NICHT ALLES HARMONISCH

Für die MAS läuft nicht alles rosig Präsident Luis Arce und Expräsident Evo Morales bei einer Demonstration (Foto: ABI)

Als Luis Arce im Oktober 2020 mit 55 Prozent der gültigen Stimmen und großem Vorsprung zum Präsidenten des Plurinationalen Staates Bolivien gewählt wurde, war das Ergebnis in dieser Deutlichkeit für viele eine große Überraschung. Die Wahl brachte somit die Erkenntnis: Die Bewegung zum Sozialismus (MAS) kann auch ohne ihre Identifikationsfigur Evo Morales, Präsident von 2006 bis 2019 und immer noch Parteivorsitzender, Wahlen gewinnen. Sowohl in der Abgeordnetenkammer als auch im Senat erreichte die linke Partei 2020 wieder eine absolute Mehrheit.

Ein Jahr zuvor hatte es noch ganz anders ausgesehen: Die Wahlen 2019 hatten Morales und die MAS zwar gewonnen. Nach Vorwürfen des Wahlbetrugs und tagelangen Protesten auf den Straßen sowie einem Aufstand von Teilen der Polizei forderten Militärs jedoch Morales Rücktritt und er flüchtete aus dem Land. Die Macht übernahm als selbsternannte Übergangspräsidentin die rechte Senatorin Jeanine Áñez, die dann ein Jahr lang an dem Amt festhielt. In den Wochen nach ihrer Amtsübernahme lieferten sich Anhänger*innen aus verschiedenen politischen Lagern gewalttätige Auseinandersetzungen – sowohl untereinander als auch mit Polizei und Militär. Im November 2019 kam es dabei an mehreren Orten zu schweren Menschenrechtsverletzungen, Massakern und außergerichtlichen Hinrichtungen durch die De-facto-Regierung von Áñez, beklagte die Interdisziplinäre Gruppe unabhängiger Experten (GIEI) der Interamerikanischen Menschenrechtskommission in ihrem Bericht vom Juli 2021. Dabei wurden mindestens 37 Menschen getötet und Hunderte verletzt.

Mit der Wahl von Luis Arce ist die Linke wieder an der Macht und die Lage scheint sich beruhigt zu haben. Arce, der als enger Vertrauter von Morales gilt, ist Ökonom und war während dessen Präsidentschaft Wirtschaftsminister. Er steht für den sozial gerechten wirtschaftlichen Aufschwung der vergangenen Jahre in Bolivien. Nach zwei Jahren ist die Bilanz seiner Regierung nicht schlecht:

Die COVID-19-Pandemie hat zwar schmerzhaft die Schwächen der Gesundheitsversorgung in Bolivien aufgezeigt, monatelange Einschränkungen wie Ausgangssperren oder die Schließung der Märkte trafen vor allem Menschen, die ihr Essen und Geld für andere Ausgaben von Tag zu Tag verdienen müssen: Taxifahrer*innen und Busfahrer*innen, Marktverkäufer*innen und die bäuerliche Bevölkerung. Die wirtschaftliche Situation hat sich inzwischen aber erholt, Boliviens Bruttoinlandsprodukt wuchs im Jahr 2021 um 6,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das Land weist derzeit die niedrigste Inflationsrate in ganz Lateinamerika auf, im August 2022 lag sie im Vergleich zum Vorjahresmonat bei 1,6 Prozent.

Die Regierung Arce setzt auf öffentliche Investitionen und verspricht eine Strukturpolitik, die Wertschöpfungsketten zunehmend im Land hält. Nach dem jahrzehntelangen Ausverkauf der heimischen Rohstoffe an ausländische Firmen kündigt die Regierung eine nationale Industrialisierung von Lithium an. Bislang ist Bolivien jedoch weiter stark vom Export von Rohstoffen wie Erdgas und Gold abhängig, und damit auch von der Höhe der Preise auf dem Weltmarkt. Zudem plant die Regierung staatlich finanzierte Megaprojekte, den Bau von Straßen, Industrieanlagen, Gesundheitszentren, Plätzen und Parks im Wert von mehreren Milliarden US-Dollar. So soll bis zum „Bicentenario“, dem 200. Jahrestag der Unabhängigkeit Boliviens am 6. August 2025, die Wirtschaft des Landes gestärkt und die Lebenssituation der Bolivianer*innen verbessert werden.

Sogar der IWF hob Mitte September 2022 die Erfolge des Landes bei der Stabilisierung der Wirtschaft und der Armutsbekämpfung hervor. Er empfahl aber auch, die Bindung der bolivianischen Währung Boliviano an den Dollar-Kurs und staatliche Subventionen wie die für Kraftstoffe zu überprüfen. Präsident Arce lehnte diese „alten Rezepte“ umgehend ab: „Unser soziales, gemeinschaftliches und produktives Wirtschaftsmodell ist souverän und zeigt weiterhin seinen Erfolg beim Abbau sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheiten in Bolivien“, twitterte er.

