Ihre größte Stärke

Bild aus Chile-Nachrichten 50 zum Nachruf von Rudi Dutschke auf Elisabeth Käsemann “Die Genossin Käsemann ist ein (…) besonderes Beispiel internationaler Solidarität”

Die Chile-Nachrichten (ab Oktober 1977: Lateinamerika Nachrichten) entstanden in einer Zeit, in der sich in der Neuen Linken ein nie zuvor dagewesenes Interesse an den politischen Verhältnissen der damals sogenannten „Dritten Welt“ entwickelt hatte. In einer Welt, in der sich die gelebten politischen Alternativen auf liberale Demokratie und autoritären Realsozialismus verengt hatten, versuchten westdeutsche Linke in Solidarität mit dem Tercermundismo (linke, antiimperialistische Bewegung, welche die Zwei-Blockordnung während des Kalten Kriegs infrage stellte) gesellschaftliche Befreiung zu denken. Die Studierendenbewegung der 60er Jahre wurde von der Suche nach einem demokratischen Sozialismus umgetrieben und es war jene Suche, die in vielen die Leidenschaft für die politischen Verhältnisse in der „Dritten Welt“ entfachte.

Es war die Idee eines gemeinsamen Kampfes mit den Ländern der „Dritten Welt“, die Rudi Dutschke 1964 dazu veranlasste, vom „Beginn unserer Kulturrevolution“ zu sprechen, nachdem der kongolesische Separatist*innenführer Moïse Tschombé, durch deutsche Studierende mit Tomaten beworfen wurde. Tschombé war zuvor für den Mord an dem kongolesischen Unabhängigkeitsführer Patrice Émery Lumumba verantwortlich gemacht worden. Ab Februar 1965 begann Dutschke Informationsabende des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) zum Vietnamkrieg zu veranstalten, ab Mai 1965 protestierte er gegen die damalige Militärinvasion der USA in der Dominikanischen Republik.

Elisabeth Käsemann studierte seit 1966 Soziologie und Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, wo sie SDS-Mitglied wurde und bald zum Freund*innenkreis ihres Kommilitonen Rudi Dutschke gehörte. Ab 1967 beteiligte sie sich an der von Dutschke geleiteten SDS-Projektgruppe „Metropole und Dritte Welt“, die die konkrete Zusammenarbeit mit den Befreiungsbewegungen der „Dritten Welt“ zum Ziel hatte. Nach einer einjährigen Reise durch Lateinamerika entschloss sich Käsemann in Argentinien zu bleiben – auf dem Höhepunkt des dreckigen Krieges (guerra sucia) – der tödlichen Repression von Sicherheitskräften gegen vermeintliche Linke.

Die klügsten Köpfe der 68er Jahre verband ein feines Gespür für jeglichen Auswuchs des Autoritären. Es mag diese Sensibilität gewesen sein, sie Rudi Dutschke dazu bewegte, Käsemann in seinem Nachruf (erschienen in Chile-Nachrichten 50, „Ermordetes Leben“) nicht zur Märtyrerin zu stilisieren. Rudi Dutschke und Elisabeth Käsemann, zwei einer Vielzahl westdeutscher Student*innen, erlebten den Kampf der Prager Reform­kommunist*innen im Jahr 1968 aus nächster Nähe. Der Vietnamkrieg verdeutlichte ihnen die Brutalität des Imperialismus der USA, die sich in den vorigen zwei Dekaden zur Weltmacht hochgemausert hatte. So düster der politische Erfahrungshorizont Mitte der 60er war, so entwickelte die Studierendenbewegung doch ein Gefühl für politische Möglichkeitsräume, sei es der erfolgreiche Widerstand der vietnamesischen Guerilla gegen US-Truppen oder der Sieg der Unidad Popular (UP) in Chile. Es war dieses wachsende globale Klassenbewusstsein, das Dutschke trotz des Niedergangs des SDS 1970 verkünden ließ: „Der Kampf um die Befreiung hat gerade erst begonnen.“

Auch die Redaktion der Chile-Nachrichten teilte die von Dutschke beschriebene nachdenkende und solidarische Leidenschaft der Generation, in ihrem Fall für das politische Projekt der UP – dem Linksbündnis, das unter dem Versprechen zur Wahl antrat, Chile in den Sozialismus zu führen. Die Hoffnung auf das politische Überleben eines demokratischen Sozialismus wich ab dem Militärputsch am 11. September 1973 der Solidarität mit den Geflüchteten und den in Chile verbleibenden Linken. In seinem Nachruf auf Käsemann spricht Dutschke auch ihnen Mut zu, als er Kommunist*innen als „Tote auf Urlaub“ bezeichnet. Er, der selbst knapp einen anti-kommunistischen Anschlag in Westberlin 1968 überlebte, an dessen Spätfolgen er 1979 verstarb.

„Die Arbeiterklasse geht nicht ins Exil“

Käsemanns Politisierung über den Vietnam-Krieg, zur Pazifistin, hatte sie ins Herz des lateinamerikanischen Kalten Kriegs geführt. Sie kam zu einer Zeit nach Argentinien, in der das Land der Hotspot der exilierten lateinamerikanischen Linken war. Für sie war es, so beschrieb sie es ihrem Freund Sergio Bufano, der Dreh- und Angelpunkt des politischen Schicksals des Kontinents. Ein Grund, weshalb sie auch nach der Machtübernahme des Militärs und dem gewaltsamen Verschwindenlassen ihrer Genoss*innen nicht das Land verlassen wollte. „Die Arbeiterklasse geht nicht ins Exil“, erklärte sie Bufano als dieser nach Mexiko ausreiste. Kurz zuvor hatten sie und Bufano sich geweigert den Mord an einem argentinischen Folterer und Militär auszuführen, den ihnen eine trotzkistische Untergrundgruppe aufgetragen hatte. Sie hätten sich zwar für den bewaffneten Kampf entschieden, doch mit dem Tod seien sie nicht einverstanden, so Bufano später.

Mit der historischen antiimperialistischen Linken 1990 starb auch das politische Projekt des „Dritten Weges“ zwischen Realsozialismus und liberaler Demokratie. Dass die Redaktion der Lateinamerika Nachrichten im Januar 1990 keine Euphorie verspürt, liegt darin begründet, dass die UP-Regierung einst mehr bedeutete für Teile der westdeutschen Linken (siehe LN 188, Editorial). 1990 ahnte die Redaktion, dass der neoliberale Umbau der Wirtschaft, den die chilenische Militärjunta hinterließ, zur Entwicklungsdoktrin der neuen Welt werden würde. Eben weil die Utopie der 68er eine umfassende, auf die Transformation wirtschaftlicher Abhängigkeiten gerichtete, gewesen war, überlebte die Redaktion die demokratische Wende der lateinamerikanischen Gesellschaften. Und obwohl sie bereits den Sirenengesang des Kapitals zu hören meinen, wirbt die Redaktion 1990 für das Erringen gesellschaftlicher Mehrheiten, auch wenn es zu diesem Zeitpunkt nur noch Ausblick auf eine „gerechtere (…), sozialere (…) und friedlichere (…) Welt“ zu geben schien.

Heute sind die Regierungen einiger lateinamerikanischer Länder die Nachkommen der Guerillakämpfe von damals. Ihre autoritäre Entwicklung hat uns nachdenklicher gestimmt. Dennoch verlieren sich in der Redaktion mehrere Generationen von Linken, die sich noch heute mit dem „Schicksal dieses Kontinents identifizieren“, wie Käsemann 1969 an ihre Eltern schrieb. Sei es, weil Familie und Freund*innen dort leben oder weil die Menschen in dieser Region uns nachhaltig in unserer Politisierung geprägt haben. Wir hoffen, dass das antiautoritäre Gespür der Käsemanns und Dutschkes auch die nächsten Generationen Redaktionsarbeit überdauert. In dem Wissen, dass es nicht ihr Scheitern, sondern die größte Stärke als 68er Bewegung gewesen ist.

SCHLIMMER GEHT IMMER

Castillo Vor allem die ländliche Bevölkerung setzte große Hoffnung in ihn (Foto: Braian Reyna Guerrero via wikimedia commons, CC BY 2.0)

Im Juni 2021 schaffte der Dorfschullehrer und Gewerkschafter Pedro Castillo mit einem hauchdünnen Wahlsieg gegen die Diktatorentochter Keiko Fujimori, was noch kein Peruaner vor ihm geschafft hatte: den direkten Sprung vom Dorf in den Präsidentenpalast, ohne Umweg über Militär, Hauptstadt, Ausland oder wenigstens eine ausländische Ehefrau. Genau 200 Jahre nach der Befreiung Perus von der spanischen Kolonialherrschaft trat Castillo sein Amt mit dem Versprechen an, das Land endgültig von seinen kolonialen Fesseln zu befreien. Denn Peru, der einstige Sitz des spanischen Vizekönigsreichs, ist auch heute noch von Rassismus und Klassengesellschaft dominiert.

Vor allem die ländliche Bevölkerung setzte große Hoffnungen darauf, dass endlich einer von ihnen an der Macht war und die Ungleichheit Perus abbauen würde. Ein Jahr danach ist von dieser Hoffnung nichts mehr zu spüren: 65–71 Prozent der Bevölkerung lehnen Castillo ab. Selbst auf dem Land, wo seine Stammwähler*innen leben, haben sich bei einer Umfrage im August 2022 57 Prozent gegen ihn ausgesprochen. Pedro Castillo, der angeblich linke Mann von der Basis, entpuppt sich nämlich als ein traditioneller Politiker, der das Amt vor allem dazu benutzt, seine Freund*innen unterzubringen und ihnen Pfründe zuzuschanzen. So haben alle Präsidenten der letzten 20 Jahre vor ihm regiert, ungeachtet ihrer politischen Couleur oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Und genau deswegen sind alle Präsidenten Perus der letzten 20 Jahre entweder im Gefängnis, unter Anklage oder tot wie Alan García, der sich lieber erschoss, als von der Polizei abgeführt zu werden. Insofern ist die Präsidentschaft Castillos nur eine weitere Episode in der politischen Dauerkrise, in der Peru seit dem Rücktritt von Pedro Pablo Kuczynski vor fünf Jahren steckt. Doch wie kam es dazu, dass Castillo alle Hoffnungen auf einen Wechsel in nur einem Jahr vertat?

Ein erster Prüfstein war, wen Castillo in sein Kabinett berufen und zu seinem Regierungspartner nehmen würde: die dogmatisch-marxistische Partei Perú Libre von Vladimir Cerrón, auf deren Liste Castillo die Wahl gewonnen hatte? Oder die moderate Linke um Verónica Mendoza, die niemand „moderat“ genannt hatte, bevor Pedro Castillo sie als Kandidat links überholte? Letztere wird von ihren Gegner*innen auch gerne als Kaviarlinke verunglimpft, weil unter ihr auch Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen und Universitäten sind.

In seinem ersten Kabinett versuchte Castillo noch, die beiden Seiten zu vereinen: Finanzminister wurde Pedro Francke vom Flügel von Verónica Mendoza, Premierminister aber wurde ein Statthalter von Vladimir Cerrón, der bis dahin unbekannte Guido Bellido. Die Kohabitation hielt nicht lange. Zuerst musste Bellido gehen, ein paar Monate später Francke. Im Kabinett machten sich dafür vor allem Männer aus Castillos Heimat Cajamarca, aus der Partei Perú Libre und der Lehrer*innengewerkschaft breit, die für das von ihnen verantwortete Ressort keinerlei Leistungsausweis hatten. In nur einem Jahr hat Castillo über 50 Minister und auch ein paar Ministerinnen verschlissen – mit ein Grund dafür, dass bisher kaum eines seiner Vorhaben umgesetzt werden konnte.

