REGGAETON UND FLAMMENWERFER

Im Stil einer Abrissbirne Protagonistin Ema mit Feuerwerfer (Foto: koch films)

Valparaíso, Chile. Eine menschenleere Straße im Morgengrauen. Hoch darüber hängt eine Ampel, die in Flammen steht. Der Zoom-Out der Kamera gibt die Silhouette einer jungen Frau frei: Gelbes Aufschnallvisier, platinblonde Haare, auf dem Rücken ein Flammenwerfer. Die Ampel schaltet auf Grün. Ema zieht los.

Es ist ein Kickstart in den neuen Film des chilenischen Regisseurs Pablo Larraín (u.a. Neruda, Jackie, El Club), der es dieses Jahr in den Wettbewerb des renommierten Filmfestivals von Venedig geschafft hat. Und nicht weniger furios geht es weiter: Die Protagonistin Ema (beeindruckend gespielt von Kino-Debütantin Mariana di Girolamo) betritt in der nächsten Szene das deutlich weniger glamouröse Setting eines städtischen Jugendamts und wird prompt von der resoluten Leiterin Marcela (Catalina Saavedra) zurück auf die Straße befördert. In der Folge sieht sie sich einer Schimpfkanonade ausgesetzt, die sich gewaschen hat. Denn Ema und ihr Mann Gastón (Gael García Bernal) haben etwas getan, was sich nicht gehört: Sie haben ihren Adoptivsohn Polo dem Jugendamt zurückgegeben, weil er gezündelt und dabei Emas Schwester schwere Verbrennungen zugefügt hat. Nun will Ema aber trotzdem wissen, wie es ihrem Sohn geht, was Marcela gehörig auf die Palme bringt: „Du hast keinen Sohn! Weißt du, was du hast? Einen miesen Ehemann und gefärbte Haare! DICH hätten sie zurückgeben müssen! Kauf dir lieber eine Puppe und zieh ihr etwas an!“ Die Reaktionen in der Schule, wo Ema Kindern Tanzunterricht gibt, sind nicht viel freundlicher. Und so verlässt sie ihre Arbeitsstelle ebenso im Zorn wie schon bald auch die Wohnung ihres Ehemanns, im Kopf nur ein Ziel: Sie will ihren Sohn zurück. Befreit von allem, was sie zurückhalten könnte, macht sich Ema im Stile einer Abrissbirne daran, ihren Plan zu verwirklichen.

Aufeinanderprallen konservativer und progressiver Lebensweisen in Chile

Pablo Larraín hat es dem Publikum auch in seinen vorherigen Filmen nicht immer leicht gemacht, seine Protagonist*innen ins Herz zu schließen. Und auch jetzt wecken sowohl die impulsiv-egozentrische, aber in ihrer Stärke und Bestimmtheit faszinierende Ema wie der zwischen Weinerlichkeit und Machismo schwankende Gastón gemischte Gefühle. Die beiden Eheleute sind Antipoden im Zentrum des Films: Er erfolgreicher Choreograf einer modernen Tanzgruppe, sie die wichtigste Akteurin dort. Sie jung und sexuell sehr aktiv, er deutlich älter und unfähig, Kinder zu zeugen. Die toxische Beziehung, die beide führen, entlädt sich nicht nur in schonungslosen Wortgefechten („Eine Mutter verlässt ihr Kind nicht!“ – „Unfruchtbares Schwein!“) sondern führt auch zu Spannungen innerhalb der Tanzgruppe. Denn Ema und ihre Freundinnen dort stehen mehr auf den angesagten Reggaeton als auf die sphärischen Elektro-Klänge, zu denen sie sich bei Gastóns Aufführungen bewegen sollen. Dieser wiederum hasst die „Gefängnismucke“, zu der Emas Frauencombo in ihrer Freizeit performt. Im Gegenzug wird er von den Reggaetoneras als „Tourist“ bezeichnet, der von der Kultur der Straße keine Ahnung mehr habe. Und so werden Musik und Tanz zu einem (wenn auch nicht dem einzigen) Schauplatz des Kampfes zwischen Etabliertem und Neuem, zwischen Konvention und Rebellion. Wie Ema Musik als Ausdruck der Selbstbestimmung und individuellen Entfaltung zeigt, ist faszinierend, bisweilen hypnotisch. Die videoclipartig geschnittenen Tanzsequenzen sind ein Spektakel an Farben und Bewegung. Dazu passt der exzellent ausgewählte Soundtrack von Nicolas Jaar, der die rau-pittoresken Settings der Küstenperle Valparaíso perfekt untermalt. Regisseur Larraín, der mit Reggaeton nach eigener Aussage vor dem Dreh des Films nichts anfangen konnte und erst durch eine Spotify-Hitliste von der Relevanz des Genres überzeugt werden musste, setzt dem oft zu Unrecht diffamierten Musikstil mit diesem Film so regelrecht ein Denkmal.

