„Scherben Poesie“ zum Zusammensetzen

„Selbstredend ist es vermessen, ein umfassendes Panorama der aktuellen Poesie Lateinamerikas einfangen zu wollen“, schreiben die beiden künstlerischen LeiterInnen und InitiatorInnen der Latinale, Rike Bolte und Timo Berger, in der von ihnen herausgegebenen Anthologie zum Festival „Scherben Poesie und Zwittertöne“. Schon im Titel spielen sie auf die Vielfalt, die poetischen Brüche und kulturellen Hybridisierungsprozesse innerhalb der jungen Lyrik aus Lateinamerika an. So wie die AutorInnen zwischen dem südlichen Argentinien und der nördlichen mexikanischen Grenze aus ganz unterschiedlichen geografischen und kulturellen Kontexten heraus schreiben, unterscheiden sich auch ihre ästhetischen Ansätze, Formen und Themen.
So scheint die Auswahl für die zweite Latinale eher subjektiv und fragmentarisch, setzt darin aber dennoch klar ihre Schwerpunkte auf zwei aktuelle Tendenzen in der lateinamerikanischen Poesie: die neoindigenistische Dichtung aus den Andenländern und die performative Poesie, die den Vortrag durch gestische, mimische, sonorische und schauspielerische Elemente belebt.
Zu spüren und zu erleben war diese Poesie am zweiten Leseabend im Berliner Instituto Cervantes, dem Veranstalter des Festivals. Hier widmet Paúl Puma (Ecuador) dem Chronisten der Neuen Welt, Pomo de Ayala, ein epenhaftes, lebendig vorgetragenes Gedicht, dort sinniert Washington Cucurto (Argentinien) über ein Fotokopiergerät. Hier evoziert Andrea Cote Botero (Kolumbien) die Stadt mit ihren Gerüchen und verfallenen Häusern, dort lässt Paula Ilabaca (Chile) in ihrer Videoperfomance die Verse sich vor dem Hintergrund der Stadt tranceartig vermehren. Hier bekämpft Angélica Freitas (Brasilien) Einsamkeit, Schlaflosigkeit und Herzschmerz mit einem „Rilke-Shake“, dort vergleicht Carlito Azevedo (Brasilien) die Welt mit einer schwarzen Kuh auf rosa Grund. Alles „Scherben“, die sich zu einem wunderbar vielschichtigen Mosaik der lateinamerikanischen Gegenwartslyrik zusammenfügen.
Die Veranstaltung am Vorabend stand ebenfalls unter dem Motto der poetischen Scherben und literarischen Zwischenräume. Miguel Ildefonso lässt westliche und indigene Kulturen innerhalb Perus in einen Dialog treten, kreuzt Lou Reed, Hölderin, Bukowski und Borges mit der Pachamama, der Mutter Erde, und anderen Elementen der Quechua-Kultur.
Um eine mitunter satirische Reflexion aktueller Geschlechterrollen geht es bei Jessica Freudenthal (Bolivien), die, durchaus selbstironisch, die Scheinwelt des Glanz und Glamours aufs Korn nimmt. Damián Ríos (Argentinien), einer der Hauptvertreter des realismo sucio, eines Schmutzigen Realismus, wartet mit fragmentierten Szenen aus dem urbanen Alltag in Buenos Aires auf.
Und Hector Hernández Montecinos (Chile) sucht schließlich in seiner kritischen Wasch-Performance eine Metapher für seine Poesie, sein Leben und sein Land: Während er seine poetische, universelle „Publikumsbeschimpfung“ vorträgt, wäscht er als Mapuche-Frau verkleidet seine eigene schmutzige Wäsche auf der Bühne.