Auch im Ausland wirbt Boliviens Präsident für das, was er in seinem gleichnamigen Sachbuch als ein „erfolgreiches und gerechtes Wirtschaftsmodell“ beschreibt. Anfang September traf er sich in Brasilien mit Präsidentschaftskandidat Lula da Silva und schenkte ihm das Buch. Zu anderen sich als links verstehenden Regierungen Lateinamerikas suchte Boliviens Staatschef ebenfalls den Kontakt, traf sich in den vergangenen Monaten mit den Präsidenten von Chile und Peru, Gabriel Boric und Pedro Castillo. Mitglieder des chilenischen Verfassungskonvents erkundigten sich außerdem im Zuge der Ausarbeitung einer neuen Verfassung in Bolivien zu Themen wie Plurinationalität.

Als besonders eng gilt das Verhältnis zu Argentinien und dem dortigen Präsidenten Alberto Fernández. Beide Staaten gehören zu den Ländern mit den größten Vorkommen an Lithium weltweit und vereinbarten eine Zusammenarbeit bei der Herstellung von Zellen und Batterien. Im September 2022 präsentierte Luis Arce dann in der UN-Vollversammlung 14 Vorschläge für eine sozial gerechtere Welt, darunter der Zugang zu Gesundheitssystemen für alle Menschen, die Industrialisierung von Lithium zum Wohle aller und als Grundpfeiler einer Energiewende sowie Ernährungssouveränität in Harmonie mit der Erde.

Dennoch ist nicht alles harmonisch in Bolivien. Ausgerechnet an einem nur scheinbar wenig konfliktgeladenen Thema entzündete sich im August 2022 der permanent schwelende Konflikt zwischen der Zentralregierung und der MAS einerseits und ihren politischen Gegner*innen vor allem im östlichen Tiefland Bolivien andererseits: am Zensus. Präsident Arce hatte die für November 2022 geplante Erhebung statistischer Bevölkerungsdaten auf Mitte 2024 verschieben lassen. Darauf folgte ein Aufschrei der Opposition. Der ultrarechte Gouverneur des Departements Santa Cruz, Luis Fernando Camacho, rief im August 2022 zu einem zweitätigen Streik auf und forderte, der Zensus müsse noch 2023 stattfinden. Zuletzt drohten die einflussreichen Bürgerkomitees in Santa Cruz sogar mit einem unbefristeten Streik, falls die bolivianische Regierung dieser Forderung nicht nachkommt.

Denn beim Zensus, der etwa alle zehn Jahre erhoben wird, geht es nicht zuletzt um Geld und politischen Einfluss. Das Departement Santa Cruz gilt als wirtschaftsstärkste Region des Landes, seine Hauptstadt Santa Cruz de la Sierra ist mittlerweile die bevölkerungsreichste Stadt Boliviens und wächst weiter. Eine höhere Zahl an Einwohner*innen bedeutet für Städte und Regionen wiederum mehr finanzielle Zuwendungen aus Steuern und mehr Parlamentssitze. Hinzu kommt der andauernde Konflikt zwischen dem in der Mehrheit politisch konservativen, von Nachkommen der Einwander*innen aus Europa geprägten Santa Cruz und der Zentralregierung in La Paz im Hochland. Luis Fernando Camacho selbst spielte bei den Protesten gegen Morales 2019 eine zentrale Rolle, als er mit der Bibel in der Hand in den Präsidentenpalast eindrang, um Morales zum Rücktritt zu drängen. Den Streik in Santa Cruz bezeichneten Anhänger*innen der Regierung als erneuten Versuch eines rechten Staatsstreichs. Ende August 2022 zogen Zehntausende Menschen bei einem „Marsch zur Verteidigung der Demokratie und des wirtschaftlichen Wiederaufbaus“ von der Millionenstadt El Alto zum Regierungssitz La Paz, um ihre Unterstützung für die Regierung von Präsident Arce zu demonstrieren. „Das Volk will keine Putsche mehr!“, betonte Arce dort in einer Rede. „Es wird sich nicht von der Rechten verführen lassen, weil es seit 2019 gelernt hat, dass die Rechte sich nur die eigenen Taschen füllen und die der Bevölkerung leeren will“. Zum Protest aufgerufen hatten auch Basisbewegungen, die traditionell eng mit der MAS verbunden sind: der Pakt der Einheit, der Dachverband der Gewerkschaften Boliviens (COB) sowie die Organisation indigener Bäuerinnen Bartolina Sisa.

Doch das Verhältnis der Regierung zu anderen Gruppen der Zivilgesellschaft wirkt getrübt. So wurde die frühere Übergangspräsidentin Jeanine Áñez im Juni 2022 für die Amtsübernahme 2019 zu zehn Jahren Haft wegen Verstößen gegen die Verfassung verurteilt, ein Prozess wegen der Massaker im November 2019 steht aber noch aus. Opfer und ihre Angehörigen klagen bis heute darüber, dass sie von der Regierung im Stich gelassen und nicht entschädigt worden seien. Indigene Organisationen und Naturschützer*innen kritisieren die Zerstörung der Umwelt und indigener Territorien durch den Bau von Straßen und Staudämmen sowie durch den Bergbau ebenso wie die immense Abholzung des Regenwaldes für Sojaanbau und Viehwirtschaft. Auch gegen den Machismo und geschlechtsspezifische Gewalt, die allgegenwärtige Korruption, Vetternwirtschaft und die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz werden Proteste lauter. Diese kritischen Stimmen zu ignorieren, könnte für Luis Arce und der MAS durchaus gefährlich werden. Die Mobilisierungen gegen Morales in den drei großen Städten La Paz, Santa Cruz und Cochabamba im Jahr 2019 hatten bereits gezeigt, dass es der MAS in der wachsenden urbanen Mittelschicht an Rückhalt fehlt. Und auch bei den Regionalwahlen im März 2021 erzielte die Partei ein eher durchwachsenes Ergebnis.

