechte der Garifuna zu verteidigen und bereits geraubtes Land zurückzugewinnen. Bevor die Sonne höher steigt und es noch wärmer wird, machen wir uns mit ihm auf den Weg, um zwei der OFRANEH-Projekte zur Landrückgewinnung, sogenannte recuperaciones, zu besuchen. Wir fahren einen malerischen, aber unbefestigten Küstenweg entlang und treffen Carmen Alvarez, ebenfalls Aktivistin bei OFRANEH. Sie erzählt uns, wie die Garifuna-Gemeinden Teile ihres Landes verloren: „Unsere Landwirtschaft funktioniert so, dass wir nicht alles Land gleichzeitig bebauen, sondern immer einen Teil des Landes brachliegen lassen. Die Brachen  wurden nach und nach von anderen besetzt und, wenn wir dort im Folgejahr etwas anbauen wollten, war das Land bereits eingezäunt. Hinzu kommt, dass staatliche Behörden, besonders die Gemeindeverwaltung von Trujillo, korrupt sind. Sie verkaufen Land, das uns gehört, ohne uns zu fragen. Sie erkennen unseren kollektiven Landtitel von 1901 einfach nicht an. So konnte zum Beispiel Randy Jorgensen unser Land kaufen.“

Jorgensen, ein als „Porno-König“ bekannter Kanadier, nutzt seine Nähe zu konservativen Politikern in Honduras, um sich im großen Stil Land für Tourismusprojekte anzueignen. „Er versprach den Gemeinden, dass sie vom Tourismus profitieren würden. Und der einzige, der verdient, ist Randy“, berichtet Carmen. Auf dem Weg zur recuperación des Dorfes Guadelupe kommen wir an mehreren neuen Luxus-Altersresidenzen für Rentner aus dem globalen Norden vorbei, die sich in seinem Besitz befinden. In direkter Nachbarschaft zu einer dieser Residenzen, die hinter Mauern und mit Sicherheitspersonal gut vor Blicken von außen abgeschirmt ist, liegt das Gelände des Projektes. Ein großes Banner mit der Aufschrift: „Unsere Kultur und unser Land sind nicht zum Verkauf! – OFRANEH“ kündigt es an. Wir werden bereits von einer Gruppe junger Menschen aus Guadelupe erwartet. Einige Frauen haben in einer provisorischen, mit Plastikplanen überdachten Küche Essen zubereitet. Auf dem Grundstück der recuperación stehen fünf fertige Häuser, an weiteren wird gebaut.

Tatort Landraub: Puerto Castilla

Von den rund 30 jungen Menschen, die sich an diesem OFRANEH-Projekt beteiligen, hatten viele den Traum vom großen Glück in den USA. Sie wurden deportiert oder kamen nie bis zur Grenze. Ohne Besitz und ohne Aussicht auf Arbeit kehrten sie zurück und schlossen sich den Landprojekten an. Einer von ihnen, Darwin Arriola, erzählt von seiner Motivation: „Ich kam bis Mexiko, hatte kein Geld mehr und wusste nicht mehr weiter. Ich hatte Hunger und Durst und hoffte darauf, dass mir jemand etwas geben würde, ich habe geweint. Es war ein furchtbar entwürdigender Moment. So etwas möchte ich nie mehr erleben. Ich bin froh wieder hier zu sein und möchte arbeiten, deshalb habe ich mich der recuperación angeschlossen.“ Die meisten Menschen in diesem Projekt haben zuvor nicht in der Landwirtschaft gearbeitet. Wir sind beeindruckt, wie viel Kraft und Arbeit sie in die Nutzbarmachung des Landes stecken. Ausführlich zeigen uns einige aus der Gruppe das Gelände: Hier eine kleine Pflanzung von Bananen, dort Maniok. Sie wissen, dass das Land ihnen die einzige Chance bietet, um zu überleben. Deshalb gehen sie die Risiken ein, die damit verbunden sind.

Malvin erzählt uns, dass OFRANEH und die Aktivist*innen, die bei den recuperaciones dabei sind, kriminalisiert, verfolgt und eingeschüchtert werden. Alle Projekte in der Bucht haben bereits Räumungsversuche der Polizei erlebt, auch wenn es rechtlich dafür keine Grundlage gibt. Medelín David Hernández, eine der Aktivist*innen aus Guadelupe, wurde im November von der Polizei unrechtmäßig verhaftet und misshandelt. Dennoch lässt sie sich nicht einschüchtern: „Wir haben Gruppen gebildet und wechseln uns hier auf der recuperación ab, so dass eine Gruppe im Dorf ist und die andere hier arbeitet, so ist immer jemand auf diesem Grundstück. Es ist unser Land und wir werden es nicht aufgeben.“ Medelín David Hernández wurde wegen Landbesetzung angezeigt. Während sie erzählt, hält sie ihren kleinen Sohn an der Hand. Er ist für Medelín eine große Motivation, das Land zu verteidigen. Bei den Gesprächen mit den Aktivist*innen merken wir kaum, wie schnell die Zeit vergeht. Aber da der Weg von Guadelupe nach Trujillo nicht beleuchtet ist, müssen wir noch vor der Dämmerung aufbrechen.

Gemeinsam stark: OFRANEH-Aktivistin Medelín David Hernández mit ihrem Sohn 

Am folgenden Tag besuchen wir Puerto Castilla auf der Landzunge, die sich östlich von Trujillo um die Bucht erstreckt. Die nicht weit entfernten Bananenplantagen und der Hafen machen das Garifuna-Land attraktiv für Investitionen verschiedenster Art. Wir fahren durch das Dorf und wir ahnen, wie dringend für die Bewohner*innen die Rückgewinnung ihres Landes ist. Die Häuser stehen dicht gedrängt, es gibt keinen Platz für Hausgärten, manchmal nicht einmal Platz, um Wäsche hinter dem Haus aufzuhängen. Malvin, der selbst aus Puerto Castilla stammt, bestätigt dies: „Wir alle haben Kinder, aber wir haben nicht genug Häuser und wir haben nicht einmal mehr ein kleines Stück Land, um Maniok anzubauen. Was sollen wir unseren Kindern geben? Und das, obwohl wir die Landtitel für viel größere Flächen besitzen.“ *Es bleibt noch viel zu tun, bis diese Titel und das Recht der Garifuna auf Land wieder respektiert werden

