Politische Schwergewichte Das Kräftemessen um den Parlamentsvorsitz hält weiter an (Foto: Olga Berrios, CC BY 2.0)
Er sucht die internationale Bühne. Am 23. Januar, genau ein Jahr nachdem er sich in Caracas selbst zum venezolanischen Interimspräsidenten ausgerufen hatte, hielt Juan Guaidó eine Rede auf dem Weltwirtschaftsforum im schweizerischen Davos. Wenige Tage zuvor hatte er Venezuela trotz Ausreiseverbots verlassen. In Bogotá nahm er an einem regionalen Anti-Terrorismus-Gipfel teil, traf den kolumbianischen Präsidenten Iván Duque und US-Außenminister Mike Pompeo. Es folgte die Reise nach Europa mit den Stationen London, Brüssel und Davos, wo er mit mehreren Spitzenpolitiker*innen zusammentraf, darunter dem britischen Ministerpräsidenten Boris Johnson und dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrel. Guaidós Botschaft war überall die gleiche: Die Opposition werde weiterkämpfen, bis sie die „Freiheit“ erlangt habe.
Interne Brüche in der Opposition
Politische Institutionen in doppelter Ausführung
In der von Tumulten begleiteten Abstimmung am 5. Januar hatte Parra angeblich 81 Stimmen bekommen. Anwesend waren laut unterschiedlichen Quellen bis zu 150 Abgeordnete. Die venezolanische Nationalversammlung hat 167 Sitze, von denen mehrere aufgrund von Suspendierungen zurzeit nicht besetzt sind. Neben den 50 Abgeordneten der regierenden PSUV müssten demnach 31 Oppositionelle für Parra gestimmt haben. Doch daran gibt es Zweifel. Zwar gilt als erwiesen, dass das für die Eröffnung einer Parlamentssitzung nötige Quorum von 84 Abgeordneten erreicht wurde. Doch eine Namensliste der Abstimmung veröffentlichte das neu gewählte Präsidium nicht. Später behauptete Parra, die Liste sei gestohlen worden. Gar nicht im Saal war Guaidó selbst, der die Sitzung als amtierender Parlamentsvorsitzender normalerweise hätte eröffnen müssen. Die Regierung hatte das Parlamentsgebäude im Zentrum der Hauptstadt Caracas von Polizei und Nationalgarde absperren lassen und die Abgeordneten vor dem Betreten kontrolliert. Guaidó behauptete, dass er sowie weitere Oppositionelle nicht zum Parlamentsgebäude vorgelassen worden seien. Videoaufnahmen zeigen jedoch, dass er das Parlament sehr wohl hätte betreten dürfen. Doch bestand er gegenüber den dort postierten Nationalgardisten darauf, dass ihn mehrere suspendierte Abgeordnete begleiten. Anschließend versuchte er medienwirksam, über den Zaun zu klettern. Am späten Nachmittag ließ sich Guaidó in den Redaktionsräumen der oppositionellen Zeitung El Nacional dann mit angeblich 100 Stimmen selbst zum Parlamentsvorsitzenden wählen. Sofern beide Ergebnisse stimmen, müssten einige Abgeordnete an beiden Abstimmungen teilgenommen und auch für beide Kandidaten gestimmt haben. Glaubwürdig rekonstruieren ließen sich die Ereignisse bisher nicht.
Showdown der zwei Parlamentspräsidenten
Zwei Tage später hielt Parra zunächst erneut eine kurze Sitzung im Parlamentsgebäude ab, bis Guaidó und seine nach eigenen Angaben 100 Abgeordneten das Gebäude stürmten. Dort wählten sie Guaidó erneut zum Parlamentsvorsitzenden – diesmal am dafür vorgesehenen Ort, an dem sie die „Rückeroberung“ der Nationalversammlung feierten. Seitdem kommt es jeden Dienstag zum Showdown, an dem das Parlamentsgebäude jeweils zeitgleich von beiden Parlamentspräsidenten für ihre jeweilige Sitzung beansprucht wird. Die regierungsnahe Verfassunggebende Versammlung (ANC), die seit Mitte 2017 als eine Art Parallelparlament fungiert, will das Gebäude bis auf Weiteres für eigene Sitzungen nutzen, sofern nicht Parra eine Sitzung beantragt. Die Guaidó-Sektion muss seither auf andere Orte ausweichen – ob mit oder ohne die Anwesenheit des Oppositionsführers.