Neue Goldgrube Der Lithiumabbau im Salar de Uyuni könnte Bolivien wirtschaftlich nachhaltig stärken (Foto: Coordenação-Geral de Observação da Terra/INPE via Flickr , CC BY-SA 2.0)

Die Wahl von Arce schien auch die Möglichkeit einer leichten politischen Neuausrichtung, doch offenbar ist es für den Präsidenten und Teile der MAS schwierig, den langen Schatten von Evo Morales zu verlassen. Morales selbst hatte Anfang 2020 in seinem damaligen Exil in Argentinien eingeräumt, dass es ein Fehler gewesen sei, 2019 noch einmal anzutreten und für eine insgesamt vierte Amtszeit in Folge zu kandidieren. Jetzt scheint sich der immer noch einflussreiche Parteivorsitzende der MAS für eine Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl 2025 vorzubereiten. Dabei kommt es auch innerhalb der Partei zu Streitereien, die von den oppositionellen Medien genüsslich als Zeichen eines kommenden Zusammenbruchs der MAS gedeutet werden: Anfang September beschwerte sich Morales, dass Regierungsminister Eduardo del Castillo und Teile des Kabinetts einen „Plan Negro“ verfolgten, um ihn zu diskreditieren und seine Kandidatur im Jahr 2025 zu verhindern. Del Castillo antwortete darauf nicht weniger drastisch und bezeichnete die früheren Minister der Regierung Morales als „Krebsgeschwüre“, die den Staatsstreich im Jahr 2019 nicht verhindert hätten. Diese Auseinandersetzungen innerhalb der MAS übertönen im aktuellen politischen Geschehen gesellschaftliche Probleme wie die bestehende gesellschaftliche Ungleichheit und Armut, Kriminalität und Korruption und die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, die strukturelle Diskriminierung von Frauen und Mädchen und Umweltzerstörungen. Gerade diese Themen sind es jedoch, die in einem Land wie Bolivien, in dem die Hälfte der Bevölkerung unter 25 Jahre alt ist, derzeit an Aufmerksamkeit gewinnen. Anfang dieses Jahres waren mehrere Tausend Frauen zum Gerichtshof in La Paz gezogen, um gegen machistische Gewalt und die Korruption in der Justiz zu demonstrieren. In Bolivien werden jedes Jahr mehr als 100 Frauen und Mädchen Opfer von Feminiziden, werden aufgrund ihres Geschlechts getötet. „Ist Dir klar, wie wenige der mehr als 100 Feminizide, die in Bolivien jedes Jahr verübt werden, vor Gericht gebracht werden und wirklich Gerechtigkeit erfahren? Es gibt so viele Fälle von Morden an Frauen, und viel zu häufig bleiben Vergewaltiger und Frauenmörder unter dem Schutz von Staat und Justiz straffrei“, mahnte Kiyomi Nagumo, Aktivistin der ökofeministischen Gruppe Salvaginas.

Ökofeministische Ansätze zeigen Auswege aus der Krise auf

Ökofeministische Ansätze zeigen Auswege aus der Krise auf

Zu diesen neuen, progressiven Forderungen gehört auch der Anspruch, dass die linke Regierung das häufig betonte Leben im Gleichgewicht mit der Mutter Erde verwirklicht und das neo-extraktivistische Wirtschaftsmodell Boliviens mit der Ausbeutung von Rohstoffen und dem großflächigen Anbau von Soja und der Viehwirtschaft für den Export überdenkt. Die Geschichte Boliviens ist geprägt von der Ausbeutung von Ressourcen auf Kosten der Menschen und der Natur – erst durch die spanischen Invasoren, die Silber aus Bolivien raubten, nach der Unabhängigkeit machten dann lokale Eliten und transnationale Konzerne mit Zinn und Kautschuk ein Vermögen.

Diesen historischen Fehler will die bolivianische Regierung beim Metall Lithium nicht wiederholen und kündigt deshalb eine Industrialisierung des Rohstoffes im eigenen Land an. Nach Lithium gibt es weltweit eine sehr große Nachfrage, der seltene Rohstoff gilt als Schlüsselmetall in der Batterietechnologie für Elektrofahrzeuge. Bolivien verfügt im Salar der Uyuni, dem größten Salzsee der Erde, über etwa ein Fünftel der weltweit bekannten Vorkommen an Lithium. Von Bedeutung ist deshalb, wie die Regierung den Abbau und eine Industrialisierung umsetzt, die Ansprüche der am Salar de Uyuni lebenden Gemeinschaften regelt und gleichzeitig mögliche Umweltzerstörungen durch den Abbau von Lithium und durch den hohen Verbrauch von Wasser für die Gewinnung des Metalls verhindert.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier „Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika“. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

DER LANGE SCHATTEN VON EVO MORALES

Wie weiter? Präsident Luis Arce und Parteichef Evo Morales beim 26. Jahrestag der MAS (Foto: Ricardo Carvallo Terán, ABI, frei verfügbar)

