“Abgetrieben wird immer und überall”

Errungenschaft der feministischen Bewegungen Seit dem Gerichtsurteil im August gibt es in Mexiko ein Recht auf Abtreibung (Foto: Gabriela Sanabria)

Viele Medien berichteten hierzulande im August über die Entscheidung der mexikanischen Justiz für ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Wurde diese Entscheidung denn nicht schon früher gefällt?
Ja und nein. Es gab bereits ein historisches Urteil des obersten Gerichtshofs am 7. September 2021, das Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisierte. Das bedeutet, dass seither jede Frau auf mexikanischem Territorium abtreiben darf und kein Staatsanwalt gegen sie ermitteln kann. Jetzt, nach zwei Jahren, wurde diese Erklärung erneuert, was viel Aufmerksamkeit geschaffen hat. Denn obwohl das Bundesrecht über Landesrecht steht, blieb der Straftatbestand in den meisten Landesverfassungen bestehen. Das erste Urteil war nicht bindend und musste nicht umgehend umgesetzt werden, das neue schon. Für mich ist das nicht der eigentliche Sieg, denn im Prinzip waren wir schon so weit. Was wir nun gewonnen haben, ist die Sichtbarkeit. Nun müssen wir den Staat dazu bringen, dieses Recht auch umzusetzen.
Aktuell haben wir zusammen mit dem Netzwerk für reproduktive Gesundheit in Chiapas eine Verfassungswidrigkeitsklage gegen den chiapanekischen Staat eingereicht. Unser Ziel ist es, den Begriff „Delikt“ in Bezug auf Abtreibungen zu streichen – außer natürlich im Falle einer Abtreibung gegen den Willen der schwangeren Person. Ganz zu Schweigen von den Zwangssterilisationen indigener Frauen durch staatliche Gesundheitseinrichtungen, die es hier ja auch gibt. Das Landesgericht von Chiapas hat die Klage abgelehnt, nun machen wir auf Bundesebene weiter.

Lässt sich die mexikanische Gesetzgebung zu Abtreibung mit der deutschen vergleichen?
Bei euch ist es restriktiver, denn es ist nur straffrei. Das heißt ein Abbruch steht grundsätzlich unter Strafe und nur unter bestimmten Bedingungen ist die abtreibende Person von der Strafe befreit. Bis vor kurzem gab es in Deutschland ja sogar das sogenannte Werbungsverbot. An dieser Stelle: Glückwunsch an die Genoss*innen, die die Kampagne zu dessen Streichung organisiert haben! Außerdem darf bei euch eine Abtreibung nur nach einer offiziellen Beratung und durch anerkannte Gesundheitsdienstleister*innen durchgeführt werden. Das ist in Mexiko anders. Wir folgen hier den Vorgaben der WHO. Diese besagen, dass es jeder Person – also nicht nur medizinischem Personal – erlaubt ist, Abtreibungsprozesse zu begleiten, wenn sie die nötigen Fähigkeiten und Fortbildungen vorweisen kann. Absaugen oder Ausschabung muss natürlich von ausgebildetem medizinischem Personal durchgeführt werden. Eine medikamentöse Behandlung jedoch kann auch ambulant stattfinden. Dabei wird von der WHO die Verwendung von Misoprostol oder einer Kombination der Wirkstoffe Mifepriston und Misoprostol empfohlen. Die WHO erklärte, dass sich seit der Pandemie viel mehr Frauen für eine Abtreibung zu Hause entscheiden und dass dies eine sichere Vorgehensweise sei. Das können wir bestätigen. Seit 16 Jahren arbeiten wir in Mexiko mit diesen Medikamenten und es gab nicht einen Todesfall.
Unser Ziel ist es, diese Informationen für alle frei zugänglich zu machen. Wir müssen sie jedoch bis in die Dörfer und Familien bringen, um zu verhindern, dass Frauen mit unsicheren Mitteln und Werkzeugen abtreiben. Denn wie wir wissen: Abgetrieben wird immer und überall unabhängig von Gesetzen, sogar die Zahlen sind relativ konstant. Die Wahl der Mittel ist entscheidend.
Mit dem neuen Urteil sind alle staatlichen Gesundheitseinrichtungen gezwungen, diese Leistung auch zu erbringen. Abtreibung ist somit ein Recht, das ich als erwachsene, sexuell aktive Frau oder Person, die schwanger werden kann, habe. Genauso wie ich gebären kann, kann ich auch abtreiben. Und das auch zweimal, dreimal, so oft ich will. Sogar der oberste Gerichtshof hat das deutlich gemacht. Abtreibung ist ein Recht der Frauen auf ihre körperliche Autonomie, auf ihre reproduktive Autonomie. Und eben auch auf ihre Gesundheit. Das ist neu und wichtig endlich anzuerkennen: Ein sicher durchgeführter Abbruch ist für einen Körper weniger gesundheitsgefährdend als eine Geburt.

Wie sieht eure Strategie aus, diese Informationen zu verbreiten?
Wir haben seit Jahren über das ganze Land Begleitnetzwerke von Personen geschaffen, die andere bei einer Abtreibung betreuen und die nötigen Medikamente besorgen. Sie haben Fortbildungen besucht und rund um die Uhr ist eine medizinische Fachkraft für sie erreichbar. Wir unterstützen auch Frauen auf der Durchreise und Migrant*innen. Unser aktuelles Projekt in Chiapas ist die Ausbildung von Multiplikator*innen, die die verschiedenen indigenen Sprachen sprechen, mit dem Ziel, dass sie in ihren Regionen weitere Begleiter*innen ausbilden.
Oft bieten die Begleitpersonen auch ihr Zuhause an, damit die betroffenen Personen einen sicheren Ort haben. Denn manchmal ist es in der eigenen Familie unmöglich, die Abtreibung durchzuführen.
In vielen Familien bekommt immer irgendjemand etwas mit, sei es eine spontane oder eine veranlasste Abtreibung. Klassischerweise ist das die Schwiegermutter, da kenne ich einige Fälle. Die sagt dann der Frau: „Du hast nicht das Recht, meinen Enkel zu töten. Du musst mich ausbezahlen für meinen Enkel. Sonst zeige ich dich an.“ Stell dir das mal vor! Das kann natürlich auch der Partner sein, oder sonst wer. Und die Frauen denken bis heute, dass sie dann ins Gefängnis kommen. Man kann Leute für alles Mögliche anzeigen. Aber niemand wird – nach der neuen Gesetzeslage – deswegen ins Gefängnis kommen. Denn es ist seit 2021 in ganz Mexiko untersagt, Ermittlungen wegen Abtreibung aufzunehmen – egal was die Landesverfassung des jeweiligen Bundesstaates sagt.

Unterstützt ihr auch über die Abbrüche hinaus?
Die Begleitnetzwerke unterstützen auch Betroffene sexualisierter Gewalt. Wollen sie im Krankenhaus abtreiben, müssen sie eine Anzeige aufgeben. Abgesehen von Mexiko-Stadt, war dies für lange Zeit der einzige Weg, um legal abzutreiben. Doch bis heute ist eine Abtreibung aus diesem Grund ein sehr langer Prozess. Manche wollen das nicht durchmachen, befürchten erneut viktimisiert oder gar kriminalisiert zu werden. Andere wollen, dass erst mal niemand von alledem erfährt. Das ist ihr gutes Recht! Die Begleiter*innen informieren sie über die verschiedenen Optionen, über private und staatliche Kliniken, Medikamente, etc. All das ist eine komplexe Arbeit und bedarf einer feministischen Perspektive!
Daher sind unsere Unterstützungsnetzwerke so wichtig. Sie informieren und geben Sicherheit, damit die Personen in Ruhe entscheiden können und nicht unter Druck gesetzt werden von ihren Familien, Partnern oder gar dem Staat und konservativem oder rassistischem Krankenhauspersonal.

Was passiert mit den Personen, die in der Vergangenheit wegen eines illegalisierten Schwangerschaftsabbruchs verurteilt wurden?
Den Daten zufolge, die wir von anderen Organisationen haben, sollte sich aktuell keine Frau wegen dem Delikt der Abtreibung mehr in Haft befinden. Dennoch gibt es in Mexiko den – zugegebenermaßen uneindeutigen – Tatbestand des „Totschlags aus Gründen der Verwandtschaft“. Somit gibt es Frauen, die nicht wegen eines Schwangerschaftsabbruchs verurteilt wurden, sondern wegen Mordes. Da ist das Strafmaß wesentlich gravierender. Diese Frauen müssen wir nun ausfindig machen. Man weiß gar nicht, wie viele das sind. In Chiapas wissen wir mindestens von einer Frau und es wird aktuell daran gearbeitet, dass sie freigesprochen wird.
Gleiches gilt auch für Fehl- oder Frühgeburten, auch die galten oft als Mord. Hier in Chiapas werden diese Prozesse gegenüber indigenen Personen geführt, ohne soziale Realitäten und feministische Perspektiven einzubeziehen. Es gibt nicht mal Übersetzung. Viele Frauen sprechen nur Tseltal oder andere Sprachen. Das ist ein Verbrechen, das der Staat hier gegenüber diesen Frauen begeht. Gleiches wissen wir aus vielen anderen Bundesstaaten.