PUTSCH MIT ANSAGE

Foto: Antonio Augusto
Foto: Antonio Augusto

Wenn sich alte Männer als Protagonisten eines historischen Moments wähnen, dann wird es schnell pathetisch und peinlich. Die Abstimmung der Abgeordnentenkammer über das Amtsenthebungsverfahren der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff bildete da keine Ausnahme. Vor allem die Befürworter eines vorzeitigen Endes von Rousseffs Amtszeit und einer von der Arbeiterpartei (PT) geführten Regierung, angekleidet mit grün-gelben Schärpen oder eingehüllt in die Flaggen ihrer Bundesstaaten, wähnten sich wohl auf einer Art parlamentarischen Oscarverleihung: Ich widme mein Ja (A) der Zukunft, (B) meiner Frau, (C) allen Evangelikalen oder gar (D) unserer Verfassung.
Spätestens als die Verfassung ins Spiel kam, verlor die Vorstellung an Komik und erinnerte die Zuschauer*innen daran, hier nicht einer Preisverleihung, sondern einem politischen Schauprozess beizuwohnen. Bereits vorher dürften aufmerksame Beobachter*innen des zehnstündigen Abstimmungsmarathons von den frauenfeindlichen Zwischenrufen schockiert gewesen sein, wann immer eine Abgeordnete an das Mikrofon trat und es wagte, das Impeachment offen als „Putsch“ zu kritisieren. Doch es blieb dem Abgeordneten Jair Bolsonaro von der Christlich-Sozialen Partei (PSC) vorbehalten, während der stundenlangen Abstimmung den Tiefpunkt politischer Geschmacklosigkeit zu formulieren. Seine Ja-Stimme widmete Bolsonaro dem berüchtigten Folterer Carlos Alberto Brilhante Ustra, „der es Dilma [Rousseff] gegeben hat“, als sie während der Diktatur von der Geheimpolizei festgehalten und gefoltert wurde.
Am 17. April haben es nun also 376 der versammelten 511 Parlamentarier*innen Rousseff erneut gegeben. Worin genau ihr „Verbrechen der Verantwortung” besteht, das die verfassungsrechtliche Absetzung legitimiert, ist jedoch ziemlich unklar. Ob die 68-Jährige von den als “pedaladas fiscais” bekannt gewordenen Manipulationen öffentlicher Bilanzen im Finanzministerium aus dem Jahr 2014 wusste, ist weiterhin offen. Aber so dünn die Beweislage sein mag, so umfassend ist das Bestreben der rechten Parteien, die regierende PT in den letzten Monaten zu diskreditieren. Bereits vor ihrer Wiederwahl hatte die Präsidentin mit scharfen Angriffen der brasilianischen Presse zu kämpfen. Nach ihrem knappen Wahlsieg im Oktober 2014 übten sich die großen Medienunternehmen, allen voran der TV-Riese Rede Globo, gemeinsam mit der unterlegenen neoliberalen PSDB in einer permanenten Destabilisierungskampagne. Der im März 2015 bekannt gewordene Korruptionsskandal beim halbstaatlichen Erdölkonzern Petrobras und der „kleine Putsch“ des Koalitionspartners PMDB, der seit Monaten nur der rechten Opposition Mehrheiten verschafft, stürzte die Regierung endgültig in die Krise.
Der Bruch der PMDB und die einseitige Medienberichterstattung sickern allerdings nicht völlig unreflektiert in die Köpfe der brasilianischen Bevölkerung. Wenige Tage vor dem Impeachment äußerten in einer Umfrage des Instituts Vox Populi 50 Prozent der Befragten das Verfahren sei „oppositioneller Opportunismus“, 49 Prozent betrachteten es als Racheakt von Parlamentspräsident Eduardo Cunha (PMDB). Racheakt? Ohne sich auf das moralistische Minenfeld zu begeben, das den derzeitigen Boden der politischen Debatte Brasiliens bildet, ist auffällig, dass Cunha die Bestrebungen eines Amtsenthebungsverfahrens intensiviert hat, seit die PT-Abgeordneten mit ihren Stimmen die parlamentarische Ethikkommission ermächtigt haben, auch gegen ihn wegen Korruption und Geldwäsche zu ermitteln.
Und dies bevor Cunhas Name in den Panama Papers auftauchte. Dass zudem 80 Prozent der Parlamentarier*innen, gegen die derzeit wegen Korruption ermittelt wird, mit ihren Stimmen das Impeachment unterstützten, ist außerdem auffällig. Sowohl die PMDB, die im Falle einer Absetzung Rousseffs den Großteil der künftigen Minister*innen stellen würde, als auch die PSDB, die diese dann unterstützen würde, erklärten am Tag nach der Abstimmung, dass die Ermittlungen in jedem Fall weiterlaufen werden.
Nahezu unmöglich ist es dagegen, das Impeachment nachträglich auf seine Rechtsmäßigkeit zu prüfen. Die Beschreibung eines „kalten Putschs“ ist eine rhetorische und keine juristische Figur. Es ist ein Machtwechsel, der ohne ein symbolisches Muskelspiel des Militärs auskommt, wie es die honduranische Rechte im Jahr 2009 ausführte, als Uniformierte den amtierenden Präsidenten Manuel Zelaya im Schlafanzug aus dem Haus trieben. Die „neoputschistischen Strategien“, wie sie die argentinische Politikwissenschaftlerin Magdalena López nennt, sind subtiler. Sie werden„von der Rechten in Allianz mit den großen Medien genutzt“ und „korrodieren die Legitimität [einer Regierung] auf diskursive Weise“, so López auf dem Nachrichtenportal Opera Mundi. Eine Blaupause stellt für López dabei die Entmachtung des paraguayischen Präsidenten Fernando Lugo vor vier Jahren dar, auch wenn die Taktik von Fall zu Fall variiere. So war die Fähigkeit Lugos zu regieren zwar monatelang medial in Zweifel gezogen und insgesamt 23-mal versucht worden, rechtlich gegen ihn vorzugehen. Das entscheidende „politische Gerichtsverfahren“, bei dem ihm die Verantwortung an einem Landkonflikt mit mehreren Toten zugewiesen wurde, wurde aber schließlich handstreichartig und in seiner Abwesenheit durchgeführt.
Anders liegen die Dinge in Brasilien, wo von langer Hand ein komplexer Plot geschmiedet wurde. Die Ereignisse ließ sogar die Autoren der US-Polit-Fernsehserie House of Cards zu dem Kommentar hinreißen, ab jetzt täglich die brasilianische Innenpolitik zu verfolgen, weil selbst sie sich solche Geschichten nicht ausdenken könnten. Gastauftritte im brasilianischen Politkrimi hatten dabei unter anderem der ehemalige Präsident Fernando Henrique Cardoso, der seinen letzten Rest moralischer Autorität darin verwirkte als einer der ersten einer Amtsenthebung das Wort geredet zu haben. Auch der Popsänger Lobão, einstiger Wahlhelfer Lulas und heute bekannt als “Pitbull der großen Medien”, nutzte seine öffentlichen Auftritte, um beständig für einen vorzeitigen Regierungswechsel zu mobilisieren. Die Liste lässt sich um prominente Namen und Institutionen ergänzen, von Fußballpromi Ronaldo bis hin zur brasilianischen Anwaltskammer , die schon den Putsch 1964 unterstützte.
Entscheidend dafür, dass nach 50 erfolglosen Anläufen seit Jahresbeginn jetzt ein Impeachment-Verfahren eröffnet wird, war sicher auch das Agieren von Bundesrichter Sérgio Moro, der monatelang emsig bemüht war, PT-Ikone Lula da Silva vom Sockel zu stoßen. Als dieser im April kurz davor stand von Rousseff zum Minister berufen zu werden, spielte Moro dem Medienriesen Rede Globo den Mitschnitt eines Telefongesprächs der beiden zu, der so interpretiert wurde, als habe die Präsidentin ihren einstigen politischen Ziehvater vor der Justiz retten wollen. Ein Teil von Moros Ermittlungsstrategie bestand, wie die Wochenzeitung Carta Capital schreibt, von Beginn an darin, Politiker*innen, die unter Korruptionsverdacht stehen, öffentlich in Misskredit zu bringen, um sie unter Druck zu setzen und von künftigen Ämtern fernzuhalten. Persönliche Telefonate der Präsidentin abhören – als das die NSA machte, schäumte ganz Brasilien. Moros Abhöraktion wird dagegen von Bundesstaatsanwalt Rodrigo Janot als „wahrscheinlich rechtens“ bezeichnet. „In einem Land voller Minirichter ist der Oberrichter König“, war nur einer von vielen spöttischen Kommentaren, die sich mit der gesellschaftlichen Wahrnehmung der politischen Krise Brasiliens beschäftigten.
Nicht nur in sozialen Netzwerken, auch beim Bäcker, am Kiosk und natürlich in Bars wird philosophiert und psychologisiert. Brasilien auf der Couch – und nie fehlt in den spontanen Debatten zwischen öffentlichen Angestellten, Zeitungsverkäufern, Hausangestellten und anderen Zeitgenoss*innen jemand, der an die guten Seiten der Diktatur erinnert. Das Gespenst des Putsches sei jedoch nicht nur ein Begehren auf Seiten der politischen Rechten, analysiert der brasilianische Sozialwissenschaftler Diego Viana in seinem Online- Artikel Golpes e Desejos („Staatsstreiche und Begierden“) Selbst in der Linken macht er dieses Verlangen aus und zwar als „etwas, das seit langer Zeit präsent ist, in der Anstrengung ein Bild vom Duo Lula-Dilma zu schaffen, das aus ihnen eine Art neuer Jango-Regierung [der linke Präsident João „Jango“ Goulart wurde 1964 von einem Militärputsch aus dem Amt gedrängt, Anm. d. Red] macht, die von einem Rudel tollwütiger Rechter umzingelt ist, bereit sofort loszuschlagen, wenn sie Blut riechen.“
Es ist nicht zu leugnen, dass die PT in den vergangenen Wochen vor allem auf Polarisierung anstatt auf Dialog gesetzt hat. Ex-Präsident Lula versuchte in den letzten Wochen verzweifelt, den Kontakt zu den sozialen Bewegungen zu kitten und erschien auf Demonstrationen und Treffen mit Landlosen, Kleinbäuer*innen oder Gewerkschaften. Dabei beschrieb der ehemalige Gewerkschaftsführer die PT-Fahne als Banner von „Jesus“ und hob die historische Verpflichtung der Arbeiterpartei mit der Agrarreform hervor – wohl wissend, dass Rousseff mit Kátia Abreu eine der glühendsten Lobbyistinnen des Agrobusiness zur Landwirtschaftsministerin gemacht hat. Sicherlich hat die PT in ihrer mehr als 12-jährigen Regierungszeit in der Sozialpolitik viele Akzente gesetzt, doch der Motor ihrer Wohlfahrtsprogramme war und ist ein extraktivistisches Entwicklungsmodell, begleitet von einem Burgfrieden mit den traditionellen Eliten des Landes. An eine Agrar- und Medienreform hat die PT sich nie herangewagt.
Ehemalige politische Weggefährtinnen wie Marina Silva, eine frühere PT-Umweltministerin, oder Luiza Erundina, Kongressabgeordnete und einstige Bürgermeisterin von São Paulo, haben inzwischen eigene Parteien gegründet. Auch Guilherme Boulos, Koordinator der Wohnungslosenbewegung MTST machte kürzlich noch einmal deutlich, dass seine Organisation zwar gegen die „Putschversuche“ auf die Straße gehe, aber die Linke zugleich vor der Herausforderung stehe, „eine Unabhängigkeit und in gewisser Weise auch einen Konfrontationskurs zur Regierung aufrechtzuerhalten.“ Für Boulos ist klar, dass in Brasilien eine linke Ära  zu Ende gehe: „Die Herausforderung, der wir uns jetzt stellen müssen, ist die Konstruktion einer neuen Basisbewegung, die zur Grundlage ein politisches Programm hat, das Privilegien bekämpft, strukturelle politische Reformen und die Radikalisierung der brasilianischen Demokratie vorantreibt – kurzum ein neues Programm der Linken.“
Die voraussichtlich bald suspendierte Präsidentin Rousseff schaut derweil nicht so weit in die Zukunft. In Hinblick auf die Abstimmung im Senat, wo Mitte Mai über eine Fortsetzung der Amtsenthebung entschieden wird, hat sie angekündigt, anders als der 32. Präsident Brasiliens, Fernando Collor de Mello, nicht vorzeitig das Handtuch zu werfen. „Ich habe genug Mut und Kraft. Ich lasse mich nicht kleinkriegen,“ sagte sie auf einer Pressekonferenz am 18. April. „Ich werde weiter kämpfen, so wie ich es mein ganzes Leben getan habe. Jetzt muss ich mich eben einem Staatsstreich stellen.“

„Eine Tür in Richtung Frieden“

Die Friedensverhandlungen begannen im Herbst 2012, zehn Jahre nachdem die letzten Gespräche zwischen FARC und der damaligen Regierung unter Andrés Pastrana im kolumbianischen San Vicente de Caguán gescheitert waren. Zum ersten Mal wird nun auch die Entwaffnung der Guerillakämpfer_innen verhandelt. Ziel ist, anhand von fünf Diskussionspunkten einen dauerhaften Friedensprozess in Kolumbien einzuleiten.
Nach zähen Verhandlungen verkündeten die Repräsentant_innen von FARC und Regierung im Mai 2013 eine Einigung im ersten Punkt der Agenda, der Agrarreform. Das Thema der Landverteilung gilt als Dreh- und Angelpunkt, um den bewaffneten Konflikt zu lösen. Bis heute befinden sich laut einem Bericht der Vereinten Nationen mehr als 50 Prozent des Landes in den Händen von 1,15 Prozent der Bevölkerung. Der Landkonflikt zieht sich durch die letzten Jahrzehnte der kolumbianischen Geschichte – die FARC hatten sich 1964 gerade wegen dieser Problematik aus einer ursprünglich bäuerlichen Selbstverteidigungsgruppe gegründet.
Doch bereits kurz nach der Einigung im Juli 2013 unterzeichnete die Regierung ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union, das als Fortsetzung ihrer bisherigen Wirtschaftspolitik gesehen werden kann und die ungleiche Landverteilung eher zementiert als auflöst. Wenige Tage nach Inkrafttreten der Freihandelsbeschlüsse legte daher ein landesweiter Agrarstreik große Teile Kolumbiens lahm. Unzählige weitere Berufsgruppen und soziale Bewegungen solidarisierten sich mit den bäuerlichen Protesten, sodass die Regierung keine andere Lösung sah, als Teile der Bestimmungen zurückzunehmen. Nicht jedoch, ohne vorher die Proteste gewaltsam niederzuschlagen und die Hauptstadt Bogotá mit 50.000 Soldat_innen besetzen zu lassen – was einem faktischen Ausnahmezustand gleichkam. Abilio Peña, Aktivist der ökumenischen Nichtregierungsorganisation Justicia y Paz (Gerechtigkeit und Frieden), kommentierte dies kürzlich auf einer Veranstaltung in Berlin mit den Worten: „Die Verhandlungen sind eine Tür, die sich in Richtung Frieden öffnet. Man sollte meinen, auch die Politik will den Frieden. Aber die Niederschlagung sozialer Proteste lässt uns immer wieder daran zweifeln.“
Genau jene Kriminalisierung des zivilen Protests war dann einer der Hauptdiskussionsgegenstände bei der Verhandlung des zweiten Punkts der Friedensagenda. Nach Ablauf der mittlerweile 16. Gesprächsrunde verkündeten Vertreter_innen der FARC und der Regierung Anfang November eine Einigung im Bereich der politischen Partizipation (siehe dazu die Interviews in der aktuellen Ausgabe). Vor allem die Sicherheitsgarantien und Rechte für oppositionelle Parteien waren lange diskutiert worden. Die FARC-Guerilla beharrte auf der Entkriminalisierung des sozialen Protests und einer stärkeren Kontrolle der staatlichen Spezialeinheit zur Aufstandsbekämpfung (ESMAD). Letztere kam auch im Zusammenhang mit den Agrarprotesten zum Einsatz und ist laut internationalen Menschenrechtsorganisationen für ihre extreme Gewaltbereitschaft bekannt. In den erst teilweise veröffentlichten Entwürfen des gemeinsamen Berichts werden verschiedene Methoden vorgeschlagen, um soziale Bewegungen verstärkt in die Politik mit einzubeziehen. Dennoch bemängeln Vertreter_innen der Zivilgesellschaft, dass die Bevölkerung immer noch nicht ausreichend am Friedensprozess beteiligt werde. Iván Mar­quéz, Vertreter der FARC, betonte, es müsse Raum gelassen werden, damit „die Öffentlichkeit die definitive Ausrichtung [der politischen Partizipation] vorgeben“ könne. Auch sitzt die zweitgrößte Guerillaorganisation Nationale Befreiungsarmee (ELN) trotz gegenteiliger Bekundungen ihrerseits noch immer nicht mit am Verhandlungstisch.
Überschattet wurden die Verhandlungen von Anfang an von einer Reihe militärischer Auseinandersetzungen zwischen den FARC und dem kolumbianischen Militär. Trotz einer zu Beginn des Prozesses vereinbarten Waffenruhe kam es seit Anfang 2013 immer wieder zu gewaltsamen Offensiven zwischen Militär und FARC, in deren Verlauf Opfer auf beiden Seiten zu beklagen waren. So wurde die Glaubwürdigkeit des Friedensprozesses immer wieder nachhaltig untergraben.
Dennoch verkündete die linke Partei Patriotische Union (UP) kurz nach der Veröffentlichung der Entwürfe zur politischen Partizipation, dass sie wieder auf die politische Bühne treten werde. Die Partei war in Zusammenhang mit Amnestievereinbarungen 1984 unter anderem aus dem politischen Arm der FARC und der kommunistischen Partei hervorgegangen. Seit Ende der 1980er Jahre war sie einer beispiellosen Verfolgung ausgesetzt. Neben ihren beiden Präsidentschaftskandidaten Bernardo Jaramillo und Jaime Pardo Leal wurden mehr als 5.000 ihrer Mitglieder ermordet; die Mehrzahl von Paramilitärs. Nachdem sie ihre Spitzenkandidat_innen verloren hatte, versank die UP in den 1990er Jahren in der politischen Bedeutungslosigkeit, bis ihr 2002 die Anerkennung als Partei entzogen wurde. Durch einen langen juristischen Prozess hat sie diese nun wiedererlangt und will im nächsten Jahr mit der Kandidatin Aída Abella zur Präsidentschaftswahl antreten. Seit einem Attentatversuch im Jahr 1996 hatte Abella im Exil in Genf gelebt. Piedad Cordóba, Vertreterin der Basisorganisation Marcha Patriótica, verkündete: „Aída ist ein Hoffnungssymbol. Ihre Kandidatur ist ein Symbol der Würde und zeigt, dass der Frieden tatsächlich in greifbare Nähe rückt. Es ist ein Schritt zur Einheit aller linken Bewegungen“. So wird, auch wenn das geltende Wahlrecht Koalitionen verbietet, aktuell die Möglichkeit einer gemeinsamen Kandidatur der drei linken Parteien nicht ausgeschlossen: UP, die Grüne Partei und der demokratische Pol (PDA) könnten demnach gemeinsam antreten.
Kürzlich begannen nun die Diskussionen zum eigentlich vierten Punkt der Friedensagenda, der Drogenpolitik. Die anderen beiden Themen, die Entschädigungen der Opfer des bewaffneten Konfliktes und die Demobilisierung der bewaffneten Gruppen, wurden bereits im Rahmen der bisherigen Verhandlungen teilweise verhandelt, aber nicht abgeschlossen. Angesichts der Wahlen im kommenden Frühjahr gerät die Regierung Santos nun zunehmend unter Zeitdruck.