Die Freiheit von Jeanine Áñez endete versteckt in einem Bettkasten. Früh am 13. März wurde sie unter einer Matratze im Haus ihrer Verwandten in Trinidad, der Hauptstadt des Departamentos Beni, von Polizeikräften entdeckt, dann festgenommen und nach La Paz geflogen. Der Vorwurf der Generalstaatsanwaltschaft: Beteiligung am damaligen Putsch gegen Präsident Evo Morales, außerdem Verschwörung, Aufwiegelung und Terrorismus. Morales und die Bewegung zum Sozialismus (MAS) hatten bei den Wahlen im Oktober 2019 zwar gesiegt, unter Vorwürfen des Wahlbetrugs wurde Evo Morales jedoch mit Unterstützung von Militärs zur Flucht aus dem Land gezwungen (LN 547). Die Macht übernahm als selbsternannte Übergangspräsidentin Jeanine Áñez, die sich dann ein Jahr lang an dem Amt festhielt.

Am Tag vor Áñez’ Festnahme waren bereits zwei frühere Minister ihrer De-facto-Regierung verhaftet worden: Rodrigo Guzmán (Energie) und Álvaro Coimbra (Justiz). Weitere Minister*innen sind auf der Flucht, darunter der ehemalige Innenminister Arturo Murillo und der frühere Verteidigungsminister Fernando López; beide hatten sich direkt nach dem Wahlsieg der MAS im Oktober 2020 in die USA abgesetzt. Auch ehemalige Polizeikommandeur*innen und hohe Militärs werden von der Justiz gesucht.

Der Vorstoß der Staatsanwaltschaft kam nicht überraschend, viele hatten ihn längst erwartet. Bemerkenswert ist allerdings der Zeitpunkt nur sechs Tage nach den Regionalwahlen, bei denen am 7. März 2021 Gouverneur*innen, Regionalparlamente und Bürgermeister*innen neu bestimmt wurden. Wurde mit der polarisierenden Aktion absichtlich gewartet bis nach dem Wahltag? Oder sollte damit politische Handlungsfähigkeit gezeigt werden? Nach dem großen Erfolg bei der Präsidentschafts- und Parlamentswahl im Oktober 2020 erreichte die MAS nun bei den Regionalwahlen ein eher durchwachsenes Ergebnis, kann ihre Macht in ländlichen Regionen aber festigen: In den vier größten Städten Boliviens, Santa Cruz, El Alto, La Paz und Cochabamba verpasste sie wie schon 2015 das Bürgermeisteramt, in anderen Großstädten verlor sie deutlich. Bei den Wahlen der Gouverneur*innen siegte die MAS in drei der neun bolivianischen Departamentos, in vier weiteren erreichte sie die Stichwahl am 11. April.

Áñez räumte den Militärs per Dekret Straffreiheit ein


Die Rechte Boliviens verzeichnete bei den Regionalwahlen einige Erfolge, bleibt dabei aber zersplittert: In der Oppositionshochburg Santa Cruz siegte bei der Gouverneurswahl der rechtsklerikale Populist Luis Fernando Camacho, der im November 2019 die Proteste gegen Evo Morales organisiert und dann mit Bibel und Nationalflagge in den Händen den alten Präsidentenpalast in La Paz symbolisch zurückerobert hatte. Neuer Bürgermeister in La Paz wird Iván Arias, ein ehemaliger Minister der Regierung von Áñez. Während Camacho und Arias sich mit ihrer geplanten Amtsübernahme Anfang Mai Immunität vor Strafverfolgung sichern könnten, bleibt diese für Jeanine Áñez unerreichbar: Sie kandidierte im Amazonas-Departement Beni als Gouverneurin, landete bei der Wahl aber nur auf dem dritten Platz.

Innerhalb der MAS hatte die Auswahl mancher Kandidat*innen zuvor für Streit gesorgt. In El Alto, der Stadt Potosí und Cochabamba beklagten protestierende Parteianhänger und verbündete soziale Bewegungen, dass Evo Morales als Parteivorsitzender die Kandidat*innen per dedazo, per Fingerzeig, bestimme, statt die Parteibasis entscheiden zu lassen. Besonders hitzig war der Konflikt in El Alto, Boliviens zweitgrößter Stadt, die von ländlicher, indigener Bevölkerung und starken sozialen Organisationen geprägt ist: Dort wurde die populäre ehemalige Senatspräsidentin Eva Copa trotz großer Chancen auf das Amt als Bürgermeisterin von der MAS-Parteispitze nicht aufgestellt – Copa entschied sich deshalb für eine Kandidatur in der neuen Gruppierung Jallalla La Paz, mit der sie die Wahl mit überragenden 69 Prozent der Stimmen gewann. Im Departamento Pando wird die frühere MAS-Politikerin Ana Lucía Reis für eine andere Partei Bürgermeisterin der Hauptstadt Cobija, die Stichwahl um das Gouverneursamt erreichte Regis Richter, der zuvor von sozialen Bewegungen als MAS-Kandidat bevorzugt, dann aber von der Parteispitze abgelehnt wurde.

