“KULTURELLES GEDÄCHTNIS MIT DEFIZITEN”

Warum haben Sie Chile 1986 verlassen und sich für Berlin entschieden?
Ich hatte ein persönliches Angebot bekommen, nach Berlin zu kommen, das ich sofort annahm. Die siebziger und achtziger Jahre in Chile waren schrecklich, ich wollte nichts wie weg. Dass man in einer Diktatur aufgewachsen ist, kann man aus der Biographie nicht mehr wegradieren. Und den Übergangsprozess hin zur Demokratie habe ich nicht mitgemacht, so dass meine Erinnerungen an Chile noch aus Diktaturzeiten stammen. Bis 2015 war ich dort immer wieder zu Besuch, doch nie länger als zwei Wochen. Erst seit 2016 bin ich für längere Zeit dort gewesen. Die Literatur bringt mich ein bisschen nach Chile zurück.

Wie sind Sie vor Ihrer Emigration mit der politischen Situation umgegangen? Haben Sie diese schon literarisch verarbeitet?
Um in der Diktatur Widerstand zu leisten, musste man bereit sein, alles zu riskieren. Ich hatte damals keine radikalen Gedanken und habe Abstand zu allen Ideologien gehalten. Für Leute wie mich gab es im Chile der achtziger Jahre keinen Platz. Meine eigenen Erfahrungen verarbeite ich in meinem neuesten Roman, Luz en Berlín, der die Ereignisse um das Jahr 1989 thematisiert, in denen sich Deutschland und Chile parallel im Umbruch befanden.

Ihr erster Roman, Mestiza, spielt im 17. Jahrhundert, als Chile spanische Kolonie war. Inzwischen erscheint das Buch in der vierten Auflage und wird auch als Fernsehserie verfilmt. Wie erklären Sie sich den großen Erfolg?
Momentan gibt es einen Trend in Chile, in die Geschichte zurückzublicken. Viele historische Romane in anderen lateinamerikanischen Ländern haben sich schon auf die Suche nach Erklärungen für die Gegenwart gemacht, während Chile da ein klares Defizit hat, das wir jetzt versuchen aufzuarbeiten. Dann hat mich ein Produzent gefragt, ob ich Interesse hätte, den Roman als Serie zu verfilmen. Sofort hat sich ein Team gebildet, jetzt sind wir in der Antragsphase. Ich habe schon mit dem Drehbuch angefangen.

In verschiedenen Interviews für chilenische Medien haben Sie betont, dass der Umgang mit der Araucanía – der Region in Südchile, wo traditionell die Mapuche leben – entscheidend für das historische Identitätsproblem der Chilenen sei: Statt die mestizische Herkunft anzuerkennen, hat man sich immer mehr nach Europa orientiert. Wie sehen Sie die heutige Beziehung der Chilen*innen zum Erbe der Mapuche?
Das ist eine Problematik, die von Generation zu Generation verschleppt wurde. Einer der Gründe dafür ist, dass man zu wenig über den historischen Prozess weiß und auch nicht mehr wissen will. Die Bevölkerung, insbesondere die Bourgeoisie, gibt sich mit angeblichen Allgemeinwahrheiten zufrieden und verbreitet diese immer weiter. Es gibt keinen differenzierten Blick in die Vergangenheit, der versucht das Anliegen der Mapuche zu verstehen und dieses mit unserer eigenen Identität zu verknüpfen. Die Protagonistin von Mestiza ist hingegen eine sehr starke Frau, die ihre Identität akzeptiert. Ich hoffe, dass sich die Leserschaft durch diese Figur mit der eigenen Geschichte besser identifizieren kann.

Ihr zweiter Roman, Rugendas, ist nach dem Augsburger Maler Johann Moritz Rugendas benannt, der im 19. Jahrhundert Mittel- und Südamerika bereiste und Landschaft und Menschen porträtierte. Was fasziniert Sie an dieser Person?
Da ich zwischen zwei Welten lebe, interessieren mich die Leute, die Brücken zwischen diesen Welten schlagen. Mich hat Rugendas’ Blick fasziniert. In Chile traf er auf eine Bourgeoisie, die sich sehr wenig um das Wohl des Landes kümmerte. Wenn er Indigene porträtierte, wurde seine Kunst nicht akzeptiert. Niemand wollte in seinem Haus das Porträt eines Indigenen oder Bauern hängen haben, sondern lieber eins des Hausherrn. Das hat Rugendas nicht geboten. Sein Versuch, die Romantik nach Lateinamerika zu transportieren, ist gescheitert. So ist er abgereist und zehn Jahre später als armer Mann in Bayern gestorben. Heute ist er jedoch in vielen Museen an den Orten der lateinamerikanischen Länder, in denen er gearbeitet hat, wie Chile, Argentinien, Uruguay, Brasilien, Mexiko, prominent vertreten.

In welchem Verhältnis stehen für Sie Geschichte und Literatur?
Die Geschichte ist natürlich sehr nützlich dafür, die Gegenwart zu verstehen. Diese Perspektive ist für Lateinamerika als postkolonialer Kontinent sehr wichtig. Unsere Gegenwart ist gänzlich kolonial geprägt, und der Wille der Eliten, etwas daran zu ändern, ist sehr begrenzt. Durch fiktive Figuren, die Geschichte selbst erleben, kann diese noch viel besser erzählt werden. Es geht darum, der Geschichte zusätzlich zur Dimension von Raum und Zeit die Dimension der Emotionen zu geben. Dahinter steht die Frage, wie Menschen eine bestimmte Epoche erleben. Die Protagonistin von Mestiza beispielweise erzählt mit 70 Jahren ihr Leben, ihren persönlichen Eindruck vom kolonialen Königreich Chile.

Im Prolog zu Mestiza sprechen Sie von einem ungeöffneten Originalmanuskript im Archivo de Indias in Sevilla. Existiert diese Quelle?
Nein. Die Technik, ein fiktives historisches Dokument zu erfinden und dieses als realhistorisch zu verkaufen, um eine Geschichte darum zu spinnen, ist in der Literatur sehr beliebt. Ich fand es passend, um die Leserschaft wissen zu lassen, dass die Erzählerin vertrauenswürdig ist. Die Person ist fiktiv, aber es kann sie trotzdem gegeben haben. Die im Roman erwähnten Rahmenkonstellationen des 17. Jahrhunderts sind natürlich real.

Der Roman Rugendas beruht auf dem Briefwechsel zwischen dem Reisemaler aus Deutschland und der Chilenin Carmen Arriagada. Deren Briefe an Rugendas wurden zufällig in Deutschland entdeckt. Sie selbst hat dagegen Rugendas’ Briefe verbrannt, um ihre – rein platonische – Liebesbeziehung vor ihrem Ehemann geheim zu halten. Wie haben Sie in diesem Fall eine reale Geschichte zu Fiktion gemacht?
Bei Rugendas war es ein anderer kreativer Prozess als bei Mestiza. Ich hatte die 235 Briefe der platonischen Geliebten im Iberoamerikanischen Institut in Berlin gefunden, dort gelesen und als realhistorische Quellen verwendet: Basierend auf den Briefen habe ich versucht, die ganze Geschichte von Rugendas in Chile zu rekonstruieren. Somit ist es auch meine Version von Rugendas in Chile.

Könnte man in Bezug auf Ihre Literatur vielleicht von einer Art Geschichtspädagogik sprechen?
Auf jeden Fall. Das kulturelle Gedächtnis in Chile ist sehr defizitär. Miserabel geradezu. Ich habe vom deutschen Umgang mit der Geschichte etwas gelernt, da ich den Eindruck habe, dass zumindest an einigen Stellen das Interesse besteht, ohne Heuchelei in die Vergangenheit zu schauen. Ich stelle jedoch auch in Chile Verbesserungen fest, Mestiza wird heute zum Beispiel auch teilweise in Schulen gelesen.

In der Zeitschrift Crítica schreiben Sie in einem Artikel, dass Ihnen die „bescheidenen“ Autor*innen gefallen und Sie die „eitlen“ ablehnen. Wie definieren Sie „bescheidene“ und „eitle Literatur“?
Das kommt auf die Motivation an, mit der man schreibt. Etwas geben, das ist bescheidene Literatur; und sich zu zeigen, wie man wirklich ist. Ohne Heuchelei eine Thematik anzugehen. Wenn ich anfange, ein Buch zu lesen, kommt mir diese Dichotomie sofort in den Sinn. Wenn sich der Autor zu sehr in den Vordergrund drängt, habe ich keine Lust mehr weiterzulesen.

Haben Sie Beispiele dafür?
Eitel wäre: Schau mal hier, wie toll ich schreiben kann. Bescheiden ist: Schau mal, was ich zu sagen habe. Das kann sich natürlich auch vermischen, diese Unterscheidung ist eine Vereinfachung, die ich für mich gemacht habe, um meinen eigenen kreativen Prozess zu verstehen. Gar nicht eitel ist für mich zum Beispiel Thomas Bernhard. Er entflieht der Eitelkeit in jeder Form. Auch Bukowski. Wahrscheinlich auch deswegen, weil ich im Chile der achtziger Jahre groß geworden bin, wo alles Heuchelei und Eitelkeit war, gefallen mir die Schriftsteller besonders gut, die zum Beispiel über Einsamkeit schreiben. Denn wer einsam ist, ist meist nicht eitel, Eitelkeit entsteht ja erst im gesellschaftlichen Umgang.

Zu Ihren größten Einflüssen zählt der Philosoph Schopenhauer, den Sie mi maestro adoptado, Ihren „Adoptivlehrer“, nennen. Was haben Sie von Schopenhauer gelernt?
Ich glaube, das hat mit seinem klaren Blick auf das menschliche Dasein zu tun. Wie er unsere Ängste erklärt, unsere Aggressivität und unseren Egoismus. Wenn man wie ich das Chile der achtziger Jahre erlebt hat, die ganze Grausamkeit, die Arroganz, die fehlende Empathie, das Absurde und Irrationale, dann ist Schopenhauer ein möglicher Rückzugsort: ihn zu lesen und zu versuchen, diese Motive als menschliche Defizite zu verstehen und sich selbst vor ihnen zu schützen.

Sie leben in Berlin, veröffentlichen aber auf Spanisch und in Chile. Wie schätzen Sie – aus der Ferne – den aktuellen Literaturbetrieb in Chile ein?
Mir gefällt dieser Blick von außen. Der Literaturbetrieb in Lateinamerika ist für mich zum Teil sehr unangenehm, vielleicht ist es auch hier so, aber ich mag den Abstand zu diesem Literaturbetrieb. Ich bin gerne dort, um Kontakte zu knüpfen und zu vertiefen und zu sehen wie die Rezeption meiner Bücher abläuft, aber die Details des Betriebs, die Konkurrenz und all das, vermeide ich lieber. Viele Schriftsteller sind zerstritten und führen teilweise absurde Debatten, die mich nicht interessieren.

Wann werden Ihre Bücher auch auf Deutsch zu lesen sein?
Hoffentlich bald, obwohl ich teilweise sehr spezifisch lateinamerikanische Themen behandle. Aber vor allem Luz en Berlín soll natürlich ins Deutsche übersetzt werden. Ich bin jedoch bisher meine eigene Agentin, und die Literatur ist ein langsamer, akkumulativer Prozess. Bisher weiß ich noch nicht, was mit meinen Büchern passieren wird.