Neue Mitspieler, aber noch die selben Regeln

Am 24. November können rund 5,3 Millionen Honduraner_innen den nächsten Präsidenten bzw. die nächste Präsidentin, 128 Kongressabgeordnete und die Regierungen der Landkreise wählen. Die Wahlen, zu denen insgesamt neun Parteien antreten, finden dabei zu einem höchst konfliktreichen Zeitpunkt statt und spitzen die Lage in Honduras weiter zu. Das mittelamerikanische Land befindet sich aktuell in einer schweren politischen, ökonomischen und sozialen Krise. Die sogenannte Regierung der Versöhnung unter Porfirio Lobo hat das Land nach dem zivil-militärischen Putsch im Juni 2009 noch weiter in die Krise gesteuert und der Putsch wurde institutionalisiert. Honduras ist aktuell das Land mit der höchsten Mordrate weltweit, die Staatskassen sind leer, Korruption und Straflosigkeit schreiten voran und die Verarmung der Bevölkerung nimmt weiter zu. Die öffentliche Sicherheit wird zunehmend militarisiert und friedlicher Protest mit Repression beantwortet. In den nächsten Monaten vor den Wahlen erwarten Beobachter_innen einen weiteren Anstieg der politischen Gewalt und Repression, vor allem gegen Aktivist_innen und Kandidat_innen der neu gegründeten Linkspartei LIBRE.
Die kommenden Wahlen in Honduras werden als historisch angesehen. Vier neue Parteien wurden nach dem Putsch gegründet und erstmals sieht es so aus, als könnte die Herrschaft der tradi­tionellen Parteien durchbrochen werden. Über ein Jahrhundert, unterbrochen von mehreren Militärregierungen, wechselten sich die nationale und die liberale Partei gegenseitig an der Macht ab. Der Putsch 2009 gegen den Präsidenten Manuel Zelaya aus der liberalen Partei, der Reformen gegen den Willen der Oligarchie einleitete und dadurch viel Sympathie in der Bevölkerung erhielt, rüttelte große Teile der Bevölkerung auf und hinterließ den Wunsch nach Veränderung. Wurden die umstrittenen Wahlen unter dem Übergangsregime von Roberto Micheletti im November 2009 von einem Großteil der Widerstandsbewegung boykottiert, nimmt ein Teil dieser nun durch die Partei LIBRE aktiv am Wahlprozess teil. Und LIBRE stellt eine ernstzunehmende Gefahr für die traditionellen Parteien und die Machtinteressen der kleinen Oligarchie des Landes dar. Laut den neuesten Umfragen des Meinungsforschungs-Unternehmens CID-Gallup stehen die Chancen für einen Sieg der Linkspartei nicht schlecht. Demnach liegt Xiomara Castro, Präsidentschaftskandidatin und Ehefrau des ehemaligen Präsidenten Zelaya, im Wahlkampf mit 28% Stimmenanteil an erster Stelle. An zweiter Stelle kommt mit 21 Prozent der Sportkommentator Salvador Nasralla von der ebenfalls neugegründeten Anti-Korruptionspartei PAC. Juan Orlando Hernández, Präsidentschaftskandidat für die nationale Partei und Mauricio Villeda von der liberalen Partei belegen nur die Plätze drei und vier. Hernández und Villeda gelten als Unterstützer des Putsches von 2009 und besonders Hernandéz hat in den letzten Monaten zunehmend an Sympathie verloren. Hernández, der aufgrund seiner politischen und wirtschaftlichen Verbindungen als einer der einflussreichsten Personen in Honduras gilt und vor kurzem erst wegen seiner Kandidatur von seinem Posten als Parlamentsvorsitzender zurücktreten musste, hat in den letzten Monaten zunehmend das politische Geschehen im Land zum Nachteil großer Bevölkerungsteile geprägt. So wurden unter seiner Federführung eine Reihe umstrittener Gesetze verabschiedet, wie das Gesetz der sogenannten Modellstädte, das neue Bergbaugesetz und ein Gesetz zu befristeten Beschäftigungen, welches grundlegende Arbeitsrechte aushebelt.
Maßgeblich beteiligt an dem aktuellen schlechten Abschneiden der traditionellen Parteien sind auch deren interne Parteikonflikte. Die liberale Partei hat nach dem Putsch bereits viele Zelaya-treue Anhänger_innen verloren. Zu internen Konflikten führten bei beiden Parteien auch die internen Wahlen im November 2012, bei denen die Kandidat_innen der einzeln Parteien bestimmt wurden. Die Verlierer der Wahlen, Ricardo Álvarez von der nationalen Partei und Jani Rosenthal Hidalgo von der liberalen Partei, warfen ihren Parteikolleg_innen Wahlbetrug vor und zogen bis vor den höchsten Gerichtshof, um eine Neuauszählung der Stimmen zu fordern. Bis jetzt gelang es nicht, diese innerparteilichen Konflikte beizulegen. So würden laut der Meinungsumfrage von CID-Gallup die Hälfte der befragten Anhänger_innen der nationalen und der liberalen Partei nicht für die Kandidat_innen ihrer Partei stimmen.
Obwohl es in den Umfragen für LIBRE gut aussieht, ist äußerst fraglich, ob sich die Partei auch an den Urnen durchsetzen kann. Wenn selbst Teile der liberalen und der nationalen Partei, in deren Hand sich die für die Wahl verantwortlichen Institutionen befinden, die internen Wahlen anzweifeln, zeigt dies klar, wie es um das honduranische Wahlsystem bestellt ist. So beklagten Beobachter_innen bei den internen Wahlen unter anderem Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe der Wahlscheine und den Stimmenkauf durch Bestechung und Geschenke. Zwar fordert LIBRE zusammen mit einigen anderen kleinen Parteien eine Reform des Wahlgesetzes und unter anderem die Einführung einer elektronischen Wahl, was derzeit noch vom obersten Wahltribunal (TSE) diskutiert wird. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass sich LIBRE innerhalb eines politischen Systems am Wahlprozess beteiligen muss, welches von den zwei traditionellen Parteien kontrolliert wird. Wichtige Institutionen wie das oberste Wahltribunal und das nationale Personenregister, welches das Wähler_innenverzeichnis erstellt, sind mit Anhänger_innen der traditionellen Parteien besetzt, was einen Wahlbetrug zu deren Gunsten sehr erleichtert. Ein weiterer Schwachpunkt des honduranischen Wahlsystems ist die fehlende Transparenz über die Finanzierung der Wahlkampagnen der politischen Parteien. In den internen Vorwahlen wurden Millionen in Kampagnen der Kandidat_innen gesteckt, ohne dass es irgendwelche Informationen über Herkunft und Quellen der Gelder gegeben hätte. Dies bietet viel Raum für Spekulationen über den Einfluss der reichen Unternehmerschaft und des organisierten Verbrechens. Zudem ist unbekannt, wieviele Gelder aus öffentlichen Mitteln verwendet wurden, welche die regierenden Parteien in Honduras oft auch zur Finanzierung ihrer Wahlkampagnen einsetzen.
Wie weit die honduranische Elite geht, um ihre Macht zu verteidigen, wurde spätestens mit dem zivil-militärischen Putsch von 2009 klar. Seitdem wurde eine Vielzahl von Oppositionellen, Menschenrechtsaktivist_innen und Journalist_innen ermordet. Im März legten Aktivist_innen der Partei LIBRE der Staatsanwaltschaft ein Liste von über 300 unaufgeklärten politischen Morden seit Juni 2009 vor, forderten deren Aufklärung und erhoben schwere Vorwürfe gegen die nationale Polizei und deren Direktor Juan Carlos Bonilla. Die Reaktion Bonillas ließ nicht lange warten. So erklärte dieser einige Tage darauf, Mitglieder der Partei LIBRE würden seine Arbeit als Polizeidirektor und die staatlichen Institutionen im Gesamten destabilisieren wollen. Auch Juan Hernández hetzte bereits mehrfach gegen LIBRE, nannte diese „Terroristen“ und „radikale Kommunisten, die das Land zerstören wollen“ und bezeichnete den Wahlkampf als einen Kampf zwischen Gut und Böse. Solche Aussagen finden in den traditionellen Medien, die schon den Putsch 2009 verteidigten, viel Gehör.
Die Militarisierung der öffentlichen Sicherheit, welche in den letzten Jahren durch die Regierung Lobo und den Parlamentspräsidenten Hernández stark vorangetrieben wurde, könnte auch zu einem Wahlszenario wie bei den Präsidentschaftswahlen 2009 führen. So warnen Menschenrechtsaktivisten_innen vor einer vollkommenen Militarisierung, willkürlichen Festnahmen und politischen Morden im Zuge der Wahlen. Ein solches Szenario wird vor allem in der Krisenregion Bajo Aguán im Norden Honduras‘ befürchtet, wo der Landkonflikt zwischen Großgrundbesitzer_innen und Kleinbäuer_innen bereits über 100 Todesopfer forderte. Aufgrund von Landbesetzungen bestehen in Honduras gegenüber tausend Kleinbäuer_innen Haftbefehle, welche zu den Wahlen ausgeführt werden könnten.
Vor einem noch düstereren Szenario warnen vor allem Aktivist_innen aus parteiunabhängigen Basisorganisationen. So könnten ultra-rechte Kräfte erneut einen Putsch vor den Wahlen durchführen, um ihren Machtverlust durch einen Wahlsieg von LIBRE zu verhindern. Selbst Präsident Lobo informierte im Dezember 2012 über Pläne eines Putsches gegen ihn. Ein weiteres Szenario ist die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung durch die Regierung selbst und die damit verbundene Aussetzung der Wahlen. Lobo verkündete bereits im Sommer 2011 eigenständige Pläne in dieser Richtung. Durch die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung könnte sich die nationale Partei durch die Ernennung eines_r Übergangspräsidenten_in noch mindestens zwei weitere Jahre an der Macht halten. Kritiker_innen sehen darin einen Plan Lobos zur Verlängerung seiner Amtszeit. Ein weiteres Hindernis für die Durchführung der Wahlen könnte durch die schwierige finanzielle Lage entstehen, in der sich der honduranische Staat aktuell befindet. Denn dieser ist für die Finanzierung der Wahlen zuständig und hatte in den letzten Monaten nicht einmal genügend Geld, um seine Angestellten wie zum Beispiel Lehrer_innen und Soldat_innen auszuzahlen. Der Haushaltsetat, der dem obersten Wahltribunal für die Durchführung der Wahlen zugesprochen wurde, ist laut Aussage eines Richters des Tribunals nicht ausreichend und durch die internen Wahlen und bestehende Schulden schon fast aufgebraucht.