Was sind eure weiteren Schritte und welche Erkenntnisse ziehst du aus den letzten Entwicklungen?
Meiner Meinung nach hätten wir schon vor zwei Jahren mit einer großen Kampagne starten sollen, um Frauen und Personen, die gebären können, darüber aufzuklären, dass sie nicht mehr kriminalisiert werden können. Darüber hinaus müssen wir dringend die gesellschaftliche Stigmatisierung des Themas angehen. Denn auch heute gilt: Legalisierung hin oder her, wie kann eine schwangere Person in den beschriebenen Kontexten unserer Gesellschaft eine freie Entscheidung treffen?
Aber ich finde, dass wir mit den Netzwerken zur Begleitung bei Schwangerschaftsabbrüchen einen wichtigen Zug gemacht haben. In all den Ländern, in denen die Rechte nun eingeschränkt wurden, wie in den USA oder in einigen europäischen Ländern und Kriminalisierung zunimmt, wie in Zentralamerika, zeigt sich, wie wichtig unabhängige Organisierung ist. Zwischen Frauen und Personen, die gebären können, damit wir uns gegenseitig begleiten und sichere Abtreibungen ohne Diskriminierung gewährleisten können. Das hat uns gestärkt und das kann uns kein Gesetz der Welt nehmen. Das wäre auch in anderen Ländern anwendbar. Unabhängig von Staat und Gesetz: Einfach anfangen und die Kontrolle über unsere Körper in die eigene Hand nehmen. Gerne geben wir unsere Erfahrung weiter!


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Meilenstein Ausschnitt aus dem LN-Cover zur Legalisierung von Abtreibungen in Argentinien (LN 560 – Februar 2021)

Die hart erkämpfte Legalisierung der Abtreibung in Argentinien 2020 war ein Meilenstein für die feministischen Kämpfe in Lateinamerika. Kolumbien folgte 2022 mit einem der liberalsten Abtreibungsgesetzte der Welt und auch in Mexiko haben mittlerweile immer mehr Bundestaaten Schwangerschaftsabbrüche legalisiert.

Auch in anderen Bereichen gibt es Fortschritte: Seit 2018 ist beispielsweise die Anzahl der Gründ­ungen feministischer Medien in Lateinamerika signifikant angestiegen. Zudem haben sich zahlreiche Vernetzungsstrukturen für feministische Journalist*innen gebildet, so auch das seit 2019 jährlich stattfindende Festival Zarelia. Bei diesem tauschen sich über 100 Teilnehmer*innen aus der ganzen Region darüber aus, wie feministischer Journalismus gestärkt werden kann. Die Fotojournalistin María Ruiz vom mexikanischen Onlinemedium Pie de Página beschreibt feministischen Journalismus in einem Interview mit der DW als Notwendigkeit, um der Reviktimisierung, der mangel­nden Präsenz feministischer Themen sowie der Objektivierung und Sexualisierung weiblicher Körper etwas entgegenzusetzen.

So wichtig die Erfolge der marea verde („grüne Welle“) und der feministischen Bewegung insgesamt auch sind, sind sie doch nur einige der vielen Erfolge, die es für den Fall des Patriarchats braucht. Wie Ni Una Menos-Gründerin Marta Dillon 2018 schon analysierte, wurde die Forderung der feministischen Bewegung in Lateinamerika nach einer grundlegenden Veränderung des Systems in den vergangenen Jahren noch stärker formuliert: Feministische Kämpfe müssen antikapitalistisch und antikolonial gedacht werden und sich auf alle Lebensbereiche ausweiten.

Im Hinblick darauf kann auch die feministische Bewegung in Deutschland noch das ein oder andere lernen. In der Vergangenheit haben Bewegungen aus Lateinamerika in Deutschland wichtige Debatten anstoßen können – nicht nur, aber auch in der symbolischen Verbindung von Feminist*innen aus aller Welt durch Performances wie Un violador en tu camino („Ein Vergewaltiger auf deinem Weg“) vom chilenischen Kollektiv LASTESIS. Nicht zuletzt ist der 8. März als Demonstrations- und Streiktag auch dank vieler Impulse aus Lateinamerika nun wieder eine feste Institution. Viele der heutigen Kämpfe sind transnational, sie werden an verschiedensten Orten der Welt und oft in Bezug aufeinander geführt. Auch feministische Demonstrationen in Deutschland stellen nun die Themen sexualisierte Gewalt und körperliche Selbstbestimrmung in den Mittelpunkt. Wichtige Fragen nach der Organisierung von Care-Arbeit haben weder in Lateinamerika noch hierzulande an Aktualität verloren. Doch insbesondere hier werden auch die Fallstricke deutlich, wenn Feminismus nicht in globalen Zusammenhängen gedacht wird: Zurecht kritisieren Kampagnen wie „Legalisierung jetzt!“ in Berlin die vermeintliche Emanzipation einiger privilegierter Frauen in Deutschland durch die Abgabe von Sorgearbeit an prekarisierte Migrant*innen, unter anderem aus Lateinamerika. Denn Sorgearbeit muss grundsätzlich anders organisiert werden. Auch deshalb werden wir also den feministischen Stimmen aus Lateinamerika und der lateinamerikanischen Diaspora aufmerksam zuhören. Der Blick auf die interne Heterogenität der Bewegung darf dabei nicht fehlen.

Denn bei aller Euphorie, die manches Foto von riesigen feministischen Demonstrationen auslösen kann, wurden in den vergangenen Jahren auch interne Konflikte offenkundig. Sei es die berechtigte Kritik aus Schwarzer oder indigener Perspektive, die einen dekolonialen Feminismus fordern und sich am städtischen Mittelklasse-Fokus der Bewegung stören, oder Probleme wie Transfeindlichkeit in den eigenen Reihen – diverse Stimmen lassen uns erkennen, dass auch diese neue Welle des Feminismus nicht romantisiert werden sollte.

Und apropos nicht romantisieren: „Frauenthemen“, wie sie im Editorial von 1990 (siehe unten) genannt werden, wurden über Jahrzehnte der LN-Geschichte komplett ausgeblendet, wie dort selbstironisch zugegeben wird. Heute sind Artikel, die sich mit feministischen, queeren und intersektionalen Fragen auseinandersetzen, glück­licherweise regelmäßig in den Lateinamerika Nachrichten zu finden. Was mit ein paar Frauen in der Redaktion der 1990er begann, die sich über diese Leerstelle beschwerten, ist heute Schwer­punktthema vieler Mitglieder der Redaktion. Auch die Leser*innen scheint das Thema zu beschäftigen, so ist zum Beispiel das feministische Dossier Nr. 18 „Vivas nos queremos” nicht nur eines der meistgelesenen, sondern in gedruckter Fassung inzwischen sogar vergriffen. Mit Sicherheit werden wir also auch in Zukunft über Bewegung und Entwicklung feministischer Anliegen in Lateinamerika berichten. Schon in den vergangenen zehn Jahren gab es mehr LN-Ausgaben und Artikel zu feministischen Themen als in der gesamten Zeit zuvor – und das ist auch gut so!

Johanna Saggau ist LN-Redakteurin und studiert Lateinamerikastudien
Johanna Fuchs ist LN-Redakteurin und Politikwissenschaftlerin


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SO WIRD GESCHICHTE GESCHRIEBEN

“Entscheiden ist mein Recht” Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrrüchen jetzt! (Foto: Karen Toro)

Es scheint skandalös, aber trotz einer langjährigen Debatte über Frauenrechte und des unermüdlichen Kampfes von Aktivist*innen und feministischen Organisationen, blieb in Ecuador bis 2014 ein Strafrechtskodex von 1938 bestehen, wonach eine Abtreibung nur erlaubt war, wenn die Schwangerschaft eine Gefahr für die Gesundheit oder das Leben der Mutter darstellte, oder wenn es sich um eine Vergewaltigung einer „geisteskranken oder idiotischen Frau“ handelte. „Geisteskrank oder idiotisch“, so stand es im Gesetz.

Bereits 2013 wurde die Entkriminalisierung von Abtreibung nach einer Vergewaltigung und die Reform des Strafgesetzbuches in der ecuadorianischen Nationalversammlung debattiert. Paola Pabón, derzeitig Abgeordnete von Rafael Correas Partei Allianz des Landes (AP), stellte den entsprechenden Antrag, welcher von 20 ihrer Mitstreiter*innen unterstützt wurde. Die Artikel 149, welcher das Strafmaß für medizinisches Fachpersonal regelt, das die Abtreibungen durchführt sowie der Artikel 150, welcher die Ausnahmen für eine Abtreibung nach einer Vergewaltigung darlegt, sollten für verfassungswidrig erklärt werden.

Die Reaktion darauf war von Zensur und patriarchalen Drohungen geprägt. Unmittelbar nachdem der Antrag gestellt wurde, hielt der damalige Präsident Rafael Correa eine frauenfeindliche Rede im nationalen Fernsehen und sagte, er würde sein Amt niederlegen, wenn seine Partei „diesen Verrat“ vorlegen würde. Am nächsten Tag war es offiziell: Pabón zog den Antrag vor dem Plenum zurück – im Namen der innerparteiischen Einigkeit. Schlussendlich wurde während Correas Amtszeit lediglich die Formulierung „geisteskrank oder idiotisch“ (Artikel 150 Strafgesetzbuch, Paragraf 2) durch „Frauen mit geistiger Behinderung“ ersetzt.
Was Correa damals als Sieg betrachtete, war in Wirklichkeit ein durch Angst und politische Gewalt erzwungener Sieg und markierte den Beginn neuer Strategien und Aktionen der feministischen Bewegung.