Kein feministisches Statement

Und dennoch kann sich bei aller visuell-akustischen Brillanz, bei aller schauspielerischen Exzellenz vor allem der fantastischen Mariana di Girolamo, nach dem Ende von Ema das Gefühl einstellen, aus dem Film nicht so recht schlau geworden zu sein. Das mag daran liegen, dass Larraín es zu genießen scheint, Erwartungen zu enttäuschen. Eine Mutter, die um ihr Kind kämpft und dazu noch Anführerin einer Frauen-Tanzgruppe ist und die ihre Selbstverwirklichung im machistisch dominierten Reggaeton findet: Es wäre einfach gewesen, aus Ema ein feministisches Statement zu machen. Doch das kann und will der Film nicht sein. Larraín hat sich stattdessen für die Ambivalenz entschieden, was der sperrigere, vielleicht aber auch realistischere Blick war.

Ema funktioniert nicht als politisches Manifest, sondern als Apologie radikaler Lebensentwürfe – im Film verdeutlicht durch das sich durchziehende Motiv der Pyromanie der Protagonistin und deren Rücksichtslosigkeit, spätestens aber durch das sämtliche Konventionen sprengende Ende. Leider trägt dieses etwas arg dick auf und lässt dazu die nötige Sensibilität mit den Beteiligten vermissen. Die emotionalen Abgründe, die Ema bei ihren Mitmenschen aufreißt, hätte ein Almodóvar vermutlich etwas eleganter eingefangen.

Dennoch ist Ema ein mutiger, visuell wegweisender und trotz dramatischer Züge auch vergnüglicher Film geworden. Er dürfte mit seinem frischen und ungewöhnlichen Blick auf das Aufeinanderprallen konservativer und progressiver Lebensweisen in Chile und darüber hinaus für einige Diskussionen sorgen.

“NERUDA HÄTTE PRÄSIDENT CHILES SEIN KÖNNEN”

In diesem Film begleiten wir Neruda in jenen Jahren, in denen er in Chile untertauchen musste (1948-1950). Wir erleben die verschiedenen Orte des Geschehens auf der Leinwand in einer sehr hohen fotografischen und kinematographischen Qualität. Erzählen Sie uns ein wenig über die Arbeit an der audiovisuellen Gestaltung, die hinter dem Film steckt.
Pablo Larraín: Bezogen auf die Produktion war es ein sehr kräftezehrender Film, da wir an etwa 68 Schauplätzen drehten. Manchmal mussten wir deswegen mehr als einmal pro Tag den Drehort wechseln. Ich glaube, dass wir während der Dreharbeiten immer mehr zu verstehen begannen, was wir da eigentlich machten. Vor allem aber begannen wir, Neruda und seine Poesie besser zu verstehen. Wir waren die ganze Zeit in Bewegung und haben dabei verschiedene Aufnahmetechniken benutzt. Ich habe niemals zuvor in meiner Karriere die Kamera so häufig bewegt. Wir haben uns speziell für diese audiovisuelle Gestaltung entschieden, weil die Poesie Nerudas viel Stärke und Bewegung beinhaltet. Insbesondere Der große Gesang ist ein Beispiel für eine sehr grimmige und zornige Poesie. Sie ist transformativ und möchte eine bestimmte Ideologie verändern. Wir wünschen uns, Neruda hätte diesen Film sehen können.

Sie haben sich vor dem Film intensiv mit Neruda und seinem Leben beschäftigt. Was schätzen Sie am meisten an der Figur dieses Poeten?
Pablo Larraín: Wenn du dir Nerudas Leben genau anschaust, wirst du feststellen, dass er ein sehr guter Koch war, dass er den Wein und die Frauen liebte. Dass er ein Literaturexperte und Liebhaber von Kriminalromanen war, ein weltweit gereister Diplomat, ein Sammler, sowie ein Anführer und Angeordneter der Kommunistischen Partei, der Präsident Chiles hätte werden können – wenn er nicht Salvador Allende den Vortritt gelassen hätte. Stell dir mal vor, was hätte passieren können, wenn Neruda Präsident geworden wäre. Wir wissen es nicht. Er war aber auch ein Poet, der die Geschichte unseres Landes besser zu schreiben verstand als unsere Historiker.
Gael García Bernal: Das Bild, das man von Neruda hat, ist das eines hart arbeitenden, vor Anstrengung schwitzenden Poeten. Für mich ist er jemand, der die Komplexität des Menschen verteidigt. Aber es gibt keinen bekannten Poeten, der diese nicht auch verteidigt hätte. Was Neruda verteidigt, ist die Möglichkeit, mehrere Leben zu leben. Das wird sehr deutlich in Ich bekenne, ich habe gelebt (Veröffentlichung der Originalausgabe in spanischer Sprache 1974, Anm. d. Red.). Darin sagt er: „Mein Leben ist eines, das aus allen Leben gemacht wurde: die Leben des Poeten“ (eig. Übersetzung). Poeten wie Neruda werden dadurch motiviert, um das Undenkbare zu bitten, es ist ein Plädoyer für das Unmögliche.