Es brodelt an manchen Stellen innerhalb der MAS. Dabei hatten manche kurzzeitig eine mögliche Neuaufstellung der MAS vorausgesehen, als im Oktober 2020 Luis Arce mit 55 Prozent der gültigen Stimmen und großem Vorsprung zum Präsidenten des Plurinationalen Staats Bolivien gewählt worden war. Das Ergebnis war damals in dieser Deutlichkeit eine große Überraschung, genauso wie die Erkenntnis: Die MAS kann auch ohne ihre Identifikationsfigur, den Parteivorsitzenden und langjährigen Präsidenten Evo Morales (2006-2019) gewinnen. Nach fast 14 Jahren an der politischen Macht gab es innerhalb sozialer Bewegungen und der MAS gerade von Seiten junger Menschen durchaus den Wunsch, die Korruption und den machismo stärker zu bekämpfen und Themen wie Feminismus und Umweltschutz mehr zu berücksichtigen. Es schien der Zeitpunkt einer Abnabelung gekommen − von Evo Morales und seinem einflussreichen Umfeld in Regierung und Partei. „Wir werden regieren, indem wir auf das bolivianische Volk hören“, hatte Vizepräsident David Choquehuanca noch als Kandidat vor der Wahl 2020 erklärt, „und sie fordern, dass die Entourage [von Morales] nicht zurückkehrt.“ Doch nur einen Tag nach der Vereidigung Arces am 8. November 2020 überquerte Morales von Argentinien aus die Grenze zu Bolivien, wo er von Tausenden Anhängern empfangen und auf einem Konvoi durch das halbe Land begleitet und bejubelt wurde.

Es brodelt an manchen Stellen innerhalb der MAS


Nachdem Morales nach einem Jahr im Exil zurückkehrte und als Parteivorsitzender der MAS im Regionalwahlkampf allgegenwärtig war und aus der ersten Reihe Entscheidungen trifft, scheint Präsident Arce häufig im langen Schatten der Identifikationsfigur Morales zu stehen. Am Tag der Festnahme von Áñez war es Morales, der sich via Kurznachrichtendienst Twitter meldete und in einem Tweet forderte: „Für Gerechtigkeit und Wahrheit für die 36 Todesopfer, die mehr als 800 Verwundeten und die mehr als 1.500 bei dem Staatsstreich illegal Inhaftierten. Dass die Täter und Komplizen der Diktatur, die die Wirtschaft ausgeplündert und das Leben und die Demokratie in Bolivien angegriffen haben, untersucht und bestraft werden.“ Áñez und die früheren Minister selbst nannten ihre Festnahmen „illegal“, sie sprachen von „politischer Verfolgung“ und „Machtmissbrauch“. Zu ihrer Unterstützung organisierten die rechten Bürgerkomitees von Santa Cruz, La Paz und Cochabamba große Kundgebungen.

Die Verhaftung von Áñez und Co. schlug auch international Wellen. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) forderte die Freilassung der Gefangenen „bis zu unparteiischen Prozessen“ und schlug eine internationale Kommission zur Untersuchung der letzten Regierungsperiode des ehemaligen Präsidenten Morales bis zur Gegenwart vor − ein Vorschlag, den zwölf ehemalige Präsident*innen der Region, darunter Luiz Inácio „Lula“ da Silva und Dilma Rousseff aus Brasilien, in einer gemeinsamen Erklärung entschieden ablehnten. Die USA forderten die Freilassung von Áñez und ihren Ministern, die Europäische Union und das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte forderten ordentliche Verfahren und eine transparente Justiz frei von politischem Druck. Der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador bewertete dagegen die Aufnahme des Verfahrens positiv.

Jeanine Áñez und ihre ehemaligen Minister sitzen nun erst einmal sechs Monate in Untersuchungshaft. Ihnen werden von der Generalstaatsanwaltschaft vor allem zwei folgenschwere Vorwürfe gemacht: Erstens der des Staatsstreichs, wobei die Opposition zur Verteidigung von Áñez argumentiert, diese habe gemäß der Rangfolge in der bolivianischen Verfassung das Amt als Präsidentin übernommen. Deshalb werden in Bolivien jetzt auch gründlich entscheidende Details diskutiert: Wann und warum genau hatte sich Morales 2019 zum Rücktritt und zur Flucht entschieden? War das, als ihn Oberbefehlshaber des Militär unter Druck setzten oder war der entscheidende Auslöser bereits zuvor die bröckelnde Unterstützung durch Verbündete wie den mächtigen Gewerkschaftsdachverband Central Obrera Boliviana (COB)? Auch die Rolle der geplanten Ausbeutung von Lithium und eine vermutete Finanzierung des Putsches durch die Regierung Großbritanniens wird ausgiebig erörtert.

Der zweite schwerwiegende Vorwurf der Anklage sind die Massaker in Senkata (La Paz), Sacaba (Cochabamba) und anderen Orten an Demonstrant*innen, bei denen im November 2019 nach offiziellen Ermittlungen mindestens 35 Menschen getötet und 833 verletzt wurden. Nach der Machtübernahme war es damals in mehreren Landesteilen zu massiven Kundgebungen für Evo Morales und gegen die rechte De-facto-Regierung gekommen, und zu Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften und zwischen verschiedenen politischen Lagern. Einen Tag nach ihrer Vereidigung als Präsidentin erließ Jeanine Áñez das Dekret 4078, das dem Militär bei Einsätzen zur Herstellung der öffentlichen Ordnung Straffreiheit einräumte – praktisch die Erlaubnis für das Militär, die Proteste mit brutaler Gewalt zu beenden. Und erst 20 Tage später, als die Proteste im Land nachließen, wurde das Dekret wieder aufgehoben.