Zwei Abende zuvor war der erste Lektürestopp des mobilen Lyrikfestivals Köln gewesen, wo die DichterInnen im Literaturhaus ihre Texte vortrugen und die Übertragungen ins Deutsche von den Kölner DichterInnen gelesen wurden. Während der beiden Abende in Berlin dagegen konnte das Publikum die deutschen Übertragungen als Projektion im Hintergrund mitlesen. Einige der gut gelungenen deutschen Versionen entstanden sogar erst während des Festivals, nämlich im Rahmen des Übersetzungsworkshops am Lateinamerikainstitut der FU Berlin. An dieser Auftaktveranstaltung der Latinale nahmen neben einigen der DichterInnen professionelle ÜbersetzerInnnen sowie Studierende verschiedener Universitäten teil. Weitere poetische Haltestellen auf der Reise stellten das KuZe Potsdam (Literaturnacht e.V.), das Kulturhaus 73 in Hamburg sowie das Literaturhaus Leipzig dar.
„Lateinamerikanische Poesie“ – diese Bezeichnung sei nicht an geopolitischen Merkmalen festzumachen, sondern habe zum Beispiel auch spanischsprachige Literatur aus den USA und Kanada mit einzuschließen, gab Amaranta Caballero Pradozu aus Mexiko zu bedenken beim abschließenden Poesie-Gespräch im Ibero-Amerikanischen Institut in Berlin. Das Internet als virtueller, grenzüberschreitender öffentlicher Raum scheint diese Einschätzung zu bestätigen. Viele der gehörten Texte wurden zuerst in Blogs oder virtuellen Zeitschriften publiziert, wie etwa auf der zweisprachigen Plattform latinlog.com. Das Internet dient den DichterInnen dabei zugleich als Bibliothek und direktes, unmittelbares Verbreitungsforum, jenseits von Zensurbeschränkungen.
„Scherben Poesie und Zwittertöne“ – dieser Titel mag einerseits als ein Bild für die Vielstimmigkeit und die vielfältigen Grenzüberschreitungen innerhalb der jungen Lyrik aus Lateinamerika verstanden werden, andererseits verweist er vielleicht – paradoxerweise – auch wieder auf ein verbindendes Element der vorgestellten Texte. So sind viele der Gedichte durch die poetische Fragmentierung der Erfahrungswelten gekennzeichnet. Es sind oft Momentaufnahmen, die von der Brüchigkeit des Ichs und den sich auflösenden Gewissheiten innerhalb der (post)modernen Gesellschaften erzählen.
In Scherben liegen dabei vielmals auch traditionelle ideologische, literarische und politische Deutungsmuster. Die jungen AutorInnen distanzieren sich von den großen lateinamerikanischen Boom-Autoren genauso wie von stereotypen politischen Einteilungen. Die Ablehnung eindimensionaler Interpretationsmodelle mündet jedoch keinesfalls in politische Beliebigkeit. Vielmehr reflektieren die DichterInnen aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen wie zum Beispiel Phänomene der postindustriellen Warengesellschaft, indem sie diese einerseits kritisch beleuchten und sich andererseits ihrer Zeichen und Symbole gleichzeitig bedienen. Sie sich diese also zu ihren poetischen Zwecken aneignen und verwandeln.