CHILENISCHE ALLTAGSHELDEN

„Jede dieser Geschichten ist ein Ferngespräch mit der Vergangenheit“, heißt es auf dem Klappentext von Ferngespräch. Im Original ist der Bandtitel jedoch identisch mit dem der ersten Erzählung – „Eigene Dokumente“ – und spätestens der Satz „eigentlich will ich diese Datei schließen und für immer im Ordner Eigene Dokumente speichern“ lässt keinen Zweifel daran, dass es sich dabei um eine Anspielung auf einen Computerordner handelt. Jede Geschichte ist gewissermaßen ein Dokument in diesem Ordner. Ein Fragment, das sich einem persönlichen Erlebnis, einem Thema widmet und aus dem Ordner eine Art Erinnerungssammlung macht.

Nicht nur der Titel „Eigene Dokumente“, sondern auch die Ich-Perspektive mehrerer Geschichten legt eine autobiographische Lektüre nahe. Diese wird durch zahlreiche Details bestärkt, wie etwa, dass der Autor selber in der Kommune Maipú aufwuchs und im Instituto Nacional zur Schule ging, dass er an Cluster-Migräne leidet und sein Vater wegen Kurzsichtigkeit auf eine professionelle Fußballkarriere verzichten musste. Die Details geben dem Band Kontinuität. Die Geschichten sind aber genau so reich, wenn man jede nur für sich betrachtet.

Der rote Faden wird dabei durch die angesprochenen Themen abgesteckt: Diktatur und Erinnerung, Religion, sexuelle Erfahrungen, Männlichkeitsbild und Fußball, Literatur. Bei den Charakteren handelt es sich um Typen: Mal geht es um den Raucher, der an Migräne leidet, mal um den Schüler, der während der Diktatur aufwächst, umgeben von „diese[m] verdächtige[n], typisch chilenische[n] Schweigen […], das alles zudeckt“. Um den Literaturstudenten, der planlos durchs Leben streift und sich mit willkürlichen Jobs übers Wasser hält – bis er eine Nacht den Wasserhahn im Büro offen lässt und sich einen neuen Job suchen muss. Um den Jungen, der in einem katholischen Bildungssystem groß wird und Lieder einübt, „darunter das Vaterunser zur Melodie von ‚The Sound of Silence‘“. Um Liebende, die nicht wissen, dass sie lieben und um solche, die noch nicht wissen, dass sie es nicht mehr tun.

Bemerkenswert ist vor allem Zambras Sprache. Oft reflektiert er über Sprache und Schreiben, Computermetaphern und -bilder sind im ganzen Band sehr präsent. Mit einer fast mechanischen Präzision zählt Zambra oft scheinbar unbedeutende Details auf, die die Erzählungen anreichern. Sei es in der Szene, in der die Mutter Englisch lernt und stundenlang Kassetten mit sinnfreien Lektionen hört („der Mann sagte ‚These are my eyes‘ und die Frau antwortete ‚Those are your eyes‘“). Oder die Geschichte „Instituto Nacional“, wo die beschriebene Atmosphäre und die Art der Lehrer*innen an den Club der Toten Dichter erinnert.

Überhaupt können Leser*innen reichlich Popkultur- und Literaturreferenzen entdecken, aus Chile und anderswo. Die Protagonist*innen lesen sowohl Paul Celan, Emily Dickinson und Heinrich Böll, als auch Humberto Díaz Casanueva und Nicanor Parra. Sie hören Simon and Garfunkel und Radiohead aber auch Künstler*innen der Nueva Canción Chilena wie Violeta Parra oder die Bands Quilapayún und Inti Illimani. Und sind leidenschaftliche Fußballfans.

Ganz im Geiste seiner Geschichten ist Ferngespräch ein Buch für Menschen, die das Lesen lieben, die auf meisterhafte Sprachkniffe stehen und die noch über die Absurdität des Lebens und der Welt lachen mögen. Das Buch liest sich leicht, aber man nimmt sich gern mehr Zeit, um Wort für Wort, Zeile für Zeile, Geschichte für Geschichte, die fabelhafte Sprache Zambras zu genießen.

 

LYRIK AUS LATEINAMERIKA

De mis ojos claros se desprende
un gran proyector que
gira en la oscuridad

a lo largo de las calles
vómito
orines
sexo barato
charcos de sangre
fanatismo y dinero coagulados

las ciudades apestan
y yo enmudezco

hasta que el ojo del huracán sale
de mis pulmones
emito palabras de granito
justicia
y del mismo amasijo
pan
en la burbuja azul
donde todos somos agua envuelta
en cristales de colores.

 

Aus meinen hellen Augen fährt sich
ein großer Scheinwerfer aus
und tastet durchs Dunkel

entlang der Straßen:
Erbrochenes
Urin
billiger Sex
Blutlachen
gestocktes Geld und Fanatismus

die Städte stinken
und ich verstumme

bis das Auge des Sturms hervortritt
aus meinen Lungen heraus
artikuliere ich Wörter aus Granit:
Gerechtigkeit
und aus demselben Teig
Brot
in der blauen Kugel
wo wir alle Wasser sind, umhüllt
von vielfarbigen Lichtbrechungen.

LYRIK AUS LATEINAMERIKA

Gramsci y Valéry en la biblioteca
del Círculo de Estudios Sociales
creado en Ingeniero White en 1899
por el grupo anarquista “Libres Pensadores”

Parte de lo que hay, en la estructura de los andamios
que sostiene a los pintores de los tanques de la ESSO,
es un problema de sintaxis: ni mucho más ni mucho menos.

 

Gramsci und Valéry in der Bibliothek
des Arbeitskreises für soziale Studien,
gegründet 1899 in Ingeniero White
von der Anarchistengruppe “Freidenker”

In der Struktur der Baugerüste, die die Anstreicher
der Esso-Tanks trägt, gibt es unter anderem
ein syntaktisches Problem; nicht mehr und nicht weniger.

HAIKUS AUF ZAPOTEKISCH

Sie sind in Buena Vista Loxicha aufgewachsen, einem Dorf von nicht einmal tausend Einwohnern im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca. Wie war die Welt Ihrer Kindheit?
Es war eine vollkommen zapotekische Welt. Meine Eltern konnten zwar vielleicht ein bisschen Spanisch verstehen, weil wir aber immer im Dorf blieben, dachte ich, dass alle Menschen Zapotekisch sprechen – bis zu meinem ersten Schultag. Diese Anekdote erzähle ich gerade zum ersten Mal: Ich erschrak fürchterlich, dass alle Lehrer nur Spanisch sprachen. Mein erster Impuls war, aus der Reihe auszubrechen, in der sie uns aufstellten. An der Tür hielten sie mich zurück. Das ist die Realität vieler indigener Kinder. Man spricht so lange Spanisch mit dir, bis du es irgendwann verstehst.

Wie sind Sie Schriftsteller geworden?
Ich sollte das Buch Aquí están los que se van (wörtlich: „Hier sind die, die weggehen“) von Gabriel Quiroz übersetzen. Man hatte ihn nach San Quintín, Baja California, ganz im Norden von Mexiko, geschickt; er machte Fotos von Migranten aus Oaxaca, die dort in der landwirtschaftlichen Produktion arbeiten, und schrieb Gedichte dazu. Als ich die Gedichte ins Zapotekische übersetzte, entdeckte ich diese Sprache, die ich nie zuvor geschrieben hatte, und es brachte mich dazu, meine eigene Fiktion zu erschaffen. Mein erstes Buch Y supe qué responder (etwa: „Und ich hatte eine Antwort“) handelt von einem Kind, das von einem Lehrer auf Spanisch mit Fragen traktiert wird, es fühlt sich verloren. Aber danach befragt es den Lehrer auf Zapotekisch und der Lehrer fühlt die gleiche Hilflosigkeit.

Bevorzugen Sie beim Schreiben eine der beiden Sprachen, Spanisch oder Zapotekisch?
Ich würde hier gerne etwas deutlich machen: Meine Gedichte schreibe ich auf Zapotekisch, weil es eine metaphorische Sprache ist. Statt „Wie geht’s?“ sagt man zum Beispiel „Wie geht es Ihrem Herzen?“ Du kannst auch nicht sagen „Ich ärgere mich“, sondern nur „Mein Herz ärgert sich“. Das „Herz“ kommt in vielen Redewendungen vor. Der difrasismo des Zapotekischen fällt einem auf, wenn man schreibt: Zwei Wörter zusammen ergeben einen neuen Ausdruck. Stein-Nacht bedeutet dann „Unheil“, Wasser-Feuer bedeutet „Krieg“, Stein-Licht heißt „Ernte“. Dieses mesoamerikanische Denken ist beeindruckend. Und jetzt denk an all das, was die Spanier und die mexikanische Gesellschaft getan haben, um eine „nationale Einheit“ herzustellen. Nach der Revolution hieß es: Mexiko ist ein Land mit einer Sprache.
Es war ausgerechnet ein Mann aus Oaxaca, José Vasconcelos, einer der großen mexikanischen Denker, der mit seiner Kastellanisierungspolitik nur Spanisch an den Schulen erlaubte. In dieser Kultur wuchs mein Vater auf. Er erzählt, dass man verprügelt wurde, wenn man nur ein einziges Wort auf Zapotekisch sagte. Es wurden Lehrer aus dem Norden eingestellt, denen man sogar ein höheres Gehalt bezahlte, damit die Verwendung des Zapotekischen verhindert wurde. Diese nationale Bildungspolitik bestand bis in die siebziger Jahre, als man die indigene Bildungspolitik einführte, die aber erst in den neunziger Jahren umgesetzt wurde.

Welchen Stellenwert hat die zapotekische Sprache heute in der Schule und der Familie?
Es ist so: Siebzig Jahre lang wurde in den Dörfern die Meinung vertreten, Zapotekisch sei zu nichts nütze, Spanisch sei viel besser. Die Großeltern denken immer noch, ihre Sprache habe keinen Wert. Sie sprechen zwar Zapotekisch, wollen es aber nicht weitergeben. Aber sie wollen die Feste! Wenn die älteren Leute in meinem Dorf ihre zapotekischen Feste feiern, sprechen sie Spanisch. Ich sage das sehr ungern, aber die Indigenen selbst hegen eine gewisse Geringschätzung gegenüber ihrer Sprache. Ihre Identität wurde beschädigt. Sie wollen ihre indigene Herkunft nicht annehmen und glauben, allein indem sie Spanisch sprechen, lösen sie ihre Probleme. Aber es liegt nicht an der Sprache, es sind die Lebensbedingungen, die in Mexiko verbreitete Ausgrenzung und Armut. Nur weil du Spanisch sprichst, hast du noch lange nicht das Geld, um ein Universitätsstudium zu bezahlen.
Seit vier Jahren werde ich vom Kulturzentrum San Agustín in Oaxaca unterstützt, um Schreibworkshops auf Zapotekisch zu geben. Dieses Jahr bin ich zwischen drei Ortschaften unterwegs wie ein Wanderlehrer. Die Kinder sind elf, zwölf Jahre alt, und jeden Monat unterrichte ich für zwei Tage eine Gruppe von zwanzig Kindern in jedem Dorf. Dabei greife ich auf die japanische Tradition zurück: Zuerst schreiben wir Haikus, drei Zeilen. Dann Tankas, fünf Zeilen. Erst beim Schreiben wird man bestimmter Dinge gewahr, dass zum Beispiel die Orchidee auf Zapotekisch für das Wort Schönheit steht. Genauso ging es mir ja selbst: Ich wusste nichts über die zapotekische Welt, bis ich dieses Buch übersetzt habe. Da entdeckte ich so viel Wunderbares! Denn beim Schreiben wird man zur Genauigkeit gezwungen. Wenn man nicht weiß, wie man etwas schreibt, muss man zuhören. Zapotekisch ist noch dazu eine Tonsprache. Den Kindern möchte ich dazu Anleitungen geben. Und sie schreiben großartige Sachen.