Jeanine Áñez und die anderen Angeklagten sitzen nun erst mal sechs Monate lang in Untersuchungshaft. Boliviens Justizminister Iván Lima forderte bereits eine Strafe von 30 Jahren Haft für Áñez. Luis Arce meldete sich zweieinhalb Wochen nach der Festnahme von Jeanine Áñez dann doch noch und bekräftigte, dass die Justiz eine Strafverfolgung wegen Putsches verfolge: „Wir stellen hier noch einmal klar, dass es im November 2019 einen Staatsstreich gab“, sagte Arce am 1. April. Die Menschen würden Gerechtigkeit fordern, und diesem Wunsch werde man nachkommen, betonte er.

ERWARTUNGEN UND ZWEIFEL

Ein Jahr danach Gedenken an die Opfer des Massakers von Senkata (Foto: Thomas Guthmann)

Ein weitläufiger Platz in Senkata. Vor einem Bankgebäude ist ein Pavillon aufgestellt, darin ein langer Tisch, auf dem Fotografien stehen, die von Gebäck gesäumt sind, geschmückt mit bunten Pasankallas, einer Art Popkorn. An diesem Allerheiligen gedenken Nachbar*innen der Opfer des Massakers von Senkata.

Am 19. November vergangenen Jahres, mitten in der politischen Krise nach dem Abgang von Evo Morales, drangen in den frühen Morgenstunden Panzer in den Stadtteil von El Alto ein. Die Operation von Militärs und Polizeikräften hatte zum Ziel, die Blockade einer Raffinerie aufzuheben. Der Stadtteil ist eine Hochburg der Bewegung zum Sozialismus (MAS) und die Einwohner*innen hatten nach dem erzwungenen Rücktritt von Morales das Treibstofflager blockiert. Nachdem im benachbarten Regierungssitz der Treibstoff knapp wurde, entschloss sich die De-facto-Regierung von Jeanine Áñez zur fatalen Militäraktion. Gut ein Dutzend Menschen starben im Kugelhagel von Militär und Polizei.

„Wir wissen nicht genau, wie viele es sind“, meint David Inca von der ständigen Menschenrechtsversammlung in El Alto mit Tränen in den Augen, als er vor den Fotos steht. „Am 31. Oktober 2020 ist eines der Opfer noch seinen Verletzungen erlegen.“ Es sei ein campesino gewesen. „Viele haben sich direkt nach dem Massaker, vor einem Jahr, einfach aufs Land zurückgezogen und ihre Verletzungen aus Angst vor Repression nicht angezeigt.“ Damals ging die Angst um, Familien sollen Tote des Massakers beerdigt haben, ohne den Todesfall anzuzeigen. Es gibt auch Berichte vom Verschwindenlassen von Körpern: „Wir wissen von 13 Todesopfern, aber es ist gut möglich, dass es mehr sind.“

Inca setzte sich von Beginn an für die Opfer ein, verhandelte mit der De-facto-Regierung um Entschädigung, wurde bedroht und sogar kurzzeitig festgenommen. Heute, ein Jahr später, ist von der Spannung nicht mehr viel zu spüren. Der Akt für die Toten an Allerheiligen ist ein Akt, „um bewusst Zeit mit den Toten zu verbringen, die das ganze Jahr unter uns sind“, meint der Yatiri (Heiler der Aymara, Anm. d. Red.) während der Zeremonie. Jetzt, nach dem Wahlsieg, lassen sich Größen der MAS bei der Zeremonie blicken. Freddy Mamani, der neue Vorsitzende des Abgeordnetenhauses, Eva Copa, die bisherige Präsidentin des Senats und der frisch gewählte Präsident Luis Arce.

Für Inca ein ambivalentes Signal, einerseits gut, weil es Aufmerksamkeit bringt. Andererseits zweifelt der Menschenrechtsaktivist an einem wirklichen Aufklärungswillen der MAS. „Um einen Untersuchungsausschuss einzurichten benötigt man eine Zweidrittelmehrheit in der Plurinationalen Versammlung (Abgeordnetenhaus und Senat, Anm. d. Red.), die hatte die MAS bisher. Dennoch hat sie lange gezögert, den Ausschuss einzurichten und dann spät mit der Arbeit angefangen. In der neuen Plurinationalen Versammlung hat sie nur noch die einfache Mehrheit.“ Man werde natürlich weiter alles versuchen, um Gerechtigkeit zu erreichen, fährt er fort, zumindest auf juristischem Wege.

Die MAS hat ihre bisherige Zweidrittelmehrheit kurz vor dem Ende der jetzigen Legislatur dazu genutzt, um einige Verfahren, die nach der Parlamentsordnung nur mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden konnten, umzuwandeln: Diese können künftig schon mit absoluter Mehrheit beschlossen werden. Ob in der neugewählten Plurinationalen Versammlung eine Kommission zustande kommt, hält David Inca dennoch für nicht ausgemacht.