Tatsächlich ist der Konflikt noch nicht entschieden. Die Regierung Maduro erkannte die Wahl von Luis Parra als rechtmäßig an, auch wenn dieser nach jüngstem Stand keineswegs die Mehrheit der Abgeordneten hinter sich hat. Das oberste Gericht forderte Parra dazu auf, die Teilnahme- und Abstimmungslisten der Sitzung einzureichen, während die US-Regierung Sanktionen gegen ihn sowie sechs weitere Abgeordnete und Regierungsfunktionäre verhängte, denen sie vorwirft, an Maduros „gescheitertem Versuch, die Kontrolle über die Nationalversammlung zu übernehmen“ teilgenommen zu haben.
Doch es geht im venezolanischen Konflikt schon lange nicht mehr um die korrekte Einhaltung von Formalitäten, sondern darum, wer in der Lage ist, seine Verfassungsinterpretation durchzusetzen. Durch die neue Runde im Machtkampf droht die Regierung Maduro weiter an internationaler Unterstützung zu verlieren. Selbst befreundete Regierungen wie die argentinische und mexikanische kritisierten die Militarisierung des Parlamentsgebäudes. Auf der Ebene der Großmächte unterstützen die USA weiterhin Guaidó, während die russische Regierung die Wahl Parras als „legitimen demokratischen Prozess“ lobte.
Aufhebung der US-Sanktionen in weiter Ferne
Guaidó will den Konflikt um das Parlament dazu nutzen, seine verlorene Mobilisierungsfähigkeit wiederzuerlangen und den venezolanischen Machtkampf zurück auf die Straße zu bringen. Es ist voraussichtlich seine letzte Chance, sich als Oppositionsführer zu behaupten. Schon seit Längerem gab es Unzufriedenheit mit Guaidós Kurs. Denn weder gelang es ihm, das venezolanische Militär auf seine Seite zu ziehen, noch führten die US-Sanktionen zu einem institutionellen und sozialen Zusammenbruch des Landes. Auf der Straße konnte er zuletzt kaum noch mobilisieren und zaghafte Verhandlungsversuche unter Vermittlung Norwegens versandeten.
Und es gibt bereits seit Mitte vergangenen Jahres Veruntreuungsvorwürfe gegen Guaidó: Ende November entließ er seinen „Botschafter“ in Kolumbien, den altgedienten Oppositionspolitiker Humberto Calderón Berti. Dieser bekräftigte anschließend, dass Guaidós Umfeld nach dem Versuch, im Februar von Kolumbien aus Hilfsgüter über die Grenze zu bringen, Gelder unterschlagen habe. Dabei soll es unter anderem um Mittel für desertierte Soldaten gehen, die stattdessen für Prostituierte sowie Alkohol ausgegeben worden seien.
Der aktuelle Konflikt ums Parlament offenbart interne Brüche in der Opposition, hat Guaidó aber teils nochmal taktischen Rückhalt verschafft. Die schweren wirtschaftlichen Probleme Venezuelas bleiben derweil ungelöst, während die politischen Gewalten weiteren Schaden nehmen.
Die meisten politischen Institutionen gibt es mittlerweile in doppelter Ausführung, wobei die Opposition die Ämter des Präsidenten, Parlamentspräsidenten, der Generalstaatsanwältin oder der Richter*innen des Obersten Gerichts nur scheinbar und teilweise außerhalb Venezuelas ausübt. Eine politische Lösung, die die Aufhebung der US-Sanktionen und die ausgehandelte Neuwahl aller politischer Gewalten beinhalten müsste, scheint in noch weitere Ferne gerückt zu sein.
Daran wird auch Guaidós Auslandsreise nichts ändern. Die Frage ist, ob er, wie als er im März vergangenen Jahres Lateinamerika bereiste, problemlos wieder einreisen kann.