BLUMEN FÜR DEN ZUGANG ZUM EIGENEN LAND

Fotos: Pedro Ramos/LAVACA

Es war um 11:52 Uhr am Montag, dem 20. September, als ein Traktor zu brummen begann und sich der Himmel eines grauen Tages in Buenos Aires allmählich grün färbte: Hunderte von Händen reckten Salate, Mangold, Spinat, Rote Bete und Radieschen in die Höhe. Die Landarbeiter*innengewerkschaft UTT hatte die biologischen Lebensmittel aus kooperativer Landwirtschaft für einen verdurazo (also eine Protestaktion mit Gemüse, das in Massen aufgefahren und später verschenkt wird) bereitgestellt, der das zweitägige Protestcamp vor dem argentinischen Kongress einläuten sollte.

Unter Gesängen von Alerta, alerta, alerta que camina / la lucha campesina por América Latina („Achtung, Achtung, der bäuerliche Kampf zieht durch Lateinamerika“) zog der Traktor einmal um jenes Gebäude, in dem das Gesetzesprojekt für das Ley de Acceso a la Tierra verhandelt werden soll. Das Gesetzesvorhaben wurde dem Kongress bereits drei Mal vorgelegt. Es geht dabei nicht etwa um eine Landwirtschaftsreform, vielmehr sieht das Vorhaben die Schaffung eines Treuhandfonds vor, um bäuerlichen Familien einfacher Kredite gewähren zu können. Diese könnten die Mittel nutzen, um eigenes Land zu kaufen, ihre Wohnhäuser zu renovieren oder ihre Infrastruktur zu verbessern. Das Projekt sieht außerdem vor, dass ungenutzte landwirtschaftliche Flächen, die sich im Staatsbesitz befinden, für die Produktion von Lebensmitteln aus biologischer Landwirtschaft bestimmt werden, so wie es bereits in unterschiedlichen Landkreisen des argentinischen Staates gang und gäbe ist.

Während des Spaziergangs erzählt Agustín Suárez, einer der Vertreter*innen von 20.000 bäuerlichen Familien, warum das Projekt so wichtig ist: „Das Gesetz ist sehr simpel und so konzipiert, dass es ohne große Diskussionen angenommen werden kann. Es sieht einen Mechanismus vor, der auf einen Zuwachs hinauswill – einen ländlichen Zuwachs. Kleinproduzenten, Bauern und Kooperativen können so Kredite für den Kauf von Land und anderen Mitteln, ihre Infrastruktur und die Verbesserung ihrer Produktion aufnehmen. Außerdem stellt das Gesetz die Gebiete in Frage, die dem Staat gehören. Viele von ihnen werden gar nicht genutzt. Mit dem Gesetz sollen sie der biologischen Landwirtschaft für die Gründung neuer Siedlungen zugewiesen werden.“

Wie die UTT erklärt, wurde das Vorhaben dem Kongress im Oktober 2020 bereits zum dritten Mal vorgelegt, nachdem es schon zwei Mal von der parlamentarischen Tagesordnung gerutscht war. Im Mai berieten die Kommissionen für Landwirtschaft und rechtliche Belange zwar darüber, kamen jedoch zu keinem Ergebnis.

„Wir müssen sie wachrütteln“, so formuliert es Rosalía Pellegrini, eine der Gründer*innen der Landarbeiter*innengewerkschaft. „Bei dem Gesetz geht es um einen strategischen Gedanken wie eben den Zugang zu Lebensmitteln mitten in einer Welt in einer Pandemie. Wir müssen jetzt ein Modell für die Industrie zur Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte entwickeln, das uns wirklich mit Essen versorgt. Jetzt ist der Moment, und es muss mit diesem Kongress geschehen. Auch wenn es nur die Vorwahlen waren, so haben wir doch gesehen, dass ein politischer Sektor an Kraft gewinnt, der Gesetzesprojekte wie dieses nicht mehr unterstützen wird (siehe Artikel auf Seite 6). Außerdem fühlen wir uns betrogen, denn alle politischen Kräfte erzählen dir, wie gerecht es doch sei. Aber am Ende eines jeden Jahres entwickelt es sich dann in eine Richtung, die den Errungenschaften der Menschen schadet. Also: Jetzt ist der Moment und es ist dringend.“

Nachdem die Menschenmenge gemeinsam mit dem Traktor das Kongressgebäude umrundet hat, folgt am ersten Tag des Protestcamps ein verdurazo und ein yerbatazo, bei dem verschiedenste Kräuter aufgefahren, verkauft oder verschenkt werden. Während Hunderte Kisten mit Gemüse ausgeladen werden, bildet sich am Camp eine lange Schlange. An Holztischen gibt es biologische Produkte aus kooperativer Landwirtschaft zu kaufen: Gebäck, Oliven, Dulce de Leche und Matetee für 360 Peso (etwa 3,15 Euro das Kilo) – der Renner des Tages. Verschiedene Gruppen halten ihre Versammlungen ab, das Consultorio Técnico Popu-lar, eine technikversierte Gruppe von Landarbeiter*innen, gibt einen Gemüsegarten-Workshop.

Am folgenden Tag organisiert das Protestcamp für Besucher*innen eine offene Radiosendung, wieder Unmengen von Gemüse und ein Meer aus Blumen zum Frühlingsanfang am 21. September. Verschiedene Netzwerke und Plattformen bieten Workshops und Diskussionsveranstaltungen über Ernährung und genveränderte Weizensorten an. Zum Abschluss des Protestcamps gibt es Kunst und Musik.