Präsident Rafael Correa würgte Bestrebungen ab, das Abtreibungsrecht zu liberalisieren

Im September 2019 stimmte die ecuadorianische Nationalversammlung erneut darüber ab, Abtreibung in Fällen von Vergewaltigung zu entkriminalisieren. Nach einer langen Mahnwache von Hunderten von Frauen, die in der Nähe des Plenarsaals grüne Fahnen schwenkten, wurde die niederschmetternde Nachricht bekannt gegeben: Die Abtreibungsgegner*innen hatten sich erneut durchgesetzt. Geschmückt von Rosenkränzen und begleitet von mittelalterlichen Gesängen, griffen sie die Frauenbewegung im Namen der Religion an, während diese von Polizist*innen mit Tränengas beschossen wurde. Wieder einmal wurde die feministische Bewegung von der Gleichgültigkeit des Gesetzgebers enttäuscht. Und wieder einmal versprachen sie sich, nicht nachzugeben, nicht zu schweigen, laut zu sein, bis das Gesetz geändert würde. Die Regierung wiederum überließ die Entscheidung stillschweigend dem Verfassungsgericht, das sich für die Verkündung des Urteils fast zwei Jahre Zeit ließ. Seit 2019 wurden von sozialen Organisationen insgesamt sieben Klagen eingereicht, damit das Gericht reagiert und die Verfassungswidrigkeit der Artikel 149 und 150 des Strafgesetzbuches feststellt.

Nur rund 11 Prozent der Taten werden angezeigt

Die Staatsmacht kümmert sich nicht um die 14 Mädchen unter 14 Jahren, die in Ecuador jeden Tag in Folge einer Vergewaltigung schwanger werden. Auch die Tatsache, dass bei der Staatsanwaltschaft jeden Tag elf Anzeigen wegen Vergewaltigung eingehen, wobei 95 Prozent der Täter zum engen Kreis der Opfer und Überlebenden gehören, wurde ignoriert. Der Regierungsapparat verweigerte die Gelder zur Ausführung des „Integralen organischen Gesetzes zur Verhinderung und Beseitigung von Gewalt gegen Frauen“ und kümmerte sich nicht um die zerstörten Lebensentwürfe der Opfer. Die Frauen vergaßen dies nicht. Sie würden – mit erhobenen Fäusten – ein neues Kapitel schreiben.

Sie hätte davon träumen können, Ärztin oder Sängerin zu werden. Sie hätte daran denken können, nachmittags mit Freund*innen zu spielen, sie hätte die Abenteuer genießen können, die das Leben lebenswert machen. Stattdessen wurde Lucía mit 14 Jahren dazu gezwungen, Mutter zu werden. Sie lebte mit ihren vier Schwestern und Brüdern, ihrer Mutter und ihrem Stiefvater zusammen. Statt von ihrer Familie umsorgt und beschützt zu werden, erlebte Lucía furchterregende Nachmittage allein mit dem Mann ihrer Mutter. Eines Tages gab ihr Stiefvater ihr dann einen Drink, um sie zu betäuben und zu vergewaltigen. Es gelang Lucía nicht, dieses schreckliche Kapitel aus ihrem Leben verdrängen und zu vergessen, wie auch, wo sie schwanger war? Sie konnte nicht zur Schule zurückkehren, hatte keine Betreuungsmöglichkeiten für ihr Kind und konnte keine Therapie machen, um das Trauma des Missbrauchs zu überwinden. Wusste der Staat, was sie, eine Überlebende, und ihr Kind, im Stillen durchlebten, während der Angreifer auf freiem Fuß war? Ja, der Staat wusste es und sah tatenlos zu.

Die Zahlen sprechen für sich: 2019 erschienen mehr als 4.000 schwangere Mädchen zu ihrem ersten Vorsorgetermin. Im Jahr 2020, mitten in der Pandemie und mit eingeschränktem Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung, waren es mehr als 3.400. Alle von ihnen wurden vergewaltigt. Und das sind nur die offiziellen Zahlen: tatsächlich zeigen nach Angaben der Frauenrechtsorganisation Surkuna nur 10,8 Prozent der Frauen und abtreibungsfähigen Personen, die Opfer einer Vergewaltigung oder anderer Sexualverbrechen wurden, ihre Angreifer an.

Zwischen August 2014 und Ende 2020 wurden 419 Frauen wegen Abtreibung verurteilt

Der Kampf für mehr Gerechtigkeit begann nicht erst 2013. Im November 2007 antwortete die Aktivistin Ana Cristina Vera auf die Frage, warum Abtreibung legalisiert werden sollte mit „Weil wir glauben, dass wir diejenigen sind, die das Recht haben, über unseren Körper zu entscheiden, zu entscheiden, wann wir Mütter sein wollen, zu entscheiden, ob wir Mütter sein wollen“.

Im Jahr 2008 lud Ana Cristina Vera die niederländische Organisation Women on Waves („Frauen auf Wellen“) nach Ecuador ein, um Frauen zu einer sicheren Abtreibung zu verhelfen. Das Prinzip von Women on Waves ist einfach, aber genial: Die Frauen machen einen Termin aus und segeln so lange, bis das Boot internationale Gewässer erreicht hat, wo die Prozedur mit sicheren und legalen Medikamenten durchgeführt werden kann, ohne Angst vor strafrechtlicher Verfolgung haben zu müssen.

Am 17. Juni des gleichen Jahres wurde die „Virgen del Panecillo“, die 41 Meter hohe Jungfrauenstatue im Herzen Quitos, mit einer Botschaft geschmückt, die bis heute im Gedächtnis der Menschen bleibt. Die Statue war mit einem weißen Transparent geschmückt, auf dem „Deine Entscheidung. Sicherer Schwangerschaftsabbruch“ sowie eine Notrufnummer für sichere Abtreibungen zu lesen war. Ana, ihre Gefährt*innen und Mitstreiter*innen sind Teil dieser Geschichte für die Anerkennung von Frauen und Mädchen als Menschen mit Würde und helfen ihnen, sich ihre Körper wieder aneignen zu können und ihre Stimmen zurückzugewinnen.

Auch am 28. April dieses Jahres versuchten religiöse Fanatiker*innen und Abtreibungsgegner*innen sich den Aktivist*innen entgegenzustellen. Getrennt durch eine Kette von Sicherheitskräften hielten sie ein Transparent auf dem „Familie, Tradition und Eigentum“ stand. Ein Mann – aggressiv, mit abgewetzter Totenkopfmaske – kletterte auf einen Baum, als wolle er sich auf die Frauen stürzen, und schrie: „Mörder, Mörder! Dies ist eine satanische Veranstaltung.“ Und während er sich als „Pro-Life“ bezeichnete, beleidigte er die Aktivist*innen, die Gerechtigkeit forderten. Die Frauen antworteten mit lauten Sprechchören, sie sangen und tanzten. Ohne Aggression, nur mit Umarmungen und in steter Wachsamkeit. Die Abtreibungsgegner*innen verstummten und verließen den Ort.

Cristina Cachaguay, nationale Präsidentin der Organisation Frauen für den Wandel, verkündete zunächst inoffiziell: „Es ist ein historischer Moment im Land. Der Kampf einer jeden von euch, der Genoss*innen aus dem Hochland, von der Küste und dem Amazonas, trägt heute Früchte. Die Richter des Verfassungsgerichts haben grünes Licht für die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs gegeben.“

„Es ist eine gewonnene Schlacht“

Im strömenden Regen schrien, weinten und umarmten sich die Frauen vor Freude. Die Bestätigung des Urteils stand noch aus, aber die Freude ließ sich nicht mehr zügeln, nicht nach so vielen Jahren, nach der Gewalt und dem Schweigen des Staates, für die 419 Frauen, die wegen Abtreibung zwischen August 2014 und Dezember 2020 verurteilt wurden. Es gab, wie man so schön sagt, Hoffnung. Ecuador – eine Nation, die die Angreifer schützt und „die Familie“ verteidigt, anstatt den Opfern zu glauben – könnte besser sein. Inmitten des Chaos und einer nicht enden wollenden Pandemie gab es einen Lichtblick. Am Morgen des 29. April verkündete das Verfassungsgericht dann das offizielle Urteil. Die historische Entscheidung wurde mit sieben Ja-Stimmen und zwei Nein-Stimmen gefällt. Am 28. April erklärte das Gericht die in Artikel 150, Absatz 2 des Strafgesetzbuches enthaltene Formulierung ‘bei einer Frau, die an einer geistigen Behinderung leidet’ für verfassungswidrig.

“Der Vergewaltiger bist du!” Die Choreographie des Kollektivs Las Tesis hallt durch Quitos Straßen (Foto: Karen Toro)

Der Beschluss ist eindeutig: Mädchen, Frauen, Jugendliche und Gebärfähige, deren Schwangerschaft das Ergebnis einer Vergewaltigung ist, werden nicht mehr kriminalisiert oder bestraft, wenn sie sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden. Auch kann das medizinische Fachpersonal, das die Eingriffe durchführt, nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden.

Blanca Chancoso, indigene Führungspersönlichkeit und eine der Gründerinnen der Konföderation der Kichwa-Nation Ecuadors (Ecuarunari), antwortet auf die Frage, was es für sie bedeutet Geschichte zu schreiben: „Es bedeutet Leben zu retten. Das, was heute erreicht wurde. Von Dorf zu Dorf, von Frau zu Frau. Wir sind so oft vergewaltigt worden, haben so viel Gewalt erlitten, seit wir Kinder waren. Auch wir, als indigene Frauen, sind verletzt worden. Dieses historische Urteil wird Leben retten und es ist sehr wichtig. Es ist eine gewonnene Schlacht. Frauen müssen sich nicht mehr an unsichere Orte begeben, an denen ihre Gesundheit bedroht wird, um abzutreiben. Sie sollen sich nicht verurteilt fühlen und wir sollen uns nicht verurteilt fühlen. Lasst uns weiter kämpfen um Chancengleichheit, für Bildung und Gesundheit.“

Die Entkriminalisierung der Abtreibung bei Vergewaltigung war dringend notwendig. Sie ist das Minimum. Die feministische Bewegung wird nicht müde. Sie ist bereit, die nächsten Schritte auf dem Weg zu einer liberalen Gesetzgebung zu ebnen. Wir werden nie wieder schweigen. Ja. So wird Geschichte geschrieben.