Den Film lernt man insbesondere durch die Art und Weise zu schätzen, wie sich die künstlerischen und intellektuellen Strömungen aktiv an der politischen Debatte beteiligen; aber auch aufgrund eines Nerudas, der seinem absolut hedonistischen Leben frönt, während Tausende seiner kommunistischen Genoss*innen eingesperrt sind. Wie sieht Ihre Vorstellung von dem politischen Leben jener Jahre im Vergleich zu dem aktuellen, internationalen politischen Panorama aus?
Pablo Larraín: Das politische Klima in jenen Jahren war aufklärerischer. Insbesondere die Gedichte, die Neruda schrieb, gaben vor, verändern zu wollen. Diejenigen, die sie lasen, sahen sich durch das Gesagte ideologisch beeinflusst. Sie sollten einen Weg aufzeigen, wie die Welt zu denken und zu verstehen sei. Heute gibt es so etwas nicht mehr. Nicht nur die Politiker, sondern auch die Cineasten, die Poeten, die plastischen Künstler und die Schriftsteller haben ihr Interesse daran verloren, einen Wandel zu provozieren. Einen Film über diesen historischen Kontext zu drehen und dann wieder dazu überzugehen, das Gelebte zu leben, das Gedachte zu denken und das Geträumte zu träumen, ist eine schwierige Aufgabe. Wir versuchen darauf zu achten, solche Themen aufzuarbeiten, ohne leichtfertig zu sein. Denn wir wissen, wann die kubanische Revolution stattfand, wann die Berliner Mauer fiel, wer heute die USA regiert, was sich in Brasilien zugetragen hat und was in Mexiko geschieht. Es ist unglaublich, wie stark sich die Welt in so kurzer Zeit verändert hat. Ich bin mir nicht sicher, ob das zu ihrem Besseren ist.
Gael García Bernal: Die Arbeit an dem Film erinnerte uns daran, wie intellektuell jemand zu jener Zeit sein musste, um Politiker werden zu können. Vor allem wurden wir an die Rolle erinnert, die die Intellektuellen damals in der politischen Auseinandersetzung spielten. Das ist etwas, dem wir heute ganz eindeutig nachtrauern. Heutzutage ist es nahezu opportun zu sagen „Ich bin das nicht“, wie der Gewinner der Bürgermeisterwahlen von São Paulo (João Doria Jr.), dessen Leitspruch lautete: „Ich bin kein Politiker, ich bin Unternehmer“. Die Szene des Films, in der eine junge Kommunistin Neruda fragt, wie Kommunisten zu sein hätten – wie sie oder er –, spiegelt die ewige Debatte innerhalb des Kommunismus an sich wieder. In anderen Worten: Welche Form des Kommunismus wird gelebt und wie wird sie in die Praxis umgesetzt. Zu seiner Zeit gab es mehr sozialistische Tendenzen um sich von solchen Fragen frei zu machen und um sie zur Seite zu schieben, wie beispielsweise den Peronimus, der das Wohl der Allgemeinheit verkündete.

Welche Rolle spielt das Kino heute?
Gael García Bernal: Es ist interessant, über die Rolle des Kinos angesichts dieser politischen Veränderungen zu sprechen. Es stimmt, dass viel cineastisches Wirken revolutionären Zwecken diente, der Schaffung von Nation und Identität. Nehmen wir das Beispiel Mexiko. Mexiko wurde ausgehend vom Kino geschaffen. Es war der Beginn eines neuen Mexiko, das noch nicht einmal die Mexikaner kannten. Eine „indigene Identität“ wurde durch das Kino konstruiert. Gerade durch die mexikanische Revolution kamen indigene Filme in den Fokus. Das ist sehr interessant, wenn man bedenkt, dass im US-amerikanischen Film Indigene die Wilden und Bösewichte waren. Kino kann zu einem Wandel beitragen. Beispielsweise hat der Film Persona (1966) von Ingmar Bergman, die afrikanische Gesellschaft in einer Weise beeinflusst, die wir nicht nachvollziehen können. Ich glaube allerdings, dass es dem Kino nicht gerecht wird, ihm die Verantwortung zu übertragen, der Motor des Wandels zu sein.

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