Zerfleischung der Linken

Dabei hätte Castillo keine Feind*innen aus der Linken gebraucht, denn im Kongress haben seine Gegnerinnen sowieso die Überhand. Der Kongress blockiert Castillo seit Beginn seiner Amtszeit. Unterstützung bekommt er darin von den großen Hauptstadtmedien, die einseitig die Verfehlungen Castillos täglich auf den Titelseiten bringen. Die Anhänger*innen Fujimoris, die fujimoristas, sind nicht darüber hinweg, dass sie die Wahl verloren haben. Die konservativen Rechten aus der Hauptstadt verachten Castillo ob seiner Herkunft. Alle Versuche des Parlaments, Castillo wegen „moralischer Unfähigkeit“ abzusetzen – die Verfassung erlaubt diesen Gummiparagraphen – sind dennoch mangels Mehrheiten gescheitert.

Kongress und Regierung im Patt

Dies liegt zum einen an den Parlamentarier*innen, die als Lobbyist*innen vor allem in ihre eigene Tasche wirtschaften und nicht das Risiko eingehen wollen, dass bei möglichen Neuwahlen auch sie ihren Parlamentssitz räumen müssten. Zum anderen ergeben sich erstaunliche Allianzen zwischen den dogmatischen Marxist*innen von Perú Libre und den rechten Freischärler*innen der übrigen Parteien. Bei ihrem konservativen und traditionellen Frauen- und Familienbild sind sich Rechte und Castillos Linke einig und stimmten gemeinsam für die Streichung jeglicher Genderarbeit aus den staatlichen Schullehrplänen. Ebenso einig sind sie sich bei der Förderung informeller bis illegaler Wirtschaftszweige: seien es die privaten Betreiber*innen der Stadtbuslinien in Lima, die informellen Goldschürfer*innen oder die Betreiber*innen privater Schrottuniversitäten.

Die Zurücknahme der Universitätsreform ist ein gutes Beispiel dafür, wie unter der Regierung von Castillo und in Eintracht mit dem sonst feindlich gesonnenen Kongress mühsame Regulierungen der vergangenen Jahre zunichte gemacht werden. Seit 2014 mussten sich alle Universitäten von einer dem Bildungsministerium unterstehenden Behörde lizenzieren lassen. Viele private, nur auf Gewinn ausgerichtete Universitäten und auch ein paar staatliche Universitäten mussten schließen. Doch gerade deren Besitzer*innen sind im Kongress vertreten und erreichten zusammen mit den Linken von Perú Libre, dass die Universitätsbehörde entmachtet wurde. Die Folge werden noch schlechter ausgebildete Universitätsabgänger*innen sein, die dann zwar einen Titel vorweisen können, für den ihre Eltern viel Geld hingelegt haben, der aber weitestgehend wertlos ist, weil er keinen Mindeststandards mehr entspricht.

Viele mag es erstaunen, dass Pedro Castillo es überhaupt geschafft hat, trotz all seiner Regierungsfehler, nicht gehaltener Versprechungen und der Feindschaft des Kongresses und der Medien, ein Jahr im Amt zu bleiben.

Der Kongress und die Exekutive halten sich in ihrer ganzen Jämmerlichkeit gegenseitig in Schach: Wenn der Kongress den Präsidenten absetzt und es zu Neuwahlen kommt, dann müssten auch die Parlamentarier*innen ihren Sitz räumen. Und zugleich droht Castillo damit, den Kongress zu schließen – dies kann er verfassungsmäßig, wenn der Kongress ihm zweimal hintereinander das Misstrauen ausgesprochen hat.

Aufrufe von Seiten der Zivilgesellschaft, doch freiwillig zurückzutreten und Neuwahlen auszurufen, hat er bisher ignoriert. Und obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung lieber heute als morgen sowohl den Präsidenten wie auch die Abgeordneten loswerden möchte, gibt es keine massiven Proteste auf den Straßen. Seit Castillos Amtsantritt rufen nur die rechten fujimoristas regelmäßig zu meist eher spärlich besuchten Protesten auf. Und die große Masse der Fujimori-Gegner*innen würde nie an einer Demonstration teilnehmen, zu der die fujimoristas aufrufen, ganz egal wie sehr sie sich einen Rücktritt Castillos wünschen.

So sitzt Castillo trotz seiner instabilen, erratischen Politik also doch recht stabil im Präsidentensessel. Allenfalls die Justiz könnte ihm noch gefährlich werden: Sechs staatsanwaltschaftliche Untersuchungen laufen gegen Castillo und Mitglieder seiner Familie. Meist geht es um verbotene Vorteilsnahme und unrechtmäßige Vergabe staatlicher Aufträge an Bekannte. Im Vergleich zu den Korruptionssummen seiner Vorgänger geht es da um Peanuts. Aber korrupt ist korrupt und die Enttäuschung, dass sich auch Castillo als korrupt erweist, ist bei vielen Wähler*innen besonders groß.

Noch ist niemand in Sicht, der den Unmut der Bevölkerung angesichts der Politik von Legislative und Exekutive kanalisieren könnte. Selbst wenn es zu Neuwahlen käme, ist keineswegs sicher, dass das Ergebnis besser wäre als das, was die Peruaner*innen jetzt haben. Es könnte sogar noch schlimmer kommen.

Dieser Artikel ist aus unserem aktuellen Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

DIE SOZIALEN BEWEGUNGEN UND DIE REGIERUNG BORIC

Boric wird Präsident Nach seiner Wahl müssen sich die sozialen Bewegungen neu positionieren (Foto: Diego Reyes)

Herr Grez, Sie beobachten die sozialen Kämpfe in Chile seit vielen Jahren. Wo stehen die Bewegungen nach dem Wahlsieg von Gabriel Boric?
Der hohe Stimmenanteil von knapp 56 Prozent und der sprunghafte Anstieg der Wahlbeteiligung vor allem in den ärmeren Schichten zeigen, dass seine Kandidatur bei einem großen Teil der Bevölkerung Hoffnung auf Veränderungen geweckt hat. Zwar gibt es darunter einen bedeutenden Prozentsatz von Linken, die ihn widerwillig gewählt haben, weil sie Boric neben der Gefahr, die von Kast ausging, für das „kleinere Übel“ hielten. Dennoch verkörpert er bis jetzt die Sehnsucht nach Wandel und der Überwindung des neoliberalen Modells. Das hat sich schon während des Wahlkampfes nicht nur in persönlichen Äußerungen, sondern auch in vielen Erklärungen sozialer Organisationen gezeigt.

Was bedeutet das konkret für die Zukunft der sozialen Bewegungen?
Vieles deutet darauf hin, dass die Organisationen und Bewegungen nun einige Zeit in Erwartungshaltung verharren werden. Noch ist nicht abzusehen, ob Borics Amtsantritt ihre Mobilisierungs- kraft hemmen oder im Gegenteil beflügeln wird – etwa um Druck auf die neue Regierung auszuüben, ihre Wahlversprechen schnell und umfassend zu erfüllen. Die Arbeit des Verfassungs-*konvents (siehe Artikel S. 6), der in einem großen Teil des Landes ebenfalls Hoffnungen geweckt hat, könnte ähnlichen Einfluss auf das weitere Handeln der Bewegungen haben.

Welche Rolle spielt die Zusammensetzung der neuen Regierung?
Das Verhalten bestimmter politischer Akteure ist ein wichtiger Faktor. Die Kommunistische Partei etwa hat Einfluss auf gesellschaftliche Organisationen, insbesondere auf die Gewerkschaften. Aus früheren Regierungsbeteiligungen der Partei wissen wir jedoch, dass sie die Kämpfe der Bevölkerung entweder einzudämmen oder zu beleben versucht – je nach politischer Situation und Auseinandersetzungen innerhalb der Regierungskoalition. So war es während der Regierungen von González Videla (1946-1952), Allende (1970-1973) und Bachelet (2006-2010 & 2014-2018). Ähnlich dürfte es auch jetzt sein.

Auf große Teile der Bevölkerung haben parteipolitische Akteure aber wenig Einfluss. Vor allem auf diejenigen nicht, die am stärksten unter dem neoliberalen System leiden: prekär und informell Beschäftigte, Selbstständige (cuentapropistas), Men- schen in extremer Armut, Mapuche, Migranten und andere. Es gibt keine Garantie dafür, dass die neue Regierung diesen Teil der Gesellschaft zufriedenstellen wird. Daher ist es denkbar, dass ihre Mobilisierungen, die auch radikalisierte und außerinstitutionelle Formen annehmen können, weitergehen werden. Einige Mapuche-Gemeinschaften und -organisationen haben bereits angekündigt, dass es keinen „Waffenstillstand” mit der Regierung von Boric geben wird. Das deutet darauf hin, dass es in Wallmapu, das die Strategen des chilenischen Nationalstaates euphemistisch als Macrozona Sur bezeichnen, weiterhin zu Auseinandersetzungen kommen wird.

Wird sich für diese Gruppen etwas ändern?
Ein Faktor, der die Basisorganisation mittelfristig fördern könnte – wenn auch stärker reguliert und kontrolliert – ist eine versprochene Reform des Streikrechts. Borics Programm zufolge sollen Streiks und Tarifverhandlungen künftig auch nach Produktionszweigen möglich sein, bisher waren nur firmeninterne Tarifverhandlungen zulässig. Diese und andere Faktoren mit noch unklaren Auswirkungen deuten auf ein komplexes und unvorhersehbares Szenario hin, insbesondere vor dem Hintergrund der anhaltenden gravierenden sozialen Probleme. Das konkrete Handeln der politischen Akteure wird also entscheidend sein. Denn nach den allgemeinen Aufforderungen an die Bewegungen, Boric bei der Wahl zu unterstützen und möglichst „keine Wellen zu schlagen“, ist die Frage aus ihrer Sicht jetzt nicht mehr, wie die Menschen Boric unterstützen werden, sondern, wie Boric ihre Kämpfe unterstützt und die Forderungen zu ihrer Zufriedenheit erfüllt.

Was kommt nach dem aktuellen Verharren in Erwartungshaltung?
Ich glaube, die sozialen Kämpfe werden in einigen Monaten, wenn Borics Gnadenfrist – wie sie die Präsidenten zu Beginn ihrer Amtszeit oft begleitet – verflogen ist, ihren gewohnten Lauf nehmen und ungelöste Widersprüche unweigerlich an die Oberfläche bringen. Genaueres vorherzusehen ist unmöglich. Denn wir wissen weder, wie handlungsfähig diese Kämpfe sein werden, noch, inwieweit die Regierung Boric Repression einsetzen wird, um soziale Forderungen einzudämmen. Daher müssen die Bewegungen ihre Autonomie bewahren und sich auf allen Ebenen stärken. Die schwierigen vor uns liegenden Zeiten erfordern es.