Am 5. November verübten Unbekannte einen Anschlag auf das Kampagnenbüro der MAS


Bei der Opposition sorgten die Modifikationen der Parlamentsordnung für große Aufregung. Sie heizten den anfänglich spärlichen Protest an. Am 3. November kam es in Santa Cruz und Cochabamba zu cabildos (Bürger*innenversammlungen) der Opposition. Am 5. und 6. November fand ein 48-stündiger Streik statt, der allerdings nur in Santa Cruz zum Stillstand führte. Geführt werden die Proteste im Tieflanddepartamento von der rechtsradikalen Gruppe Unión Juvenil Cruzeñista, einer teilweise paramilitärisch organisierten Gruppe. Damit ist der Kern der Protestierenden im Vergleich zu den Protesten nach den Wahlen im Vorjahr wesentlich radikaler.

In La Paz haben am Abend des 5. Novembers noch unbekannte Täter*innen einen Anschlag auf das Kampagnenbüro der MAS im Viertel Sopocachi verübt. Zu dem Zeitpunkt befand sich der neu gewählte Präsident Luis Arce zu einem Treffen mit seinem Kommunikationsteam in dem Gebäude. Verletzt wurde niemand.

„Sie haben versucht, gegen die Unversehrtheit des gewählten Präsidenten einen Anschlag zu verüben und vor der Amtsübergabe ein Klima der Destabilisierung zu schaffen. In El Alto werden wir vereint gegen jedweden Versuch zusammenstehen, den Willen des Volkes in Frage zu stellen“, twitterte die scheidende Senatspräsidentin der MAS, Eva Copa.

Die Proteste haben zwar nicht die Unterstützung in der Bevölkerung wie die nach den Wahlen 2019. Dennoch haben es die radikalen Kräfte geschafft, das Heft des Handelns an sich zu reißen. Bisher ist noch nicht absehbar, wie sich die Dynamik weiterentwickelt. Vieles erinnert an die erste Amtszeit von Evo Morales (2006-2009), als es in den Tieflanddepartamentos zu heftigen Protesten kam.

Von der MAS gibt es bisher nur spärliche Stellungnahmen zu den Protesten. Es scheint so, als ob man zunächst die Präsidentschaftsnachfolge am 8. November regeln möchte und sich dann diesem Problem widmen will. Dabei ist durch die Entwicklung der vergangenen Tage ein Kompromiss nur schwer vorstellbar. Zudem gibt es innerhalb der MAS und den sozialen Bewegungen die Tendenz, zur Not auch mit Gewalt gegen die Opposition regieren zu wollen. So forderte die Nationale Koordination zur Verteidigung der Demokratie laut der Nachrichtenagentur ANF die Gründung von bewaffneten Milizen zur Selbstverteidigung.

Ob in dieser Situation den Opfern der politischen Auseinandersetzungen Gerechtigkeit widerfahren wird, bleibt abzuwarten. In Senkata ist die Zeremonie inzwischen fortgeschritten, das Altarfeuer knistert vor sich hin. Iveth Savaría, die das Gedenken gemeinsam mit David Inca organisiert hat, blickt nachdenklich in die Flammen und meint: „Wir haben natürlich Erwartungen, aber auch Zweifel, ob die neue Regierung es ernst meint mit der Aufarbeitung. Wir müssen als Bürger*innen einfach weiter Gerechtigkeit einfordern, damit die Opfer nicht vergessen werden.“

ZWEITE CHANCE FÜR DIE MAS

SymboltrachtLuis Arce und David Choquehuanca bei einer Zeremonie in der Aymara-Stätte Tiwanaku (Foto: ABI, frei verfügbar)

Comeback nach einem Jahr: Mit Luis Arce stellt die Bewegung zum Sozialismus (MAS) den neuen Präsidenten Boliviens. Damit war nach dem erzwungenen Abgang von Evo Morales ins Exil am 11. November 2019 nicht zu rechnen. Damals schien die seit 2006 währende Regierungsära der MAS für längere Zeit beendet. Doch jetzt steht sie vor einem Neuanfang an der Regierung. Luis Arce, der Präsidentschaftskandidat der MAS, gewann die Wahlen am 18. Oktober mit 55 Prozent bereits im ersten Wahlgang, und sowohl in der Abgeordnetenkammer als auch im Senat konnte seine Partei wieder eine absolute Mehrheit erzielen. In beiden Kammern verlor sie jedoch ihre Zwei-Drittel-Mehrheit, deshalb braucht sie für wichtige Entscheidungen wie die Wahl des Generalstaatsanwalts jetzt Stimmen aus anderen Parteien.

Das Ergebnis ist in dieser Deutlichkeit eine große Überraschung, genauso wie die Erkenntnis: Die MAS kann auch ohne Evo Morales gewinnen. Und die selbsternannte Übergangspräsidentin Jeanine Áñez ist fast ein Jahr nach dem Putsch gegen Morales Geschichte, Bolivien hat wieder ein demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt.

Für den Triumph der MAS gibt es viele Gründe. Evo Morales war und ist deren Identifikationsfigur. Aber bei der Wahl 2019 kandidierte er für eine vierte Amtszeit, die dritte in Folge unter der neuen Verfassung Boliviens von 2009 ­– dabei lässt diese nur eine Wiederwahl zu. Das verärgerte auch ehemalige Mitstreiter*innen und erleichterte der Rechten die Mobilisierung.