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OB DAS GESETZ KOMMT ODER NICHT: WIR MACHEN WEITER

CECILIA BRAGA (links im Bild) ist Psychologin aus der Provinz Neuquén, Patagonien (Argentinien), und Mitglied des feministischen Kollektivs La Revuelta. Sie hat ihre Abschlussarbeit über Abtreibung in Argentinien geschrieben und kam deshalb in Kontakt mit La Revuelta, wo sie seitdem engagiert ist. Seit Januar 2018 ist sie Teil des Kollektivs und begleitet Frauen und Queers, die abtreiben wollen.

ROSA MALDONADO ist Krankenschwester. Sie lebt in Barcelona, wo sie als Mitglied der feministischen Organisation Mika für Frauen*rechte kämpft. Außerdem engagiert sie sich im Kampf für ein universelles und kostenloses Gesundheitssystem. Sie arbeitete in Argentinien als Gewerkschaftsdelegierte des Krankenhauses Castro Rendon und unterstützte zwischen 2001 und 2004 die Arbeiter*innen der Fabrik Zanon, die unabhängig die Fabrik wieder in Gang setzten.

 

Abtreibung ist in Argentinien illegal, so wie in den meisten lateinamerikanischen Ländern. Sie begleiten Frauen und Queers, die sich dazu entscheiden, es dennoch zu tun. Trotzdem treten Sie öffentlich und mit vollem Namen auf?
Cecilia Braga: Das ist eine bewusste Entscheidung. Wir verstecken uns nicht.
Rosa Maldonado: Wir geben nur Informationen heraus und begleiten Frauen, die abtreiben wollen. Wir brauchen uns nicht zu verstecken.

Haben Sie keine Angst?
C.B.: Unser Aktivismus ist riskant. Wir und die Frauen, die wir begleiten, riskieren viel. Die Abtreibungen an sich sind aber nicht wegen der dabei verwendeten Medikamente riskant, sondern weil sie heimlich stattfinden. Die Frauen sterben nicht an den Medikamenten, sondern an unsicheren Methoden.

Und dort kommen Sie ins Spiel. Wie entstand das Netzwerk der Socorristas?
C.B.: Wir kommen von La Revuelta, der ersten Organisation in Argentinien, die die sogenannte rosa Hilfe (socorro rosa), angewendet hat. La Revuelta gibt es seit 2001 und wendet seit 2013 die rosa Hilfe in Neuquén an. Im gleichen Jahr hat dieses Kollektiv die Entstehung des nationalen Netzwerkes der Socorristas angestoßen. Besagtes Netzwerk wuchs und gewann an Sichtbarkeit. Seitdem gibt es einmal im Jahr ein nationales Plenum. Dort treffen sich alle 52 Gruppen der Socorristas Argentiniens, um verschiedene Themen zu diskutieren.

Sie erwähnten die rosa Hilfe. Was ist das? Wie wird dabei vorgegangen?
C.B.: Die rosa Hilfe haben wir von Aktivistinnen in Frankreich übernommen. Es ist eine Möglichkeit, Frauen mit Abtreibungswunsch zu begleiten. Es gibt vier Schritte: Zuerst werden die Frauen telefonisch beraten. Dabei geht es darum, ihnen die Ängste zu nehmen und sie wissen zu lassen, dass wir sie begleiten und eine Lösung finden werden. Der zweite Schritt ist ein Workshop, in dem wir alle nötigen Informationen zur Abtreibung mit Medikamenten bereitstellen. Die Medikation, eine Kombination aus Misoprostol und Mifepriston, ist von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlen. Wir wenden das von der WHO herausgegebene Protokoll an und werden dabei von Ärztinnen und Ärzten unterstützt. Wenn wir all diese Informationen an die Frauen weitergeleitet haben, füllen wir einen Vertrag aus, eine politische Vereinbarung des Netzwerks der Socorristas. Dieser Vertrag dient dazu, Informationen über die von uns begleiteten Frauen zu sammeln. Danach folgt die eigentliche Abtreibung und die anschließende medizinische Kontrolle. Außerdem gibt es noch die violette Hilfe (socorro violeta) für Fälle von Gewalt. Wir beraten nicht nur und stellen in Workshops Informationen zur Verfügung, wir begleiten auch den Moment der Abtreibung telefonisch und haben dafür Personen in Bereitschaft.

Wer organisiert die Workshops?
C.B.: Die Socorristas. Ich selbst bin Psychologin, die Mehrheit der Socorristas sind Lehrkräfte, Sozialarbeiterinnen oder arbeiten im Gesundheitswesen. Jede Person, die die Vorgehensweise kennt, kann den Workshop geben. Wir bilden auch Frauen aus, die lernen wollen, Abtreibungen zu begleiten. Letztes Jahr hat uns die marea verde [Anm. d. Red.: Grüne Flut, Bezeichnung der Bewegung für die Legalisierung von Abtreibung, die sich auf das Symbol der grünen Halstücher bezieht] überschwemmt, von 30 sind wir auf 52 Gruppen angewachsen. Es ist eine Herausforderung, Schulen für Socorristas aufzubauen und an abgeschiedene Orte des Landes zu reisen. Manche Frauen können nicht 600 km weit reisen, um den Workshop zu besuchen. Es war eine strategische Überlegung, diese Schulen aufzubauen, damit neue Gruppen entstehen.

Wie oft finden die Workshops statt?
C.B.: In Neuquén, einer der Provinzen, in der am meisten Frauen bei Abtreibungen begleitet werden, geben wir jeden Tag Workshops, manchmal zweimal am Tag. Und wir machen Gruppentreffen mit fünf, sechs oder mehr Frauen. Manchmal, wenn das Telefon heiß läuft, bieten wir sogar noch mehr Treffen an. Andere Provinzen, in denen ebenfalls viel begleitet wird, sind zum Beispiel Córdoba, Buenos Aires und Tucumán.

Wie finden die Personen, die abtreiben wollen, denn zu Ihnen?
C.B.: Es gibt hilfsbereite Ärzte und Ärztinnen, die unseren Kontakt weitergeben. Da gibt es einen Widerspruch, denn in Fällen von Vergewaltigung oder gesundheitlichen Problemen könnten sie einen legalen Schwangerschaftsabbruch gewährleisten. Warum also verweisen sie die Frauen an uns? Wir verlangen deshalb manchmal vom Gesundheitssystem Hilfe, in anderen Fällen wissen wir, dass da nichts geschehen wird und begleiten selbst. In Neuquén haben wir außerdem unglaublich viel Infomaterial verteilt. Zudem werden wir auch zu Gesprächen in Schulen eingeladen und bieten immer wieder Workshops an. In diesem Jahr haben wir eine beeindruckende Anzahl von Workshops in verschiedenen Schulen gegeben.

 

In Argentinien und Berlin: Für legale Abtreibungen (Foto: privat)

Was für ein Widerspruch, oder? Einerseits ist Abtreibung illegal, anderseits bieten Sie Gesprächsrunden in staatlichen Institutionen an….
C.B.: Ja, in Neuquén weiß die Regierung von uns. Wir werden von den Schulen eingeladen, um über Gewalt zu sprechen. Aber die Jugendlichen wollen mehr wissen: Wie wir das machen, wie wir begleiten. Also geben wir ihnen entsprechende Informationen. Es ist beeindruckend, wie sie darüber reden wollen. Da es viele Lehrer gibt, die das Gesetz der Integralen Sexualerziehung nicht anwenden, haben die Jugendlichen viele Fragen.

In Argentinien wird Misoprostol in Apotheken nur auf Rezept herausgegeben, theoretisch also nur in Fällen, in denen eine Abtreibung legal ist. Wie kommen Sie an die Tabletten?
C.B.: Manche Frauen besorgen sich das Medikament auf eigenen Wegen und wenden sich mit der Frage nach der richtigen Anwendung an uns. Denn oft erklären nicht einmal die Ärzte das Vorgehen. Es gibt auch Apotheken, die sich weigern, Misoprostol herauszugeben. Es war klar, dass nach der massiven Mobilisierung letztes Jahr, der grünen Flut, auch eine Gegenbewegung, dieses „Wir retten beide Leben“ entsteht. In vielen Apotheken verweigern sie sogar die Ausgabe der Pille danach, sie sagen dir: „Ich gebe dir das nicht, denn für mich ist das Abtreibung“. Wir haben Allianzen und Netzwerke mit internationalen feministischen Organisationen geschmiedet, die daran mitarbeiten, das Medikament zugänglich zu machen.
R.M.: Es ist wichtig zu betonen, dass dieser Rahmen der Illegalität den Schwarzmarkt fördert. Nicht nur was die Medikation angeht, sondern auch die Praxis der Abtreibung. Es gibt Ärzte, die sich für Abtreibungen teuer bezahlen lassen. Anderseits gibt es auch Beschwerden vom Personal gynäkologischer Abteilungen, denen Misoprostol nicht einmal für die beiden Fälle, in denen Abtreibung legal ist, zur Verfügung steht. Die „Kindermütter“ sind da ein weiteres sehr deutliches Beispiel für die Abwesenheit des Staates. Vor zwei Wochen gab es in einem solchen Fall ein Urteil. Der Fall des Arztes aus Cipoletti, der eine junge Frau, die vergewaltigt wurde, betreut hat. Sie hat sich danach an uns gewendet. Sie wurde von der Polizei ins Krankenhaus geschickt und hat sich dort einem „Pro-Leben-Gynäkologen“ gegenüber gesehen. Dieser hat ihr nicht nur die Abtreibung verweigert, sondern auch noch eine begonnene Abtreibung gestoppt und später eine Geburt eingeleitet. Der Fall ist sehr bekannt, denn es war der erste Fall, in dem ein Arzt verurteilt wurde. [Anm. d. Red.: Der Arzt Leandro Rodríguez Lastra wurde beschuldigt, das Prozedere einer legalen Abtreibung gestoppt zu haben. Gemäß den Angaben der Staatsanwaltschaft verabreichte er einer vergewaltigten jungen Frau ein Medikament, welches den bereits begonnen Prozess rückgängig machte. Nach diesem Eingriff wurde das Opfer gegen ihren Willen bis zur Geburt zwei Monate im Krankenhaus interniert. Am 21. Mai 2019 wurde Rodríguez Lastra schuldig gesprochen].