Wie hat der verfassungsgebende Prozess die Mobilisierung beeinflusst?
Mit der sogenannten Vereinbarung für den sozialen Frieden und die neue Verfassung vom 15. November 2019 wollte die politische Klasse die Macht der Revolte auf einen harmlosen Weg lenken, nämlich den eines verfassungsgebenden Prozesses, der vom Parlament geregelt wird. So wurde eine gänzlich freie und souveräne verfassungsgebende Versammlung verhindert, die die wichtigsten Interessen, die das neoliberale Modell aufrechterhalten, gefährdet hätte. (Der Verfassungskonvent ist in dem Sinne nicht frei und souverän, da Entscheidungen eine Zweidrittel­mehrheit benötigen und er internationale Abkommen nicht antasten darf, die das Parlament verabschiedet hat – beispielsweise Freihandels­abkommen, Anm. d. Red.). Mit dem Abkommen war die erste Phase der Revolte vom 18. Oktober 2019 zu Ende gegangen. Im Großen und Ganzen hat dieses politische Manöver die erhofften Ergebnisse erbracht: Es ist gelungen, viele Menschen zu demobilisieren, die glaubten, dass der ihnen angebotene verfassungsgebende Prozess ihren Wünschen entsprechen würde. Aber es reichte nicht aus, um zu der gewünschten „Normalität“ zurückzukehren.

Stattdessen gingen die Proteste weiter …
Ja, am 8. März 2020 zum Internationalen Frauentag erreichten sie ihren Höhepunkt. Der Ausbruch der Covid-19-Pandemie in Chile veranlasste die Regierung jedoch, den Ausnahmezustand zu verhängen, der von Quarantänen, einer Ausgangssperre im ganzen Land und anderen Maßnahmen begleitet wurde, die zur Demobilisierung beitrugen. Zu Beginn des Frühjahrs, als die pandemische Lage sich etwas entspannte, belebte die Aussicht auf das Plebiszit am 25. Oktober 2020, das den verfassungsgebenden Weg genauer bestimmen sollte, die sozialen Mobilisierungen insbesondere in politischer Hinsicht wieder.

Der 25. Oktober war ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Institutionalisierung des Konflikts und des verfassungsgebenden Prozesses, wie in der Vereinbarung vom 15. November vorgesehen. Die Bemühungen, Energien und Ressourcen zahlreicher Aktivisten, Versammlungen, Räte und sozialer Organisationen, die in diesem neuen Kontext reaktiviert wurden, konzentrierten sich hauptsächlich auf die Kampagne zur Wahl der Delegierten für den Verfassungskonvent. Aus heutiger Perspektive können wir erkennen, dass die Revolte Mitte März 2020 erlosch. Dazu hatten das Abkommen vom 15. November, dann die Folgen der Pandemie, die eigene Zersplitterung und die politischen Beschränkungen geführt. Stattdessen wurde nun ein von der politischen Klasse geregelter und kontrollierter verfassungsgebender Prozess umgesetzt.

Werden die Bewegungen an die Revolte von 2019 anknüpfen können?
Nach Borics Wahl könnte der gegenwärtige Zeitpunkt als Beginn einer neuen Phase der Mobilisierungen nach der Revolte betrachtet werden – mit allen Unklarheiten und Unsicherheiten, die eine solche Definition mit sich bringt. Denn obwohl die Revolte schon vor einiger Zeit zu Ende gegangen ist, sind viele der subjektiven Elemente des sogenannten octubrismo (Ethos und Erzählung der ersten Tagen der Revolte im Oktober 2019, Anm. d. Übers.) in der Vorstellung, in den Sehnsüchten und politischen Ausdrucksformen noch immer präsent. Zwar gibt es Proteste zu bestimmten Themen – für die Freiheit der politischen Gefangenen des Aufstands sowie für verschiedene wirtschaftliche und soziale Forderungen. Aber sie sind nicht mehr Teil der Revolte.

Welche Rolle spielten die Wahlen in diesem Zusammenhang?
Die zahlreichen Wahlen des vergangenen Jahres (zum Verfassungskonvent, Gouverneurs-, Kommunal-, Parlaments- und Regionalratswahlen) haben zur „Normalisierung“ und Institutionalisierung der Konflikte beigetragen. Auch die Präsidentschaftswahl 2021 hat, trotz ihrer Dramatik, nichts geändert. Die Revolte war nicht in der Lage, eine eigene Alternative aufzustellen, die es ihr ermöglicht hätte, in diesem Wahlkampf autonom aufzutreten. Der einzige Aspekt, in dem sich der octubrismo hier zeigt, ist das bemerkenswerte Wahlergebnis von Fabiola Campillai zur Senatorin in Santiago (die Fabrikarbeiterin Campillai, die durch den Beschuss mit einer Tränengaskartusche der Polizei ihr Augenlicht verloren hat, wurde im November 2021 als unabhängige Kandidatin zur Senatorin gewählt, Anm. d. Red.).

Auch wenn es nicht möglich ist, den Verlauf weiterer Mobilisierungen vorherzusagen, so ist doch sicher, dass die kommenden Proteste nicht als Teil der Revolte vom Oktober 2019 betrachtet werden können, sondern als Teil eines neuen Kontextes, der, wie ich vermute, über das Plebiszit über die neue Verfassung hinaus andauern wird. Doch der gesamte verfassungsgebende Prozess wird von den politischen Kräften des „Abkommens für sozialen Frieden und die neue Verfassung“ vom 15. November 2019 kontrolliert.

“DIE VIELFALT WIRD NICHT MEHR ANERKANNT”

Foto: Martin Schäfer

Der neue Präsident Jair Bolsonaro sagte, alle brasilianischen Aktivist*innen müssten jetzt entweder ins Ausland oder ins Gefängnis. Auf der Berlinale stehen Sie und Ihr Team im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Fühlen Sie sich bedroht?
Ich persönlich fühle hier auf der Berlinale, eine Mission zu haben, das ist neu für mich. Wenn ich im Ausland von der schwierigen Situation in Brasilien erzähle, versuche ich, Fakten statt Meinungen zu kommunizieren. Und ich erschrecke selbst darüber, was ich sage, da ich zum ersten Mal seit Bolsonaros Amtsűbernahme die Geschehnisse mit etwas Distanz betrachte. Zu Beginn der Fragerunde nach der Weltpremiere meines Films erkundigte sich jemand: ,,Glauben Sie, dass der Film in Brasilien gezeigt werden wird?” Und meine erste Reaktion darauf war, zu denken, ,,natürlich, was für eine dumme Frage!”. Aber dann wurde mir klar, dass das Publikum hier weiß, dass wir es mit einer repressiven Regierung zu tun haben.
Um mich selbst habe ich keine Angst, im Gegenteil, die Situation gibt mir mehr Mut, da ich weiß, wie wichtig der Kampf ist. Ich bin privilegiert und könnte im Notfall das Land verlassen, denke aber nicht daran, denn jetzt möchte ich mehr als je zuvor Filme machen. Als Regisseurin bin ich aber besorgt um die jungen Leute im Film, denn die mediale Exposition kann sie schützen, aber gleichzeitig auch in Gefahr bringen.
In Momenten wie diesen ist es sehr wichtig, zu dokumentieren, wie es den Menschen geht. Nach meiner Empfindung haben wir in Brasilien eine kranke Gesellschaft mit vielen Formen der Gewalt: Der Hunger ist eine, die Armut auch, dazu kommt die tatsächliche Gewalt selbst. Das führt zu Leiden. Der Film zeigt Gewalt, und die Verfolgung von Aktivisten ist in Brasilien nichts Neues. Neu ist aber, dass sie jetzt nicht mehr illegal ist, sondern Regierungspolitik. Das macht es noch schrecklicher, als es vorher schon war.

Steht die brasilianische Linke unter Schock?
Der Wahlausgang hat zunächst Entsetzen und Niedergeschlagenheit verursacht. Es gab Fluchtgedanken bei Leuten, die sich das leisten können. Dann beruhigte sich die Stimmung etwas. Natürlich gibt es jetzt Leute, die Angst haben, es hängt davon ab, mit welcher Situation, mit welchen Leuten man konfrontiert ist. Erwartet wird, dass es unter Bolsonaro zu Gewalt kommen wird, soviel ist klar. Es gibt aber nicht eine Stimmung, sondern viele unterschiedliche Stimmungen.

Espero tua (re)volta beginnt mit der Wahl Bolsonaros und ist daher hochaktuell. Wie haben Sie den Film ursprünglich geplant, als diese Entwicklung nicht absehbar war?
Meine Motivation für den Film waren die 200 Schulbesetzungen in São Paulo im Jahr 2015, die wiederum durch einen Dokumentarfilm über die Schulbesetzungen in Chile im Jahr 2006 beeinflusst waren. Die Bilder aus den Jahren 2013 bis 2015 im Film sind nicht von mir, der konkrete Beginn meiner Arbeit am Film war erst im Jahr 2016, nachdem ich das besetzte Parlament von São Paulo besucht hatte. Ich traf mich dort aus einem anderen Grund mit der Produzentin Mariana Genescá und wollte nur kurz bleiben. Dann wollten wir aber beide wissen, was los war, und am Ende übernachteten wir dort. Wir hatten zuvor nie zusammengearbeitet, aber am Ende entwickelten wir die Gewissheit, dass wir darüber gemeinsam einen Film machen wollten, weil es sehr komplex und sehr interessant wirkte.
Wir planten das Ende der Dreharbeiten für Juli 2018 und die Premiere für Oktober. Im August wurden wir zu Festivals in Brasilien eingeladen, aber wir hatten eine Intuition, dass der Film irgendwie nicht fertig war, das Ende stimmte noch nicht. In dem Moment konnten wir uns gar nicht vorstellen, dass Bolsonaro die Wahl gewinnen würde. Als Bolsonaro den ersten Wahlgang gewann und seine im Film gezeigte Rede gegen den Aktivismus hielt, begann ich zu ahnen, dass er gewinnen würde und fing sofort an, das Ende des Films zu ändern. Ich dachte, mein Gott, dieser Film war von Anfang an dafür gemacht, zu erklären, wie es dazu kommen konnte!

Welche Wirkung erwarten Sie von Ihrem Film?
Zuvor hatte ich für den Film ,,Resistencia“, in dem es auch um Besetzungen ging, erstmalig mit Schülern gearbeitet. Es gab damals Probleme damit, den Film im Fernsehen zu zeigen, eine Art Zensur. Wir haben ihn dann über alternative soziale Kanäle verbreitet, allein in den ersten zwei Wochen wurden in 80 Städten Vorführungen organisiert. Als ich mit Interviews überall im Land die Arbeit an meinem neuen Film begann, erzählte ich zwei Mädchen in einem Kollektiv von ,,Resistencia“. Sie waren überrascht und erzählten, dass sie den Film in einer der Vorführungen gesehen und daraufhin beschlossen hatten, ihr Schülerkollektiv zu gründen. Das war in einer sehr kleinen Stadt im Nordosten Brasiliens. Wow, dachte ich, man weiß nie, was mit einem Film passiert, wenn er einmal in der Welt ist.
Um Espero tua (re)volta zu verbreiten, wollen wir wieder Organisationen und Personen kontaktieren, die Vorführungen organisieren, und den Film außerdem über die Online-Plattform ,,Taturana“ allen zum Download zur Verfügung stellen, die selbst eine Vorführung des Films mit anschließender Diskussion organisieren möchten, in Brasilien oder auch im Ausland. So wollen wir viele Menschen erreichen. Dafür wünschen wir uns jeweils ein Feedback über die Veranstaltungen, um zu wissen, was mit dem Film passiert. Natürlich ist es ein Traum, dass ,,Espero tua (re)volta“ dabei hilft, die Leute zu mobilisieren oder zusammenzubringen. Ich wünsche mir auch, dass er den Leuten hilft zu verstehen, was mit den sozialen Bewegungen passiert.