„In Argentinien sind nur 13 Prozent des Landes in den Händen kleiner Produzenten. Die produzieren aber trotzdem mehr als 60 Prozent der Lebensmittel für den internen Markt. Währenddessen kontrolliert nur ein Prozent der Landwirtschaftsunternehmen ganze 36 Prozent des Kulturlandes“, heißt es in einem Text der UTT, der auf dem Camp zirkuliert.

Vor dem Kongress führt Lucas Tedesco, Lebensmittelproduzent und UTT-Mitglied, aus: „Dieses Modell führt dazu, dass wir in den Gemüseladen, die Bäckerei oder das Lebensmittelgeschäft gehen und die Preise sehen, die es heute gibt. Wir haben immer weniger Fläche, um Lebensmittel zu produzieren. (…) Und wenn es etwas gibt, was sich in diesen Jahren verstärkt hat, dann ist es das landwirtschaftlich-industrielle Modell. Es ist das gleiche, wie mit dir zu diskutieren, ob Giftstoffe über einer Schule versprüht werden dürfen, während die Kinder im Klassenzimmer sitzen. Wir sind hier, um innerhalb der Vorschriften des Kapitalismus darum zu bitten, einfach nur einen zugänglichen Kredit abbezahlen zu können. Deswegen wollen wir den Menschen bewusst machen, dass dieses Gesetz allen nützt: Verbrauchern und Produzenten.“

Die Landreform als Schreckgespenst der Rechten

Der Artikel 1 des Gesetzesprojektes schlägt die Schaffung eines öffentlichen Treuhandfonds für die familiäre Landwirtschaft vor, der von der staatlichen Banco Nación verwaltet werden soll. Es wäre der Anfang einer Politik für den ländlichen Raum, die das Recht auf Wohnraum, eine würdige Wohnumgebung und die wirtschaftliche und soziale Entwicklung stärkt.

Der Gewerkschafter Suárez betont, dass das Gesetz keine Landwirtschaftsreform vorsieht. Denn letztere ist ein Schreckgespenst, vor dem der gesamte Wirtschaftssektor Angst hat. „Davon sind wir weit entfernt. Niemand kann gegen das Gesetz sein, denn es ist ein Mechanismus, der Kredite für den Sektor schafft. Einzig beim Thema der Anbauflächen im staatlichen Besitz könnte es Diskussionen geben. Aber bereits heute werden staatliche Flächen zu landwirtschaftlichen Zwecken genutzt. Und wir können zeigen, dass es funktioniert, dass es ein würdiges Leben und gesunde Lebensmittel für die Menschen ermöglicht. Wenn wir die Produktion verbessern, können wir den Menschen noch mehr gesunde Lebensmittel anbieten“, so Suárez.

„Hier gibt es viel Land in wenigen Händen“

Zu den Auswirkungen des Gesetzes meint der Gewerkschafter: „90 Prozent des bäuerlichen Sektors und der Kleinproduzenten produzieren die Gemüsesorten, die hier zu sehen sind. Und mehr als 90 Prozent von ihnen hat kein eigenes Land. Das Gesetz hätte darauf große Auswirkungen. Wie groß genau, wissen wir noch nicht, weil es vom Fonds abhängt, aber es wäre sehr symbolisch für den Sektor. Das ist in Argentinien etwas Strukturelles: Hier gibt es viel Land in wenigen Händen. Und nun gibt es die Aussicht auf Umverteilung und darauf, dass die staatlichen Flächen für kooperative Landwirtschaft genutzt statt verkauft werden könnten.“

Rosalía Pellegrini deutet auf einen weiteren Aspekt hin: „All diese Familien zahlen monatlich 15.000 Pesos (ca. 130 Euro) pro Hektar. Stell dir vor, was es für sie heißt, Zugang zu eigenem Land zu haben, etwas riskieren zu können, ein würdiges Zuhause aus gutem Material bauen zu können. Heute leben sie sehr schlecht, in prekären Behausungen. Und das, obwohl wir Familien sind, die biologische Lebensmittel zu fairen Preisen produzieren! Wir sind mehr als 20.000 Familien, die sich organisiert und gezeigt haben, dass es möglich ist. Und trotzdem gibt es keine Politik, die etwas verspricht und es auch ernst meint.“

Pellegrini gibt ein Beispiel: „Um die Preise zu besprechen, treffen sie sich nur mit den Großen. Und das Einzige, was sie machen, ist, Vereinbarungen mit den Supermärkten zu treffen, damit die für ein paar Tage die Preise einzelner Produkte senken und anschließend wieder erhöhen.“

Es gebe viele Gründe dafür, warum die Bearbeitung des Gesetzes sich immer weiter verzögert, so heißt es: Covid-19, die Wahlen, die aktuelle politische und institutionelle Krise im Land. UTT-Gründerin Pellegrini meint: „Wir erleben eine schwere Krise der politischen Repression. Es erscheint uns, als wäre die Politik auf der anderen Seite. (…) Auf eine gewisse Weise muss man doch zuhören. Genau diese Möglichkeit gibt uns die Demokratie: Dass den Menschen zugehört werden kann. Heute geht der Großteil eines Lohns fürs Tanken, die Mobilität und fürs Essen drauf – super wichtige Dinge. Die Frage der Lebensmittelpreise zu lösen bedeutet, das Modell der Lebensmittelindustrie infrage zu stellen: Zugang zum eigenen Land, nachhaltige Landwirtschaft, Finanzierung von Kooperativen, die Entwicklung einer sozialverträglichen Wirtschaft in den Lebensmittelgeschäften, im direkten Verkauf und auf Märkten. Alles, was in der Politik über Ernährungssouveränität geredet wird, ist Quatsch, denn damit sind nicht die Familien gemeint, die direkt verkaufen, was sie produzieren.“

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