Wo liegen die Dörfer, in denen Sie unterrichten?
Sie liegen etwa fünf Stunden von der Stadt Oaxaca entfernt. Eine Schule befindet sich in einer sehr großen Ortschaft, es gibt circa 1.200 Schüler. Eine halbe Stunde weiter befindet sich das Dorf San Luis Amatlán in einem trockenen Tal, wo traditionell Meskal hergestellt wird. Dann fahre ich eine Stunde mit dem Bus, um zu meinen Kindern in den Bergen zu kommen. Die Landschaft ist ganz anders und die Kinder sind stiller als die anderen. Danach fahre ich eine Stunde in Richtung Küste bis zu meinem Haus, wo ich immer eine Pause einlege. Ich weiß, dass es ein gutes Projekt ist, aber außer mir will das kaum jemand machen. Die anderen sehen sich als Dichter, als Wissenschaftler, sie wollen ihre persönlichen Projekte machen, in der Stadt das Leben eines Schriftstellers führen und nicht in die Dörfer fahren, dort essen oder übernachten.

Das erfordert schon ein großes Engagement. Was treibt Sie an, den Beruf des Schriftstellers mit dem des Lehrers zu kombinieren?
Anders als viele andere kehre ich gerne in mein kleines Heimatdorf zurück. Meine Brüder zum Beispiel würden es nicht länger als einen Tag aushalten, aber ich kann Monate dort verbringen. Schon als ich als staatlicher Lehrer arbeitete, wählte ich das abgelegenste Dorf aus, um ein Jahr dort zu unterrichten. Danach wollte ich unabhängig vom Staat arbeiten, aber das ist sehr schwierig in Mexiko. Ich mache diese Projekte nicht, weil ich dafür bezahlt werde, sondern weil ich es wichtig finde, die zapotekische Sprache zu erhalten.

Wenn nun Schriftsteller*innen wie Sie auf Zapotekisch schreiben, ist die Frage auch, wer diese Werke lesen kann. Gibt es denn genug Leser*innen für das Zapotekische?
Es sind wenige. Aber es ist Teil derselben Politik: In der Schule hat man es dir nicht beigebracht und auch wenn nun Texte auf Zapotekisch vorhanden sind, lesen die Leute lieber auf Spanisch, weil es ermüdend ist, wenn man die Strukturen und Wörter nicht versteht. Trotzdem machen wir weiter Bücher. Im Augenblick bewerben wir die Anthologie der fünf Premio-Casa-Preisträger. Das sind Gedichte auf Zapotekisch, es wurden 10.000 Exemplare gedruckt, die wir an den Schulen verteilen, damit die Kinder lesen und erkennen, wie wichtig Zapotekisch als Schriftsprache ist. Es ist ein langsamer Prozess, diese neue Lesergeneration auszubilden. Manchmal bringe ich meinen Schülern Texte auf Quechua oder Mapudungun mit. Dann sage ich ihnen, schaut mal, Kinder, hier sprechen wir Zapotekisch, wenn wir aber auf dieser Landkarte Richtung Süden gehen, sprechen die Menschen Mapudungun, wollt ihr hören, wie das klingt? Und die Kinder sind neugierig.

In welcher Lage befinden sich indigene Schriftsteller*innen in Mexiko? Es gibt ja zum Beispiel die Gesellschaft der Indigenen Schriftsteller…
Sie wollen sich nicht gegenseitig unterstützen. Die Gesellschaft der indigenen Schriftsteller ist wie ein Patriarchat. Als ich zu schreiben anfing, war es mein Wunsch, dass sie mich dort lesen und mir eine Einschätzung geben. Sie wollten nicht. Das ist eine sehr mexikanische Einstellung: Wenn ich ein erfolgreicher indigener Schriftsteller bin, möchte ich unbedingt verhindern, dass viele junge Menschen schreiben, denn sie könnten mir ja meinen Platz streitig machen. Manche indigenen Schriftsteller weigern sich, aufs Land zu fahren, wo sehr viele Indigene Mexikos leben. Wenn ein Kolloquium in Oaxaca veranstaltet wird, wollen viele Kollegen nicht kommen, weil wenn schon, dann wollen sie in die Hauptstadt oder ins Ausland eingeladen werden.

Um noch auf Ihre Werke zurückzukommen, Sie schreiben Prosa genauso wie Lyrik. Welche Themen, welche Motive sind Ihnen beim Schreiben wichtig?
Ich habe mit Erzählungen angefangen und die Suche nach etwas noch Tieferem führte mich zur Poesie. Ein Gedicht spricht über das Unsagbare, von der äußersten Erfahrung. Mein Erzählband Hormigas Rojas („Rote Ameisen“) wurde viel gelesen und, was mich besonders freut, in einem Seminar am Colegio de México, dem Elitekolleg der Reichen, besprochen. Dennoch: Sie haben nur den zapotekischen Teil analysiert! Dabei kommen nur in drei Erzählungen zapotekische Ausdrücke vor. Die anderen vierzehn Erzählungen bedienen sich einer Sprache fernab vom Gesprochenen. Diesen Teil des Buches, wenn ich mich dem Realismus verweigere, rätselhafte, unbestimmbare Orte beschreibe, das hat bisher noch niemand kommentiert.
Eine wichtige Rolle spielt die spezifische Art der Landschaft in meiner Fiktion. Der beste Schriftsteller in dieser Hinsicht ist für mich der US-Amerikaner Cormac McCarthy. Meine Literatur ist aber auch sehr durchdrungen vom Japanischen, von Schriftstellern wie Osamu Dazai oder Jun’ichiro Tanizaki. Ich habe mein Buch Hormigas Rojas genannt, weil es die Natur in den Blick nimmt. Gleichzeitig sind die Figuren von ewigen Konflikten gekennzeichnet, von Verlust, Suche, Gewalt. Ich glaube, als Schriftsteller kombiniert man immer seine Lektüre mit der Alltagserfahrung. Insofern glaube ich, dass die Literatur ein sehr machtvolles Werkzeug sein kann, um die geringgeschätzte indigene Vorstellungswelt sichtbar zu machen. Mein Beitrag zur mexikanischen Literatur soll aber sein, zu zeigen, dass ich fiktive Welten auch auf Spanisch schaffen kann.

Sie möchten als Schriftsteller, nicht als indigener Schriftsteller gesehen werden.
Genau. Eine weitere Sache ist, dass die Bücher der wenigen indigenen Schriftsteller, die es in Mexiko gibt, nicht übers Internet zu erwerben sind. Sie erscheinen als Veröffentlichungen des mexikanischen Staats, die Auflage beträgt gerade einmal tausend Exemplare. Kaum einer wird von einem kommerziellen Verlag veröffentlicht. Den indigenen Schriftstellern muss vermittelt werden, dass sie auf diese Weise zwar Preise der Regierung bekommen, aber nicht mehr am Wettbewerb teilnehmen. Mir ist das selbst passiert. Was ich bei Verlagen veröffentlicht habe, die aus öffentlichen Mitteln finanziert werden, ist nicht anders zu beschaffen, als dass ich es persönlich jemandem bringe. Hormigas Rojas dagegen kann man bei Amazon bestellen. Ein Schriftsteller muss darauf achten, dass die Leser sein Buch besorgen können.

Wie haben Sie es geschafft, mit nur wenigen Büchern so bekannt zu werden?
Almadía, mein Verlag in Oaxaca, ist ein wichtiger mexikanischer Verlag. Ich bin ihm sehr dankbar für den Vertrieb, den es dort gibt, sodass die Bücher nach Argentinien, Chile und über eine Filiale auch nach Spanien gelangen. 2014 wurde eine Liste von zwanzig jungen mexikanischen Schriftstellern herausgegeben. Mit nur einem Buch kam ich auf diese Liste, die sehr umstritten war. Natürlich wollten alle auf diese Liste, weil sie eine Garantie ist, gelesen zu werden. Und weil wir zur Buchmesse in London eingeladen waren, gab es eine Übersetzung ins Englische. Pushkin Editorials war sehr nett und schickte uns die übersetzte Anthologie, während der mexikanische Verlag Malpasa sich weigerte. Ich musste das Buch kaufen.

Arbeiten Sie zurzeit an einem neuen Projekt?
Mein Verlag bittet mich schon seit zwei Jahren, irgendetwas zu veröffentlichen, egal was. Aber wenn man schon in der Liste ist, wird deine nächste Veröffentlichung kleinlichst auseinandergenommen. Was, wenn das nächste Buch nicht so gut ist? Mit meinem Zögern treibe ich die Leute vom Verlag an den Rand der Verzweiflung, die rufen mich an, fragen mich aus. Aber ich glaube, in den nächsten Monaten oder bis Jahresende werde ich das Manuskript übergeben. Hoffentlich werde ich Leser haben, denn das ist der Wunsch aller Autoren.

“VIELE ALTERNATIVEN ENTSTEHEN MITUNTER GANZ UNSPEKTAKULÄR”

Die Bilder des mit Giftschlamm verseuchten Rio Doce gingen um die Welt. Im November 2015 war der Damm eines Bergwerkdeponiebeckens im brasilianischen Bundesstatt Minas Gerais gebrochen, die Minenfirma Samarco musste sich dafür verantworten (siehe LN 504). In dem neu erschienenen Buch von Ulrich Brand und Markus Wissen ist Brasiliens größte Umweltkatastrophe ein anschauliches Beispiel für die zerstörerischen Bedingungen und Folgen unserer Produktionsweise. „Imperiale Lebensweise“ ist der Titel und zugleich der zentrale Begriff, der der kritischen Analyse der Autoren zugrunde liegt. So ist die sozial-ökologische Katastrophe vom Rio Doce exemplarisch für die verschleierten Kosten unserer Automobilität. Deutschlands Eisenerzimporte stammten 2014 zu 56 Prozent aus Brasilien. Und die deutsche Autoindustrie ist einer der größten industriellen Endverbraucher von metallischen Rohstoffen.

Mitte März berichteten zahlreiche Medien, dass im Jahr 2016 in Deutschland fast 906 Millionen Tonnen Treibhausgase freigesetzt wurden. Die Emissionen stiegen damit im Vergleich zum Vorjahr um etwa vier Millionen Tonnen laut dem Umweltbundesamt. Insbesondere der Verkehrssektor emittierte mehr: Die Emissionen liegen in dem Sektor inzwischen zwei Millionen Tonnen über dem Wert von 1990. Dabei möchte Deutschland im Jahr 2020 eigentlich 40 Prozent weniger Kohlendioxid freisetzen als 1990. Dass Industrie und Politik fundamental etwas ändern müssen, ist offensichtlich. Die Grünen-Politikerin Annalena Baerbock fordert einen Masterplan für den Verkehrsbereich: Der Warenverkehr solle von den LKWs auf die Schienen verlagert werden und Elektro-Autos müssten gefördert werden. Reicht das?

Die negativen Konsequenzen der hegemonialen Lebensweise werden ausgelagert.