Jedes Mal, wenn Sie eine Abtreibung begleiten, werden einige Daten erhoben. Erstellen Sie Statistiken über die Zahl der Frauen und Queers, die sich an Sie wenden und die Sie begleiten?
C.B.: Ja, wir systematisieren das. Die Daten und Statistiken sind auf unserer Website abrufbar. Diese Information dienen auch dazu, Mythen zu widerlegen: Zum Beispiel gibt es viele religiöse Frauen, die dennoch abtreiben. All diese Daten haben wir beispielsweise zum Kongress mitgebracht, als dort 2018 über die Legalisierung der Abtreibung debattiert wurde.

Wie funktioniert die Finanzierung des Netzwerkes? Woher kommen die Mittel?
R.M.: Wir finanzieren uns über verschiedene Projekte. In Barcelona zum Beispiel gibt es ein Projekt der Calala-Stiftung zum Thema Arbeit und Informationsverbreitung. Wir finanzieren uns aber auch durch kulturelle Veranstaltungen, die wir selbst organisieren und durch Spenden von Organisationen und anderen feministischen Kollektiven.
C.B.: Die, die schon länger dabei sind, haben uns erzählt, dass sie früher alles aus eigener Tasche bezahlen mussten. Wenn ein Treffen in einer anderen Stadt stattfand, wurden Fahrgemeinschaften organisiert. Heute können wir einen Bus mieten und gemeinsam reisen, und wer wenig hat, kann weniger zahlen.

Sie versuchen aktuell, eine Gruppe der Socorristas in Berlin aufzubauen. Mit welchem Ziel?
R.M.: Wir sind auf der Suche nach Solidarität mit unserem Anliegen, nach Unterstützung für unser Netzwerk. Ein weiteres Anliegen ist das Thema der Ultraschall-Untersuchungen. Wir bitten die Frauen, die abtreiben wollen, sich vorher untersuchen zu lassen. Ein Ultraschall vor der Abtreibung, um zu erkennen, in welcher Schwangerschaftswoche sie sind und eine abschließende Kontrolluntersuchung. Sehr viele Frauen habe heute keine Krankenversicherung, also gehen sie in die öffentlichen Krankenhäuser, die wegen der Krisensituation, die das Land durchlebt, überfüllt sind. Dort müssen sie oft Monate auf einen Untersuchungstermin warten. Das ist ein heikles Thema, denn es ist nicht das gleiche, nach wenigen Wochen abzutreiben oder erst nach dem ersten Drittel der Schwangerschaft. Darum haben wir ein Projekt gestartet, mit dem wir versuchen, Unterstützung für die Anschaffung von vier Ultraschallgeräten zu gewinnen. Diese wollen wir in verschiedenen Orten des Landes einsetzen, in denen die wir die meisten Abtreibungen begleiten. Auch die bedürftigsten Frauen, ohne Krankenversicherung, sollen Zugang zu einer Ultraschalluntersuchung vor und nach der Abtreibung haben.

Millionen Menschen warten darauf, dass der Gesetzentwurf zur freiwilligen Unterbrechung der Schwangerschaft verabschiedet wird. Was ist die Zukunft der Socorristas, falls dies endlich geschehen sollte?
C.B.: Ob das Gesetz kommt oder nicht, wir machen weiter. Manche Frauen, die auch zu einem Gesundheitszentrum gehen könnten, um abzutreiben, sagen: „Nein, ich mache das lieber mit euch“. Denn sie wissen, dass sie bei uns betreut werden, dass wir da sind, dass wir sie begleiten. Es ist eine andere Art der Begleitung, eine feministische Begleitung.

 


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NICHT MEHR ZU STOPPEN


Grüne Flut Demonstration am 28. Mai in Buenos Aires // Foto: Inés Ripari

Trommelwirbel und Sprechgesänge schallen durch das Zentrum von Buenos Aires. Wo sonst Busse und Autos fahren, werden Infozelte und Essensstände aufgebaut. Es ist ein sonniger Herbstnachmittag und der Strom an Menschen, die ein grünes Tuch um den Hals oder ans Handgelenk gebunden tragen und auf den Vorplatz des Kongresses ziehen, bricht über Stunden nicht ab. Grün, das ist die Farbe der argentinischen Kampagne zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Und diese hat am 28. Mai zu einer erneuten „Marea Verde“, einer „grünen Flut“ im ganzen Land aufgerufen.

Es sind vor allem Schüler*innen, junge Frauen und Queers, die den Platz an diesem Dienstagnachmittag einnehmen. Das grüne Glitzer ist zurück auf den Wangen und Augenlidern. Sie wirken entschlossen. Man merkt, dass sie mit der feministischen Bewegung der letzten Jahre groß geworden sind. Chiara ist 15 Jahre alt und mit ihren Schulfreund*innen da, über mehrere Stunden performen sie ausgefeilte Choreografien zu selbstgetexteten Demoliedern. In einer kurzen Pause erzählt sie: „Wir haben kaum Sexualkundeunterricht an unserer Schule, obwohl es seit 2006 ein gesetzliches Recht auf eine integrale Sexualerziehung gibt. Die Aufklärungsworkshops, die alle paar Monate stattfinden, sind grottenschlecht. Also haben wir angefangen, uns selbst zu organisieren, Versammlungen in der Schule abzuhalten und uns gegenseitig zum Thema Abtreibung zu informieren. Das Recht auf Sexualerziehung und auf Abtreibungen gehört für uns zusammen.“

„Macri Ciao, Macri Ciao, Macri Ciao Ciao Ciao“

Während Chiara spricht, stimmen ihre Freund*innen den nächsten Song an: Ein Bella Ciao-Cover auf argentinisch. Sie schleudern ihre grünen Halstücher in die Höhe und rufen dabei gen Kongress „Macri Ciao, Macri Ciao, Macri Ciao Ciao Ciao.“ Dass im Oktober gewählt wird und dass die Sparpolitik des Präsidenten Macri nicht mehr auszuhalten ist, ist seit Monaten allgegenwärtiges Thema bei den feministischen Mobilisierungen. „Alles was Macri macht, ist einfach nur schlecht.“, findet Chiara. „Wir fordern kostenlose Abtreibung in allen staatlichen Krankenhäusern und er schafft erstmal das Gesundheitsministerium ab. Das ist doch ein Witz.“ Im September letzten Jahres, nach einem rasanten Anstieg des Dollarpreises, hatte Macri sein Kabinett von 19 Ministerien auf 10 zusammengeschrumpft. Dabei wurde aus dem vorher eigenständigen Gesundheitsministerium ein Se­kretariat innerhalb des neugegründeten Ministeriums für Gesundheit und soziale Entwicklung. Mehrere Ministerien in einem bedeutet weniger Ressourcen für die einzelnen Bereiche. Diese Voraussetzungen erschweren die Umsetzung des aktuellen Gesetzesvorschlags.

”Wir trans Männer treiben auch ab” Federico auf einer Demo

Im Kern hat sich an den Forderungen seit 2005 wenig verändert. Diese lauten: Legale, kostenlose und sichere Abtreibung bis zur 14. Schwangerschaftswoche, im Fall einer Vergewaltigung sowie wenn die Gesundheit oder das Leben der schwangeren Person bedroht sind, auch nach der 14. Woche. Es sollen Beratungsstellen im ganzen Land eingerichtet werden. Diese aufzusuchen, soll aber freiwillig bleiben. Ein Abbruch soll innerhalb von fünf Tagen in jedem öffentlichen Krankenhaus möglich sein. Veränderungen gab es bei der Inklusivität des Entwurfs. Abtreibungen sollen für alle Menschen, unabhängig vom Aufenthaltsstatus, zugänglich sein. Außerdem ist nicht mehr nur von Frauen die Rede, sondern von allen gebärfähigen Personen. „Dadurch, dass insgesamt mehr öffentlich über Abtreibungen gesprochen wurde, wurde ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass nicht nur cis-Frauen abtreiben, sondern auch Menschen mit anderen Genderidentitäten, zum Beispiel wir Trans und Nonbinaries“, erklärt der 17-jährige Federico, der auch schon 2018 bei den Mobilisierungen dabei war. Auf die Frage, warum er für die Legalisierung von Abtreibung auf die Straße geht, antwortet Federico: „Das Grundrecht, selbst über unsere Körper zu bestimmen, ist uns der Staat seit dem Ende der Diktatur in Argentinien noch schuldig. Für uns war die Demokratie nie eine richtige Demokratie, denn unsere Identität, unsere Körper, unsere Lebens­weisen werden unterdrückt. Wir wollen selbst über unsere Lebensentwürfe und Familienplanung entscheiden können.“