Ihr Film nutzt eine innovative Erzählform: die drei Hauptfiguren führen durch den Film, kommentieren ihn, springen zwischen den Episoden hin und her. Wie sind Sie darauf gekommen, den Film auf diese Weise zu machen?
Das war ein langer Arbeitsprozess. Ich hatte zu Beginn über 100 Stunden Archivmaterial angesehen und dann diejenigen Schüler kontaktiert, die am längsten bei der Besetzung dabei waren. Je mehr Material ich sah, desto mehr verstand ich, wie komplex das Thema war. Daher kam das Konzept, drei Schüler mit sehr verschiedenen Perspektiven den Film erzählen zu lassen. Die Jugendlichen sind unser primäres Zielpublikum und wir wollten den Dokumentarfilm eine von ihnen inspirierte Sprache sprechen lassen. Bei der Kommunikation mit ihnen hatte ich immer das Gefühl, dass sie eine ,,Multitasking-Generation“ sind: Sie haben Ideen und Assoziationen, schauen mal eben etwas auf Google nach oder in einem Video, sie springen von einem Thema zum nächsten. Der Film orientiert sich an dieser ,,Multitasking-Sprache“ in dem Sinne, dass der Erzählfluss nicht linear ist, sondern mit Einschüben, die Ideen folgen und dann wieder zur Geschichte zurückkehren. Das entspricht auch ein bisschen der Art, wie wir Lateinamerikaner nach meiner Wahrnehmung Geschichten erzählen.

Der Feminismus spielt in Ihrem Werk eine wichtige Rolle, so auch in Espero tua (re)volta.
Ich habe eine Neugier, zu verstehen, was mit der Welt und ihren Ungerechtigkeiten passiert, daher ist es logisch, dass mich Frauen interessieren. Ich denke, ich habe schon Filme über feministische Themen gemacht, bevor mir das richtig bewusst wurde. In der Schülerbewegung war der Feminismus im Hinblick auf Geschlecht und Ethnizität ein wichtiges Thema, so dass er aus meiner Sicht im Film eine Rolle spielen musste, um der Bewegung gerecht zu werden. Es lag also nahe, dass zwei der drei Hauptpersonen Frauen sind – eine schwarze und eine nicht hetero-normative Frau.

Werden es kritische Filme wie Ihrer unter Bolsonaro jetzt schwer haben, eine Finanzierung zu bekommen oder gezeigt zu werden?
Unter den Regierungen der PT hat es in Brasilien eine große Unterstützung für die Kunstschaffenden gegeben, besonders für das Kino. Das zeigt sich auch an der großen Zahl brasilianischer Filme hier auf der Berlinale und auf anderen Festivals. Fast alle brasilianischen Filme bekamen Fördergeld vom Staat, so auch unser Film. Dadurch hatte sich nicht nur die Qualität der Filme verbessert, auch die Produktionsorte hatten sich diversifiziert – historisch betrachtet kam das brasilianische Kino vor allem aus Rio und São Paulo, ein bisschen aus Recife und Porto Alegre. Durch die neue Vielfalt gab es zuletzt viele verschiedene Stimmen im Kino, und diese Vielfalt ist sehr schön für ein so großes Land wie Brasilien.
Schon seit der Absetzung von Dilma Rousseff gab es jedoch eine Bewegung, diese Vielfalt zu beseitigen, eine Art Diffamierung oder Kriminalisierung der Künstler. Es wird der Eindruck erweckt, dass wir Geld vom Staat erhalten, ohne etwas Sinnvolles damit zu tun. Ganz so, als ob nicht die Arbeit vieler Leute davon abhängen würde, vom Regisseur über den Chauffeur bis hin zum Koch, die davon leben und ihre Mieten bezahlen. Bolsonaro hatte im Wahlkampf die Abschaffung des Kulturministeriums angekündigt und es dann mit der Unterstützung einer Bevölkerungsmehrheit am ersten Tag seiner Regierung umgesetzt. Das ist gravierend und sagt einiges über den Moment aus, in dem wir uns befinden, denn die Vielfalt wird nicht mehr anerkannt. Das sieht man inzwischen auch an den Auswahlkriterien der Filmförderung. Bisher wurden Projekte nach der Qualität ihrer Ausarbeitung und ihrer Thematik bewertet, aber das ist vorbei. Jetzt ist das wirtschaftliche Potenzial eines Regisseurs ein Kriterium für die Förderung eines Films. Wie ist wohl das wirtschaftliche Potenzial eines Regisseurs, der Dokumentarfilme über soziale Bewegungen dreht? Es ist in Ordnung, dass Filme gedreht werden, die Gewinn einbringen, aber wenn es nichts anderes mehr geben soll, ist das für mich ein ernstes Problem. Die Künstler und Kinoleute machen sich also große Sorgen darüber, was nun passieren wird. Es gibt einen Angriff auf die Kultur in Brasilien, nicht nur auf das Kino, sondern auf alles, was für Vielfalt von Meinungen und Perspektiven steht, wie kritische Stimmen oder Gruppen, die im Kapitalismus nicht glücklich sind, z.B. Indigene. Die neue Regierung ist noch keine zwei Monate im Amt, und schon merkt man den Politikwechsel an vielen Fronten.

Für das Kino, für das Sie stehen, wird es also kaum noch Möglichkeiten geben?
Die politische Verfolgung ist bereits sehr stark. Es gibt neue rechte Gruppen, die Bolsonaro unterstützen, sie organisieren demoralisierende Kampagnen, mittels derer sie Verleumdungen über Linke verbreiten. Man sieht das etwa an den Drohungen gegen den Film Marighella, dessen Regisseur Wagner Moura sich mit einem kritischen, linken Denken immer politisch geäußert hat. Wir müssen abwarten, aber ich bin nicht optimistisch.

 

RÜCKSCHLAG FÜR GUAIDÓ

Aussicht vom alten Militärmuseum: Die kontrastreiche Skyline von Caracas (Foto: John M Shorack)

Es waren brachiale Bilder. Bei dem Versuch, die Einfuhr von Hilfsgütern zu erzwingen, kam es an den Grenzen Venezuelas am 23. Februar zu schweren Ausschreitungen. Tausende Freiwillige hatten im kolumbianischen Cúcuta mehrere Lastwagen bis zur Grenze begleitet, wo das venezolanische Militär unter dem Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen jedoch ein Weiterkommen verhinderte. Auf der kolumbianischen Seite ließen die Sicherheitskräfte derweil auch Protestierende gewähren, die mit Steinen und Molotowcocktails ausgestattet waren. Laut schwer zu überprüfenden Medienberichten wurden fast 300 Menschen verletzt, zudem brannten zwei Lastwagen aus. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig, die Hilfsgüter bewusst in Brand gesetzt zu haben. In der venezolanischen Stadt Santa Elena de Uairén an der Grenze zu Brasilien erlitten laut der venezolanischen Nichtregierungsorganisation Foro Penal 34 Protestierende Schussverletzungen, mindestens vier Menschen starben. Demon­stra­tionen von Regierungsanhänger*innen und der rechten Opposition in Caracas blieben hingegen friedlich.

Guaidó und die USA betrachten die humanitäre Hilfe vor allem als Hebel für einen regime change

Seit Wochen hatte der selbsternannte Interimspräsident Juan Guaidó den 23. Februar zum Tag der Entscheidung hochstilisiert, an dem die humanitäre Hilfe „unter allen Umständen“ ins Land kommen solle. Er selbst und Vertreter der US-Regierung forderten die venezolanischen Soldat*innen nahezu täglich dazu auf, die Hilfsgüter passieren zu lassen und drohten andernfalls mit Konsequenzen. Laut Informationen der kolumbianischen Migrationsbehörde desertierten seit dem 23. Februar mehr als 400 Militärs – angesichts von bis zu 200.000 aktiven Soldat*innen eine überschaubare Zahl. Das Kalkül der rechten Opposition bestand darin, dass die Regierung am Ende gewesen wäre, wenn venezolanische Militärs sich massenhaft den Befehlen Maduros widersetzt hätten. Dieser hatte die vermeintliche humanitäre Hilfe als „Show“ bezeichnet, die das alleinige Ziel verfolge, einer militärischen Intervention das Feld zu bereiten. Um die schwierige Versorgungslage zu verbessern, fordert Maduro stattdessen die Aufhebung der US-Sanktionen, die das Land ein Vielfaches der von den USA in Aussicht gestellten Hilfsgüter kosten. Tatsächlich machen Guaidó und die US-Regierung kaum einen Hehl daraus, dass sie die humanitäre Hilfe vor allem als Hebel für den von ihnen angestrebten regime change in Caracas betrachten. Sowohl die Vereinten Nationen als auch das Rote Kreuz hatten aufgrund der Politisierung der Hilfe im Vorfeld eine Beteiligung an der Aktion abgelehnt.

Straßenszene in Caracas Einkaufen an einem Samstagmorgen (Foto: John M Shorack)

Auf medialer Ebene tobt nun ein Kampf um die Interpretation der Bilder und Ereignisse, bei dem Guaidó klar im Vorteil ist. Einen Monat nach seiner Selbstausrufung zum Interimspräsidenten steht er dennoch weitgehend mit leeren Händen da. Zwar hat er die Rückendeckung der USA, mehr als 50 weiterer Regierungen – darunter der meisten EU-Staaten – sowie gewichtiger Teile der venezolanischen Bevölkerung. Kompetenzen als Interimspräsident übt er bisher jedoch nur außerhalb Venezuelas aus. Laut dem Verfassungsartikel 233, der die absolute Abwesenheit des Staatspräsidenten behandelt und auf den sich Guaidó maßgeblich beruft, hätten innerhalb von 30 Tagen Neuwahlen stattfinden müssen. Der Umsturzversuch droht sich somit in die Liste der glücklosen Versuche der letzten Jahre einzureihen, Maduro zu stürzen. Spätestens wenn sich das Gefühl durchsetzt, dass die rechte Opposition wieder einmal unrealistische Erwartungen geweckt hat, dürften die internen Streitereien erneut aufbrechen und Guaidó wäre am Ende. Er muss also um jeden Preis die Spannung hochhalten, damit der oppositionelle Protest nicht wieder einschläft. Bei einem Treffen von Guaidó mit US-Vizeminister Mike Pence und den Außenminister*innen lateinamerikanischer Staaten der so genannten Lima-Gruppe wurde am 25. Februar aber deutlich, dass es anscheinend gar keinen Plan B gibt. Sowohl die US-Regierung als auch Guaidó haben sich offensichtlich verschätzt, indem sie davon ausgingen, das venezolanische Militär würde zeitnah die Seiten wechseln. Zudem vernachlässigen sie, dass Maduro keineswegs nur die Militärführung, sondern noch immer mehrere Millionen Anhänger*innen hinter sich hat. Hinzu kommt ein Teil der Bevölkerung, der sich als chavistisch versteht und die rechte Opposition ablehnt, ohne aber offen die Regierung zu unterstützen.