Angesichts der multiplen Krisen, die uns weltweit begegnen, finden in unserer Gesellschaft zwangsläufig Veränderungen statt. Im Mainstream gewinnt die Idee einer sozial-ökologischen Transformation an Glanz. Auf den Straßen sollen zum Beispiel, so ja auch Baerbock, Elektro-Autos rollen. Brand und Wissen demaskieren die diesem Transformationsbegriff zugrundeliegende Logik: Mensch und Natur würden weiterhin zerstört und ausgebeutet. Sie sagen, unsere Lebensweise war und ist imperial. Um das deutlich zu machen, legen die Autoren in einem Kapitel den Schwerpunkt auf die „imperiale Automobilität“. Es ist aufschlussreich, was der Geländewagen-Boom in Deutschland über ungleiche Klassen- und Geschlechterverhältnisse aussagt. Aber auch eine „ökologisch modernisierte“ Automobilität mit Elektro-Autos, die an unseren Mobilitätskonzepten nichts ändert, sondern weiter Neukäufe von Privatfahrzeugen fördert, statt viel mehr aufs Fahrrad und öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen, externalisiert soziale und ökologische Kosten. Solche marktförmigen und technologischen Lösungen stellen nämlich nicht die Frage nach gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen und der notwendigen Suffizienz.

Was steckt hinter dem Begriff „imperiale Lebensweise“? Brand und Wissen fragen sich, warum eine emanzipatorische Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse trotz der sich zuspitzenden Krisen und Konflikten so schwerfällt. Stattdessen zeigten rassistische und nationalistische Reaktionen auf Migration besonders drastisch, wie der Wohlstand des globalen Nordens, der auf Kosten anderer erreicht wurde, gegen die Teilhabeansprüche Anderer gewaltsam verteidigt wird. Diese Beständigkeit ausbeuterischer Verhältnisse versuchen die Autoren mit der imperialen Lebensweise zu erklären. Sie soll vor allem die normalerweise verschleierten Grundlagen unserer alltäglichen Handlungen sichtbar machen, das heißt, die externalisierten Kosten unser Produktions-, Distributions- und Konsumnormen. In dem Buch wird dabei vor allem die imperiale Lebensweise der Bevölkerung des globalen Nordens beleuchtet, aber auch die im globalen Süden.
Allerdings sollten Leser*innen aufgrund des Titels keine tiefgehende Auseinandersetzung mit der klassischen Imperialismustheorie erwarten. In der skizzierten Geschichte der imperialen Lebensweise wird der historische Imperialismus ab 1870 benannt. Auf die Theorie beziehen sich Brand und Wissen lediglich, wenn sie erklären, dass der Kapitalismus eines nicht-kapitalistischen Außens bedarf. „Imperial“ beschreibt bei den Autoren vor allem, dass die Grundlagen und negativen Konsequenzen der hegemonialen Lebensweise ausgelagert werden. Deren globaler und ökologischer Dimension wird im Buch besonders Rechnung getragen, die Analyse der aktuellen globalen Verallgemeinerung und Vertiefung der imperialen Lebensweise gelungen mit diversen Daten fundiert. Hierzu werden vor allem die globalen Mittelklassen betrachtet.

Zerstörung und Ausbeutung halten an: Unsere Lebensweise war und ist imperial.

Brand und Wissen zeigen, warum weder eine ausschließliche Fixierung auf strukturelle Ungleichheitsverhältnisse noch einseitige Konsumkritik für eine emanzipatorische Perspektive ausreichen. Zugleich öffnet der Fokus auf die alltäglichen Handlungen – vom Autofahren über das Essen in der Schulkantine bis zur Fürsorge für die Mitmenschen – auch den Blick für Alternativen, die mitunter ebenso ganz unspektakulär im Alltag entstehen. Die Perspektive auf sozialen Widerstand, die sich durch das Buch zieht, ist ein weiterer wertvoller Beitrag zur politischen Debatte.

Dieser Blick für die „kleinen“ Handlungen hat glücklicherweise nicht zur Folge, dass die Autoren die Strukturebene aus dem Blick verlieren. Sie erläutern, wie Transformationen dem Kapitalismus inhärent sind und warum die Logik der Transformation dafür entscheidend ist, ob Veränderungen emanzipatorisch sind. Verschiedene neue Mechanismen der Inwertsetzung und Externalisierung, zum Beispiel in Form der Bioökonomie, werden erklärt (siehe LN-Dossier Nr. 13). Somit wird klar, warum „grüne Ökonomie“ die existierenden Widersprüche herrschaftskonform bearbeitet und ein grün-kapitalistisches Projekt befeuert.
Gegenhegemonie gegen die imperiale Lebensweise bedeute, strukturelle und alltägliche Alternativen zu formulieren. Brand und Wissen appellieren, in den umkämpften gesellschaftlichen (Natur-)Verhältnissen den Konflikt zu suchen und der imperialen eine solidarische Lebensweise entgegenzusetzen. Wiederholt beziehen sie sich auf (gewerkschaftliche) Arbeitskämpfe im globalen Süden und globalen Norden, auf den Widerstand indigener Gruppen oder von Feminist*innen. Somit schließt das Buch auch mit einem Blick auf andere Logiken der sozial-ökologischen Reproduktion und Akteur*innen, die die soziale Frage stellen. Ob „Ende Gelände“ für den sofortigen Kohleausstieg, Suffizienz-Debatten auf Klimacamps oder geschlechtergerechte Reproduktionsarbeit durch die „Care-Revolution“ – das letzte Kapitel inspiriert, das Buch einzupacken und aktiv zu werden.

STIMMEN AUS LATEINAMERIKA

Der Sammelband will auf ein „Übersehen“ kulturtheoretischer Reflexionen aus Lateinamerika reagieren, welches sich aus dem tief verwurzelten Glauben an die Universalität westlicher Kulturwissenschaft ergeben hat. Die Herausgeberinnen Isabel Exner und Gudrun Rath binden in das Buch eine Fülle von teilweise erstmals auf Deutsch übersetzten Texten ein, die es zu einem Buch vieler Bücher machen. Reich an anregenden Thesen zu kulturellen Begriffen lateinamerikanischer Herkunft, wie mestizaje und Transkulturation, sowie westlicher Herkunft, wie Moderne und Globalisierung, rütteln die Texte an der Überzeugungskraft noch heute bestimmender historischer Narrative.

Motivation der Herausgeberinnen ist die vom Postkolonialismus formulierte Kritik an westlicher Kulturreflexion, die das Wissen über den Inhalt der „anderen“ Kultur nutzt, um eigene Theorien zu stützen. Anscheinend ohne es zu bemerken, reproduzieren westliche Diskurse die Herrschaft über die „andere Kultur“. Anders als die Geschichte der von Europa ausgehenden Modernisierung schreibt, wurden in Lateinamerika „viele Prozesse und Diskurse vorweggenommen und ‚erprobt‘, die sich in Europa erst später in Folge transatlantischer Transfers etablierten.“ Ángel Rama beschreibt in diesem Zusammenhang die Ideologisierung der Massen zur Zeit der Gegenreformation durch „gelehrte Einsatzkräfte“ von römischer Kirche und spanischer Krone. Diese fände ihre Entsprechung in Europa erst im 20. Jahrhundert, nämlich mit der Kulturindustrie der Massenmedien.

Postkoloniale Reflexionen zeigen, dass die gewohnten (akademischen) Interpretationen des „Anderen“ aus einer bestimmten Sprache über ihn resultieren. Der als mangelhaft charakterisierte „Andere“ ist aber erst als das Ergebnis einer Konstruktion des modernen westlichen Menschen und dessen kolonialer Geschichte entstanden. Sylvia Wynter führt das eindrücklich vor Augen, indem sie den Disput zwischen Fray Bartolomé de las Casas und Sepúlveda über den Anteil des Menschlichen in den Indigenen analysiert. Dabei wird letztlich nur über das Eigene im Anderen reflektiert und dieser zusätzlich als das Zu-Interpretierende degradiert – sozusagen als „Rohstoff“ für die eigene kulturelle Produktion.

Viele sensible Fragen werden aufgeworfen, welche mit jedem Mal aufmerksamer machen für die kolonialen Denktraditionen der europäischen Kulturinstanzen. Andererseits, und das ist die Stärke des Buchprojektes, ergreifen lateinamerikanische Stimmen das Wort, um die eigenen kulturellen Wirklichkeiten zu beschreiben. Das macht den eigentlichen Reiz der vielen Denkanstöße aus, die interessierten Leser*innen geboten werden, denn diese dürften den meisten bisher unbekannt sein. Die Auswahl des Bandes stellt einen wichtigen Teil der seit den 1970er Jahren geführten Debatten dar, welche das Verständnis von Kultur über die „Fixierung von Sprache und Literatur“ erweiterten und macht sie einem deutschsprachigen Publikum zugänglich. Die Herausgeberinnen verzichten auf den Wiederabdruck bereits auf deutsch erschienener Klassiker, wie von José Martí, Vasconcelos und Rodó, und „agitatorischer Werke“ der Revolutionen des 20. Jahrhunderts wie von Ernesto (Che) Guevara.
Die Gliederung der Texte erfolgt in einem Versuch der Ordnung untereinander verflochtener Inhalte, welche offen sind für eine Lektüre entgegen der gewählten Reihenfolge.

Den Beiträgen im ersten Kapitel „Kontakte“ liegt die Frage zugrunde, ob Kultur immer schon als Form des Kontaktes besteht, der auf ungleicher Machtverteilung beruht. Das Anthropophagisch[e] Manifest von Oswald de Andrade nutzt effektiv die abwertende Beschreibung des karibischen Kannibalen, indem er sie als Metapher radikal annimmt und das Einverleiben als positiven Emanzipationsakt umdeutet: „Doch es waren nicht Kreuzfahrer, die kamen. Es waren Flüchtlinge einer Zivilisation, die wir jetzt aufessen, denn wir sind stark und rachsüchtig wie der Jabuti (indigene Völker in Brasilien; Anm. d. Red.).“ Dabei bedient er sich einer Textform, die mehr einer Sammlung von Thesen ähnelt und lockert damit den überwiegend akademischen Ton der Sammlung auf. Das in sich aufnehmende, vereinigende Moment verschiedener Kulturen in lateinamerikanische betont auch Canclini durch den Begriff der Hybridisierung. Er argumentiert, dass postkoloniales Denken heute keinen großen Wert mehr zur Beschreibung lateinamerikanischer Kultur habe, an dessen Stelle eher der „Disput über den Sinn der Moderne“ getreten sei, „weshalb die Modernisierung, die gegenwärtige Globalisierung – und ganz allgemein jede Art hegemonialer Politik – nicht nur als Sieg der Starken über die Schwachen verstanden werden darf.“ Auch Ortiz’ Vorschlag, den Begriff Transkulturation zu nutzen, macht auf kulturelle Mischformen in der Entwicklung von Kultur aufmerksam und lehnt das vereinfachende Verständnis von einer (erzwungenen) Übernahme fremder Kultur ab.

Einer der beeindruckendsten Texte des Sammelbandes findet sich im zweiten Kapitel „Ent/Bindungen“. Roberto Schwarz geht in Deplazierte Ideen der Frage nach, wie gleichzeitig Ausbeutung, Versklavung und die Praxis der Gunst (favor) in Brasilien durch den Liberalismus legitimiert werden konnten, obwohl die adaptierte europäische Ideologie jene Herrschaftsformen eigentlich ablehnte. Es sei klar, „dass die Freiheit der Arbeit, die Gleichheit vor dem Gesetz und der Universalismus generell auch in Europa ideologischen Charakter hatten; aber dort stimmten sie mit dem Anschein überein und verbargen das Entscheidende – die Ausbeutung der Arbeit.“ Die „ideologische Komödie“ Brasiliens hingegen bestehe darin, dass deren „Prüfung durch Realität und Schlüssigkeit nicht entscheidend zu sein [schien], obwohl sie ständig als anerkannte Anforderung gegenwärtig war […]. Daher konnte man systematisch Abhängigkeit Unabhängigkeit nennen, launige Willkürlichkeit Zweckmäßigkeit, Ausnahmen Universalität, Verwandtschaft Dienst, Privilegien Gleichheit und so fort.“

Die dem Buch eigene Fülle an Reflexionen und Pamphleten umfasst im Kapitel „Bewegungen“ auch Gedanken zur Emanzipation des Kinos und der Literatur aus Debatten der 1970er bis 1990er Jahre, welche medientheoretische Problemstellungen in den Fokus rückten.