Obwohl Schwangerschaftsabbrüche in Argentinien momentan unter den drei Umständen der Bedrohung der Gesundheit beziehungsweise des Lebens der schwangeren Person oder nach einer Vergewaltigung bereits legal sind, gibt es täglich Fälle, in denen Ärzt*innen oder ganze Krankenhäuser Schwangeren ihr Recht auf eine Abtreibung verweigern. Viele Schwangere suchen daher erst gar kein Krankenhaus auf, um sich nicht mit der Situation von Schuldzuweisung und Stigmatisierung konfrontieren zu müssen. „Etwa 500.000 klandestine Schwangerschaftsabbrüche finden pro Jahr in Argentinien statt“, beschreibt Victoria Tesoriero, Dozentin für Soziologie und Aktivistin der Kampagne, die Situation. „In den letzten Jahren sind daher feministische Netzwerke und Beratungsstellen entstanden, die Abtreibungen mit Misotropol-Tabletten begleiten. Diese finden zu Hause statt. Aber diese Informationen kommen nicht bei allen Schwangeren an. Es gibt eine riesige Kluft zwischen Buenos Aires und den restlichen Provinzen was den Zugang zu medizinischer Grundversorgung betrifft. Das Risiko, an einer klandestinen Abtreibung zu sterben, hängt davon ab, in welcher Provinz und in welcher sozialen Klasse man geboren wird. 2018 sind 33 Frauen bei klandestinen Abtreibungen umgekommen, in den Jahren zuvor noch viel mehr.“ Sie hat selbst mit 15 abgetrieben. „Meine gesamte Familie hat damals Geld zusammengelegt, damit ich in eine Klinik gehen konnte. Mein Vater dachte, ich würde sterben. Viele Jahre lang habe ich nicht darüber geredet. Gegen Ende meiner Schulzeit fing ich dann an, mich in Frauenorganisationen zu engagieren, ich fuhr zum ersten Mal zum Nationalen Frauentreffen und lernte dort die Aktivist*innen der Kampagne kennen und schloss mich der Gruppe an. Das war vor elf Jahren.“

Vom Geschehen auf dem Platz bekommt Victoria diesmal nur über die Whatsapp-Nachrichten etwas mit, die sie immer wieder drinnen im Kongress erreichen. Sie ist Teil der Delegation der Kampagne, die die Pressekonferenz im Abgeordnetenhaus hält. Diese wird per Livestream auf einem Bildschirm draußen übertragen. Es ist bereits dunkel, als der letzte der 20 Punkte des Gesetzesentwurfs verlesen wird. Die Vertreter*innen der Kampagne drinnen wie die Menschen auf der Straße brechen in Jubel aus. Immer wieder werden Erinnerungen an die Demos des letzten Jahres geteilt, wie kalt es im Juni bei der Debatte im Abgeordnetenhaus war, wie sie unter mitgebrachten Decken zusammenrückten und Wein zum Aufwärmen tranken. Wie unangenehm der Regen bei der Senatsdebatte im August war, wie still es wurde, als die Entscheidung des Nein die Runde machte, wie fassungslos alle waren. Es klingt, als seien diese kollektiven Momente im Kampf um reproduktive Rechte Schlüsselereignisse dieser Generation argentinischer Frauen und Queers. Alle sind sich sicher, dass das Gesetz durchkommt. Wenn nicht dieses Jahr, dann spätestens im nächsten.

“Unser Hauptziel ist es gerade, Einfluss auf den Wahlkampf zu nehmen und Druck aufzubauen”


„Zu einer Abstimmung über das Gesetz kommt es wahrscheinlich erst nach den Wahlen. Unser Hauptziel ist es gerade, Einfluss auf den Wahlkampf zu nehmen und Druck aufzubauen. Die Kandidat*innen und Parteien sollen öffentlich Stellung nehmen, wie sie zum Thema Abtreibungslegalisierung stehen“, erklärt Victoria nach der Pressekonferenz. Noch am Dienstag unterschreiben 70 von 257 Abgeordneten den Gesetzesentwurf. Eine Umfrage der Kampagne hat 2018 ergeben, dass 70 Prozent der Argentinier*innen für die Legalisierung von Abtreibungen sind. Ersten Schätzungen zu Folge sind es 500.000 Menschen, die am Dienstag an über 100 Orten in Argentinien auf der Straße sind. In den sozialen Netzwerken zirkulieren Fotos von Kundgebungen aus der ganzen Welt, stets mit einem Meer aus grünen Pañuelos. Über das Ausmaß der Demonstrationen zeigt sich Victoria überrascht. „Es war ja ‚nur‘ die Präsentation des Gesetzesentwurfs. Wie wird das erst, wenn tatsächlich abgestimmt wird? Diese Bewegung ist nicht mehr zu stoppen.“

Als der offizielle Akt vorbei ist, stehen in den Straßen des Kongressviertels schon die Grills bereit. Es gibt Bier und Musik und der Geruch nach Grillfeuer mischt sich mit dem Rauch grüner Bengalos, die immer wieder gezündet werden. Um kurz vor Mitternacht leert sich der Platz, denn für den 29. Mai ist ein Generalstreik angesagt und der öffentliche Verkehr steht für 24 Stunden still. Doch schon bald sollten sie alle zurückkommen. Das feministische Kollektiv Ni Una Menos hat für den 3. Juni zum fünften Mal zur jährlichen Großdemo ausgerufen.

 


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GRÜNE WELLE SOLL ZUM TSUNAMI WERDEN

Lautstarke Bewegung Millionen Menschen forderten am 8. August das Recht auf Abtreibung (Foto: lavaca.org)

Darf in Argentinien unter keinen Umständen abgetrieben werden?

Doch, 1921 wurde ein Gesetz zur teilweisen Strafbefreiung der Abtreibung beschlossen, das den Schwangerschaftsabbruch unter drei Umständen erlaubt: wenn die Schwangerschaft das Leben der Mutter gefährdet; wenn die körperliche, psychische oder emotionale Gesundheit der Mutter gefährdet ist; und wenn die Schwangerschaft das Ergebnis einer Vergewaltigung ist. 2012 ratifizierte das Oberste Gericht Argentiniens in der „F.A.L. Entscheidung“ das Recht auf Abtreibung, sollte sich eine Frau in einem der drei Umstände befinden. Es gibt also Gründe, die die Abtreibung in Argentinien legalisieren. Allerdings sind die Möglichkeiten dennoch sehr begrenzt, weshalb wir seit Jahren für eine komplette Legalisierung der Abtreibung kämpfen.

Wie ist die Kampagne entstanden?

Während des nationalen Frauentreffens in Rosario 2003 fand ein Workshop zum Recht auf Abtreibung statt, der von einem bereits seit über zehn Jahren existierenden Zusammenschluss organisiert wurde. Dort wurde ein Aktionsplan verabschiedet, der zum einen den 28. September. zum Aktionstag zur Legalisierung der Abtreibung in Lateinamerika erklärte und zum anderen die Gründung einer Kampagne zum Recht auf Abtreibung beschloss. Diese sollte drei Ziele verfolgen, die gleichzeitig ihr Motto sind: „Sexualunterricht zur Vorbeugung; Verhütungsmittel, um nicht abtreiben zu müssen, und legale Abtreibung, um nicht zu sterben.“ Zwei Jahre später wurde die Kampagne in Córdoba offiziell gestartet.

Wieso hast du dich der Kampagne angeschlossen?

2003 während des Frauentreffens in Rosario erhielt ich ein grünes Tuch, auf dem die Entkriminalisierung der Abtreibung gefordert wurde. Mit einem Textmarker fügte ich noch die Legalisierung hinzu, denn ich hatte das Gefühl, dass die Entkriminalisierung den Staat aus der Pflicht nahm, entsprechende Maßnahmen zur körperlichen Integrität der Schwangeren umzusetzen. Nach meiner Rückkehr nach Glew, wo ich damals lebte und politisch aktiv war, erfuhr ich dann, dass ein Mädchen bei dem Versuch, mit Stricknadeln abzutreiben, umgekommen war. Eine andere lag im Krankenhaus, weil sie versucht hatte, mit Petersilie abzutreiben. Das war 2003. Leider hat sich seitdem nichts geändert. Fast täglich hören wir von jungen Frauen, die beim Versuch abzutreiben, sterben, wie z.B. einen Tag nach dem 8. August 2018, als der Versuch mit Petersilie abzutreiben, einer Mutter von zwei kleinen Kindern das Leben kostete. Tatsächlich werden bei einer Mehrzahl der Frauen, die auf Grund des Versuches eine Abtreibung vorzunehmen, sterben, körperliche Verstümmlungen gefunden. Laut Schätzungen treiben in Argentinien jährlich etwa 500.000 Frauen heimlich ab.

Wie organisiert ihr euch?

Die Kampagne ist ein pluraler, heterogener, föderaler, basisdemokratischer Raum, der auf Konsensbildung ausgerichtet ist. Solange du das dreifache Motto unterstützt, kannst du mitmachen, unabhängig von deiner politisch-ideologischen Zugehörigkeit. Heute sind mehr als 500 Organisationen im ganzen Land Teil der Kampagne, die sich auch international vernetzt. Wir organisieren jährliche Treffen, bei denen Strategie­pläne für das Jahr ausgearbeitet werden. Zudem haben wir es geschafft, dass es inzwischen Vorlesungen zum Thema an fast jeder öffentlichen Universität gibt. Poesiekreise, Zirkusgruppen, Unternehmerinnenzirkel, unabhängige Verlagsgruppen und viele andere haben sich der Kampagne vor allem im vergangenen Jahr ange­schlossen. Zudem unterhalten wir ein Netzwerk von Ärzten, die legale Abtreibungen vornehmen und Lehrern, die Sexualunterricht an Schulen geben.