Rike Bolte, Timo Berger (Hg.) // Scherben Poesie und Zwittertöne. Zwölf Dichterinnen und Dichter aus Lateinamerika // SuKulTur // Berlin 2007 // 8 Euro

Im Zeichen einer Poesie der Gegenwart

“Wer kann sich heutzutage, ohne ein gewisses Unwohlsein, hinsetzen und ein Gedicht schreiben, ein Kunstwerk erschaffen? Wir schreiben, notieren, nehmen wahr. C‘est tout. Das andere überlassen wir jenen immunen Wesen, die der Wahnsinn unserer Ära, der offensichtliche menschliche Niedergang, die Zerstörung des Planeten, nicht erschüttern kann; jenen, die immer noch an das fertige Gedicht, das schöne Objekt, das Kunst-Ding glauben.”
Es scheint schwer zu glauben, dass ein Dichter solche Worte über Dichtung und die Rolle des Schriftstellers sagt. Rafael Cadenas ist zwar die gegenwärtige, sehr problematische Beziehung zwischen der Wirklichkeit und der Arbeit des Schreibens bewusst. In der Tat macht er keinen Unterschied zwischen beidem, denn die Sprache ist nicht nur Teil des Lebens, sondern sie ermöglicht auch unsere Kenntnisse der Welt und deren Verstehen. Sprache gehört zu der Gesamtheit, die sie versucht, auszudrücken und vor der sie ständig flieht. Dichtung ist eine untrennbare Vereinigung von Denken und Sprache, die ineinander greifen und erst so Form annehmen. Trotz dieser Verfolgung prägt die Welt unsere Wörter mit Eindrücken von Krieg, Durst, Liebe, Unheimlichkeit und Ideen. Von dieser Symbiose spricht Cadenas in einem seiner Gedichte: „Wir steigen aus einer Erzählung auf, um zu leben./ Vor dem Sein waren wir Darsteller (…)/Der blasse Gedanke hielt uns schwebend über der Erde./Danach waren alle Orte Königreiche.“ Und darum darf heutzutage der Dichter nichts anderes tun, als Kommentare, Anmerkungen oder Skizzen schreiben, weil es absurd scheint, nur ästhetischen Aspekten im Gedicht Beachtung zu schenken, wenn die Realität ohne Dekor und manchmal sogar ohne Schönheit direkt zu uns kommt. Fragmente statt des modernen abgeschlossenen Werkes. Nacktheit, Präzision und Tiefe der lyrischen Sprache gegen Oberflächlichkeit, Dunkelheit und Manipulation der Leitkultur durch das Fernsehen.
Cadenas stellt die Rolle der Dichtung in unserer Gesellschaft dar und gleichzeitig wird seine Lyrik schlichter, präziser und kürzer; als ob, während der Kritiker die Probleme zeigt, der Dichter Lösungen dafür anwenden würde oder umgekehrt. Die Menschlichkeit geht im Laufe der Technisierung des Lebens verloren, und das erste Symptom dafür ist die Armut unserer Worte. Sprache funktioniert als Brücke zwischen uns und der Vergangenheit, ist existenzielle und kulturelle Wurzel des Daseins. Auf der anderen Seite ist sie die Referenz, die uns auf einer verändert scheinende Welt bestehen lässt: „Meine Häutungen verwandeln mich zur Inexistenz./Nur eine Stimme bin ich, eine Stimme, die sich auch verwandelt.“