Mit dem Scheitern der medienwirksam inszenierten Hilfsaktion wächst die Gefahr einer gewaltsamen Eskalation des Konfliktes weiter. Laut US-Regierung liegen nach wie vor „alle Optionen auf dem Tisch“, das heißt auch eine mögliche Militärintervention. Guaidó hat mittlerweile die US-amerikanische Formulierung übernommen. Innerhalb Lateinamerikas stößt ein mögliches militärisches Eingreifen aber selbst bei rechten Regierungen weitgehend auf Ablehnung, die Lima-Gruppe sprach sich vorerst dagegen aus. Die USA wollen nun weitere Sanktionen beschließen und die Maduro-Regierung wirtschaftlich in die Knie zwingen. Bereits Ende Januar hatte Trump erstmals Sanktionen verhängt, die direkt die Öllieferungen aus Venezuela in die USA treffen. Die Einnahmen landen seitdem auf einem Sperrkonto, auf das Guaidó Zugriff bekommen soll. Leidtragende des immer zynischer ausgetragenen Machtkampfes ist somit in erster Linie die venezolanische Bevölkerung, deren Zugang zu Lebensmitteln und Medikamenten sich voraussichtlich weiter verschlechtern wird. Unklar ist, ob die USA auch ohne Rückendeckung in der Region militärisch eingreifen würden. Wenn es nach der Rhetorik der Hardliner um Präsident Trump herum geht, fehlt dazu nur noch ein konkreter Anlass. Vor allem US-Außenminister Mike Pompeo, der Senator für Florida, Marco Rubio und der nationale Sicherheitsberater von Trump, John Bolton, drohen der Regierung Maduro unverhohlen ein gewaltsames Ende an. Bolton stellte dem venezolanischen Präsidenten einen Aufenthalt im US-Gefangenenlager Guantánamo in Aussicht, Rubio twitterte ein Bild des libyschen Revolutionsführers Muammar al-Gaddafi, das ihn kurz vor dessen Ermordung im Jahr 2011 zeigt. Als Sondergesandter für Venezuela dient mit Elliott Abrams zudem ein alter antikommunistischer Haudegen, der in den 1980er Jahren in die Unterstützung von Todesschwadronen in Zentralamerika und die illegale Finanzierung der nicaraguanischen Contras verwickelt war.

Auch innerhalb Venezuelas dringen mäßigende Stimmen kaum durch. Und es deutet einiges darauf hin, dass Venezuela nur der Anfang sein soll. Sicherheitsberater Bolton spricht mittlerweile in Anspielung auf die von George W. Bush vor Jahren als „Achse des Bösen“ bezeichneten Länder Irak, Iran und Nordkorea von einer „Troika der Tyrannei“. Gemeint sind Venezuela, Kuba und Nicaragua. Die Lage ist vor allem deshalb so gefährlich, weil es in Venezuela bisher keine Anzeichen für eine mögliche Verhandlungslösung gibt. Dass so viele Staaten Guaidó anerkannt haben, der de facto überhaupt keine Macht über den staatlichen Sicherheitsapparat ausübt, ist nicht nur völkerrechtlich höchst fragwürdig. Es führt auch dazu, dass auf internationaler Ebene nur wenige Akteure wie Mexiko und Uruguay glaubhaft auf einen Dialog hinarbeiten könnten. Damit verstärkt sich die Dynamik des Alles oder Nichts, des unbedingten Willens beider politischer Lager, sich gegen das jeweils andere durchzusetzen. Dies aber kann nicht zu einer tragfähigen Lösung der venezolanischen Krise führen. Weder wird Maduro einfach wie bisher weitermachen und die Krise aussitzen können, noch die rechte Opposition nach einem Umsturz gegen den chavistischen Teil der Bevölkerung regieren können.

Auch innerhalb Venezuelas dringen mäßigende Stimmen bisher kaum durch. Aus den Reihen der linken Maduro-Kritiker*innen der Bürgerplattform zur Verteidigung der Verfassung stammt ein Vorschlag, mittels Wahlen und der Neubesetzung der staatlichen Gewalten eine demokratische Lösung der Krise auszuhandeln. Um die dafür nötigen Schritte demokratisch zu legitimieren, solle zunächst ein laut Verfassung mögliches verbindliches Referendum stattfinden. In der Bürgerplattform haben sich mehrere ehemalige Minister*innen unter Chávez sowie kritische linke Akademiker*innen und Aktivist*innen zusammengeschlossen, darunter der bekannte Soziologe Edgardo Lander. Für Kritik innerhalb des chavistischen Spektrums sorgte allerdings ein Treffen mit Guaidó, bei denen Mitglieder der Plattform ihm ihren Vorschlag präsentierten. Der frühere chavistische Bildungsminister Héctor Navarro betonte anschließend, dass die Bürgerplattform Guaidó lediglich als Parlamentspräsidenten anerkenne und den Vorschlag des Referendums ebenso Maduro unterbreiten wolle. Dieser reagierte allerdings nicht auf den Vorstoß. Innerhalb der venezolanischen Linken kontrovers zu diskutieren ist zurzeit ohnehin kaum möglich, Kritik an der Regierung wird meist in die rechte Ecke gestellt. Die wichtigste linke Nachrichtenseite und Debattenplattform Venezuelas, aporrea.org, bei der sowohl Regierungs­anhänger­*innen als auch linke Kritiker*innen Maduros publizieren, wird in Venezuela seit Wochen vom staatlichen Internetanbieter CANTV blockiert. Eine Begründung dafür gibt es nicht.

„Zusammen mit Maduro gestaltet das Volk Zukunft” Wandbild in Caracas (Foto: John M Shorack)

Eine weitere Eskalation könnte bereits kurz bevorstehen. Denn seit dem 22. Februar, als er in Cúcuta ein unter dem Motto „Venezuela Aid Live“ organisiertes Konzert besuchte, befindet sich Guaidó außer Landes. Da er sich damit einem gerichtlich verhängten Ausreiseverbot widersetzte, könnte er bei der Wiedereinreise festgenommen werden. Maduro betonte bereits, dass sich Guaidó in diesem Fall „der Justiz stellen muss“. Der selbsternannte Interimspräsident zeigte sich zunächst unbeeindruckt. „Ein Gefangener bringt niemandem etwas, aber ein exilierter Präsident auch nicht“, versicherte er und kündigte seine baldige Rückkehr an. Eine Inhaftierung komme einem Staatsstreich gleich und werde seitens der Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft „eine beispiellose Antwort“ nach sich ziehen, drohte Guaidó. Nicht bekannt ist, welche Garantien er für diesen Fall seitens der US-Regierung erhalten hat. Aber bis auf Weiteres liegen alle Optionen auf dem Tisch.

 

BOLSONARO SCHÜRT DEN HASS

Der Widerstand lebt: Bolsonaro-Gegner*innen ziehen durch das Zentrum von São Paulo (Foto: Niklas Franzen)

Nur kurz hielt die Schockstarre an. Nach dem Wahlsieg von Jair Bolsonaro, der Brasiliens Linke in einen Zustand der Trauer und Panik versetzt hatte, sind am 30. Oktober in ganz Brasilien Zehntausende gegen den Rechtsradikalen auf die Straße gegangen. In São Paulo versammelten sich schon lange vor dem offiziellen Start der Demonstration Tausende auf der Prachtmeile Avenida Paulista. Zwei Tage zuvor hatten hier noch die Anhänger*innen Bolsonaros den Wahlsieg gefeiert.

Auch Rafael Granutti ist zusammen mit seinen Freund*innen gekommen, um ein Zeichen zu setzen. „Wir haben große Angst vor dem, was auf uns zukommt. Jetzt ist es wichtig zu zeigen, dass wir vereint sind.“ Schon seit 2010 habe er sich immer wieder an Protesten gegen Rechts beteiligt.

Insbesondere Bolsonaros homo- und transphobe Aussagen schockierten den 25-jährigen LGBTI-Aktivisten, der sich eine Regenbogenfahne über die Schultern gehängt hat. Das Klima habe sich seit der Wahl verändert. Insbesondere in den sozialen Netzwerken tobe der Hass. Eine Freundin sei mitten in São Paulo angegriffen worden.

Auch andernorts kam es nach der Wahl zu Übergriffen. So wurden eine indigene Schule und eine Arztpraxis im Bundesstaat Pernambuco in Brand gesetzt. In Curitiba sollen Rechte am Wahlabend einen Schwulenclub angegriffen haben und die Polizei des Bundesstaates Goiás ermittelt wegen der Gründung einer homophoben Terrorgruppe, die zum Mord an Homo- und Transsexuellen aufgerufen hat. Die Wahl des ultrarechten Bolsonaro, der von vielen als Faschist bezeichnet wird, könnte einen radikalen Politikwechsel nach sich ziehen. Der frühere Fallschirmjäger will den Zugang zu Waffen erleichtern, wichtige Ministerien mit Militärs besetzen und möglicherweise aus dem Pariser Klimaschutzabkommen aussteigen.

Beim Protest, der durch die Hochhausschluchten der Megametropole führte, werden immer wieder Parolen gegen den Präsidenten skandiert. Viele Bewohner*innen solidarisieren sich spontan mit den Demonstrant*innen. An diesem Abend wird deutlich: Viele Brasilianer*innen sind mit dem Wahlsieg von Bolsonaro unzufrieden und der Widerstand lebt.

Direkt am Wahlabend war von Widerstand wenig zu sehen. Auf der Veranstaltung der Arbeiterpartei PT in einem Hotel im Zentrum von São Paulo herrschte für einen kurzen Moment Totenstille, dann begann das Schluchzen. Menschen lagen sich in den Armen, vielen stand die Panik und Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Die gesamte Führungsriege der PT, Mitglieder von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften sowieso Pressevertreter*innen aus der ganzen Welt waren anwesend. So auch der ehemalige Senator der PT, Eduardo Suplicy. „Das ist ein sehr trauriges Resultat für uns“, sagte die sichtlich geschockte Kultfigur der Arbeiterpartei. „Jetzt müssen wir reflektieren, was falsch gelaufen ist.“ Auf der Pressekonferenz in einem überfüllten Konferenzraum wurde eine Schweigeminute für die Demokratie und die Opfer der rechten Gewalt gehalten. Dann hielt Fernando Haddad an der Seite von Ex-Präsidentin Dilma Rousseff eine kurze Rede. Von seinen Anhänger*innen wurde er zwar bejubelt, dennoch überwogen an diesem Abend Traurigkeit und Fassungslosigkeit.

Nur wenige Straßenzüge entfernt, sah es zur gleichen Zeit ganz anders aus. Tausende Anhänger*innen von Jair Bolsonaro hatten sich auf der Avenida Paulista versammelt. Schon von weitem hörte man Feuerwerkskörper, Autohupen und Gebrüll. Die für den Verkehr gesperrte Straße glich einem Meer aus Gelb und Grün. An jeder Ecke standen Straßenverkäufer*innen, die T-Shirts und Fahnen mit dem Konterfei von Bolsonaro verkauften. Polizist*innen posierten gut gelaunt mit Bolsonaro-Fans für Fotos. Mehrfach wurde die Nationalhymne gesungen, getanzt und gelacht. Auch Daniel Souza hat Bolsonaro gewählt. „Jetzt werden wir endlich einen nicht-korrupten Präsidenten haben“, so der 25-Jährige. Zwar sei er Demokrat, aber bestimmte Werte, die das Militär verkörpere, müssten jetzt in Brasilien umgesetzt werden. Die Bolsonaro-Anhängerin Cristiane Silva verspricht sich vor allem eine Verbesserung der Sicherheitslage. „Ich muss endlich in der Lage sein, ohne Angst auf die Straße zu gehen.“

Doch der friedliche Schein auf der Wahlparty trügt: Die Stimmung schwankte zwischen Volksfest und Pogrom. So wurde ungeniert gegen politische Gegner gehetzt und offen die blutige Militärdiktatur (1964-1985) verherrlicht. Ein junger Mann zeigte mehrmals den Hitlergruß, während ein Redner die Politiker der Arbeiterpartei von der Bühne aus vulgär beschimpfte. Mehrere Anwesende trugen Uniformen des Militärs, kleine Kinder formten ihre Hände zu Pistolen und immer wieder ertönte der Schlachtruf „Brasilien über alles.“ Die Anhänger*innen Bolsonaros haben die menschenverachtende und faschistoide Rhetorik ihres Idols verinnerlicht.