Wie habt ihr es geschafft, so enorm zu wachsen?

Die Kampagne hat über zehn Jahre Aufklärungsarbeit an der Basis betrieben. Zudem ist die Bewegung der Frauen und Feministinnen in Argentinien in den letzten Jahren exponentiell gewachsen, wobei sowohl die Bewegung zur Gewalt gegen Frauen (Ni una Menos), als auch die seit über 30 Jahren stattfindenden nationalen Frauentreffen Impulsgeber sind. Aus der Vielzahl von Aktionen und Debatten zu den unterschiedlichsten Themen, die unser Geschlecht betreffen, hat sich in den vergangenen Jahren eine mächtige Bewegung entwickelt, was bei den letzten Demonstrationen am 8. März und am 3. Juni, sowie zu den zwei Abstimmungstagen des Gesetzes am 13. Juni und am 8. August eindrucksvoll gezeigt wurde.

Stimmte das im Senat zur Abstimmung stehende Gesetz mit euren Forderungen überein?

Das am 13. Juni vom Abgeordnetenhaus beschlossene Gesetz basierte auf unserem Gesetzesvorschlag, wenn es auch einige Änderungen enthielt. Dennoch konnten wir viele unsere Forderungen durchsetzen, wie die Legalisierung der Abtreibung bis zur 14. Schwangerschaftswoche. Da die Senatoren es jedoch am 8. August ablehnten und sich auch nicht auf eine Debatte über mögliche Änderungen einlassen wollten, konnte es nicht in Kraft treten. Tatsächlich gab es sogar Senatoren, die offen zugaben, das Gesetz nicht einmal gelesen zu haben.

Aus welchen Gründen wurde das Gesetz abgelehnt?

Die Argumente kommen von jenen, die wir „Anti-Rechte (Anti-Derechos)“ nennen, wobei sie sich selbst als „pro Leben“ bezeichnen. Ihre Kampagne ist eng an die katholische und die evangelikalen Kirchen gebunden, die im Vorfeld der Abstimmung einen großen Einfluss auf die Senator*innen genommen haben. So meinten sie unter anderem, dass eine Frau ihr Kind nach der Geburt zur Adoption freigeben könnte, wenn sie es nicht wollte. Zudem ist das Gesetz laut ihnen verfassungswidrig und Abtreibung Mord.

Wie war und ist die Stimmung jetzt in der Bewegung?

Das Nein der Senator*innen war ein harter Rückschlag nach so vielen Monaten der ständigen Mobilisierung, mehreren Aktivitäten pro Woche, Podiumsdiskussionen, Gesprächskreisen usw., und all das neben der Arbeit, denn das Engagement bei der Kampagne wird nicht bezahlt. Dennoch sind wir sehr stolz auf das Erreichte, denn inzwischen hat sich in der Gesellschaft so etwas wie ein Konsens ausgebreitet, dass Abtreibung nicht länger kriminalisiert werden soll. Es gibt heute keinen Ort in Argentinien, wo nicht über das Thema geredet wird. Unser Symbol, das grüne Tuch, hängt an tausenden von Rucksäcken und Taschen im ganze Land.

Wann kann das Gesetz das nächste Mal zur Abstimmung kommen?

Wir können das Gesetz nächstes Jahr erneut zur Abstimmung vorschlagen. Allerdings ändert sich die Zusammensetzung des Parlaments und des Senates mit den Wahlen im Oktober 2019. Die neu gewählten Volksvertretern übernehmen ihre Posten dann im Dezember, wobei die Arbeit des Parlaments nach den Sommerferien im März 2020 beginnt. Daher stellt sich für uns die Frage, ob es Sinn macht, das Projekt denselben Repräsentanten vorzulegen, die sich bereits dagegen ausgesprochen haben, oder ob es nicht geschickter ist, die neue Zusammensetzung der gesetzgebenden Organe abzuwarten. Das werden wir jetzt als Kampagne diskutieren, allerdings besteht für uns kein Zweifel daran, dass wir das Gesetz erneut vorlegen werden. Bis dahin bleiben wir aktiv und präsent auf der Straße.

Wie geht es jetzt weiter?

Mitte September findet unser nächstes nationales Treffen statt, wo wir über unser weiteres Vorgehen beraten werden. Gleichzeitig werden wir weiter daran arbeiten, dass die Abgeordneten und Senatoren verstehen, dass ihr Nein sie für jede neue Abtreibungstote verantwortlich macht, und versuchen, Druck auf jene Provinzen auszuüben, wo Ärzt*innen juristisch belangt werden, die legale Abtreibungen durchführen. Derzeit bereiten wir außerdem die Demonstration zum 28.9. vor, damit die grüne Welle nicht nur unser Land, sondern den ganzen Kontinent erfasst. Tatsächlich hat sie sich bereits auf Chile, Brasilien, Mexiko, Peru, Kolumbien, Venezuela, die Dominikanische Republik und Costa Rica ausgebreitet, und wir sind uns sicher, dass sie solange wachsen wird, bis sie die Ausmaße eines Tsunamis angenommen hat – und dann zum Gesetz wird!


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KAMPF DEN DINOSAURIERN

Mit Grün gegen das Patriarchat Proteste für das Recht auf  Abtreibung vor dem Kongress (Foto: Prensa Obrera, CC BY 4.0)

Grün ist die Farbe dieses argentinischen Herbstes. Zunächst waren die Dienstage und Donnerstage grün, dann wurden es alle Wochentage. Bei Aktionen im ganzen Land zogen hunderte und tausende Frauen mit grünen Halstüchern durch die Straßen und bis vor das Parlamentsgebäude. Das pañuelo verde (grünes Tuch) ist zum allgegenwärtigen Symbol für das Recht auf Abtreibung geworden, das derzeit im argentinischen Kongress diskutiert wird.

Argentinien trägt grün, denn die Debatte um Legalisierung der Abtreibung wird derzeit an jeder Straßenecke geführt. Sie ist präsenter denn je – auch wenn sie nicht ganz neu ist. Seit 30 Jahren ist das Recht auf Abtreibung eine der zentralen Forderungen der argentinischen Frauenbewegung. Seit 13 Jahren gibt es die Nationale Kampagne für das Recht auf legale, sichere und kostenfreie Abtreibung, ein Bündnis von mittlerweile über 300 verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Gegründet auf einem der legendären Nationalen Frauentreffen, zu denen heute jährlich 100 000 Frauen aus dem ganzen Land pilgern, hat die Kampagne ein Gesetzesprojekt zum selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch entwickelt. Der heute im Parlament zur Debatte stehende Entwurf ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit, Reflexion und Anpassung in kollektiven Prozessen. Es ist bereits der siebte Versuch, das Gesetz ins Parlament einzubringen, aber der erste, der es bis zur Verhandlung gebracht hat. Für viele ist das ein historischer Moment, der dem unermüdlichen Aktivismus, Durchhaltevermögen und nicht zuletzt dem Druck der Straße zu verdanken ist. „Wir haben unglaubliche Fortschritte gemacht“, sagt Carolina Balderrama, feministische Journalistin in der Nachrichtenagentur Telam, über die Bewegung. „Wir sind auf jeder Tagesordnung. Es gibt einfach keinen Ort mehr, an dem nicht über Feminismus, über Abtreibung, über die Rechte der Frauen diskutiert wird.“

Am 13. Juni werden zunäachst die Abgeordneten des Unterhauses über den Gesetzesentwurf abstimmen, bei positivem Ausgang wird er dem Senat vorgelegt. Zuvor hatten 738 geladene Personen jeden Dienstag und Donnerstag vom 10. April bis 31. Mai ihre Argumente für oder gegen die Gesetzesvorlage dargelegt. Vier Kommissionen erstellen auf Grundlage der Anhörungen ein Gutachten für die Abstimmung. Das Ergebnis ist denkbar knapp. Entscheidend werden die kaum 30 bislang unentschiedenen Stimmen sein, die hart umkämpft sind. Laut öffentlicher Stellungnahmen waren am letzten Anhörungstag 112 Abgeordnete für und 115 gegen den Gesetzes­entwurf, diese Zahlen jedoch variieren täglich. Sollte das Gesetz angenommen werden, würden in Argentinien Schwangerschaftsabbrüche bis zur 14. Woche legal und zu einet kostenfreien medizinischen Grundleistung des Gesundheitssystems werden. Argentinien wäre damit neben Uruguay und Kuba das einzige Land in Lateinamerika, das ein bundesweites Gesetz für legale Schwangerschaftsabbrüche hätte. In anderen Ländern Lateinamerikas greifen lokale Regelungen oder straffreie Ausnahmen, Komplettverbote gibt es in Chile, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Haiti, Surinam und der Dominikanischen Republik.