Die Verarmung der Sprache führt zur Schwächung der Individuen, eine Schwächung ihrer Selbstbestimmtheit, Freiheit und Rationalität und ist eine Konsequenz der Krise der Gesellschaft, die durch Konsumpropaganda und utilitaristische Bildung vertieft wird. In diesem Sinne kann die Dichtung Widerstand gegen die Mechanisierung des Menschen und den Herdentrieb sein. Zu diesem Thema veröffentlichte Cadenas auch einige Artikel in Lenguaje y realidad auf den Spuren von Autoren wie Karl Kraus, Rilke, Pedro Salinas und George Orwell, die sich auch mit der Wichtigkeit der Sprache als letzte Heimat des Daseins in diesem Kontext befassten. Cadenas folgt ihrer Meinung, wenn sie versuchen, das alltägliche Sprechen zu erklären und zu verbessern. Es geht allerdings nicht um die Dekadenz unserer Kultur, beziehungsweise die Permanenz einer Hochsprache, und auch nicht um die bürgerliche Geste, womit man den eigenen Status Quo voreinander zeigt. Ganz im Gegenteil handelt es sich um die Beziehung zwischen Denken und Sprache. Was wir denken können und was wir sagen, hängt wie ein einziger unzerreißbarer Faden zusammen. Darum ist es sinnvoll, sich um die Art des Sprechens zu kümmern. Darum kämpft der Dichter als Individuum nicht nur gegen die Isolation dieses Fadens sondern auch gegen Klischees, Stereotypen und die Spaltung zwischen Denken und Dichten. Allerdings gibt es in diesem Kampf weder Gewinner noch Besiegte – nur Kontrast: „Dichter überzeugen nicht./Sie siegen auch nicht./ Ihre Rolle ist eine andere, fern der Macht: Kontrast sein.”
Rafael Cadenas, geboren 1930 in Barquisimeto, Venezuela, veröffentlichte 1946 sein erstes Buch Cantos Iniciales. Aufgrund eines von Marcos Pérez Jiménez geführten Militärputsch ging der Dichter vier Jahre lang ins Exil. Während seines Aufenthaltes in Trinidad schrieb er das Buch La isla (1958). Zurück in seiner Heimat wurde sein bekanntestes Gedicht Los Cuadernos del destierro (1960) veröffentlicht. Danach erschienen Sachbücher über Literatur und Sprache, sowie mehrere Gedichtbände wie z. B. Realidad y Literatura (1979), En torno al lenguaje (1985), Gestiones (1992) oder Apuntes sobre San Juan de la Cruz y la mística (1995). Rafael Cadenas hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, unter anderen den Staatlichen Literaturpreis (1985) und den Internationalen Pérez Bonalde-Preis für Poesie (1992).
Im Jahr 2002 wurden einige seiner Gedichte in der Sammlung Poesie venezuelienne du XXe siecle (Verlag Editions Patino) in Deutschland veröffentlicht. Zuletzt nahm er am IV. Festival Lateinamerikanischer Poesie (vom 15. bis zum 19. Mai 2007) in Wien teil.