Und Bolsonaro? Der heizt die Stimmung weiter an. Von Mäßigung nach seinem Wahlsieg ist nichts zu spüren. „Ich werde das Schicksal des Landes verändern. Jetzt wird nicht weiter mit dem Sozialismus, dem Kommunismus, dem Populismus und dem Linksextremismus geflirtet,“ erklärte er und kündigte an, „Säuberungen“ durchführen zu wollen: Dazu will er politische Gegner aus dem Land werfen und soziale Bewegungen als terroristische Vereinigungen einstufen lassen. „Das ist eine explizite Kampfansage an die Demokratie. Mit ihm wird ein Klima der Verfolgung installiert“, sagte der PT-Aktivist William Osake.

Carina Vitral, Präsidentin der Jugendorganisation der kommunistischen PcdoB meint: „Wir lassen uns nicht aus dem Land werfen und uns auch nicht verhaften. Bolsonaro wird mit einer starken Opposition zu rechnen haben.“ Doch auch sie habe Angst, über Sicherheit werde nun viel diskutiert. „Die beste Art, sicher zu sein, ist sichtbar zu sein. Deshalb sind wir heute auf der Straße.“ Jetzt sind die sozialen Bewegungen gefordert. Die Demonstrationen am 30. Oktober waren nur der Anfang.

„WIR BRAUCHEN EIN NEUES GESELLSCHAFTSMODELL“


Fotos: Felipe Valenzuela

Sie sind einer der Hauptakteure der Autonomen Bewegung. Was waren die Gründe für die Schaffung einer linken Bewegung außerhalb des Parteienbündnisses Neue Mehrheit, der Nueva Mayoría?
Gabriel Boric: Wir glauben, dass die alten Wahrheiten, die dem duopolistischen Blocksystem Leben eingehaucht haben, Risse bekommen. Dieses System ist ein Produkt von Widersprüchen, die sich nicht länger verschweigen
lassen. Die traditionelle Politik ist in einen Wettbewerb um die Macht verfallen, welcher schmamlos durch große Unternehmer finanziert wird und immer mehr in die Illegalität verfällt. Außerhalb dieser Elite organisiert sich nun die Bürgerschaft, die immer weniger auf Rufe nach dem Motto „Die Nueva Mayoría nicht zu wählen bedeutet, eine Stimme für die Rechten“ hört. Die Herausforderung, die wir angenommen haben, ist es, der Empörung eine Stimme zu geben und in eine neue linke Politik umzusetzen, die regierungsfähig ist und gleichzeitig die Ansprüche der Mehrheiten widerspiegelt.

Gibt es bereits irgendein Vorbild für die Autonome Bewegung? Und was ist das spezifische Merkmal, das diese zum „chilenischen Modell“ macht?
Die Autonome Bewegung ist eine politische Strömung, die Elemente des Marxismus und des Anarchismus aufgreift. Sie fördert die Konstruktion einer partizipativen Demokratie, die über eine reine „Repräsentativität“ hinausgeht, strebt eine Horizontalität zwischen Staat und Gesellschaft an und berücksichtigt lokale Besonderheiten. Dabei werden „prefigurative“ Praktiken betont, also Praktiken, die eine angestrebte
Gesellschaft vorwegnehmen, ohne dabei zu erwarten, dass dieser Wandel unbedingt stattfindet. Das theoretische Fundament der Autonomen Bewegung liegt in den Werken von Gramsci und Negri.
In Chile trat diese Strömung erstmalig in den 1990er Jahren mit SurDa auf, einer universitären Gruppierung, die sich unter anderem auf die Erfahrungen der Bewegung der Revolutionären Linken (MIR) und der Unidad Popular bezog. Aber es wäre ein Fehler, lediglich auf die Vergangenheit der chilenischen Linken zu schauen. Wir beobachten auch Podemos in Spanien, die Frente Amplio in Uruguay und Bewegungen in verschiedenen anderen lateinamerikanischen Ländern. Dabei wollen wir deren Taktiken nicht einfach kopieren, sondern die Initiativen berücksichtigen, die wir in unserem eigenen Kontext anwenden können. Ich glaube, dass es von diesen Bewegungen viel zu lernen gibt, aber bereits der peruanische Intellektuelle Mariátegui sagte: „Kein Abklatsch und keine Kopie, sondern heroische Neuschaffung“.

Der Sieg von Jorge Sharp bei den Bürgermeisterwahlen in Valparaíso ist ein großer Erfolg für die Autonome Bewegung. Was waren die Hauptgründe für diesen Wahlsieg?
Die Einwohner Valparaísos haben gezeigt, dass sie in der Lage sind, ihren Unmut zu kanalisieren und in ein politisches Programm umzusetzen. Wir haben im Juli 2016 in einer Organisation namens La Matriz, in der viele Bewegungen und unabhängige Nachbarschaftsgruppierungen vereinigt sind, Vorwahlen abgehalten. So schafften wir eine zutiefst demokratische Alternative, die die Sehnsüchte und Nöte der Einwohner von Valparaíso erkannten und aus der sich somit ein Raum für die zukünftige Veränderung Chiles ergibt.

Was sind die größten Probleme des Landes, denen diese neue Bewegung gegenübersteht?
Wir müssen entscheidende Schritte unternehmen, um nicht nur die dringende Umverteilung des Reichtums zu erlangen, sondern auch, um der Logik des Kaufens und Verkaufens zu entgehen. Dabei liegt die Priorität auf den
Sozialrechten, welche heute im Namen eines falschen „freien Marktes“ verletzt werden. Um diesen Wandel leisten zu können, müssen wir auf jeden Fall wieder Eigentümer unserer natürlichen Ressourcen sein und die
Fertigungsindustrie wieder aufbauen, die wir einst hatten. Es braucht sicher einen langen Atem, um unser Land zu einem freundlicheren und gerechteren Ort zu machen; mehr, als ich als Einzelner leisten kann. Es ist daher wichtig, dass gemeinschaftlich erarbeitete Vorschläge zustande kommen. Wir müssen aufhören zu erwarten,
dass die, die jahrzehntelang regiert haben, freiwillig diesen Wandel einleiten. Und anstatt in Hoffnungslosigkeit zu verfallen, sollten wir uns zusammensetzen, diskutieren und uns organisieren. Die Apathie der Massen, die sich durch die extrem niedrige Beteiligungen bei Wahlen ausdrückt, ist gerade das Ziel der dominierenden
Klasse. Für diesen Zweck werden wir einen offenen Parteitag abhalten, bei dem alle interessierten Personen teilnehmen können. Es ist egal, ob diese nun in einer Partei sind oder unabhängig oder bereits zu unserer Bewegung gehören. Wir wollen uns treffen, um gemeinsam zu diskutieren und zu handeln.

Die Autonome Bewegung ist explizit links. Wenn diese aber alle Bürger*innen ansprechen soll, dann muss sie auch mit Menschen sprechen, die nicht unbedingt eine linke Perspektive haben. Wie würden Sie auf diese Bürger zugehen?
Wir müssen dazu in der Lage sein, mit Kräften außerhalb der Linken zu sprechen: mit ökologischen Bewegungen, Bürgervereinigungen etc. Auch ist unser Aufstieg als politische Kraft nur außerhalb der Nueva Mayoría möglich. Wir wollen alle Sektoren einladen, die denken, dass wir über den Markt hinausblicken sollten,
um einen Modus zu definieren, in dem wir zusammenleben wollen. Der Markt kennt weder Schutz, noch Vorsicht, noch Rechte, noch Gerechtigkeit, noch Gleichheit. Letztlich brauchen wir ein neues Gesellschaftsmodell, und wir
glauben, dass sich viele an seiner Errichtung beteiligen werden, wenn wir erst politische Reife erlangt haben und Regierungsfähigkeit anbieten können.

Was ist Ihre Vision von einer emanzipatorischen Politik, die Rechte von marginalisierten Gruppen wie den indigenen Völkern, Homosexuellen, Migrant*innen oder auch Frauen einschließt?
Das herrschende neoliberale System hat unser soziales Gewebe zerstört und ist Feind der Vielfalt. Unsere indigenen Völker werden täglich Opfer von Landraub und Schikanen, und sie werden als Hürde für den „Fortschritt“ gesehen, oder genauer gesagt: für große Energie und Bergbauprojekte. Die Frauen und Homosexuellen wiederum sind das Ziel von inhärenter Gewalt in einer patriachalischen Gesellschaft, die das Maskuline verherrlicht und dieses über jede andere Form des Seins stellt. Am verletztlichsten aber sind die Immigranten, denn sie haben schlechteren Zugang zu Informationen und Kontakten, so dass sie das Risiko tragen, ausgebeutet und betrogen zu werden. Aber es gibt noch mehr Bereiche, die dafür bestraft werden, nicht „kompetitiv“ im Sinne der neoliberalen Logik zu sein: Schuldner, die Kredite für den Bau von Eigenheimen aufgenommen haben, Rentner, Studenten oder auch Kommunen, denen die Interessen von Konzernen aufgezwungen werden. Sie alle wollen ihre eigene Stimme, aber es ist wichtig, dass all diese Stimmen zusammen eine sehr starke Stimme bilden, die nicht mehr ignoriert werden kann.

“SOZIALISMUS HAT KEINE GRENZEN”

Im Mai wurde Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT nach einem juristisch durchaus fragwürdigen Amtsenthebungsverfahren abgesetzt und Vizepräsident Michel Temer von der rechten PMDB übernahm die Macht. Wie beurteilen Sie die ersten acht Monate seiner Regierung?
Sie waren eine Katastrophe. Es waren acht desaströse Monate. Er hat versprochen, die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Das ist nicht passiert. Im Gegenteil: Die ökonomischen Probleme haben sich weiter verschärft und die Ungleichheit hat zugenommen. Dies sieht man auch daran, dass die Arbeitslosenquote gestiegen ist. Temer hat es nicht geschafft, das Vertrauen der Märkte zu gewinnen, wie er versprochen hat. Darüber hinaus ist die Spitze seiner Regierung in Korruptionsfälle involviert. Wir Brasilianer wollen einen Präsidenten, den wir gewählt haben – nach einer Debatte über das Programm, das dieser Präsident umsetzen wird. Michel Temer führt eine Agenda aus, die extrem neoliberal ist und die Probleme im Land verschärft hat.