Die Worte einfach sprudeln lassen

Was ist die Position des Congreso de los Pueblos zu den Gesprächen zwischen Regierung und Guerilla?
Wir begrüßen die Aufnahme der Gespräche sehr, weil der Konflikt den sozialen Organisationen und der gesamten Gesellschaft heftigen Schaden zufügt hat. Nichtsdestotrotz fehlt die Einbeziehung der anderen Guerillaorganisation, der Nationalen Befreiungsarmee ELN. Außerdem bräuchten wir für die Zeit einen Waffenstillstand, aber die bewaffneten Auseinandersetzungen gehen weiter. Das ist kein günstiges Umfeld für den Frieden. Der Prozess wird nur voranschreiten, wenn die Gesellschaft ihn als notwendig betrachtet und unterstützt. Aber die Gespräche könnten zu einem Ende des bewaffneten Kampfes und zu einer zweiten Phase führen, in der man dann über die strukturellen Ursachen des Konfliktes reden könnte.

Das heißt, Sie akzeptieren die Gespräche, obwohl die Mitwirkungsmöglichkeiten eingeschränkt sind und eine umfassende sozialpolitische Agenda fehlt?
Die Überladung der Gespräche wäre kein Fortschritt für eine Verhandlungslösung, sondern würde das Verfahren komplizierter gestalten. Natürlich muss es nach diesen Gesprächen eine Phase der Beteiligung aller sozialer Akteure geben. Gegenwärtig fordern wir aber keinen Platz am Verhandlungstisch. Wir fordern jedoch die Voraussetzung und die Gelegenheit für eine Teilhabe der sozialen Bewegungen sowie den politischen Willen uns zuzuhören.

Ist die Gesellschaft nicht kriegsmüde und will nur ein schnelles Ende des Konfliktes?
Die Menschen sind erschöpft. Aber es gibt tieferliegende Konfliktursachen, die für einen dauerhaften Frieden behandelt werden müssen. Deshalb wollen wir die Kämpfe der sozialen Bewegungen für Gesundheit, Bildung und Land, die eben auch Kämpfe für den Frieden sind, in diesen Prozess einfließen lassen. Wir begnügen uns nicht damit, schriftliche Vorschläge einzureichen, sondern fordern die Regierung und Guerilla auf, den Bewegungen eine Hauptrolle einzuräumen. Das wird schwierig und deshalb ist die Stärkung der Friedensbewegung grundlegend.

Welche Vorschläge haben Sie im Congreso de los Pueblos, um den Friedensprozess voranzutreiben?
Bereits 2010 bei der Gründung des „Congreso de los Pueblos“ fiel der Entschluss, einen Kongress für den Frieden abzuhalten. Durch die Ankündigung der Gespräche gewann diese Idee an Kraft und Dynamik. Wir schlagen vor, die breite Öffentlichkeit auf nationaler Ebene in die Friedensverhandlungen mit einzubeziehen. Dies soll mit einer Methode passieren, nach der sowohl inhaltliche Vorschläge als auch Erfahrungen der vielfältigen lokalen Initiativen mit integralen Friedensansätzen verknüpft werden. Ziel ist die Ausarbeitung eines gemeinsamen Programms. Das ist natürlich eine mühsame Aufgabe. Es geht nicht nur darum, Vereinbarungen darüber zu treffen, wie beispielsweise Entscheidungen delegiert und Vertreter bestimmt werden, sondern auch, wie wir unsere Forderung nach der Teilnahme am Friedensprozess überhaupt durchsetzen können.

Wie funktioniert die Methode des Congreso de los Pueblos genau?
Unsere Methode besteht aus drei Schritten. Zuerst rufen wir die Menschen zusammen und sammeln ihre Ideen. Diesen Prozess bezeichnen wir als caminar la palabra (das Wort wandert). Danach beginnen wir mit der Legislación Popular (Gesetzgebung von unten). Das bedeutet, Erfahrungen und kollektive Praktiken der Bevölkerung wie die lokalen Entwicklungspläne werden aufgenommen, um daraus ein Mandat zu formulieren. Zum Schluss führen wir im Schritt Agenda de los Pueblos (Agenda der Völker) die verschiedenen Aktionen zusammen. Denn trotz Verfolgung und Repression, leisten die sozialen Bewegungen weiterhin Widerstand, jedoch vereinzelt und zerstreut. Eine gemeinsame Agenda bedeutet nicht, alle ohne Unterschied in einen Topf zu werfen, sondern einen Konsens über bestimmte gemeinsame Aktionen zu finden. Dieses Vorgehen schlagen wir auch für den Friedenskongress vor. Zurzeit befinden wir uns in der ersten Phase, halten also lokale Versammlungen ab und führen Debatten.

Eine Ihrer Forderungen ist die eines „transformativen Frieden“? Was steht dahinter?
Die Hoffnung auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen. Der Konflikt in Kolumbien kann nicht isoliert von der sozialen Realität der Bevölkerung betrachtet werden. Er ist auch eine Folge von sozialer Ungerechtigkeit und der Kluft zwischen der wirtschaftlichen und politischen Elite und der breiten Mehrheit. Diese Bedingungen müssen verändert werden, und zwar mit aktiver Beteiligung der Bevölkerung. Da sich die Lebensbedingungen durch den Konflikt weiter verschärfen, fühlt sich die Bevölkerung nicht durch die Konfliktparteien repräsentiert.

Gibt es im Gegensatz zu den Friedensgesprächen in Caguán von 1998-2002 heute eine stärkere Beteiligung der sozialen Organisationen?
Es gibt ein Wiedererstarken der sozialen Bewegungen. Wir wollen gehört werden und nicht alles an andere delegieren. Ausdruck dessen waren 2011 die Versammlung in Barrancabermeja oder auch der Congreso de Pueblos zum Thema Land und Territorium. Dort war die Diskussion zum Frieden sehr präsent. Schließlich wurde im August diesen Jahres im Cauca die Ruta Social Común para la Paz (gemeinsamer sozialer Friedenspfad) beschlossen, um der Teilhabe der sozialen Bewegungen eine Struktur zu geben und an der sozialen Agenda des Friedensprozesses zu arbeiten. In der Comosocol (Nationale Koordination der sozialen Bewegungen und Organisationen Kolumbiens) streben die sozialen Bewegungen außerdem seit zwei Jahren eine stärkere Einheit an. Zu Beginn der Friedensgespräche in Oslo riefen sie zu einer Semana de Indignación (Woche der Empörung) auf.

Welche Gefahren und Herausforderungen sehen Sie für die Friedensbewegung in Kolumbien?
Eine der größten Herausforderungen ist es, einen Weg zu finden, wie die sozialen Bewegungen trotz unterschiedlicher Positionen und ihrer Zersplitterung gemeinsam am Friedensprozess teilnehmen können. Außerdem gibt es bislang keine klare Perspektive, wie die strukturellen Ursachen des Konfliktes behandelt werden, da das die Regierung ausdrücklich ausgeschlossen hat. Eine weitere Schwierigkeit sind die fehlenden Sicherheitsgarantien. Der Paramilitarismus existiert weiter, hat aber neue Formen angenommen. Damit verändert sich auch der Angriff auf die sozialen Bewegungen. Neben der gewaltsamen Verfolgung tritt zunehmend eine subtile Repression in Erscheinung. Sie äußert sich im Aufbau von Konkurrenzstrukturen zu den sozialen Organisationen oder durch die Kooptation durch vorgebliche Partizipationsmechanismen.

Wie ist die Situation der sozialen Bewegungen im Cauca?
Die indigene Bevölkerung im Cauca verteidigt seit langem ihre territoriale Autonomie und hat dafür die Guardia indígena (indigene Wache) aufgebaut. Dies wird von den Konfliktparteien jedoch nicht respektiert. Sowohl das Militär als auch die FARC-Guerilla oder Paramilitärs üben Einfluss in ihrem Territorium aus, was sich durch die Aktivität multinationaler Unternehmen verschärft. Nichtsdestotrotz hat die Guardia im Juli sowohl Soldaten als auch Guerilleros unbewaffnet konfrontiert und aus ihrem Gebiet geworfen. Für diese Aktionen gegen das Militär wurden die indigenen Gemeinden heftig in der Öffentlichkeit kritisiert. Zurzeit führen sie dazu Verhandlungen mit der Regierung, kontrollieren ihr Territorium aber weiterhin. Aber natürlich geht auch die Auseinandersetzung zwischen Armee und Guerilla weiter, mit Toten in der Bevölkerung und der Zerstörung der Gemeindeinfrastruktur.

Und bei der Bauernbewegung in Cajibío?
Bei uns ist der Landkonflikt die Hauptsorge. Vor allem die extensiven Forstwirtschaftsprojekte des multinationalen Unternehmens Smurfit Kappa, begleitet durch eine starke Militärpräsenz zu dessen Schutz. Dagegen wehren wir uns, weshalb wir bedroht wurden. Gerade sind wir dabei analog zu den indigenen Gemeinden eine Guardia campesina (bäuerliche Wächter) zu gründen. Das geschieht zum einen aus Notwendigkeit, denn wir sind nicht bereit, unsere Angelegenheit in die Hände der bewaffneten Akteure zu legen. Zum anderen ist es eine Umsetzung des Mandats des Congreso de los Pueblos. Die Guardias verteidigen die territoriale Autonomie, mobilisieren die Bevölkerung und drängen den Einfluss der Konfliktparteien zurück. Für diese sensible Aufgabe inmitten des Konfliktes durchlaufen sie eine intensive politische Schulung, da immer auch ihr ziviler Charakter gewahrt werden muss.

Was erwartet der Congreso de los Pueblos an internationaler Solidarität?
Für eine Verhandlungslösung muss der Friedensprozess international begleitet und gestützt werden. Die internationale Gemeinschaft sollte außerdem die aktive Teilhabe der Bevölkerung und der sozialen Bewegungen bei der Regierung und den Guerillas einfordern. Es wäre auch wünschenswert, wenn die partizipativen Anstrengungen der sozialen Bewegungen unterstützt würden. Vom Congreso de los Pueblos laden wir zur Teilnahme am Friedenskongress im März 2013 ein, damit es auch möglich wird, persönlich präsent zu sein.