Das letzte der vier Kapitel, „Angriffe“, umfasst eine Reihe ausgesprochen beeindruckender Texte zu Fragen nach der Wirkung dominanter Begriffe und Praktiken auf kulturelle (Selbst-)Wahrnehmungen, sowie Möglichkeiten von Alternativen. Beispielsweise erörtert Segato die „Handschrift“ auf den Körpern getöteter Frauen in Ciudad Júarez und macht damit auf die kommunikative Ebene physischer Gewalt in Mexiko aufmerksam.

Die Herausgeberinnen schließen jedes Kapitel mit einem Zwischenfazit, das den Texten einen Kontext liefert und damit dem Verständnis helfen soll. Dabei richten sie sich in ihrer Wortwahl eher an ein akademisches Publikum.
Abschließend kann den Herausgeberinnen nur zugestimmt werden: Die in diesem Band versammelten Kulturtheorien liefern den Leser*innen mit Sicherheit Anstöße, um auf die Zusammenhänge von Gewalt und symbolischer Ordnung auch in Europa und anderen Regionen der Welt aufmerksam zu werden.

„EINMAL AUSLÄNDERIN, IMMER AUSLÄNDERIN“

Donnerstagnachmittag in einem Café im mondänen Berlin-Schöneberg. Esther Andradi isst noch ein Stück Kuchen, bevor das Gespräch losgeht. Die Journalistin und Schriftstellerin ist seit Jahrzehnten in den Metropolen Lima, Berlin und Buenos Aires zu Hause, doch aufgewachsen ist die argentinische Schriftstellerin auf dem Land. Etwas mehr als 2.000 Einwohner*innen zählt ihr Geburtsort Atavila, von dem aus sie zum Studium der Kommunikationswissenschaft nach Rosario ging. Noch vor dem Militärputsch zog sie 1975 nach Lima und arbeitete als Journalistin. Entstanden ist in diesen, von der politischen Gewalt geprägten Jahren, auch ihr erstes Buch Ser mujer en el Perú („Frau sein in Peru“), das sie zusammen mit der Dichterin und Feministin Ana María Portugal veröffentlichte – ein Pionierwerk zu diesem Zeitpunkt.

Das Thema Frausein bildet eine der Hauptachsen, an denen entlang Esther ihre Werke ausrichtet: „Wenn eine Frau erzählt, tut sie das immer auch mit ihrem Körper und aus der alltäglichen Erfahrung heraus, eine Frau zu sein. Deshalb schreibe ich auch als Frau, mit allem, was ich gelernt, genossen und verloren habe. Ich empfinde es fast wie meine Pflicht, eine Ausdrucksweise zu finden, die für alle Frauen gültig ist … Zum Beispiel gefällt es mir, dass ‚die Macht’ im Deutschen feminin ist, während el poder im Spanischen maskulin ist. Aber das hilft wahrscheinlich nichts.“ Amüsiert von ihrer Beobachtung hat Esther den Satz lachend zu Ende geführt, um ernst fortzufahren: „Der Sexismus existiert einfach in der Gesellschaft. Solange sich am Sexismus in der Gesellschaft nichts ändert, wird er in der Sprache und überall sein.“

Mit der Art und Weise, wie Esther mit dem Thema Sexismus und Frausein umgeht, scheint sie einen Nerv zu treffen. Wegen ihres Buchs Tanta vida (Buenos Aires, 1998) – von der Literaturwissenschaftlerin Gina Canepa als „femizentrischer Anti-Roman“ bezeichnet – werde sie immer wieder zu Konferenzen eingeladen, wie zuletzt nach Lausanne. Sie produziere keine Best-, sondern Longseller, konstatiert die Schriftstellerin scherzhaft. Esther ist im Leben und im Schreiben aber nicht nur eine Frau, und wird immer eine bleiben, sondern auch die permanente Ausländerin. Und seit sie zum ersten Mal fortging, auch in ihrem Heimatland. Denn: „Einmal Ausländerin, immer Ausländerin.“ Es ist das alte Sprichwort vom Kommunisten, das Esther für sich umgemünzt hat. „Man ist immer an der Peripherie verortet. Dabei ist es ein sehr interessanter Ort, das nicht vollständige Dazugehören zur Heimat“, sagt sie. Ihr Freund Sebald habe darin bestens mit ihr übereingestimmt. Der Allgäuer Schriftsteller W.G. Sebald, der 2001 in England verstarb, blieb literarisch, genauso wie die Argentinierin, bis zuletzt in seiner Muttersprache zu Hause.

Das persönliche Fremdsein hat großen Einfluss auf Esthers Umgang mit der Sprache. Während wir uns auf Spanisch unterhalten, kommt sie nicht ohne ein paar deutsche Wörter aus: „Es ist eine ständige ‚Auseinandersetzung’, wie ihr auf Deutsch zu sagen pflegt, eine ständige Konfrontation damit, wie ich mich ausdrücke. Sowieso glaube ich, ist das Vermeiden von ‚Selbstverständlichkeiten’ genau das, was Literatur ausmacht. Nur wenn man in einer anderen Sprache lebt, ist das Bewusstsein dafür noch größer. Nicht, dass man ständig übersetzen würde, aber man spürt diesen permanenten Drang, den Bedeutungen auf den Grund zu gehen.“ 1982 ließ sich Esther in Westberlin nieder. Doch schon in Peru sei sie als Ausländerin aufgefallen und immer wieder gefragt worden, wie lange sie denn bleibe, als sei sie eine Touristin: „Bis dahin hatte ich im Glauben gelebt, dass die spanische Sprache eine Gemeinsamkeit sei. Das ist sie zwar in vielen Dingen, aber nicht im Alltag. Meine Umgangssprache war immer absolut argentinisch.“

Ihre erste Erfahrung des Fremdseins habe sie deshalb schon in Peru gemacht, sagt Esther. Bis heute trügen manche ihrer Texte eine „peruanische Patina“. Einen ihrer Texte hat sie mit dem spanischen Wort für Artischocke alcachofa betitelt, was – abgesehen vom Inhalt – an sich schon eine Provokation sei: „In Argentinien sagt man alcaucil. Mir gefällt alcachofa aber besser. Auch in anderen Texten kommt so etwas vor. Ich weiß genau, warum ich diese Wörter gewählt habe. Man könnte es auch die Distanzierung von der eigenen Muttersprache nennen.“ Geradezu ins Schwärmen gerät die Schriftstellerin, wenn sie über die deutsche Sprache mit ihrem überreichen Vokabular zu sprechen kommt. Es sei daher ein Privileg, hier zu sein. Die Annahme, dass es heutzutage nichts Besonderes mehr sei, wenn Autor*innen einer anderen Muttersprache auf deutsch schreiben, wie zuletzt mit der Einstellung des Adalbert-von-Chamisso-Preises suggeriert wurde, findet allerdings nicht ihre Zustimmung.
2003, als Esther nach sieben Jahren in Buenos Aires erneut nach Berlin kam, erntete sie teilweise Verwunderung darüber, dass sie noch nicht auf Deutsch schrieb. Auf diese offensichtliche Ignoranz antwortete sie mit der Anthologie Vivir en otra lengua („Leben in einer anderen Sprache“), die Porträts und Erzähltexte spanischsprachiger Autor*innen in verschiedenen Ländern Europas enthält. Zwar sei das Phänomen an sich kein neues, aber ihr sei es eben nicht um die viel besprochene Exilliteratur, sondern um diejenigen gegangen, die aus irgendeinem persönlichen Grund nicht in ihrem Heimatland leben. Mit der ursprünglichen Idee, einen „Kanon iberoamerikanischer Autoren im Lande Humboldts“ zu schaffen, hatte sie im Jahr 2007 in Deutschland vergeblich nach Interessierten gesucht. Ein argentinischer Verleger habe sich hingegen hellauf begeistert gezeigt und ihr Konzept von Deutschland auf Europa ausgeweitet.

Das veröffentlichte Buch kam gut an. Die 1. Ausgabe ist vergriffen, eine zweite erschien 2010 in Spanien. „Das muss mit dem Denken im jeweiligen Land zu tun haben. Argentinien ist sehr nach außen orientiert. Deutschland dagegen war zu diesem Zeitpunkt immer noch viel mehr auf seine deutsche Literatur konzentriert. Jetzt gerade erst beginnt man sich mit Projekten wie ‚Stadtsprachen’ in Berlin für die anderssprachigen Autoren zu interessieren. Dabei kämpfen wir schon seit Jahren um Aufmerksamkeit.“ Die periphere Perspektive tritt auch in Esthers auffallendem Interesse für die deutsche Literatur außerhalb des Kanons zutage: „Seit ich hier lebe, interessiert mich die deutsche Literatur, von der man nicht erwartet, dass sie zur deutschen Literatur gehört.“ Eine der Autor*innen, die dür diese Überraschung steht ist May Ayim, die sie 1991 bei einem Symposium kennenlernte. Nach deren Selbstmord wenige Jahre später übersetzte Esther die Gedichte der Afrodeutschen ins Spanische. „Sie kommt weder aus einer anderen Sprache noch aus einer anderen Kultur, da sie in der deutschen Kultur erzogen wurde. Sie fand erst spät heraus, dass ihr Vater aus Ghana stammte und traf sich mit ihm. Aber seine afrikanischen Wurzeln waren nicht ihre eigenen. May Ayim war hier geboren, aber wegen ihrer Hautfarbe wurde sie ständig gefragt: ‚Woher kommst du? Wie lange bleibst du? Wann gehst du wieder?’ Von dieser Zerrissenheit sprach May Ayim in ihren Gedichten auf eine wunderbare Weise.“

Von Esther selbst wurden bislang nur wenige Bücher ins Deutsche übersetzt, neben Erzählungen in Anthologien die zweisprachige Miniaturen-Sammlung Sobre vivientes – Über Lebende. Gerade scheint sich das aber zu ändern. Eine deutsche Version des Romans Berlín es un cuento (deutscher Titel: „Die Erfindung Berlins“) ist in Arbeit, während das Buch Mein Berlin. Streifzüge durch eine Stadt im Wandel schon Ende letzten Jahres erschien. Bei der dafür zu treffenden Auswahl aus den Texten, die sie zwischen 1983 und 2014 fast monatlich für Zeitungen und Zeitschriften in Peru, Argentinien und Mexiko schrieb, sei ihr bewusst geworden, wie sehr sich nicht nur sie selbst, sondern die Stadt und das tägliche Leben verändert hätten, erzählt Esther. Und erinnert sich, wie sich das Vorhaben Politikkorrespondentin zu werden, bald nach ihrer Ankunft zerschlug, da Westberlin in den 80er Jahren politisch völlig uninteressant war: „Die Politik spielte sich damals in Paris ab, mit etwas Glück in Moskau, mit noch mehr Glück in Bonn, und mit noch viel mehr Glück in – wie es damals hieß – ‚Berlin Hauptstadt der DDR’. Das war, glaube ich, mein Glück. Denn sonst hätte ich nie diese Art des Schreibens entwickelt.“