Morales und die MAS siegten zwar im Oktober 2019, unter Vorwürfen des Wahlbetrugs wurde Morales jedoch aus dem Amt geputscht und zur Flucht aus dem Land gezwungen. Er selbst hat Anfang dieses Jahres in seinem Exil in Argentinien eingeräumt, dass es ein Fehler gewesen sei, noch einmal anzutreten.

Die MAS musste für die Neuwahl andere Kandidaten suchen und fand das passende Duo: Luis Arce ist Ökonom und war 13 Jahre Wirtschaftsminister unter Morales, er steht für den wirtschaftlichen Aufschwung der vergangenen Jahre in Bolivien und sprach als Bewerber auch die städtische Mittelschicht an. Der künftige Vizepräsident David Choquehuanca war lange Zeit Außenminister und rechnet sich der indigenen Nation der Aymara zu; er war der Kandidat der sozialen Bewegungen und der ländlichen, indigenen Bevölkerung.

Für die MAS sprach auch die Hoffnung auf Konjunkturerholung unter Ex-Wirtschaftsminister Luis Arce. Die Corona-Pandemie verschärfte die wirtschaftliche Krise in Bolivien, wegen sinkender Marktpreise verringerten sich bereits zuvor die Einnahmen durch den Export von Erdgas. Die De-facto-Regierung hielt die Landeswährung Boliviano zwar stabil, aber monatelange Einschränkungen wie Ausgangssperren oder die Schließung der Märkte traf vor allem Menschen, die Essen und Miete von Tag zu Tag verdienen müssen: Busfahrer*innen, Marktverkäufer*innen, Bäuerinnen und Bauern. Und Schätzungen zufolge arbeiten mehr als zwei Drittel der Bolivianer*innen in solchen informellen Jobs, also ohne Arbeitsvertrag und Sozialleistungen.

Áñez hielt sich fast ein Jahr an der Macht und verschob die Neuwahlen immer wieder

Die Angst, dass sich die wirtschaftliche Situation weiter verschlechtert, war bei vielen so groß wie die Hoffnung, dass sich die Lage mit der Rückkehr des Ex-Wirtschaftsministers erholen könnte und eine MAS-Regierung die weniger privilegierten, von der Krise besonders betroffenen Menschen, stärker unterstützen würde, beispielsweise durch direkte staatliche Geldzahlungen.

Auch die politische Konjunktur sprach für die MAS. Die selbsternannte Übergangsregierung von Áñez sollte eigentlich innerhalb von 90 Tagen Neuwahlen organisieren. Tatsächlich hielt sie sich fast ein Jahr an der Macht und verschob die Abstimmung immer wieder. Von der Corona-Pandemie und der Wirtschaftskrise heillos überfordert, erlangte die De-facto-Regierung Aufmerksamkeit durch Vetternwirtschaft, Zugeständnisse an Oligarchen im Agrarsektor und einen Skandal um den überteuerten Kauf von Beatmungsgeräten.

Nach den Massakern vom November 2019 in Sacaba und Senkata, als Sicherheitskräfte auf Demonstrant*innen schossen und dem neuesten Bericht einer Parlamentskommission zufolge mindestens 20 Menschen von Kugeln getötet wurden, zeigten Áñez und die zuständigen Minister wenig Tatendrang bei der Aufklärung. Mehr Eifer bewiesen sie darin, die Angst vor Evo Morales und der MAS zu schüren und deren Anhänger rassistisch zu beleidigen: Im Januar warnte Áñez via Twitter vor einer Rückkehr der „Wilden“. Gleichzeitig versuchten die Machthaber und ihre Verbündeten, eine Teilnahme der MAS an den Wahlen per Gericht zu verhindern.

Mit Arce und Choquehuanca hat die MAS nun eine zweite Chance. Er werde die Wirtschaft erneut zum Laufen bringen und das Land wieder einen, versprach Luis Arce nach der Wahl. Angesichts der Krise wird es für die künftige Regierung wohl schwieriger, Stabilität und Wachstum zu garantieren. Es bietet sich aber die Gelegenheit, das extraktivistische Wirtschaftsmodell Boliviens mit der Ausbeutung von Rohstoffen und dem großflächigen Anbau von Soja für den Export zu überdenken, da dies die Natur und indigene Territorien zerstört. Zudem ziehen sich Gräben durch die bolivianische Gesellschaft, zwischen Indigenen im Hochland und Indigenen im Tiefland, zwischen Stadt und Land, Arm und Reich, soziale Ungleichheit und Rassismus sind allgegenwärtig.

Der Neustart bietet für die MAS auch die Möglichkeit einer Neuausrichtung nach fast 14 Jahren an der Regierung bis November 2019, vielleicht sogar einer Abnabelung von Evo Morales. Arce gilt als Verbündeter des früheren Präsidenten, der seine Rückkehr nach Bolivien für den 9. November angekündigt hat, einen Tag nach der für den 8. November angesetzten Amtseinführung von Arce. Auf Fragen zu einer politischen Rückkehr von Morales antwortete Arce bislang verhalten: „Er kann jederzeit ins Land zurückkehren, denn er ist Bolivianer. Aber ich habe zu entscheiden, wer Teil der Regierung ist und wer nicht.“

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