Der Kopf kann sich nicht senken

Paulo César Fonteles de Lima (1949-1987) war ein Überlebender der brasilianischen Militärdiktatur. Weil er in den Reihen der linken Untergrundorganisation Ação Popular (Volksaktion) versucht hatte, den Widerstand gegen das Regime zu organisieren, wurde er 1971 verhaftet. Dort hat man ihn auf entsetzlichste Weise gefoltert. Sein Buch legt davon Zeugnis ab.
Den ersten Teil bildet ein Zyklus aus 49 Gedichten, in denen Fonteles so nah wie möglich an das konkrete Erleben heranführen möchte. Er benutzt eine dokumentarische Lyrik, die mit wörtlichen Zitaten der Folterer ebenso arbeitet wie mit harten Benennungen, etwa in „Papageienschaukel“: „Zwei Böcke / Eine Eisenstange. // Man fesselt ihn an den Handgelenken / Und Fußknöcheln / Wie ein Schwein das zum Markt geht.“ Dazwischen finden sich etwas distanziertere, reflektierende Verse, in denen Erinnerungen an die Zeit vor der Haft auftauchen, Beobachtungen über Mitgefangene oder schmerz- und sehnsuchtsvolle Gedanken an seine Frau. Diese war im fünften Monat schwanger, wurde aber ebenfalls inhaftiert und gefoltert . Nur selten ist dagegen von den politischen Rahmenbedingungen die Rede, kaum einmal taucht „der Kampf des Volkes“, tauchen „die Kameraden“ auf.
Dabei waren offenbar gerade diese Rahmenbedingungen für Fonteles entscheidend. Hierüber informiert der zweite Teil des Buches, ein ausgreifender Essay des Übersetzers Steven Uhly – ein Glücksfall für die Publikation. Uhly versteht es hervorragend, den historischen Kontext verständlich und den Autor darin begreifbar zu machen. Nach seinen Angaben ist es Fonteles gelungen, die Folter und Verhöre durchzustehen, ohne jemanden zu verraten. So konnten viele noch entkommen. Und er gab nicht auf, als er aus der Haft entlassen wurde, sondern nahm noch während der Diktatur den Kampf wieder auf. Im Amazonasgebiet unterstützte er Landarbeiter, die sich gegen betrügerische Großgrundbesitzer wehrten. Von deren Schergen wurde er schließlich ermordet – 1987, als die Militärdiktatur bereits praktisch vorbei war.
In den Essay ist ein Bericht über die Hafterlebnisse aufgenommen, den Fonteles 1978 in einer Untergrundzeitschrift veröffentlicht hat. Auch dieser Bericht ist zutiefst beeindruckend. Was aber ist im Vergleich dazu das Spezifische an der lyrischen Form? Sie enthält durch Verknappung und Rhythmisierung bedeutungstragende Elemente, die der fortlaufende Text nicht bieten kann. Durch sprachliche Repetition etwa kann sie die fürchterlichen Methoden der Folter nachbilden („Wir werden deine Mutter nehmen / Wir werden deine Mutter nehmen / deine Mutter / deine Mutter / Wir werden deine Mutter nehmen / deine Mutter / Wir werden deine Mutter nehmen.“).
Dabei bleibt ein großer Rest, der einen Nichtgefolterten von der Erfahrungswelt des Autors trennt. Aller Würde, aller Selbstbeherrschung, allen Schamgefühls beraubt zu sein, von einem anderen Menschen äußerste Schmerzen zugefügt zu bekommen und gezielt an die Grenze des Todes geführt zu werden – das sind und bleiben Worte für den, der es nicht erlebt hat. Allenfalls eine Ahnung davon vermittelt Fonteles. Diese Ahnung aber könnte glaubwürdiger kaum sein.