Wie verhält es sich mit den europäischen Regierungen und der EU? Schließlich haben sie ein Freihandelsabkommen mit der kolumbianischen Regierung abgeschlossen?
Die kolumbianische Regierung braucht ein Ende des Konfliktes. Für seine internationalen Wirtschaftsverpflichtungen zur Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, das Inkrafttreten der Freihandelsabkommen und die Sicherheit ausländischer Unternehmen ist der Konflikt mehr denn je ein Hindernis. Das erschwert natürlich auch den internationalen Beitrag für einen dauerhaften Frieden in Kolumbien. Gegenwärtig hieße ein aktives Friedensengagement der europäischen Regierungen, das Abkommen aufzukündigen, sofern sie den Forderungen nach Frieden mit sozialer Gerechtigkeit nicht widersprechen wollen.

Infokasten:

Marylén Serna

von der Bäuerinnen- und Bauernbewegung in Cajibío im kolumbianischen Department Cauca ist Sprecherin der basisdemokratischen „Minga de Resistencia Social y Comunitaria“, einer Allianz der sozialen Bewegungen Kolumbiens, die sich 2008 nach heftigen Protesten der indigenen Bevölkerung gründete.
Zum Aufbau einer Regierung von unten berief die Minga 2010 den ersten zivilgesellschaftlichen Congreso de los Pueblos ein. Seither tagt dieser zu Kerninhalten der sozialen Bewegungen, so 2011 zu „Territorium, Land und Souveränität“. Im März 2013 wird er das Thema „Frieden“ behandeln.

Ein Honduras der Vielfalt ist möglich

Wer sind die Artistas en Resistencia (Kunstschaffende im Widerstand)?

Die Artistas en Resistencia sind ein Kollektiv von Kunst- und Kulturschaffenden, die Teil des honduranischen Widerstands sind. Die Gruppe wurde infolge des Putschs im Jahr 2009 gegründet. Aus einer Perspektive der Gegenkultur versuchen wir, mit kulturellen Mitteln eine Plattform für politisches Denken, Kritik und öffentlichen Protest zu sein. Zu unseren Aktionsformen gehören Soli-Konzerte für die Mitglieder des Widerstands im Landkonflikt des Bajo Aguán und anderer Gemeinschaften, visuelle Dokumentation, Recherche, Artikel, Texte und Projekte der politischen Aufklärungsarbeit.

Wie stellen Sie sich das Honduras der Zukunft vor?

Für eine Zukunftsvision müssen wir zunächst den Blick auf die aktuelle Situation in Honduras richten. In unserem Land gibt es keine individuellen Garantien, die die Bürger_innen davor schützen, Opfer von extremer Armut, Ausschluss, Machismus, Schwulen-, Lesben- und Trans*-Feindlichkeit, Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit Landbesitz oder dem Recht auf Nahrung und Bildung zu werden. Diese sozialen Konflikte sind es, die uns den Weg weisen, was für eine Gesellschaft wir aufbauen wollen. Dabei finden wir uns in einem Kampf gegen einen gierigen Kapitalismus wieder, der keine Anstalten macht, die traditionell angewandten neoliberalen Methoden zu verändern. Obwohl das Gesamtbild nicht gerade positiv erscheint, ist es uns durch gemeinsame und besser organisierte Arbeit gelungen, vielen der derzeitigen Missstände entgegenzuwirken, mit denen wir dank der korrupten und opportunistischen Politiker_innen des traditionellen Zwei-Parteien-Systems schon seit vielen Jahren zu leben haben. Der Widerstand, als Einheit zwischen politischen und sozialen Bewegungen, strebt einen Staat und eine Regierung an, die sich der Bedürfnisse der Honduraner_innen annehmen. Dies soll durch die Einberufung einer Nationalen Verfassunggebenden Versammlung erreicht werden, die säkular sein und im Interesse der ausgeschlossenen Mehrheit handeln muss. Dem liegt die Idee der Neugründung von Honduras zugrunde. Diese kann über den Aufbau von Macht hergestellt werden, also über Prozesse politischer Aufklärung der Menschen an der Basis, oder aber über die Erringung der Macht durch die Wahl von Kandidat_innen, die dem Widerstand nahe stehen. Neugründung bedeutet dabei nicht, die derzeitige Struktur zu reformieren, sondern das Bestehende einzunehmen und etwas Neues zu schaffen.

Was würde die Verfassunggebende Versammlung konkret bedeuten?

Sie würde die Sichtweise derer vertreten, die für den Fortschritt in Honduras eintreten. Sie könnte eine Gesetzgebung erarbeiten, die den Bedürfnissen der ausgeschlossenen Mehrheit näher ist. Die Menschen würden ermächtigt, gleichberechtigt zu agieren und von ihren Wahlmöglichkeiten Gebrauch zu machen. Obwohl klar ist, dass Veränderungen der Realität nicht von Gesetzen ausgehen, wäre eine Verfassung, die in größerem Maße die derzeitigen Einstellungen der Honduraner_innen reflektiert, sinnvoller als die bestehende. Ein Beispiel wäre die Festschreibung einer gleichberechtigten Partizipation von Frauen an Entscheidungsprozessen.

Am 30. Oktober wurden beim Obersten Wahlgericht die Unterlagen zur Zulassung der neuen Partei LIBRE (Freiheit und Neugründung) als parlamentarischer Arm der Widerstandsbewegung FNRP eingereicht. Wie kann eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen LIBRE und der außerparlamentarischen Bewegung aussehen?

Eine echte politische Umwälzung – und das ist es, was Honduras in diesem Augenblick braucht – lässt sich nicht bewerkstelligen, wenn politische und soziale Bewegungen voneinander getrennt sind. Sie müssen eine Einheit darstellen, damit LIBRE wirklich kraftvoll den Widerstand repräsentieren kann, und auch die Interessen derer, die sich nicht an der Bewegung gegen den Putsch beteiligt haben. Eine solche Zusammenarbeit müsste die traditionelle Zwei-Parteien-Herrschaft und den politischen Opportunismus aufbrechen und würde eine größere Breite der Bewegung schaffen. Dadurch könnten die ursprünglichen Vorstellungen der FNRP – Bildung, Organisierung, Mobilisierung – umgesetzt werden. Konkret bedeutet das: eine über die Wahlen aufgeklärte Bevölkerung, die Aufgabe des alten Politikstils und Offenheit, neue Generationen mit Führungsaufgaben zu betrauen.

Die Serie von Morden an kritischen Journalist_innen und an Bauern und Bäuerinnen im Bajo Aguán hört nicht auf; die seit dem Putsch des Jahres 2009 begangenen Verbrechen blieben in den allermeisten Fällen straflos. Welchen Beitrag kann die Arbeit der alternativen Wahrheitskommission hier leisten?

Die von Pepe Lobo und seiner in der Nachfolge des Putsches stehenden Regierung eingesetzte offizielle Wahrheitskommission hat ja bereits einen Bericht vorgelegt, der ebenfalls die schweren Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen während des Putschs und danach dokumentiert. Sie sind eine Tatsache und lassen sich einfach nicht vertuschen. Dennoch brachte die Ausschöpfung der nationalen gerichtlichen Instanzen keine Ergebnisse. Die alternative Wahrheitskommission hat als unabhängiges Organ systematisch die von den Menschenrechtsverletzungen betroffenen Personen und Gruppen befragt und wurde dabei von namhaften Menschenrechtsorganisationen unterstützt. Ihr derzeit noch in Arbeit befindlicher alternativer Bericht wird daher erheblich detailliertere Informationen enthalten als der offizielle. Obwohl die gerichtlichen Instanzen in Honduras kein Interesse an einer Aufarbeitung haben, werden sie noch bis zum Ende beschritten, um sich dann an die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte oder sogar den Internationalen Strafgerichtshof wenden zu können.

In Ihrem Film En mis tacones geht es um die traditionell schwierige Situation von Trans* in Honduras, die durch den Putsch noch verschärft wurde. Was hat sich inzwischen in der LGBTI-Bewegung getan? Welche Erfolge konnten in der Gesellschaft erzielt werden?

Wenn man davon sprechen kann, dass der Putsch irgendetwas Positives gebracht hat, dann vielleicht, dass die sozialen Bewegungen einander nun anerkennen, stärker geworden sind und die Notwendigkeit erkannt haben, sich politisch zu organisieren und weiterzubilden. Das gilt auch für die Bewegung der sexuellen Vielfalt in Honduras, die als wichtiger Teil der sozialen Bewegungen anerkannt wird. Sie wird auch von Parteipolitiker_innen gewürdigt und übernimmt Entscheidungen innerhalb der Basisbewegungen, der FNRP und nun auch innerhalb von LIBRE.
Nach dem Putsch haben die Gruppen des Widerstandes, unabhängige Unterstützer_innen und solidarische Organisationen die mutige Beteiligung von Mitgliedern der Community der sexuellen Vielfalt, also Lesben, Schwule, Transsexuelle, Transgender, Travestis, Bisexuelle, Intersexuelle, an der historischen Aufbauarbeit eines bewussteren und politisierteren Honduras zunehmend anerkannt. 54 Personen der Community sind seit dem Putsch ermordet worden. Menschenrechtsorganisationen haben angefangen, sich dafür zu interessieren; politische Gruppen, die nie zuvor die Belange der Community in ihre Arbeit einbezogen haben, begannen, die staatliche Strategie der sozialen Säuberung gegen diese Bevölkerungsgruppe zurückzuweisen. Diese Repression sollte die Community einschüchtern und davon abhalten, sich als integraler Bestandteil des revolutionären Prozesses zu engagieren. Dieser Prozess, der vom Widerstand nun in eine Phase der Transformation übertritt, ist – so würde ich sagen – nicht mehr aufzuhalten.

Wie war die LGBTI-Bewegung vor dem Putsch?

Die Bewegung für sexuelle Vielfalt entstand in Honduras in den 1980er Jahren mit dem Auftauchen von HIV. Am Anfang war sie ein Raum, wo über die Infektion gesprochen werden konnte, es gründeten sich Organisationen, die der Epidemie etwas entgegenzusetzen versuchten. Die Bewegung musste sich in einen harten Kampf gegen den honduranischen Staat begeben. Schon die eigenständige Organisierung von LGBTI wurde behindert; oft wurde ihnen das Recht auf Vereinsgründung verweigert – mit der Begründung, sie verstießen gegen die Moral und die Traditionen der honduranischen Gesellschaft. Durch den Staatsstreich von 2009 schließlich wurden die Organisationen politisiert. Es war unmöglich, keine politische Position gegenüber den Vorkommnissen des 28. Juni einzunehmen.

Was sind die zukünftigen Aufgaben der Bewegung und wie können sie angegangen werden?

Eines der größten Defizite der Bewegung für sexuelle Vielfalt ist die fehlende politische Bildung ihrer Mitglieder, der Mangel an kämpferischem Engagement und an realer Beteiligung an Entscheidungsprozessen auf Regierungsebene. Die Organisationserfahrung im Bereich der sexuellen Vielfalt in Honduras ist noch recht jung. Es lässt sich aber nicht abstreiten, dass es beträchtliche Anstrengungen für die Veränderung dieser Situation gegeben hat – durch die Ausbildung von Multiplikator_innen und Aufklärungsarbeit in der Bevölkerung. Dabei wurde zunächst versucht, vor allem den kulturell tief verwurzelten Machismus anzugehen – beginnend in unserer eigenen Community – und nun mit der Überwindung von Schwulen-, Lesben- und Trans*-Feindlichkeit in verschiedenen Bereichen fortzufahren. Ein solches Ziel zu erreichen ist auch bei guter Planung und kontinuierlicher Arbeit nicht einfach, es geht ja um den Wandel von Einstellungen und dann erst um die Veränderung von Realitäten.