Sie sind Menschenrechts- und LGBT-Aktivist. Wie beeinflusst Temers Regierung die Rechte von Minderheiten in Brasilien?
Brasilien hat schon immer die Rechte von Minderheiten vernachlässigt. Erst mit den Regierungen der PT hat sich die Lage verbessert. Vor allem während der Amtszeiten von Lula wurde angefangen, mit Minderheiten zu kommunizieren. Seine Regierung hat zum Beispiel große Konferenzen veranstaltet, wie die Konferenzen der Frauen, der Menschenrechte oder der LGBT (Lesben, Gays, Bisexuelle und Transsexuelle). Brasilien hat allerdings zum Beispiel bis heute kein Gesetz verabschiedet, das die Rechte von Schwulen, Lesben und Transsexuellen schützt. Es gibt lediglich einige staatliche Maßnahmen von Landesregierungen und Stadtverwaltungen. Die Regierung von Temer beeinträchtigt die Rechte von Minderheiten in drastischer Weise, da sie nicht einmal mehr mit ihnen kommuniziert. Die Spitze der Regierung setzt sich aus reaktionären und konservativen Politikern zusammen, die der Idee der Menschenrechte als Rechte von Allen entgegenstehen. Für diese Politiker sind Menschenrechte bestimmten Personen vorbehalten: den Weißen, der Mittel- und Oberschicht, den Heterosexuellen. Die restliche Bevölkerung ist somit der Ausbeutung unterworfen oder sollte ausgebeutet werden. Für diese Regierung müssen Minoritäten, wie indigene Völker, die Schwarzen in den Favelas, Frauen allgemein und die gesamte LGBT-Community Gewalt und Vorurteile über sich ergehen lassen und den Mund halten. Zudem verbreiten diese Politiker einen Trugschluss, nämlich die Idee, dass Gleichheit besteht, weil die Verfassung es so festlegt. Die Verfassung proklamiert zwar Gleichheit, aber das wahre Leben zeigt, dass wir nicht gleich vor dem Gesetz sind. Wenn dies der Fall wäre, hätte Brasilien nicht fast 700.000 Gefangene, von denen 80 Prozent schwarz, arm und Semianalphabeten sind. Man kann also sagen, dass diese Regierung schädlich für die Menschenrechte ist.

Im April 2016 haben Sie den ultrarechten Politiker Jair Bolsonaro während einer Parlamentsabstimmung über die Amtsenthebung der damaligen Präsidentin Dilma Rousseff bespuckt, nachdem dieser einem berüchtigten Folterer der Militärdiktatur seine Stimme gewidmet hatte. Der Fall erregte große Aufmerksamkeit, auch außerhalb Brasiliens. Sehen Sie den Anstieg einer rechtsextremen Bewegung in Brasilien?
Gruppen der extremen Rechten wurden von rechten Parteien und Wirtschaftsverbänden finanziert. Diese Gruppen sind vor allem in sozialen Netzwerken aktiv. Mit widerlichen Methoden: Sie verbreiten Lügen und Verleumdungen. Auch während der Wahl in den USA ist dies passiert. Die Universität von Oxford bezeichnet das als „post-faktisch“. Die extreme Rechte in Brasilien handelt genau so. Gruppen wie die Bewegung Freies Brasilien, die Empörten Online oder Komm auf die Straße [jene, die Massenproteste gegen Dilma Rousseff im vergangenen
Jahr anführten, Anm. d. Red.] sind dieser extremen Rechten zuzuordnen und protofaschistisch. Ausdruck dieses Protofaschismus ist die Verbreitung von Lügen und Verunglimpfungen, aber auch die direkte Gewalt. So wurden etwa linke Politiker an Flughäfen und in Restaurants beleidigt und angegriffen.

Wurden Sie nach der Auseinandersetzung mit Bolsonaro weiterhin bedroht?
Ja. Nachdem ich dem Faschisten ins Gesicht gespuckt habe, haben rechte Kräfte meine sozialen Netzwerke überflutet. Sie veröffentlichten Beleidigungen gegen mich und meine Familie. Ich erhielt zahlreiche Morddrohungen. Und so ist es bis heute. Es wird versucht, mich durch diese Gewalt zum Schweigen zu bringen.

Die Ergebnisse der Bürgermeisterwahlen im vergangenen Oktober in Ihrer Wahlheimat Rio de Janeiro zeigen, dass der rechte Kandidat Marcelo Crivella in fast allen sozial benachteiligten Stadtteilen gewonnen hat. Glauben Sie, dass die Linke den Kontakt zu den ärmsten Schichten verloren hat?
In Brasilien hatte die Linke nie besonders viel Kontakt zu den ärmsten Schichten. Die Linke hat es versäumt, im Namen der Arbeiter zu sprechen. Diese profitieren aber von den politischen Errungenschaften der Parteien und Gewerkschaften. Allerdings identifizieren sie sich in Brasilien meist nicht mit der Linken. Auch weil die Rechte fast immer an der Macht war. Mit der Wahl von Lula ist die Linke erstmals an die Macht gekommen. Und sie ist nur dort hingekommen, weil Lula eine Art von Klassenkompromiss ausgehandelt hat.

Wie sah der aus?
Unser Präsidialsystem beruht auf Koalitionen. Damit eine Partei gewählt werden kann oder ein Präsident regieren kann, muss eine Mehrheit im Nationalkongress vorhanden sein. Daher ist die PT eine breite Koalition mit rechten Parteien eingegangen, unter anderem mit der Mitterechts-Partei PMDB. Diese hat nun die PT verraten.
Die Linke hat nicht den Kontakt verloren. Die brasilianische Linke hat den Weg eingeschlagen, den sie nehmen musste – die Agenda der Menschenrechte und der Rechte von Minderheiten. Diese kratzen an Vorurteilen, die tief
in den Menschen verwurzelt sind – einschließlich in vielen Linken. Ich kann mir gut vorstellen, dass irgendjemand meine Teilnahme an dieser Konferenz [22. Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin, Anm. d. Red.] infrage stellt, weil
ich ein offen lebender Schwuler bin. Diese Linken, Sozialisten oder Kommunisten, denken an die Arbeiter, aber vergessen, dass auch Arbeiter eine Sexualität, ein Geschlecht und eine Ethnizität haben. Eine neue Linke und ein Sozialismus, der mit den Massen einen Dialog führen will, muss diese Agenda ohne Angst aufnehmen.

Wie bewerten Sie die Niederlage in Rio de Janeiro?
Obwohl wir die Wahl verloren haben, kann man nicht von einer hässlichen Niederlage sprechen. Marcelo Freixo [Kandidat der PSOL, Anm. d. Red.] hatte 40 Prozent der Stimmen – das ist nicht wenig. Die Linke lebt. Und sie führt den Dialog – ganz im Gegensatz zu der Meinung, dass sie an Raum verliert. Die Linke muss pädagogisch sein und sagen: Wir müssen die Rechte von Homosexuellen verteidigen, wir dürfen niemanden zurücklassen und wir müssen uns der Frage des Rassismus stellen. Denn auch wenn Schwarze sozial aufsteigen, bleiben sie Opfer von Rassismus. Auch in Deutschland werden Flüchtlinge oder die türkische Gemeinde immer noch aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert. Daher macht es keinen Sinn, eine Gleichheit auszurufen. Es bringt nichts, nur an die Arbeiter zu denken. Auch andere Themen spielen eine Rolle und die Linke muss sich ihnen stellen.

Soziale Bewegungen greifen auch die PT scharf für ihre neoliberale Politik an. Auch Ihre Partei, die PSOL, übte teils heftige Kritik. Glauben Sie, dass es in diesen schwierigen Zeiten weiterhin notwendig ist, eine Kritik an der PT zu äußern oder ist es jetzt wichtiger, eine vereinte Linke gegen den Rechtsruck aufzubauen?
Ich glaube, dass die Kritik an der PT bereits geäußert wurde. Ich persönlich habe immer eine gerechte, intellektuell ehrliche Kritik an dieser Partei artikuliert. In meiner Partei gibt es viele PT-Gegner, ich bin es nicht. Ich glaube auch, dass die öffentlichen Figuren meiner Partei keine PT-Gegner sind. Es ist Zeit, dass wir eine breite Front der Linken für allgemeine und direkte Wahlen bilden. Eine breite Front, die es uns erlaubt, einen  Präsidenten zu wählen, der sein Regierungsprogramm mit der Gesellschaft diskutiert. Im Gegensatz, zu dem
was der illegitime Michel Temer tut, der uns seine Agenda aufzwingt. Sein neoliberales Regierungsprogramm
hat drastische Auswirkungen für die Rechte der Arbeiter.

Wie sollte die Linke Ihrer Meinung nach für Alternativen kämpfen?
Als Erstes muss die Linke das Thema der Korruption aufgreifen. Sie muss die Korruption bekämpfen, denn die Rechte triumphiert fast immer, wenn sie die Linke der Korruption beschuldigt. Zweitens ist eine nachhaltige Entwicklung fundamental. Dies bedeutet ein Regierungsprogramm, das ein Gegenteil zur neoliberalen Agenda darstellt. Ein Programm, das in strategisch wichtige Bereiche investiert, wie Bildung, Wissenschaft, Technologie und Gesundheit. Zudem ist eine Kontrolle des Marktes wichtig. Ein Markt darf nicht frei sein und die Autonomie haben, die er gerne hätte. Die Banken dürfen nicht Zinsen diktieren, wie es ihnen lieb ist. Dies hat zu Verarmung geführt und eine Wirtschaftselite geschaffen, die nichts produziert, aber haufenweise Geld macht. Die Linke
muss daher ein klares Wirtschaftsprogramm mit sozialem Profil aufweisen. Die Menschen müssen Sicherheit darüber haben, ob sie am Ende des Monats ihren Lohn erhalten, ob die Schule ihrer Kinder geöffnet ist, wie die Zukunft aussehen wird. Die Linke muss dies klarer machen. Oft verliert sie sich jedoch in bestimmten Themen.
Und viele Themen wurden seit der Oktoberrevolution nicht mehr überarbeitet. Sogar nach dem Fall der Berliner Mauer hat es die Linke versäumt, bestimmte Begriffe zu überdenken. Noch heute gibt es Menschen, die denken, dass wir zuerst an die Arbeiter denken müssen und uns erst danach anderen Fragen zuwenden sollten, wie der Genderfrage, die als weniger wichtig und bürgerlich betrachtet wird. Das ist ein Fehler. Hier darf es keine Rangordnung geben. Die Kämpfe gehören zusammen. Für mich ist ein Arbeiter, der auf der Straße für würdevolle Arbeit und einen besseren Lohn kämpft, aber zu Hause seine Frau schlägt oder seinen schwulen Sohn aus dem Haus wirft, kein Linker. Sozialismus hat keine Grenzen. Entweder Sozialismus kommt mit Freiheit oder er macht keinen Sinn.

„DIE MODELLE, DIE WIR VERTEIDIGEN, HABEN SICH ERSCHÖPFT“

Luiza Erundina will Politik neu denken (Foto: Circuito Fora do Eixo)
Luiza Erundina will Politik neu denken (Foto: Circuito Fora do Eixo)

CartaCapital: Der Interimspräsident des Abgeordnetenhauses, Waldir Maranhão, annullierte die Abstimmung des Amtsenthebungsverfahrens zunächst, machte dann allerdings einen Rückzieher. Glauben Sie, dass das von Cunha angeleitete Verfahren in Wirklichkeit auf Besessenheit basiert?
Luiza Erundina: Seitdem er den Vorsitz des Abgeordnetenhauses angetreten hat, nutzte Cunha seine Vormachtstellung zum eigenen Vorteil. Das schließt die Behinderung des gegen ihn im ­Ethi­­krat laufenden Prozesses ein. Das gleiche Verhalten legte er während des Amtsenthebungsverfahrens gegen Dilma Rousseff und auch während anderer Abstimmungen im Abgeordnetenhaus an den Tag. Als er die Gesetzesinitiative zur Reduzierung der Strafmündigkeit auf die Agenda setzte, ließ er zwei Abstimmungen an unterschiedlichen Tagen durchführen, bis das gewünschte Ergebnis erzielt wurde. Das Amtsenthebungsverfahren war gekennzeichnet durch seine Versuche, die Geschäftsordnung und geltenden Bestimmungen bei einer solch schwerwiegenden Angelegenheit zu umgehen. Mittels einer von ihm verursachten Debatte zwischen den zwei politischen Lagern im Abgeordnetenhaus mit anschließender geheimer Abstimmung versuchte er, Einfluss auf die Amtsenthebungskommission zu nehmen. Dies wurde letztlich durch den Obersten Gerichtshof (STF) unterbunden. Daraufhin zögerte er die Errichtung der ständigen Kommissionen hinaus und brachte sie in Bezug auf das Amtsenthebungsverfahren auf seine Linie. Er handelte immer sehr paternalistisch, so, wie es ihm eben beliebte.