Paulo César Fonteles de Lima: Wenn der Tod sich nähert, nur ein Atemzug. Gedichte. Port./dt., mit einem Essay vom Übersetzer Steven Uhly. Matthes & Seitz, Berlin 2006, 192 Seiten, 22,80 Euro.

„Keine Angst: das Scheitern ist das einzige, was ich vollendet beherrsche“

Die Gefahr des Scheiterns als Poet dürfte Floridor Pérez als Angehörigem der „Generación del 60“, der Generation chilenischer Dichter, deren literarisches Leben durch die Militärdiktatur jäh abgebrochen wurde, vertraut sein. Der 1937 in Südchile geborene Autor, der bereits 1965 erste Gedichte publiziert hatte, bezeichnet seinen Weg daher auch gerne als „desarrollo frustrado“, als verhinderte Entwicklung. Seit 1990 veröffentlicht er aber wieder und erlangte mit seinem neuesten Band Tristura große Aufmerksamkeit in Chile. Mit dem Sammelband „Für einen Fisch ein Flügel zuviel“ wird er nun erstmals auch dem deutschen Publikum vorgestellt.
„Nach Neruda Dichter in Chile zu sein ist eine solch schwierige Aufgabe, dass die Lyrik sich in einer Art antirhetorischer Revolution radikalisiert hat, die Antipoesie genannt wird“, schreibt der chilenische Autor Antonio Skármeta in seinem Vorwort zu Floridor Pérez‘ spanisch-deutschen Gedichtband. Pérez jedoch ist weder Antipoet noch versucht er sich darin, Neruda als großen nationalen Dichter nachzuahmen. Sein Blick auf die Dinge bleibt offen und frei. Er steht zwischen den zwei Hauptströmungen der chilenischen Lyrik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – der Antipoesie und der klassischen nach Neruda – und schafft es, beide zu verbinden.
Seine Poesie als Landlyrik zu bezeichnen würde Floridor Pérez nicht gerecht werden. Dennoch wird sie häufig als solche, nämlich als poesía rural klassifiziert, spiegelt sie doch zunächst das ländliche Paradies des südlichen Chiles wider. Oberflächlich betrachtet zeichnet Pérez in Gedichten wie Algunas tardes oder El alba eine verzauberte, in sich geschlossene Welt. Dass der Autor aber kein idealisiertes Bild vom ländlichen Chile zeichnen will, wird beim zweiten Blick sofort klar. Ironisch-humorvoll spricht er von der Schlichtheit und den Unwegsamkeiten des Landlebens, von abgewrackten Kleinbussen in En un bus rural oder bitterkalten Winternächten in La casa muy vieja.
Bereits in Gedichten wie diesen wird aber auch deutlich, dass für Floridor Pérez Themen wie Liebe, Tod, Verlust immer zentral sind. Sie lassen auch eine enge Verbindung zwischen der eigenen Biographie des Dichters und seinen Texten entstehen: In dem vorgezogenen Grabgedicht Pre-Epitafio resümiert er vorab sein eigenes Leben.
Die großen Themen der Lyrik bilden auch die Basis der politischen Lyrik, welche der Dichter seit 1973 schreibt. Nicht nur die Herausgerissenheit aus dem ländlichen Leben, sondern vor allem die unmenschlichen Bedingungen einer acht Jahre dauernden Inhaftierung unter der chilenischen Militärdiktatur fließen in die weiterhin nostalgisch geprägten und doch subtil anklagenden Gedichte ein. Floridor Pérez spricht in dem Band Cartas de prisonero die schreckliche Realität an, ohne zu plakatieren oder zu polemisieren; seine Werke sind von einer Ruhe gezeichnet, durch die der Schrecken, die Grausamkeit erst recht zur Geltung kommen. Dabei schafft der Autor zudem die schwierige und unerwartete Verbindung von Liebesdichtung mit politischer Lyrik und deutet damit an, wie sehr ihn die Liebe zu seiner Frau Natacha positiv gestärkt hat. Ein eindrucksvolles Beispiel ist das Gedicht „La victoria“, das nach kurzer prägnanter Beschreibung der Angst vor Folter und Tod in der Haft mit den Worten schließt: „Nach Steintagen Mauermonaten erwartetest mich du am Tor der Kaserne und das war mein Sieg!“
Das von Friederike von Criegern de Guiñazú übersetzte Buch ist eine Sammlung von Gedichten aus verschiedenen Bändern, teilweise in veränderter und überarbeiteter Fassung. Dieses Vorgehen ist typisch für Pérez, der immer wieder bereits Publiziertes aufgreift, verändert und in neue Zusammenhänge stellt. Wie man das schwierige Unterfangen, Lyrik adäquat zu übersetzen meistern kann, demonstriert de Guiñazú eindrucksvoll. Die deutschen Texte vermitteln wunderbar den Grundton der Gedichte und bleiben dabei dem Stil des Originals treu. Der spielerische Umgang mit der Sprache, die graphische Gestaltung mancher Texte, fast im Stile einer konkreten Poesie wie die Gedichte „Mariposa, ¿…?“, und „Velero“ sowie viele der genialen Wortspiele und Doppeldeutigkeiten funktioniert auch in der sehr lesenswerten deutschen Übersetzung.