Kann das gelingen?

Ja, es kann! Seit dem Putsch hat es erstaunliche Fortschritte gegeben, was die Solidarität mit LGBTI innerhalb der im Widerstand organisierten Gruppen angeht. Nie zuvor gab es in unserer Gesellschaft eine solche Offenheit und Bereitschaft, einander vorurteilsfrei kennenzulernen. Innerhalb des Widerstands wird schon die zukünftige neue Gesellschaft gelebt, in der eine Vielfalt möglich ist, in der das Verbindende wichtiger ist als individuelle Unterschiede. Ein Honduras ohne Schwulen-, Lesben- und Trans*-Feindlichkeit ist keine Utopie. Es gibt bereits Räume, in denen Respekt gegenüber unterschiedlichen Denkansätzen, Idealen oder sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten herrscht. Um das zu verbreitern ist es notwendig, weiterhin auf Bildung, Aufklärung, Dialog zwischen den Gruppen, Arbeit, Organisation, Kooperation und Kreativität zu setzen. Und auf einen revolutionären Geist, der ein besseres Honduras vertritt – ein Honduras, von dem viele träumen.

„Für das Leben“

„Noch vor 30 Jahren war hier alles mit Wald bedeckt“, erinnert sich Gerónimo Arévalo und schwenkt den Arm in einer weiten Geste über die Sojafelder die sich bis zum Horizont erstrecken. „Heute leben wir in einem Meer aus Soja“, sagt der Öko-Landwirt, dessen Gemeinde im östlichen Alto Paraná von Sojafeldern umringt ist. Bereits in den 1970er Jahren wurden hier Sojamonokulturen im großen Stil angelegt. Von Brasilien kommend hielt die „grüne Revolution“ Einzug, eine industrialisierte Landwirtschaft die auf riesigen Flächen bis heute gigantische Erträge erzielt. Paraguay gehört zum über 40 Millionen Hektar großen „Sojagürtel Südamerikas“. Dazu zählen neben Paraguay der Süden Brasiliens, Nord-Argentinien, das östliche Bolivien sowie Teile Uruguays.
In Gerónimos Gemeinde bewirtschaften 44 Familien 500 Hektar Land als Selbstversorger_innen. In kleinen Mischkulturen bauen sie die Hauptnahrungsmittel Maniok und Mais, Bohnen, Erdnüsse, Gemüse und etwas Sesam zum Verkaufen an. Tiere laufen frei umher, ein Bach plätschert munter vor sich hin. Doch die Idylle trügt: „Kinder werden blind, Schwangere verlieren ihre Babys, unsere Tiere sterben“ erklärt Gerónimo die Folgen der Ackergifte, die auf den Sojafeldern rundherum regelmäßig versprüht werden. Mit den gentechnisch veränderten Sojasorten, die seit Ende der 1990er Jahre angebaut werden, ist die Belastung enorm gestiegen. Mittlerweile wird zu über 90 Prozent der angebauten Soja gentechnisch verändert. Die Pflanzen wurden gegen bestimmte Breitbandherbizide resistent gemacht, die alles außer den genetisch veränderten Sojapflanzen abtöten. Hersteller, wie Monsanto mit seinem „Roundup Ready“, versprechen mehr Ertrag bei weniger Pestizideinsatz.
Doch „mit der transgenen Soja verringert sich der Einsatz der Ackergifte nicht, im Gegenteil“, betont der Agraringenieur Pedro Peralta von der Nichtregierungsorganisation CECTEC, die nachhaltige Landwirtschaft von Kleinbäuerinnen und -bauern fördert. Seit 15 Jahren beobachtet er die Nebenwirkungen der Sojaexpansion: „Heutzutage werden die Chemikalien viel aggressiver versprüht, weil es in den gigantischen Monokulturen bei Krankheiten oder Plagen keine natürliche Regulation mehr gibt. Also werden mehr Fungizide, Herbizide und Pestizide eingesetzt,“ erklärt er weiter: „Bis zu fünf Mal zwischen der Aussaat im September und der Ernte im Januar.“ Nicht nur ausgelaugte Böden, Erosion und vergiftete Gewässer sind die Folge, insbesondere die familiäre Subsistenzwirtschaft der Kleinbäuerinnen und -bauern ist betroffen „weil die Pflanzen auf ihren Äckern verdorren und sie selbst krank werden“, so Peralta.
Für die Landbevölkerung bedeuten die Ackergifte einen schleichenden Tod,“ bestätigt auch Dr. Silvia Gonzales vom Forschungsinstitut CEIDRA die Langzeitfolgen der Mittel, die vom Wind kilometerweit getragen werden. Besonders fatal sei die Applikation aus der Luft, die nicht einmal angekündigt werden muss, so dass die Landbevölkerung nicht rechtzeitig Schutz vor den giftigen Dämpfen suchen könne. Viele Chemikalien, die in Paraguay zum Einsatz kämen, seien in Europa längst als krebserregend verboten. Immer wieder gebe es Todesfälle, Langzeitfolgen wie Krebs-, Haut- und Atemwegserkrankungen nähmen zu. „Der Versuch, gesetzliche Richtlinien zum Schutz der Landbevölkerung zu verbessern, wird immer wieder von der Agrar-Lobby im Parlament boykotiert“, erlebt die energische Soziologin und Anwältin.
Selbst bei Todesfällen wie dem des elfjährigen Silvino Talavera, der 2003 zweimal in Folge mit Pestizid besprüht wurde, verneinen Sojaunterneh­mer_innen ihre Verantwortung: „Dann werden immer Beweise dafür gefordert, wodurch der Tod verursacht wurde und schließlich verkünden sie dann, dass die Betroffenen an Unterernährung, Durchfall oder Fieber starben – was genau die Symptome sind, die von Ackergiften verursacht werden. Aber es ist sehr schwer, Ursache und Wirkung wissenschaftlich nachzuweisen.“ Solche Untersuchungen seien langwierig und unerwünscht. Engagierte Mediziner_innen würden oft bedroht.
Doch die Aktivistin gibt die Hoffnung nicht auf. Genauso wenig wie die Mitglieder von CONAMURI, der Dachorganisation der ländlichen und indigenen Frauenverbände, durch deren breite Lobbyarbeit der Fall Silvino schließlich vor Gericht verhandelt und 2004 gewonnen wurde.
Mit der Wahl des ehemaligen Bischofs Fernando Lugo im Jahr 2008, die die 61-jährige Alleinherrschaft der rechtskonservativen Colorado-Partei beendete, erhofften sich Kleinbäuerinnen und -bauern grundlegende Reformen. Doch ihre Situation hat sich nicht verbessert, und sie kämpfen innerhalb zahlreicher Verbände und Organisationen weiterhin für eine Agrarreform sowie eine selbstbestimmte Landwirtschafts- und Ernährungspolitik in Paraguay. Denn vom Sojaboom profitieren vor allem die vielen brasilianischen, einheimischen, aber auch deutschen Großgrundbesitzer_innen durch unbegrenzten Landerwerb, Steuerfreiheit auf das Exportgut und steigende Weltmarktpreise. Zweieinhalb Tonnen Sojabohnen und mehr werden heute bei guter Ernte pro Hektar erzielt. Das bringt um die 900 US-Dollar Verkaufspreis pro Hektar. Auf 2,7 Millionen Hektar wird in Paraguay zurzeit Soja angebaut und die Anbaufläche wächst unkontrolliert weiter. Die größten Gewinnerinnen sind aber internationale Agrar- und Chemiefirmen wie ADM, Monsanto und BASF. Der Bedarf der Industrieländer an Soja als Viehfutter und in zunehmendem Maße auch als Energiepflanze für Agrotreibstoffe ist enorm. Paraguay stieg in den letzten Jahren zum viertgrößten Sojaexporteur auf. Von den insgesamt 35 Millionen Tonnen Soja, die vor allem aus Südamerika jährlich in die EU importiert werden, sind deutsche Bäuerinnen und Bauern und Massentierbetriebe mit 8 Millionen Tonnen die größten Abnehmer. Während gentechnisch veränderte Lebensmittel hier verboten sind, gilt das nicht für die Futtermittel; Gen-Soja landet somit täglich in Form von Fleisch, Milch und Eiern auf den meisten Tellern.
Ein lohnendes Geschäft, das auch in den kommenden Jahren gigantische Gewinne verspricht. Und so verleiben sich die Sojabarone und internationalen Agrarfirmen immer mehr fruchtbares Land ein, um Soja in Monokulturen anzubauen. Sie verdrängen die kleinbäuerliche Landwirtschaft und damit das traditionelle Modell, von dem immerhin die Hälfte der Bevölkerung lebt.
Die Sojaexpansion verschärft den Landkonflikt, der ohnehin das brennendste soziale Problem ist. Paraguay gehört mit etwa 80 Prozent der Ackerfläche im Besitz von zwei Prozent der Bevölkerung zu einem der Länder mit der ungerechtesten Landverteilung weltweit.
Ginge es nach Héctor Cristaldo, Präsident des wichtigsten Verbandes der Sojalobby, ließe sich die Fläche problemlos um 1,3 Millionen Hektar steigern. Die Zukunft liegt für ihn im globalen Markt: „Das hohe Agrar-Potential in einem Land wie unserem nicht zu nutzen, um eine hungernde Welt zu versorgen, sondern zu sagen wir pflanzen nur, was wir selbst essen, das macht doch keinen Sinn!“ Er wird nicht müde zu betonen, dass der kleinbäuerliche Sektor hoffnungslos rückständig sei. Im übrigen seien in der modernen Landwirtschaft die Pestizide bei sachgemäßer Anwendung sicher.
Das Gegenteil spüren immer mehr Kleinbäuerinnen und -bauern auch im Norden Paraguays wie in der Provinz San Pedro, wo sich die Sojakulturen, vor allem in brasilianischer Hand, seit zehn Jahren immer rasanter ausbreiten. Kopfschmerzen, Hautausschläge, Bauchschmerzen und Durchfall, Übelkeit mit Erbrechen, Missbildungen bei Neugeborenen sind nur einige der Nebenwirkungen, die die Bäuerin Lucía Pavón aufzählt. Schützende Grünstreifen, die für die Großproduzent_innen eigentlich gesetzlich vorgeschrieben sind, gibt es nicht: „Sie wollen ihre Anbaufläche nicht verkleinern sondern jeden Zentimeter mit Soja bepflanzen.“
Weil die Situation unerträglich ist, stellen sie sich immer häufiger dem Besprühen der Felder als lebende Mauern in den Weg. Doch die brasilianischen Sojabäuerinnen und -bauern werden von Polizei und Militär unterstützt und heuern bewaffnete Sicherheitskräfte an, die ganze Gemeinden einschüchtern und Aktivist_innen bedrohen. „Für sie sind wir Kakerlaken“ sagt Lucía. „Aber wenn wir aufgeben und unser Land verlassen, was bleibt uns dann noch?“ fragt sie.
Immer mehr Menschen wandern in die Städte ab, denn sie ertragen das Gift nicht mehr oder werden solange unter Druck gesetzt bis sie ihre wenigen Hektar Land verkaufen. Viele Kleinbauern und -bäuerinnen verlieren ihr Land auch durch Verschuldung, weil sie in der Hoffnung, gut zu verdienen, selbst Soja anbauen. Doch teure Pestizide und Technik lohnen sich nur auf großen Flächen.
Allein 90.000 Familien gaben während des letzten Jahrzehnts ihr Land auf. Sie harren in illegalisierten Camps aus oder landen in den Armutsvierteln der Hauptstadt Asunción. Dort schlagen sie sich als Straßenverkäufer_innen und Müll-Recycler_innen durch, prostituieren sich oder betteln.
„Gürtel der Misere“ nennen die Soja-Gegner_innen diese Orte. Insbesondere die indigene Bevölkerung ist von Vertreibung und Hunger betroffen, denn sie sind die marginalisierteste Bevölkerungsgruppe und haben keine Lobby.
In ganz Paraguay wächst mittlerweile der Widerstand. Viele Bauern sind bereits organisiert. Sie mobilisieren zu Demonstrationen und Straßenblockaden und unterstützen die vielen Landbesetzungen. Ein Kampf um Land und gegen das Agrobusiness, der trotz starker Repression von Seiten des Staates und der Mächtigen im Lande auf vielfältige Weise geführt wird. „Wir haben keine andere Wahl“, betont Gerónimo Arévalo, „wir kämpfen für unser Recht auf Land und für das Leben.“
Für ihn ist die industrialisierte Landwirtschaft kein tragfähiges Modell: „Wir wissen sehr gut, dass hinter der industriellen Sojaproduktion ein großes Geschäft steckt, aber für die kleinen Produzent_innen ist sie weder rentabel noch nachhaltig, denn sie zerstört die Umwelt und damit unsere Lebensgrundlage. Unsere Zukunft kann nur in einer Landwirtschaft liegen, die das Leben verteidigt.“