Wie konnte Cunha so viel Macht im Parlament erlangen?
Er ließ sich mit bedeutender Mehrheit zum Präsidenten des Abgeordnetenhauses wählen und wird massiv von den evangelikalen Abgeordneten unterstützt. Bereits vor der Amtsübernahme führte und beeinflusste er Abstimmungen im Interesse dieser Gruppierung, dem zahlenmäßig größten der im Haus vertretenen politischen Lager. Tatsächlich übt er enormen Einfluss auf die Mehrheit der Konservativen aus, der sogenannten BBB-Fraktion, also bíblia, boi e bala (Bibel, Bullen und Blei, Anm.d.Red.).
Ein Abgeordneter aus São Paulo, ich würde seinen Namen lieber nicht nennen, erzählte einmal im Vertrauen, dass er im Morgengrauen Anrufe erhalten habe, in denen Cunha seine Vorstellung zu Ergebnissen für am darauffolgenden Tag angesetzte Abstimmungen mitteilte. Er kontrollierte akribisch jeden einzelnen Abgeordneten, der ihm seine Stimme gegeben hatte. Wir haben eineinhalb Jahre des demokratischen Lebens unseres Landes verloren, dies inmitten einer vielschichtigen, wirtschaftlichen, politischen, sozialen und ethischen Krise. Diese Situation hat zu einer enormen Verdrossenheit in der Bevölkerung und zu einer schwerwiegenden Diskreditierung der Demokratie geführt.

Was ist der Ursprung dieser gravierenden politischen Krise?
Wir sind nur an diesem Punkt angelangt, weil wir notwendige politische Reformen versäumt haben. Dabei beziehe ich mich nicht ausschließlich auf das Wahlsystem. Es ist notwendig, das politische System, den Staat und den föderalen Pakt als Ganzes, neu zu denken. Es gibt ein enormes Ungleichgewicht in Bezug auf die Verteilung der Ressourcen und der Gewalten zwischen der Union, den Bundesstaaten und den Gemeinden. Einen großen Teil der Last muss die lokale Ebene tragen.
Wir haben eine fortschrittliche Verfassung verabschiedet, aber ein beträchtlicher Teil ihrer Artikel wurde nicht umgesetzt. Heute hat die Exekutive die Macht, mit provisorischen Mitteln Gesetze zu erlassen. Durch Missachtung der Legislative trifft inzwischen auch die Judikative Entscheidungen, die eigentlich im Kompetenzbereich des Kongresses lägen. Ein Jahr vor jeder Wahl werden neue Wahlregeln verabschiedet, die das bestehende Geflecht aus gesetzlichen Regelungen weiter schwächen.

Es bringt nichts, Probleme lediglich punktuell lösen zu wollen.
Punktuelle Veränderungen machen das System noch dysfunktionaler. Wir müssen uns mit dieser strukturellen Frage auseinandersetzen, mit dem politischen System im weiteren Sinne des Wortes. Tun wir das nicht, dann werden wir die politischen Verwerfungen während der Wahlkämpfe, in Ausübung der Macht und in der Beziehung zwischen dem Volk und der Regierung, nicht korrigieren können. Vor kurzer Zeit entschied sich das STF für ein Verbot von Wahlkampffinanzierungen durch Unternehmen. Es wurden jedoch keine neuen Mechanismen zur Kontrolle und Überwachung eingeführt. Wie kann denn so die Praxis unkontrollierter Wahlkampffinanzierungen unterbunden werden?

Wie bewerten Sie das Verhalten der rechten Opposition in diesem Prozess? Gab es Gesinnungslumperei in dieser informellen Allianz mit Cunha?
Ich habe keinen Zweifel daran, dass es sich hier um einen reinen Machtkampf handelt. Der Vizepräsident Michel Temer hat diesen gesamten Prozess eingefädelt und den Aufbau der Ministerien antizipiert, als ob er bereits das Ruder in der Hand hätte. Die PSDB und ihre Unterstützer haben das Ergebnis der Wahlurnen von Beginn an nicht akzeptiert. Cunha nutzte seine Macht aus, über die Annahme von Anträgen zu Amtsenthebungsverfahren entscheiden zu können, indem er den gegen ihn angestrengten Prozess der Ethikkommission verzögerte.
Diese Gruppen haben sich gegenseitig und zu Lasten des Rechtsstaats ausgenutzt. Sie konnten mit der Unterstützung bestimmter Medien rechnen, die die öffentliche Meinung in die vorgegebene Richtung manipulieren, ihnen geht es schließlich auch um ein politisches Projekt.
Sie nahmen übliche finanzpolitische Praktiken des Regierens zum Anlass, bei denen es sich genau genommen um Haushaltstricksereien („pedaladas fiscais“) handelt, um Dilma aus der Regierung zu entfernen. Aus guten Gründen habe ich selbst Kritik an der Regierung geübt, aber ich kann kein Amtsenthebungsverfahren ohne Feststellung eines Amtsmissbrauchs unterstützen. Wenn es möglich ist, dass eine nicht in die Regierungsverantwortung gewählte Gruppe im Kongress die Mechanismen des demokratischen Systems zum eigenen Vorteil aushebeln kann, wird eine permanente Instabilität geschaffen.

Glauben Sie, dass Dilma Rousseff als erste gewählte Präsidentin der Republik auch sexistischer Intoleranz zum Opfer fiel?
Wenn wir die Debatte um ihre Regierungsarbeit einmal außer Acht lassen, ist kaum zu verhehlen, dass der Genderaspekt eine Rolle spielt. Abgesehen von lobenswerten Ausnahmen glaubt die Mehrheit der Männer nicht daran, dass sich Frauen als Führungspersonen mit Regierungsverantwortung eignen. Noch nicht einmal zehn Prozent der Sitze im Abgeordnetenhaus werden von Frauen besetzt, obwohl 52 Prozent aller Wähler Frauen sind. Seit der Einführung des Frauenwahlrechts haben wir 78 Jahre gebraucht, um eine Frau zur Präsidentin der Republik zu wählen. Die simple Tatsache, dass Dilma an die Macht gekommen ist und darüber hinaus noch aus dem linken Spektrum kommt, ist ursächlich für die mangelnde Bereitschaft, mit ihr kooperieren zu wollen. Öffentlich würde das allerdings niemand zugeben.

Was waren die größten Fehler der PT als regierende Partei?
Die PT-Regierungen haben keine wirklich demokratische Politik für die Zivilgesellschaft gemacht. Sie nutzten den durch die Koalition gestützten Präsidentialismus und schufen eine breite politisch-ideologische Allianz, missachteten jedoch ihre historisch gewachsene Verantwortung. Ebenso missachteten sie die Eigenständigkeit von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften.
Es kam hier meines Erachtens zu einer gewissen Einverleibung. Zum Beispiel ist es Lula gelungen, oppositionelle Arbeiterorganisationen aufzulösen. Zehn Prozent der Gewerkschaftssteuer gingen nur noch an Dachgewerkschaften, wodurch eine von ihrer Basis distanzierte Gewerkschaftselite geschaffen wurde. Anstatt das Volk zu mobilisieren, machte sich die Regierung von einer klar definierbaren, parlamentarischen und klientelistischen Basis abhängig.

Die Basis, die sich gegen Dilma gerichtet hat.
In Wahrheit hat die PT bereits vor der Wahl Lulas kapituliert, wie die Veröffentlichung des Briefes an die Brasilianer und die darin enthaltenen Informationen zu den mit dem Internationalen Währungsfonds eingegangenen wirtschaftspolitischen Verpflichtungen zeigen. Wir haben nach wie vor ein regressives Steuersystem, das sich lediglich auf die Besteuerung des Einkommens und des Konsums konzentriert, während Gewinne und Dividenden weiterhin steuerfrei oder niedrig besteuert bleiben. Bedauerlicherweise fehlte es diesen Regierungen an politischem Willen oder schlichtweg an Mut, um die von ihnen erhofften Veränderungen durchzusetzen.

Was ist von der Regierung Temer zu erwarten?
Es wird eine Radikalisierung finanzpolitischer Sparmaßnahmen sowie extreme Neuregelungen in anderen Bereichen geben. Temer hat angekündigt, geplante Ausgaben für den Gesundheits- und Bildungsbereich im aktuellen Haushalt als optional deklarieren zu wollen und die Entscheidungsgewalt darüber der aktuell in der Regierungsverantwortung stehenden Person überlassen zu wollen. Die PMDB plant eine Reform der sozialen Vorsorge, ohne sich dazu verpflichtet zu fühlen, bisherige Errungenschaften beizubehalten.
Außerdem sollen manche Rechte eingeschränkt werden. Die Logik entspricht derjenigen der Haushaltsanpassungen: Die Rechnung der Krise wird auf die Arbeiter abgewälzt. Man spricht von Privatisierungen im großen Stil, das Erbe des Landes wird preisgegeben. Dialogbereitschaft oder eine Beachtung der Bedürfnisse der Bevölkerung wird es bei der neuen Regierung nicht geben.

Trifft die Krise der PT die Linke als Ganze?
Auf der ganzen Welt werden linke Strategien in Schach gehalten. Aber sie werden neu gestaltet, aktualisiert. Neue Parteien entstehen in Europa, beispielsweise Podemos in Spanien oder auch Syriza in Griechenland. Neue Paradigmen werden gesucht, die auf einem radikalen Verständnis von Demokratie, auf einem Bruch mit der Parteienbürokratie und auf einem Ende der durch politische Galionsfiguren geschaffen Hierarchie aufbauen. Die Krise der PT könnte diesen Prozess verzögern.
Meiner Einschätzung nach erleben wir das Ende eines historischen und sozialen Zyklus. Die Übergangsphase ist immer schmerzhaft, weil man nicht mit Klarheit erkennen kann, was sich an ihrem Ende befindet. Es ist an der Zeit, die politische Kultur zu überdenken, sie offener und pluralistischer zu gestalten. Wir müssen die Art und Weise, wie wir um Macht ringen und diese ausüben, neu bewerten. Wir müssen Paradigmen neu denken, das verlangt viel Bescheidenheit und Selbstkritik. Die Modelle, die wir einst verteidigten, haben sich erschöpft.
Wir müssen außerdem unsere Beziehung zur Umwelt neu bewerten. Es ist nicht mehr tragbar, ein räuberisches Entwicklungsmodell beizubehalten. Das ist es, was uns zur Gründung der neuen Partei Raiz inspiriert. Ich besitze eine mehr als 40-jährige politische Erfahrung und sehe mich in der Pflicht, alles neu zu erlernen.

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