Mit all den subjektiven Beschreibungen, humorvollen Schattierungen und manchem erhellenden Gedanken lässt sich anhand von Mein Berlin nachvollziehen, wie eine Argentinierin über drei Jahrzehnte hinweg einem lateinamerikanischen Lesepublikum die geteilte und wiedervereinte Stadt vermittelt hat: Ein Schiff namens „Amor“, Fahrraddemonstrant*innen, Tschernobyl und natürlich der Mauerfall haben hier ihren Platz, von Rosa Luxemburg über Prag als Zentrum Europas bis hin zum aufflammenden Rassismus Anfang der 90er Jahre ist die Rede. Und wie es so kommt, bringt Esther das Buch zurück zur Politik: Bei einer Lesung in einem Frauentreffpunkt in Treptow-Köpenick –„Tiefste DDR“ – sah sie sich überwältigt vom Ausdruck des heftigen Grolls, den die Thematik ihrer Texte hervorgerufen hatte: „Die Kritik war überhaupt nicht gegen mich gerichtet, aber ich fühlte die absolute Enttäuschung dieser Frauen. Sie sagten: ‚Wir haben auch viel gearbeitet, um die DDR aufzubauen, und plötzlich gab es dieses Land nicht mehr. Keine Arbeit, keine Kita. Wir sind überhaupt nichts wert.’“ Die Unsichtbarkeit dieses schwelenden Unmuts unter den Menschen, der kaum Räume findet, sich zu äußern, sieht Esther als Gefahr an. „In den 90er Jahren erzielten die Republikaner bis zu 20 Prozent der Stimmen (höchstes Ergebnis 1992: 12,8 Prozent in Neukölln, 14,4 Prozent in Wedding; Anm. der Red.), dann flaute es von selbst wieder ab. Trotzdem darf man mit bestimmten Dingen nicht leichtfertig umgehen. Uns wird gesagt, Deutschland stehe finanziell so gut da wie noch nie. Aber wofür wird das Geld ausgegeben? Das wird nicht gesagt.“
Und wofür würde sie es ausgeben? Keine Frage, für die Schulen.

 

DIE NUTZLOSIGKEIT DER LITERATUR

Der argentinische Schrifsteller César Aira im Interview (Foto: Timo Berger)

Herr Aira, Ihr auf Deutsch erschienener Essayband Duchamps in Mexiko beginnt damit, dass Sie sich darüber ärgern, in Mexiko-Stadt in eine Touristenfalle geraten zu sein. Man bekommt den Eindruck, dass Sie nicht gerne reisen?

Wenn ich reise, dann hasse ich den Ort, an dem ich bin und will so schnell wie möglich wieder in den Flieger steigen. Die Reise nach Mexiko hatte mich sehr deprimiert, und um die Traurigkeit zu überwinden, habe ich getan, was ich dann immer tue: Bücher kaufen. Es war ein Buch über Marcel Duchamp. Am nächsten Tag sah ich dasselbe Buch in einem anderen Laden, aber zwei Peso billiger. Ich dachte, hätte ich dieses Exemplar gekauft, hätte ich jetzt zwei Peso mehr und würde ich noch ein anderes, drei Peso billigeres Exemplar kaufen, dann hätte ich insgesamt schon 5 Peso gespart, und fände ich immer mehr, immer billigere Bücher, dann wäre ich irgendwann reich. Solche seltsamen Ideen kommen mir!

Mit dieser Idee haben Sie dann Duchamp in Mexiko geschrieben, ein Text, der einer trügerischen Logik folgt, ähnlich der, die dem Paradoxon von Achilles und der Schildkröte zugrunde liegt.

Ich spiele gerne mit dem Unendlichen, mit unendlichen Reihen. Das habe ich von Borges.

Und warum interessieren Sie sich ausgerechnet für Duchamp?

Duchamp ist rätselhaft, sein Werk unendlich interpretierbar. Eines der ersten Bücher, das ich mir kaufte, als ich mit 18 aus Coronel Pringles zum Studieren nach Buenos Aires ging, war eine Sammlung seiner Schriften unter dem Titel Marchand du sel (wörtlich: „Salzverkäufer“; Anm. der Red.), ein Wortspiel mit seinem Namen. Von da an wurde mir Duchamp zu einer Gewohnheit, einem Hobby. An die hundert Bücher über ihn habe ich zu Hause. Duchamp war Vater von dem, was wir heute zeitgenössische Kunst nennen, der Concept Art. Er hat alles gemacht: sich in Frauenkleidern fotografiert, Performances aufgeführt, Parfüms kreiert. Er hat sich permanent verändert – eine Eigenschaft, die mir an Künstlern gefällt: Immer wieder hat er einen neuen Weg eingeschlagen. Ich wünschte, meine Bücher wären so.

Als zweites Ihrer Bücher erschien 2016 Eine Episode im Leben des Reisemalers in einer Neuübersetzung in Deutschland. Es handelt ebenfalls von einem Künstler: Moritz Rugendas, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Südamerika bereiste und Land und Leute in beeindruckenden Tableaus festhielt. Was fasziniert Sie an der Figur Rugendas’?

Der erste Satz meines Buchs lautet: „Es hat im Westen nur wenige wirklich gute Reisemaler gegeben.“ Das spielt auf den Osten an, auf Japaner und Chinesen, wo es wirklich gute Reisemaler gegeben hat. Im Westen arbeiteten die meisten Künstler im Atelier. Anders Rugendas: Er unternahm seine erste Reise nach Südamerika im Alter von 19, 20 Jahren als Zeichner einer von Georg Heinrich von Langsdorf angeführten Expedition nach Brasilien. Mich fasziniert diese Figur des jungen Menschen, der in die Welt hinausgeht, bis dahin fast unbekannte Landstriche erkundet. Er zeichnet seine Erlebnisse auf, machte aus ihnen Kunst.

Rugendas querte die Anden von Chile nach Argentinien, weil er den Wunsch hatte, die Pampa zu sehen. Dabei wird sein Pferd vom Blitz getroffen und er selbst schwer verletzt. Gab es diesen Unfall tatsächlich?

Ja, Rugendas blieb für den Rest seines Lebens ein nervöser Tick. Zugegeben, ich übertreibe das im Buch ein wenig, bei mir ist er nach dem Unfall eine Art Monster. Aber was mir an der ganzen Episode am besten gefällt, ist das Ende. Rugendas wollte immer einen Indianerüberfall erleben, um ihn malen zu können. Und dann greifen die Indianer just in dem Moment an, in dem er sich auf einer Estancia in Mendoza aufhält. Trotz seines schlechten Gesundheitszustands skizzierte er die Gefechte. Und am Abend ging er zum Indianerlager und fertigte von ihnen Porträts an. Wie ein Regisseur: Zuerst macht er die Total-, dann die Nahaufnahmen.

Und die Indios ließen ihn gewähren?

Er kam ihnen harmlos vor mit seinem Bleistift…

Ihr Protagonist ist ein Reisemaler. Wenn Sie auf Reisen sind, schreiben Sie auch?

Als Schriftsteller bin ich ein komplett sesshaftes Wesen. Ich habe meine Routine in den Cafés von Flores. Für mich muss jeder Tag gleich verlaufen. So habe ich eine neutrale Erfahrung, auf deren Grundlage ich meiner Fantasie freien Lauf lassen kann. Wenn ich an anderen Orten bin, funktioniert das bei mir nicht.

Benutzen Sie beim Schreiben eigene Erfahrungen?

Normalerweise schöpfe ich meine Inspiration aus der Lektüre, der Betrachtung von Kunstwerken oder aus dem Fernsehen, aus trivialen Komödien, manchmal auch aus bizarren Zeichentrickserien. Das mische ich dann mit Borges. Wenn ich dann weiterschreibe, brauche ich noch etwas Persönliches, etwas, das mich selbst berührt, denn sonst bleibt es nur ein reines Spiel mit Ideen – was mir ein wenig banal vorkommt. Zu viel Persönliches will ich aber auch nicht hineingeben, sonst kippt es ins Sentimentale, Pathetische, Autobiografische. Es muss eine Balance geben zwischen der seltsamen Logik des Achilles und der Schildkröte und meinen persönlichen Dingen, die normalerweise versteckt sind, dem Text aber Kraft geben.

Man sagt, Sie hätten mehr als 80 Bücher veröffentlicht. Denken Sie die Bücher dabei als Teil eines größeren Werkzusammenhangs oder steht jeder Roman für sich?

Wenn ich die Gesamtheit meiner Bücher betrachte, muss ich sagen, nein, es gibt kein übergreifendes Projekt, jedes Buch ist ein eigenes Abenteuer. Letztlich sind sie aber nicht so verschieden, weil ich ja immer derjenige bin, der sie schreibt. Ich habe so meine Vorlieben. So werden die Bücher am Ende immer ähnlich. Auch wenn ich versuche, etwas Neues zu machen.

In einem Ihrer Essays schreiben Sie, Sie träumen davon, ein Romanschema zu entwerfen, das Sie künftig nur noch zu füllen brauchen, um zu schreiben …

Tatsächlich gibt es eine Art Automatismus in meinem Schreiben, aber nicht den Automatismus des Unbewussten der Surrealisten, sondern den der Außenwelt. Ich sehe zum Beispiel zwei Männer mit vollem Haar und einen mit Glatze und der mit der Glatze gibt Anweisungen. Wenn ich nun etwas über einen chinesischen Supermarkt in Buenos Aires schreiben will, schreibe ich: „Da waren zwei Männer mit vollem Haar und ein Glatzkopf, der Befehle gab.“ Das hat nichts mit der Geschichte an sich zu tun, sondern kommt von dem, was ich in dem Café beobachte, wo ich schreibe. Dennoch füge ich nicht einfach nur eine Sache zu einer anderen, sondern ich muss den Glatzkopf und die beiden Männer mit vollem Haar wie in einem konventionellen Roman glaubwürdig einführen.

Also ist der konventionelle, gut geschriebene Roman wichtig als Bezugsgröße?

Das Ideale ist natürlich, dass der Schriftsteller seine eigenen Paradigmen für Qualität erfindet. Wenn er den etablierten Modellen für Qualität folgt, kann er höchsten einen „guten Roman“ schreiben, also einen Roman mehr, von denen es so viele gibt, und die diese deprimierenden Tische der Buchläden füttern, die einem die Lust am Lesen verleiden. Seine eigenen Paradigmen zu erfinden, ist selbstverständlich nicht so einfach; diejenigen, die es tun, geben der Literaturgeschichte eine neue Wendung. Neue Paradigmen zu erfinden, bedeutet, sich selbst neu zu erfinden.

Sie haben bei Ihrer Rede zur Eröffnung des internationalen Literaturfestivals Berlin 2016 die Nutzlosigkeit der Literatur verteidigt. Warum?

Die Literatur hatte noch nie einen Nutzen, außer den, den Lesern, einer winzigen Minderheit der Gesellschaft, Freude zu bereiten. Deshalb halte ich staatliche Kampagnen zur Förderung des Lesens für absurd. Wenn Verleger und Autoren sagen, dass Lesen gut sei, verstehe ich das, es ist schließlich ihr Geschäft. Wenn das aber der Staat tut, ist es nicht zu Ende gedacht. Denn man braucht Menschen, die arbeiten und produzieren, niemanden, der sich zu Hause einschließt, um Romane zu schreiben. Zwar hilft Lesen, den Geschmack zu verfeinern, einen intelligenter zu machen. Nur wer braucht diese Eigenschaften? Wenn jemand einen verfeinerten Geschmack hat, dann wird er zu einem Schmarotzer …

… weil er nicht funktional ist für das System?