Rückkehr mit vielen Fragezeichen

„Verkauf uns Dein Land zu einem Spottpreis, oder wir kaufen es noch günstiger von Deiner Witwe.“ Mit Drohungen wie dieser wurden die Bewohner_innen der Gemeinden an den Flüssen Curvaradó und Jiguamiandó im kolumbianischen Bundesstaat Chocó Jahre lang massiv unter Druck gesetzt. 1997 wurden die Afrokolumbianer_innen von Paramilitärs und staatlichen Streitkräften mit Hilfe von Drohungen und Morden vertrieben.
Seit über 40 Jahren schwelt der bewaffnete Konflikt in Kolumbien. Die Landfrage ist seit jeher Mittelpunkt der Gewalt. Laut Zahlen der kolumbianischen Menschenrechtsorganisation CODHES wurden in den letzten 25 Jahren mehr als fünf Millionen Menschen in Kolumbien zur Flucht im eigenen Land gezwungen. Die Landkonzentration in Kolumbien hat sich so weiter zugespitzt und die Armut verschärft. Und die Vertreibung der Landbevölkerung geht auch heute weiter: 2010 wurden laut CODHES 280.041 Menschen vertrieben. In Landflächen übersetzt sind es nach unterschiedlichen Berechnungen zwischen knapp fünf und zehn Millionen Hektar, die auf diese Weise seit den 1980er Jahren geraubt wurden.
Trotz der Bedrohung sind in den letzten Jahren immer mehr Menschen der afrokolumbianischen Bevölkerung auf ihr Land an den Flüssen Jiguamiandó und Curvaradó zurückgekehrt. Im November 2000 hatte die Landwirtschaftsbehörde INCODER den Gemeinden schriftlich ihren kollektiven Landbesitz bestätigt. In einem funktionierenden Rechtsstaat wäre das die Garantie dafür gewesen, dass die Gemeinden dieses Land wieder nach ihren traditionellen Anbaumethoden bewirtschaften und so ihre Selbstversorgung sichern können. Vor ihrer Vertreibung hatten sie auf ihrem Land Kochbananen, Reis und andere Grundnahrungsmittel angebaut. Fische aus den nahe liegenden Flüssen ergänzten den Speiseplan. Es konnten sogar Überschüsse erzielt werden, die zum Verkauf angeboten wurden. „Das einzige, was hier nicht wächst, ist das, was du nicht säst“, sagen die Bewohner_innen stolz über ihr fruchtbares Land, das ihre Vorfahren dem Dschungel abgerungen haben.
Doch bei der Rückkehr auf ihr angestammtes Land fanden die Gemeinden riesige Ausdehnungen von Ölpalmplantagen vor, die alles verschluckt hatten, die alten Dörfer und sogar die Friedhöfe. Flussläufe waren nicht wiederzufinden, weil die Ölpalmunternehmen das Land durch Entwässerungskanäle trockengelegt hatten. Während die Kleinbäuerinnen und -bauern die Rückgabe des geraubten Landes in seinem früheren Zustand, ohne die Ölpalmen, forderten, konnten sie hören, wie Motorsägen sich unweit von ihren Dörfern zur Ausdehnung der Plantagen immer weiter in den Dschungel fraßen. Militärs bewachten die Plantagen, obwohl die Landwirtschaftsbehörde bestätigt hatte, dass die Pflanzungen illegal sind.
Mit Unterstützung der Menschenrechtsorganisation Justicia y Paz kämpfen die Bauern und Bäuerinnen nun weiter um ihr Land. Mittlerweile wurden gegen 23 Ölpalm-Unternehmen Strafprozesse angestrengt. Doch insbesondere die Sprecher_innen der Gemeinde werden weiterhin kriminalisiert, eingeschüchtert und bedroht. Zwei Sprecher wurden bisher ermordet, im Juli und August dieses Jahres wurden zwei weitere verschleppt.
Präsident Juan Manuel Santos hat im Juni 2011 das sogenannte Opfer- und Landgesetz unterzeichnet, das den Opfern von Landvertreibungen Entschädigung und Landrückgabe verspricht. Zwei Millionen Hektar Land sollen mit Hilfe des Gesetzes zurückgegeben werden. Eine moderate Vorgabe, gemessen an dem, was geraubt wurde – und doch sehr ehrgeizig, gemessen am Widerstand dagegen. Von August 2010 bis Juli 2011 wurden in Kolumbien mindestens dreizehn Vertreter_innen von Vertriebenen ermordet, die ihr Land zurückforderten. Die geplante Rückgabe droht also daran zu scheitern, dass diejenigen, die ihre Landrechte einfordern, damit ihr Leben aufs Spiel setzen. Erstmals steht durch das neue Gesetz ernsthaft eine Rückgabe von Land in Aussicht, doch die Vertriebenen sind im Verteilungskampf um Land weiterhin schutzlos.
Viele Vertriebene in Kolumbien können kaum beweisen, dass das Land, das sie jahrzehntelang bearbeitet haben, ihnen gehört: Sie haben keine offiziellen Titel. Zwar ist im Opfer- und Landgesetz die Beweislast zugunsten der Vertriebenen umgekehrt, aber die Feststellung der Besitzansprüche und der Nachweis über die Vertreibung werden vielfach schwierig bleiben. Vertriebene können sich in der Regel keinen Anwalt leisten und oft nicht einmal die Fahrkarte, um in die Stadt zu fahren, in der die Ansprüche geltend gemacht werden könnten.
Die Rückkehrer_innen vom Curvaradó und Jiguamiandó halten immerhin ihren kollektiven Landtitel in den Händen. Doch die Ölpalme hat einen Großteil ihrer Lebensgrundlage vernichtet. Dass es genau diese Pflanze war, der ihr Land zum Opfer fiel, korrespondiert mit den ehrgeizigen Plänen der kolumbianischen Regierung zum Ausbau des Ölpalmanbaus, um die weltweit steigende Nachfrage nach Rohstoffen für die Herstellung von Agrosprit zu bedienen. Steigende Beimischungsquoten für Benzin in Europa, den USA und China, aber auch in Kolumbien selbst, schaffen vielversprechende Absatzmärkte für Palmöl.
Doch im lange schwelenden Landkonflikt Kolumbiens ist der Ölpalmanbau nur eine neue Variante, die eine alte Dynamik verstärkt. Weiter nördlich in der Region Chocó breiten sich beispielsweise endlose Bananenplantagen aus, auf Land, das einst Kleinbäuerinnen und -bauern erschlossen hatten und das ihnen dann von großen Unternehmen abgenommen wurde. Wo auf der Fahrt Richtung Süden die Bananenplantagen aufhören, beginnt die Monotonie endloser Viehweiden, über viele Jahre der Motor für Vertreibungen. Zucker, Kaffee und Blumen sind weitere wichtige, legale Agrarexportprodukte, die meist auf großen Flächen angebaut werden. Hinzu kommen die Kokafelder. Die weltweit steigende Nachfrage nach Agroenergie und die gestiegenen Nahrungsmittelpreise haben den Hunger nach Land in Kolumbien noch verstärkt. Während der Druck zunimmt, hat sich jedoch an den Chancen für die Kleinbäuerinnen und -bauern, ihr Land gegen große Unternehmen zu verteidigen, kaum etwas verbessert.
Viele Kolumbianer_innen sehen das Gesetz für Landrückgabe sehr kritisch: Rückkehrer_innen sind gesetzlich dazu verpflichtet, zwischenzeitlich auf ihrem Land angelegte agroindustrielle Projekte nach der Rückgabe des Landes fortzusetzen. Die Sozialwissenschaftlerin Carmen Andrea Bercerra hebt in der Online-Zeitschrift Razón Pública hervor, dass das Gesetz vor allem Investitionssicherheit bei Grund und Boden schaffen solle. Um die Rechte der Opfer von Vertreibung gehe es weniger.
Ganz ähnlich sind die Aussagen der großen Ölpalm-Unternehmer_innen zu verstehen. Beim Kongress des Ölpalm-Unternehmerverbandes Fedepalma im Juni 2011 machte dessen Geschäftsführer Jens Mesa deutlich, dass er sich mehr Investitionssicherheit von dem Gesetz erwarte, in Zeiten, in denen Land weltweit eine zunehmend wichtige Ressource sei. Präsident Santos kam höchstpersönlich zum Fedepalma-Kongress und korrigierte die Ziele für die Ausweitung des Palmölanbaus nochmals nach oben. In den letzten zehn Jahren ist in Kolumbien die Anbaufläche für Ölpalmen jährlich um zehn Prozent gewachsen. Waren 2001 noch um die 150.000 Hektar mit der Palme bepflanzt, so hatte sich die Fläche bis 2006 verdoppelt und 2010 wurden 400.000 Hektar überschritten. Regierung und Fedepalma streben für die kommenden vier Jahre eine Ausweitung um weitere 170.000 Hektar an. 115.000 Hektar werden davon für die Beimischung zu Benzin in Kolumbien selbst benötigt.
Für die Kleinbäuerinnen und -bauern, die selbst Ölpalmen anbauen, ist sie ein heikles Produkt. Denn sie sind völlig abhängig von den Fabriken, die die Früchte der Ölpalmen abkaufen. Meist gibt es in einer Gegend nur eine einzige solche Anlage, die durch ihre Monopolstellung den Preis diktieren kann. „Die Frucht der Ölpalme kann ich nicht essen“, erklärt Heriberto Mosquera, ein Vertriebener aus der Region, „Kochbananen, Maniok oder Reis kann ich essen und das möchte ich anbauen. Die Ölpalme hingegen ist ein Geschäft, das ich nicht kenne, ich weiß nicht wie sich der Preis entwickeln wird und auf was ich mich da einlasse.“ Darüber hinaus brechen die Jahre ohne Einkommen bis zur ersten Ernte nach der Saat vielen Kleinbäuerinnen und -bauern finanziell das Genick. Wenn sie für den Anbau Kredite aufgenommen haben, verlieren viele auf diesem Weg wieder ihr Land.
Ziel der Regierung ist es, die Flächen für den Anbau von Produkten für Agrosprit, wesentlich Ölpalmen und Zuckerrohr, auf insgesamt drei Millionen Hektar auszudehnen. Hingegen wurden laut Angaben des Landwirtschaftsministeriums in Kolumbien im Jahr 2009 knapp fünf Millionen Hektar Land für Ackerbau genutzt – viel weniger Fläche, als die neun bis 21,5 Millionen Hektar Land, die eigentlich für Ackerbau geeignet sind. Letztere überraschend hohe Zahl nannte Agrarminister Juan Carlos Restrepo im August 2011. Dem stehen 20 Millionen Hektar gegenüber, die für die Viehwirtschaft geeignet sind. Für diese werden allerdings weit mehr, nämlich 38,6 Millionen Hektar genutzt. Auf die Nahrungsmittelproduktion und die Ernährungssouveränität wirkt sich das negativ aus. Denn traditionell sind es vor allem Kleinbäuerinnen und -bauern in Kolumbien, die die Nahrungsmittelproduktion für den Binnenmarkt tragen, doch die Jahre massiver Vertreibungen gingen einher mit einem Rückgang der Produktion und zunehmenden Importen.
Während die Vorgängerregierung unter Präsident Álvaro Uribe Vélez (2002 bis 2010) einseitig die agroindustrielle Produktion für den Export förderte, will die 2010 mit Juan Manuel Santos angetretene Regierung zweigleisig fahren. Für kleinbäuerliche Landwirtschaft reservierte Zonen sollen ausgedehnt werden. Andererseits solle es gleichzeitig „Zonen unternehmerischer Entwicklung“ geben, in denen agroindustrielle Projekte gefördert werden.
Doch für die Kleinbäuerinnen und -bauern fehlen bisher flankierende Maßnahmen, die sie dabei unterstützen würden, sich tatsächlich am Markt zu behaupten, hinzu kommen die beschriebenen Probleme für ihre Sicherheit und den Zugang zu Land. So wie die Weichen derzeit gestellt sind, profitieren Kleinbäuerinnen und -bauern aufgrund fehlender Sicherheit und mangelnder wirtschaftlicher Rahmenbedingungen weder von der bestehenden noch von einer möglichen Ausweitung der Fläche für Ackerbau.
Für Kolumbien ist eine entscheidende Frage, inwiefern die gewaltsame Austragung des Landkonflikts beendet und die Opfer angemessen entschädigt werden können. Dafür ist auch wichtig, dass die Vertriebenen, Kleinbäuerinnen und -bauern ihre Rechte ohne Angst vor Drohungen geltend machen können und dass der Landtitel der Menschen am Jiguamiandó nicht nur auf dem Papier steht, sondern sie wirklich über ihr Land verfügen können. Weltweit – auch in Kolumbien – stellt sich die Frage, was auf dem verfügbaren Land angebaut wird: Nahrungsmittel oder Agrosprit – und ob die Nahrungsmittel am Ende reichen werden.