Seit einem Grundsatzurteil im Jahr 2012 bleiben auch in Argentinien Abtreibungen in zwei Fällen straffrei, bei Lebensgefahr und physischen oder mentalen Gesundheitsrisiken der Schwangeren oder wenn die Schwangerschaft durch eine Vergewaltigung zustande gekommen ist. Behandlungsprotokolle für Frauen, die nach diesen Regelungen ein Recht auf legalen Schwangerschaftsabbruch haben, sollen den Zugang zu straffreien Abtreibungen in diesen Fällen sicherstellen. Bisher haben jedoch nur acht von 24 Provinzen überhaupt ein derartiges Protokoll aufgesetzt. Laut informeller Zahlen des Gesundheitsministeriums gibt es zwischen 400 und 500 dieser legalen Abtreibungen pro Jahr. Geheime Abtreibungen werden vom selben Ministerium allerdings offiziell auf zwischen 370.000 und 522.000 jährlich geschätzt (2009). Dabei sind seit 1983, dem Ende der Militärdiktatur, 3030 Fälle bekannt geworden, bei denen Frauen an Komplikationen bei einer Abtreibung gestorben sind. Laut Weltgesundheitsorganisation ist das der Grund für ein Drittel aller Fälle von Muttersterblichkeit. Die Mehrheit der Frauen, die in Folge von Abtreibungen sterben, sind jung und arm. Viele Aktivist*innen reden daher von der Legalisierung der Abtreibung als „Schuld der Demokratie“ als das Menschenrecht, was die Rückkehr zur Demokratie noch nicht erbracht hat. Neben Selbstbestimmung über den Körper und autonomen Entscheidungen über Mutterschaft dreht sich die Diskussion stark um die Frage nach sozialer Gerechtigkeit, um den ungleichen Zugang zu sicheren Abtreibungen und die Verpflichtung des Staates, diese zu garantieren. Es ist eine Frage der Klasse, denn Frauen aus den Oberschichten haben Zugang zu Privatkliniken und Mittel diese zu bezahlen, Frauen aus ärmeren Bevölkerungsschichten oder ärmeren Provinzen müssen oft zu unsicheren Methoden greifen. Die Frage ist längst nicht mehr, ob es Abtreibungen geben soll oder nicht, es gibt sie tagtäglich, sondern ob sie legal und sicher oder geheim und mit großen Risiken durchgeführt werden.

Gegner*innen sowie Befürworter*innen mobilisieren ihrerseits nach allen Kräften. Verschiedene Berufsgruppen haben in offenen kollektiven Briefen Stellung bezogen – Schriftstellerinnen, Künstlerinnen, Filmschaffende, Dichterinnen, Architektinnen, Lehrerinnen, Presseleute, Fotografinnen, Angestellte des Öffentlichen Dienstes und viele weitere haben über 70.000 Unterschriften gesammelt und sie an die Abgeordneten geschickt. Je näher die Abstimmung rückt, desto aufgeheizter die Debatte. Am 4. Juni, dem dritten Jahrestag der Gründung von Ni Una Menos (Nicht eine weniger), war die Hauptforderung der Großdemonstration erstmals nicht das Ende der sexualisierten Gewalt, sondern auch das Recht auf Abtreibung. Zehntausende schoben sich als „grüne Flut“ durch die Straßen von Buenos Aires und Argentinien, um für die Verabschiedung des Gesetzes zu demonstrieren.

Auch die Abtreibungsgegner*innen sammeln Unterschriften, veranstalten „Märsche für das Leben“ und tragen neuerdings ein Halstuch in hellblauen Nationalfarben, das für „die beiden Leben“ skandiert, das des ungeborenen Kindes und das der Schwangeren. Hellblaue Fluten sieht man allerdings selten, eher Fotos und Plakatwände mit gigantischen Föten. Ein sechs Meter großer Fötus aus rosa Pappmaché wird bei Demonstrationen durch die Straßen getragen. Dabei wird regelmäßig gemeinsam die National­hymne gesungen. Die Anti-Abtreibungs­bewegung bezeichnet sich als „Pro Vida“ (Für das Leben), in etwa vergleichbar mit den sogenannten Lebensschützern in Deutschland. Hinter dem Schutz des „ungeborenen Kindes” steckt oft die gleiche konservative Rechte, für die das Leben eines bereits geborenen Kindes, das in den Armenvierteln und Randbezirken aufwächst, keine Existenzberechtigung hat.

In den Anhörungen wurde von den Gegner*innen neben offensichtlichen Fake Facts meist ideologisch-religiös und moralisch argumentiert – unter anderem mit absurden (Ab-)Gründen wie: Schwangerschaften würden vor fortdauerndem sexuellen Missbrauch schützen (Ursula Basset, Doktorin der Rechtswissenschaften an der Katholischen Universität UCA), das „Verbrechen Abtreibung“ sei eine „Todesstrafe“ für ungeborene Kinder und ein „wirkliches“ gewaltsames Verschwindenlassen (Oscar Botta der NGO ProFamilia) oder Abtreibung sei „Holocaust“ (Cristina Miguens, selbsterklärte „Feministin “ der Frauenzeitschrift Sophia). Viele der mehrheitlich männlichen Vortragenden kamen aus dem Kreis der katholischen Unversität UCA oder der mit dem Opus Dei assoziierten Universidad Austral.

In Argumentation und Aktion der Abtreibungsgegner*innen wird deutlich, was derzeit eine Tendenz in rechten Bewegungen scheint: die Aneignung von linken Begriffen, Organisationsformen und Symbolen für eigene Zwecke – der ständige Bezug auf Menschenrechte und deren vermeintliche Verteidigung bei eigentliche Aushöhlung. Die Gegenseite bezeichnet Pro Vida daher treffender als „antiderechos”, als Bewegung, die gerade gegen und nicht für Grundrechte eintritt.

Dass nun gerade auch Präsident Macri, selbst überzeugter Abtreibungsgegner, versucht, sich einen feministischen Diskurs anzueignen und trotz seiner rechtskonservativen Cambiemos-Regierung, die Möglichkeit zur Debatte im Parlament eröffnet hat, mag zunächst überraschen. Letztendlich ist es aber dem enormen gesellschaftlichen Einfluss der feministischen Bewegung zuzuschreiben, die als aktiver politischer Akteur großen Rückhalt in der Bevölkerung genießt. Vielen Aktivist*innen fällt es daher schwer zu glauben, dass das Gesetzesprojekt noch abgelehnt wird. „Der soziale Druck, dass jetzt legalisiert wird, ist unaufhaltsam“ erklärt Journalistin Balderrama, die selbst in einer der Anhörungen gesprochen hat. „Und mehr und mehr verbreitet sich auch der Gedanke, dass die Abgeordneten, die nicht für das Gesetz stimmen, Dinosaurier sind, die in einem vergangenen Zeitalter hängengeblieben sind“. Sogar Mitglieder der Regierungspartei PRO posierten Anfang Juni für ein gemeinsames Foto mit dem grünen Halstuch.

Die Befürworter*innen des Gesetzes haben Zahlen und Argumente auf ihrer Seite. In verschiedensten Umfragen sprachen sich stets über 50 Prozent der Befragten für Abtreibung aus, der Prozentsatz steigt in der jüngeren Bevölkerung. Laut Balderrama sind gerade die Oberstufenschülerinnen sehr wichtige neue Akteurinnen, die jetzt auf der politischen Bühne auftauchen. Sie organisieren sich und fordern, dass das in der Schublade liegende Gesetz zur „Integralen sexuellen und reproduktiven Gesundheit“ umgesetzt wird, das sexuelle Aufklärung im Schulsystem verankert. Das Motto der Legalisierungs­kampagne ist: Sexualkunde, um entscheiden zu können, Verhütungsmittel um nicht abtreiben zu müssen, legale Abtreibung um nicht zu sterben. Legalisierung bedeutet auch Recht auf Information und Zugang zu diesen Informationen, wie auch an der jüngsten Verurteilung einer Ärztin in Deutschland aufgrund des Paragraphen 219a StGB zu sehen war.

Der Kampf um das Recht auf Abtreibung hat noch mehr junge Frauen politisiert, die enorme Präsenz der Bewegung auf den Straßen ist das „Merkmal unserer Zeit“, schreibt die Ni Una Menos-Gründerin Mariana Carbajal in ihrer Kolumne in der Zeitung página12. Das soziale Bewusstsein hinsichtlich der Notwendigkeit zur Legalisierung der Abtreibung hat sich radikal verändert. Unabhängig vom Ausgang der Abstimmung ist die soziale Entkriminalisierung bereits Realität. Und obwohl es de facto bereits straffrei möglich ist, in Argentinien abzutreiben und diese Praxis existiert, sieht die Antiderechos-Bewegung eine Bedrohung in der Verankerung des Rechts auf selbstbestimmte Abtreibung im Gesetz. Das liegt auch daran, dass die Ni-Una -Menos-Bewegung wie an diesem 4. Juni die Forderung nach Abtreibung mit grundlegender Kritik an der neoliberalen Politik und dem aktuellen Sozialabbau der Regierung verknüpft. Mit dem Feminismus von Ni Una Menos, der heute mehr als jede andere gesellschaftliche oder politische Kraft mobilisiert, geht eine Opposition zum Macrismus einher. Die Forderung nach Abtreibung stellt somit in doppeltem Sinne eine Bedrohung der alten Ordnung dar.

„Wir Frauen werden zu politischen Akteuren. Das macht Angst“, erklärt Mariana Carbajal. Einer der zahlreichen Sprechgesänge auf den feministischen Demonstrationen, der Forderungen einläutet, lautet: „Ahora que sí nos ven“ – „Jetzt, da wir endlich gesehen werden.“ Jetzt, wo der Feminismus politische Kraft entwickelt hat, wo er nicht mehr zu übersehen ist, ist der Druck groß genug, damit das Recht auf legale und sichere Abtreibung zum Gesetz wird.


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