Ja. Gleichzeitig ist diese Nutzlosigkeit der Literatur der Schlüssel zu ihrer Freiheit. Von dem Zeitpunkt an, in dem man der Literatur einen Nutzen zuschreibt, verliert sie ihre Freiheit. Wenn man mir vorgibt, ich solle zur Bildung der Jugend beitragen, dann kann ich schon nicht mehr so schreiben, wie es mir gefällt: mit der exzessiven Vorstellungskraft, dem ganzen Unsinn… Ich würde mir nur Gedanken darüber machen, wie mein Schreiben zur Bildung beiträgt und schon wäre ich eingeschränkt.

Welche Bücher lesen Sie selbst?

Zurzeit lese ich Bücher wieder, die ich vor dreißig Jahren gelesen habe. Auch wenn ich mich an die Grundzüge des Buchs erinnere, ist das Wiederlesen anders. Man liest aus der Perspektive von dem, was man erlebt hat, mit dem Geschmack, den man entwickelt hat. Ich mag es, Bücher wieder zu lesen, auch wenn ich mir das nicht ausgesucht habe: Oft gehe ich in einen Buchladen und komme mit leeren Händen zurück, weil das einzige Buch, das mich interessiert, eines ist, das ich schon zu Hause habe.

Was ist Ihr nächstes Projekt?

Ich werde für lange Zeit nichts mehr veröffentlichen. Ich habe es satt, gesagt zu bekommen, dass ich so viel veröffentliche. Ich werde also damit erstmal aufhören. Das passt mir aber ganz gut, denn ich schreibe besser, wenn ich nicht ans Veröffentlichen denke.

Eine Veröffentlichung ist also eigentlich eher etwas Lästiges?

Nein, mir gefällt das Buch als Gegenstand. Aber jetzt gebe ich mich mit den Übersetzungen zufrieden, die von überall herkommen, schöne Objekte in verschiedenen Sprachen, manche so exotisch, dass ich auf dem Buchumschlag nicht mal meinen Geburtsort Coronel Pringles lesen kann.

 

ABENTEUER ÜBERSETZUNG

Mexiko, woher die Texte des Erzählbandes Potslom stammen, ist ein Land mit vielen parallelen Welten, ungleichzeitigen Zeitläufen und verschiedenen Zeiträumen. In vielen Geschichten tritt dies deutlich zutage. In der
Erzählung Der Reiter wird ein Raum eröffnet, in dem ein Geist nicht schläft, sondern als Schatten auf einem großen und stattlichen Pferd durch das Dorf reitet. In der Geschichte Achá Turí wird ein fremder Mann, von dem
gesagt wird, er sei ein Sklave von Hernán Cortés gewesen, gefangen genommen und dann zum König eines Dorfes gekrönt.

Nebensächlichkeiten bekommen in den Geschichten ein für westliche Leser*innen befremdliches Gewicht. So zum Beispiel in der Geschichte Erinnerungen an einen Gewissenlosen, eine persönliche Erinnerung an den Ausbruch des Vulkans Chichonal 1982. Den Aluminiumtopf, in dem der Großvater am Morgen des Vulkanausbruchs die Bohnen aufwärmte, hatte dieser bei einem fahrenden Händler auf dem Markt von Magdalena gekauft. Der Ausbruch des Vulkans, bei dem ein Steinhagel das Dach aus Pappe zerschlug, wird fast beiläufig beschrieben. In diesem Minimalismus, der Abwesenheit des Brutalen, wird die Apokalypse des Vulkanausbruchs betont. Diese Geschichten eröffnen Panoramen, in denen man die vom offenen Herdfeuer verrauchten Häuser fast riechen oder den schnarrenden Klang einer abgewetzten Gitarre hören kann.

In der Geschichte Die Blase im Mund des Indios werden die noch heute wirkenden kolonialen und rassistischen Strukturen der Unterdrückung deutlich und außerdem die Probleme der Übersetzung fassbar. Der Begriff „máasewal“ wird aus dem Maya ins Spanische und Deutsche als „Indio“ übersetzt. Im Englischen wird es als „Indian“ übersetzt. Der Begriff „máasewal“ bezeichnet aber auch einen sozialen Status, mit dem in Yucatán heute
„einfache Leute“, Bauern und Proletarier gemeint sind. Gleichzeitig hat er eine ethnische Bedeutung. Am Ende der Geschichte gibt der Großvater seinem Enkel den Rat, die brennende Blase in seinem Mund als Quelle seiner
Kraft zu verstehen und genau dann, wenn der Schmerz nicht mehr auszuhalten ist, den Kampf des Unterdrückten aufzunehmen und den Fremden zu verletzen.

Beim Lesen wird klar: Das Abenteuer der Übersetzung ist ein Zweifaches. Zum einen ist der Prozess der Übersetzung immer wieder ein Mysterium, in dem der Inhalt aus einer Sprache in eine andere Sprache hinüber gesetzt wird. Zum anderen kann sich durch das Lesen der Übersetzung ein Tor zu einer fremden Lebenswelt öffnen. Das bedeutet nicht, dass man beim Lesen dieser Geschichten die fremden Lebenswelten versteht. Nein, vielmehr bekommt man ein Gefühl für die Fremdheit und das eigene Unverständnis. Aber nur so kann ein Verstehen erarbeitet werden: Wenn man vom Unverständnis ausgeht und Schritt für Schritt auf einander
zugeht, ohne dabei die sozio-ökonomischen und kulturellen Unterschiede in einem „Wir sind doch alle Menschen“ zu negieren. Wenn man die ethnische Frage auf sozio-ökonomische Konflikte reduziert, verhindert das den Blick auf das Andere, das kulturell Fremde und man sieht im Spiegel nur sich selbst. Der Erzählband Potslom umfasst 12 Geschichten in neun verschiedenen indigenen Sprachen Mexikos: Purépecha, Mayo, Tepehuano del norte (Odami), Nahuatl, Mazateco, Triqui, Maya, Zoque und Tsotsil, die wiederum jeweils
ins Spanische, Deutsche und Englische übersetzt wurden. Dass aus dem Spanischen ins Deutsche und Englische übersetzt wurde, ist natürlich schade, da bei einer direkten Übersetzung der Inhalt weniger verändert werden würde. Eine direkte Übersetzung hätte den Kosten- und Zeitrahmen des Erzählbandes sicherlich gesprengt. Die Prosatexte in diesem Band sind mal Geschichten und Erzählungen, mal persönliche Berichte, ein anderes Mal Fabeln oder Legenden.

Potslom, die Erzählung, die dem Buch seinen Namen gegeben hat, unterscheidet sich von den anderen Geschichten, da sie einen Spannungsbogen und eine überraschende Wendung hat. Ein anderer Autor aus dem Buch bezeichnete in einem Gespräch mit dem Herausgeber diese Geschichte als verunreinigt. Der Autor von Potslom war zur Universität gegangen und hätte dort die westliche Logik von Geschichten gelernt. Für den Herausgeber, Lino Santacruz Moctezuma, stellt dieser Prozess jedoch vielmehr eine Bereicherung dar
und den Kontakt, den er mit der Veröffentlichung dieses Buches anstrebt: Die indigenen Welten in Mexiko sind der urbanen-mestizischen Mittelschicht weiterhin unbekannt. Das Buch will diese parallelen Welten zusammenbringen, Brücken bauen und einen Beitrag leisten zu der Frage: Wer sind wir Mexikaner*innen? Und was macht uns aus?

FREIHEIT UND KONTROLLE


YURI HERRERA wurde 1970 im zentralmexikanischen Hidalgo geboren. Er studierte Politikwissenschaften in Mexiko Stadt, 2009 promovierte er in Lateinamerikanischer Literatur an der Universität von Berkley (Kalifornien). Er hatte Gastprofessuren an verschiedenen Universitäten in Mexiko und den USA. Neben seiner journalistischer Arbeit hat er bislang fünf belletristische Bücher veröffentlicht, gleich sein erster Roman Abgesang auf den König sorgte für Furore in der Literaturwelt. Zuletzt ist von ihm auf Deutsch der Erzählband Der König, die Sonne und der Tod. Eine mexikanische Triologie erschienen. Ende 2016 erhielt er den internationalen Preis der Anna-Seghers-Stiftung. (Foto: Universität Köln)


Herr Herrera, Sie sagten einmal, ihre größte Muse sei die Scham, nicht produktiv zu sein. Wie geht es Ihrer Muse zurzeit?
Aktiv wie immer. Ich arbeite an mehreren Sachen gleichzeitig, aber ich habe immer das Gefühl, dass es nicht genug ist. Es ist wie der Kaffee am Morgen.

Im November 2016 haben Sie den Anna- Seghers-Preis erhalten. Gibt es einen Aspekt aus dem Werk von Anna Seghers, der Ihnen besonders wichtig ist?
Mich interessiert vor allem ihr Blick auf ihre eigene Zeit, wie sie die Geduld hat, zu verstehen, und diese mit einer Art empathischer Hoffnungslosigkeit verbindet. So kann sie das Drama der Menschen aus dieser Zeit kommunizieren.

Ihr wiederkehrendes Thema ist die Verbindung zwischen der Kunst und der Macht. Warum?
Es ist eine Spannung, die in allen Gesellschaften existiert: Zwischen denen, die bewahren und kontriollieren wollen, und denen, die nach neuen Formen suchen, auf die Welt zu sehen. In Mexiko drückt sich das seit einigen Dekaden institutionell aus. Es bleibt also ein Thema, das nicht zu Ende geht, und weiter reflektiert werden
muss.

Sie sagen, dass eine permanente und sehr tiefe Beziehung zwischen der mexikanischen Literatur und der Politik bestehe. Diese gehe so weit, dass der Staat die Schriftsteller finanziere, „eine sehr verdächtige Verbundenheit“ nannten Sie das mal. Können Sie das erklären?
Obwohl ich glaube, dass die Kulturpolitik des mexikanischen Staates sehr gute Momente hatte – zum Beispiel erfolgreiche Alphabetisierungskampagnen, Veröffentlichungen junger Autoren aus verschiedenen Landesteilen – hat sie auch eine Funktion der Kontrolle eingenommen. Oder sie sollte als solche benutzt werden: die Arbeit der Künstler zu subventionieren, im Austausch für ihre Verschwiegenheit. Zum Glück ist das literarische Feld in Mexiko weitaus vitaler und resistenter, als es diese Kulturdezernenten begreifen können.

Sie sprechen auch über die Schwierigkeit, die kulturelle Freiheit nicht zu verlieren und es sich gleichzeitig nicht mit den Eliten der Macht zu verscherzen. Wie funktioniert das?
Das passiert nicht nur in Mexiko. Schriftsteller sehen sich auf der ganzen Welt verschiedenen Typen von Grenzen ausgesetzt. Manchmal handelt es sich um staatliche Zensur, manchmal um Druck aus der Branche wie Literaturagenten, Verlage, Kritiker und manchmal um den Druck des Marktes. In jeder Epoche und an jedem Ort
müssen Schriftsteller die Art und Weise finden, sich diesem Druck nicht zu beugen und ihre eigene
Stimme zu finden.