Etappensieg erreicht

Schwarz-Rot sind die dominierenden Farben auf der Plaza Central von San Pedro Sula, der zweitgrößten Stadt Honduras‘. Jeden Nachmittag dekorieren Freiwillige der Widerstandsbewegung die Seiten des Platzes mit den charakteristischen Fahnen der Bewegung und mit solchen auf denen das Konterfei des Ende Juni 2009 aus dem Amt geputschten Präsidenten Manuel „Mel“ Zelaya zu sehen ist. Die Farben der Widerstandsbewegung dominieren den gesamten Platz und Graffitis mit dem Slogan „Mel viene“ („Mel kommt“) prangen an mehreren Gebäuden.
San Pedro Sula, so lautet die Botschaft, zeigt Flagge gegen den Putsch. Rund siebenhundert Tage ist das nun schon so und es vergeht kein Tag an dem nicht eine Aktion der Frente in der Industriestadt stattfindet. Wichtigstes Medium ist dabei Radio Uno, der unabhängige Sender, der in einer weiterführenden Schule untergebracht ist, wo die Repräsentanten der Bewegung das Wort ergreifen.
Berichte über die Situation in der Stadt, aber auch aus Bajo Aguán im Nordosten des Landes, wo Landkonflikte immer wieder Todesopfer fordern, gehen in der kleinen Sendeanstalt über den Äther. Hier machen Gewerkschafter wie Germán Zepeda und Lehrer wie Rui Díaz Radio. „Weil es in Honduras abseits der kommunalen Radios kaum eine Möglichkeit gibt, sich über die soziale und politische Situation im Land zu informieren“ ,erklärt Zepeda. Der Gewerkschafter aus dem Bananenanbausektor ist einer der Köpfe der Widerstandsbewegung in San Pedro Sula und ähnlich wie viele andere macht er sich Gedanken über die Perspektiven der Widerstandsbewegung, nun da Manuel Zelaya nach Honduras zurückgekehrt ist. Der Ex-Präsident war am 26. Mai nach langen Verhandlungen nach Honduras zurückgekehrt und von mehreren Hunderttausend Menschen auf und um das Rollfeld des Flughafens empfangen worden. Ein triumphaler Einzug und ein Zeichen der Stärke der Opposition, die sich unter dem Dach der FNRP zusammengefunden hat.
Bei seiner Ankunft hatte Zelaya die Frage gestellt, ob die Widerstandsbewegung zur Partei werden oder sie weiter als Basisorganisation bestehen solle. Auf dem am letzten Juni-Wochenende in Tegucigalpa stattgefundenen Kongress der FNRP wurde diese Frage geklärt.
Eine treibende Kraft dabei ist auch die liberale Partei Zelayas. Deren Politprofis haben ein großes Interesse daran, dass aus der Bewegung eine Partei wird, um bei den nächsten Wahlen für einen Umbruch zu sorgen, erklärt Germán Zepeda und sein Freund, der Lehrer Rui Díaz pflichtet ihm bei.
„Natürlich brauchen wir auch eine Partei, um den politischen Wandel zu initiieren, aber der soziale Charakter der Bewegung, die versucht auf der Ebene der Dörfer, der Stadtteile neue Strukturen aufzubauen und auch zu helfen, ist ebenfalls wichtig“. Mechanismen, die dabei helfen die Basis zu verbreitern und gerade dabei spielen Lehrer wie Díaz und Gewerkschafter wie Zepeda eine wichtige Rolle. Sie haben viel dazu beigetragen, dass der Widerstand seit dem Putsch vom Juli 2009 nicht erlahmte. Immer wieder gab es neue Aktionen, Märsche, Demonstrationen, die dafür sorgten, dass der Putsch nicht in Vergessenheit geriet und die regierenden Parteien daran erinnert wurden, dass es um ihre Legitimation nicht zum Besten steht. Zudem sorgten die Aktionen dafür, dass auch im Ausland nicht vergessen wurde, dass ein Ex-Präsident gegen seinen Willen im Exil festsaß.
So kam es schließlich zur Unterzeichnung des Versöhnungsabkommens am 24. Mai, dem so genannten Vertrag von Cartagena. Darin versichert die amtierende rechtsgerichtete Regierung von Porfirio Lobo, die Verfolgung ehemaliger Regierungsmitglieder der Regierung Zelaya einzustellen und der Rückkehr des Ex-Präsidenten zuzustimmen.
In den Wochen nach seiner Rückkehr besuchte Zelaya zahlreiche Städte und ländliche Regionen des Landes, um sich bei seinen AnhängerInnen zu bedanken. Darunter auch die Region von Bajo Aguán, wo ein blutiger Landkonflikt zwischen LandarbeiterInnen und Besitzern von großen Ölpalmenplantagen schwelt. Besonders nach dem Putsch kam es dort zu zahlreichen Morden an Kleinbauern und Kleinbäuerinnen.
Laut der Menschenrechtsorganisation FIAN, die sich für ein Menschenrecht auf Nahrung einsetzt, zählt die Region zu den gefährlichsten des Landes und auch Zelaya kann sich dort nicht ohne Risiko bewegen. „Umso wichtiger ist es, dort Präsenz zu zeigen und den Genossen, die sich dort engagieren, den Rücken zu stärken“, erklärt Rui Diáz. Der Lehrer, der nach dem Unterricht als Radiomoderator bei Radio Uno am Mikrofon sitzt, spricht regelmäßig mit den Kollegen vor Ort, die als Korrespondenten für Radio Uno im Einsatz ist.
„Alternative Strukturen wie der Radiosender, sind für die Widerstandsbewegung überaus wichtig, denn die großen Medien des Landes halten den regierenden Parteien die Treue“, so Díaz. An das Versöhnungsabkommen hat sich die Regierung indes nicht buchstabengetreu gehalten, denn der ehemalige Regierungsminister Enrique Flores Lanza, der am 28. Mai gemeinsam mit Zelaya nach Honduras zurückgekehrt war, wurde am 15. Juni unter Hausarrest gestellt. Ein Verstoß gegen das Abkommen, das vorsieht, Haftbefehle gegen ehemalige Regierungsmitglieder auszusetzen. Im Fall Flores Lanza, der sich freiwillig den Behörden stellte, um die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu entkräften, verhängte der Richter Hausarrest und verlangte eine Kaution in Höhe von knapp einer Million Euro. AnhängerInnen der Widerstandsbewegung und Oppositionelle werden demnach weiterhin verfolgt. Dies soll sich schnellstmöglich ändern. Auch deshalb war der Kongress der Widerstandsbewegung immens wichtig. „Hier sollen die Weichen für die Zukunft gestellt werden“, erklärte Gloria García, eine Gewerkschafterin aus La Lima, einer Stadt knapp zwanzig Kilometer vor San Pedro Sula. Die neue Parole der FNRP heißt „vom Widerstand an die Macht“ und dazu gehört es, dass sich die Bewegung als Breite Widerstandsfront (FARP) bei den Wahlen 2013 um Mandate bewirbt. Dies beschlossen rund 1.500 Delegierte auf dem Kongress in Tegucigalpa.
Manuel Zelaya zeigt sich indes angriffslustig, reist in Krisenregionen, spricht Tabuthemen an und will sich an die Spitze einer Bewegung setzen, die im Herbst 2013 eine „revolutionäre und demokratische“ Alternative bei den Wahlen bieten möchte. Die neue Wahl-Front soll, laut dem Rückkehrer, allen offen stehen, die den Putsch gegen ihn verurteilt haben. Es geht um eine neue politische Formel, mit der Honduras in den nächsten 50 Jahren regiert werden kann, prognostizierte Zelaya. Da er selbst nicht mehr kandidieren kann, hat er als Kandidatin Xiomara Castro, seine Ehefrau, ins Spiel gebracht.
Die Liberale Partei, der auch Zelaya angehörte, ist gespalten. Ein Teil der Liberalen ging in den Widerstand, ein anderer schloss sich der Nationalen Partei an. Beide dieser großen Parteien repräsentieren andere Gruppen der Oligarchie. In dieses politische Vakuum soll die neue Partei FARP stoßen und all jenen eine Stimme geben, die bisher kaum gehört wurden. Ob es dabei gelingt ein politisches Vehikel aufs Gleis zu setzen, dass nicht nur Parteiarbeit macht, sondern auch die Basis des Landes unterstützt und auch praktisch hilft, wie es die FNRP in der Vergangenheit tat, muss sich zeigen. Es ist eine zentrale Herausforderung für die Widerstandsbewegung.

KASTEN:
Mehr Informationen und Hintergründe zur aktuellen politischen Entwicklung in Honduras und der Widerstandsbewegung haben wir gemeinsam mit der Honduras Delegation im Mai 2011 in dem 40seitigen Dossier „Wir waren unsichtbar – Honduras nach dem Putsch. Perspektiven der Widerstandsbewegung“ veröffentlicht. Dies kann einzeln bei uns bestellt werden (abo@LN-Berlin.de // 2 Euro zzgl. Versand). Außerdem berichtet die Honduras Delegation fortlaufend auf:
www.hondurasdelegation.blogspot.com

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