Politiker*innen und Anführer*innen der organisierten Kriminalität in Mexiko fühlen sich unantastbar. Sie umgeben sich mit Leuten, die sagen, was sie hören wollen. Wann hat das angefangen?
Das ist kein mexikanisches Problem. Mexiko ist kein Land, in dem die Grausamkeiten großartig anders sind als in Deutschland, der Schweiz, England oder den USA. Mexiko ist das Land, das die Toten zu einem Geschäft macht, das bei anderen aus Nachfrage, Waffen und Regeln besteht. Erinnern wir daran, dass die Gruppe, die die Studenten von Ayotzinapa attackierte, deutsche Waffen hatte. Natürlich haben wir spezifische Verantwortungen, ein veraltetes politisches System bestimmt durch Korruption, einen jahrzehntelangen Rassismus, den sich viele weigern zu sehen, eine systematische Straflosigkeit, aber die Gewalt in Mexiko entspringt auch aus den Ländern, die sich für zivilisiert halten, aus der Ferne betrachtet.

Sie sagten, es sei nicht wahr, dass keiner etwas gegen die Gewalt und die Stille tue. Können Sie einige Medien oder Aktionen nennen, die nach der „Wahrheit“ suchen?
Es gibt viele Leute, die daran arbeiten, die Meinungsfreiheit zu bewahren: Da ist die Organisation Articulo 19, kleine Medien aus Veracruz, aus Sinaloa und aus Mexiko-Stadt, die elektronischen Magazine Sin Embargo und
Lado B, Gemeinderadios im Süden und Südosten des Landes und viele andere.

Sie haben auch mal eine Gewerkschaft von Haushaltshilfen erwähnt…
Das ist noch eine kleine Gewerkschaft, aber sie zeigt, dass es immer noch elende Formen der Ausbeutung aus der Kolonialzeit gibt. Sie ist bemerkenswert, weil es sich um eine Gruppe Frauen handelt, die sich entschieden hat, für ihre fundamentalen Rechte zu kämpfen. Das könnte sich als kultureller Wandel herausstellen.

Um den Prozess zu erklären, wie Sie die adäquate Sprache in Ihren Büchern finden, benutzen Sie das Bild des Malers mit seiner Farbpalette und den verschiedenen Farben. Aber nicht immer gibt es „Farben“ für die Gewalt. Gibt es Dinge, die Sie persönlich schockieren und sprachlos lassen?
Natürlich, ständig gibt es Situationen, für die man nicht sofort Worte findet. Aber genau das ist die Arbeit der Kunst, die Worte zu kreieren, sie nicht einfach aus dem Wörterbuch zu entnehmen. Manchmal geht es darum, alte Wörter zu erneuern, manchmal darum, für sie eine andere Konnotation zu finden, manchmal darum, sie zu transformieren. Es gibt nicht den einen Weg.

Stört Sie der Begriff narco poesia (“Drogenhändlerpoesie” als Titel einer Rezension eines Ihrer Bücher?
Nein, wenn man ein Buch veröffentlicht, kann man keine Kontrolle mehr über die Art und Weise haben, wie es gelesen wird. Das ist okay. Persönlich denke ich, dass diese Etiketten die Literatur nicht bereichern, aber in manchen Bereichen haben sie eine Funktion für analytische Zwecke. Letztendlich können die Lektoren mit dem Text machen, was sie wollen.

Sie sind weit weg von der US-Grenze im zentralmexikanischen Hidalgo geboren. Woher stammt Ihr Interesse für den Norden Mexikos und die Grenze zu den USA?
Ich habe zwischen 2000 und 2003 an der Grenze zwischen El Paso und Ciudad Juárez gelebt, aber das war nicht mein erster Kontakt. In Mexiko hat fast jeder Familienmitglieder, die mal in die Vereinigten Staaten immigriert sind, ob sie nun zurückgekehrt oder auf der anderen Seite geblieben sind.

Vor einigen Wochen hat eine deutsche Wochenzeitung Monterrey und Indianapolis miteinander verglichen. Ein Unternehmen aus Indianapolis hat letzten Februar 1.000 Arbeitsplätze nach Mexiko umgesiedelt, wie auch
andere. Mondelez produziert seine Oreos nicht mehr in Chicago, sondern in Monterrey. Er liebe Oreos, aber er werde sie nie wieder essen, sagte Donald Trump. Glauben Sie, dass der neue US-Präsident das Thema der Arbeitsplätze, die ins Ausland gehen, wirklich verändern wird? Wird er seine Rhetorik beibehalten?
Das werden wir sehen. Ich bezweifle stark, dass er die Beschäftigungen, die die Malereibetriebe in vielen Orten Mexikos geschaffen haben, zurückholen will. Zum Beispiel: Unglaublich schlecht bezahlte Arbeiten, zu viele Stunden, wenig oder gar kein Rechtsschutz, wenig oder gar keine medizinische Versorgung. Sicher wird Trump einige weitere spektakuläre Mittel ergreifen, einige Unternehmen unter Druck setzen, damit sie ihre Investitionen zurücknehmen. Aber um die wirtschaftliche Dynamik zwischen den zwei Ländern zu verändern, bedarf es weit mehr als einen Ausstoß von Testosteron. Ich habe den Eindruck, dass das Geschrei rund um das Freihandelsabkommen Nafta eher den hysterischen Versprechen des Wahlkampfs entspricht als einer Bewertung dessen, wie Nafta funktioniert hat. Es wird ohne Zweifel Veränderungen geben, aber nicht in der Schnelligkeit, die er versprochen hat.

Hat Sie das Tempo überrascht, mit dem Trump die ersten, spektakulären Entscheidungen getroffen hat?
Nein, aber viele dieser Entscheidungen entstammen eher seinem Versuch, entschlossen zu wirken als einem konkreten Plan. Viele davon werden nicht einmal realisiert werden. Trump wird herausfinden, dass es deutlich
mehr braucht, als Papiere zu unterschreiben, damit die Dinge in Bewegung kommen. Aber vielleicht kommt es ihm darauf nicht an, seine Sache ist das Spektakel.

Ist es möglich, die Problematik um die Migration zu verschlimmern, anstatt sie zu lösen?
Wenn man die Migration ausschließlich als ein Problem betrachtet und nicht als ein Phänomen, das die Gesellschaften bereichert, ist es natürlich möglich. In Europa ist das passiert, und wir können bereits sehen, dass der mit dem Aufstieg Trumps entstandene Hass die Situation der Migranten verschlimmert, die in den Obama-Jahren schon ziemlich schlecht war.

Was denken Sie über die Rolle der mexikanischen Gesellschaft in Bezug auf den Umgang mit Migrant*innen aus Zentralamerika?
Das ist eine passive Komplizenschaft. Es hätte eine viel größere Reaktion auf den Missbrauch geben müssen, den die Migranten aus Zentralamerika auf ihrem Weg durch Mexiko und bei ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten erleiden mussten.

Die Reaktion der Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung auf Präsident Peña Nietos Ablehnung von Trumps Ideen und seiner Absage des geplanten Staatsbesuchs in Washington – war das ein kurzer Moment von Einigkeit in Mexiko?
Einigkeit kommt nicht auf magische Weise zustande. Ja, es gibt eine Einheit in der Ablehnung von Trump. Diese darf aber nicht als unbegrenzte Unterstützung des Präsidenten verstanden werden, mehr noch: Wenn diese ganze Episode etwas bewiesen hat, ist es die Unfähigkeit Peña Nietos eine Vision des Staates aufzuzeigen.

MIT DEN WAFFEN DES KRIMIS

„Ein großer Kahn, sehr elegant“ ist in der Perlenlagune verlassen aufgefunden worden, in jenem tropischen Waldgebiet nördlich von Bluefields mit seinen Flüssen, Nebenarmen, Lagunen und Seen. Auch wenn es am Anfang dieses Kriminalromans, bei dem die Betonung auf Roman liegt, nicht einmal eine Leiche, sondern nur ein paar Blutspritzer gibt, so ist den Ermittlern doch schnell klar, dass die Drogenmafia ihre Hände im Spiel haben muss:„Wer anders als die Drogenbosse kann es sich leisten, eine Yacht im Wert von einer halben Million Dollar einfach aufzugeben?“

Hauptfigur Inspektor Dolores Morales – übersetzt „moralische Leiden“ – ist unbestimmten mittleren Alters und Teil der Abteilung für Drogenkriminalität in Managua. Als Compañero Artemio hat er in der sandinistischen Revolution gekämpft, dabei ein Bein verloren und eine Prothese aus Kuba gewonnen, die zwar gut sitzt, deren hellrosa Vinyl aber schlecht zu seiner braunen Haut passt. Zusammen mit Unterinspektor Bert Dixon aus Bluefields, enger Freund und wegen seiner tadellosen Manieren Lord Dixon genannt, verfolgt er die Spur der verlassenen Yacht. Bei der geht es, so viel sei verraten, tatsächlich um Drogengeschäfte und einen Mord. Unterstützt werden die beiden Inspektoren von Doña Sofía Smith, auch sie eine ehemalige Stadtguerillera, die ihre Arbeit als Putzfrau im Polizeipräsidium „mit echter Parteidisziplin“ ausübt, in Wahrheit aber zu allen wesentlichen Erkenntnissen der Ermittlung beiträgt und auch vor Undercover-Aktivitäten nicht zurückschreckt.

Der Himmel weint um mich ist bereits 2008 auf Spanisch erschienen und spielt in der Amtszeit des nicaraguanischen Präsidenten Arnoldo Alemán, der von 1997 bis 2002 regierte und später wegen Korruption angeklagt wurde. In einer Phase, in der der Präsident „neue Supertankstellen“ in Serie einweiht und dabei vom Polizeichef begleitet wird, zieht sich – rund zwanzig Jahre nach dem Sieg der Sandinist*innen – die Spur des Verfalls der Integrität und der Korruption bis in höchste Polizei- und Regierungskreise. Aber längst nicht alle sind davon betroffen. So ist Comisionado Selva, Chef von Inspektor Morales, „ein seltenes Exemplar in diesen Zeiten, allzu aufrecht und ehrlich, fast bis zur Lächerlichkeit, so als habe er den Pfadfindereid abgelegt. Deshalb störte er auch einige seiner Kollegen in der obersten Leitung und beunruhigte andere.“

Auch viele der ehemaligen Compañeros legen Skrupel und Loyalitäten ab und tauschen „die frühere Treue zur Ideologie gegen die Treue zur revolutionären Staatsmacht“. Dabei schrecken sie nicht einmal vor Verrat gegenüber den ehemaligen Kampfgefährten zurück, um die eigenen Interessen nicht zu gefährden. Autor Sergio Ramirez, selbst nach dem Sturz der Somoza-Diktatur Mitglied der fünfköpfigen Regierungsjunta und von 1984 bis 1990 Vizepräsident, schmerzen diese Zustände erkennbar. Und so nutzt er das Genre des Krimis für eine genaue Beschreibung des Managuas dieser Zeit mit all seinen Ungleichzeitigkeiten von Luxus und Armut, Beschädigung und Aufbau, Loyalität und Verrat, durch die sich Inspektor Morales in seinem blauen Lada bewegt. Dass die Aufklärung des Falls sich dabei eher langsam entwickelt, fällt angesichts der Fülle der genau gezeichneten Schauplätze, Personen und Handlungsstränge wenig auf. „Wir sind Zeugen, und als solche sind wir auch Chronisten. Die Zeitgeschichte liegt seit je im Wesen unseres Schreibens, und nie war es möglich, private Geschichten abseits von der großen Bühne der Zeitgeschichte zu erzählen,“ dieses Credo von Sergio Ramirez prägt seinen Roman Der Himmel weint um mich.

 

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