Floridor Pérez: Für einen Fisch ein Flügel zuviel. Spanisch-deutsch, Übersetzung von Friederike Criegern de Guiñazú. Satzwerk Verlag, Göttingen 2006, 188 Seiten, 15 Euro.

Die selbstverständliche Körperlichkeit

Auf dem Schreibtisch steht ein Glas Nutella zwischen Videokamera und Laptop. Es ist kühl in dem großen, spärlich eingerichteten Raum und dämmrig, weil er im Erdgeschoss liegt. Ricardo Domeneck serviert heißen Kräutertee mit Zucker.
Süß, kalt, dunkel – das Gehirn wandelt in Worte um, was ihm die Nerven signalisieren. Für den Künstler ist diese Selbstverständlichkeit Grundlage seines Schaffens.
Als Dichter hatte er in Brasilien angefangen, heute mischt er in Berlin Worte mit Performance und Videos. „Ich will den Menschen ihre Körper zurückgeben“, erklärt er. Das hört sich dann etwa so an: Die zur Muscheln gewölbten Hände nähern sich/ dem Gesicht in dem Moment/ als dieses sich zu ihnen hinabbeugt/ ohne dass sie sich unterwegs/ verpassen
Die Koordination von Muskeln, Nerven und Sinnesorganen fasziniert, aber kaum einer nimmt sie vor dem Waschbecken bewusst wahr. „Seit der Aufklärung haben die Menschen vergessen, dass sie einen Körper haben“, sagt Ricardo Domeneck. Deswegen macht er ihn zum Thema.
Seine Statur selbst ist unauffällig. Er ist dünn, fast zart, und nichts an ihm ist groß. Der Brasilianer macht kleine, schnelle Schritte und spärliche Gesten mit den Händen. Schräg stehende Augen unter spitzen Augenbrauen geben seinem Gesicht etwas von dem Fabelwesen Faun. Das Größte an ihm ist seine Stimme, sie hat einen tiefen Klang, der in den Ohren angenehm vibriert.
Ricardo Domeneck wählt seine Worte mit Bedacht und formt sie sorgfältig. Sein Akzent liegt irgendwo zwischen nasalem Brasilianisch und gutturalem Englisch. Wenn ihm ein deutsches Wort nicht gleich einfällt, benutzt er das englische. Denn eine Station auf seinem Weg von Brasilien nach Deutschland waren die USA, wo er mit 16 ein High School Jahr verbrachte. Das war der erste Ausbruch aus der brasilianischen Kleinstadt, in der er 1977 geboren wurde und aufwuchs. Er war „ein Außerirdscher“: Schon früh wusste er, dass er schwul ist, und bereits mit 13 Jahren begann er Gedichte zu schreiben. „Das ist ein Klischee, aber alle fangen früh an“, vermutet Ricardo Domeneck und lächelt, den Kopf schief gelegt. Seine ersten Werke waren Schulzeichnungen, die er zu kleinen Geschichten zusammenfügte, so wie er heute Video und Dichtung verbindet.
Er hatte Freunde, war nicht isoliert, aber passte einfach nicht in die Welt von der Kleinstadt Bebedouro in der Nähe von São Paulo. Er wollte kein „kleines Leben“, wie es sich seine Freunde schon mit Anfang zwanzig aufbauten: Familie, Job, Haus.
Deshalb waren die USA für ihn eine Befreiung, auch wenn er im konservativen Lousianna landete, wo er auch nicht sagen konnte, dass er Männer liebte. Neben gutem Literaturunterricht an der High School schloss er in den USA Freundschaft mit einem Deutschen, der in derselben Familie zu Gast war wie er. Durch ihn lernte er auf einer Europareise Deutschland kennen.
Dann folgten São Paulo, ein nicht abgeschlossenes Philosophiestudium und eine „intensive Ausbildung“ in der Literaturbibliothek. „In dieser Zeit habe ich nicht geschrieben, nur gelesen, weil ich meine eigene Stimme nicht mehr fand“, erinnert er sich. Literaturwissenschaft zu studieren kam für ihn nicht in Frage, weil er den historischen Ansatz der Lehre nicht mochte. Er wollte die Texte verstehen, anstatt sie in Schulen und Epochen zu zwängen: „Die Texte müssen dabei immer zu kleine Klamotten tragen“, findet er.
So suchte sich Ricardo Domeneck eine neue Herausforderungen. Er fand sie in einer Gruppe StudentInnen, die sich jeden Mittwoch trafen, um Stücke von Brecht zu lesen. Zu der Leserunde stieß ein Regisseur, und inspiriert von Brecht erarbeiteten die SchauspielerInnen ein Theaterstück. Domeneck sollte eigentlich die improvisierten oder übernommenen Texte zusammenführen, aber schließlich spielte er auch mit. Sie wählten verschiedene Orte für die Aufführungen, weil der Regisseur meinte, dass „Theater das Theater verlassen muss“. Für den Brasilianer aus dem provinziellen Bebedouro war das eine wichtige Erkenntnis: Sprache, auch Dichtung, ist nicht abstrakt, nicht zu trennen von dem Kontext, in dem sie entsteht und aufgeführt wird.

Melodien, die Grenzen auflösen

Vielleicht ist deswegen auch auf dem Video, das Ricardo Domeneck zu seinen Gedichten zeigt, sein Zimmer zu sehen: Durch das geöffnete Fenster blicken die ZuschauerInnen in die leuchtenden Blätter des Baumes vor dem Fenster, darunter steht der Künstler im Gegenlicht. Er versetzt sein Publikum in den Raum, in dem die Worte entstanden, die er vorliest. Bilder und Text sind gleich wichtig, betont er, weder sollen seine Videos die Gedichte illustrieren, noch will er mit seinen Worten die Bilder erklären.
Ricardo Domeneck gibt den Versen eine neue Melodie, irgendwo zwischen deutsch, englisch und portugiesisch, spielt mit Lautstärke und Geschwindigkeit. Mit der Hand drückt er sich die Kehle zu und klingt, als müsse er gleich weinen. Ein Tonfall, der Gänsehaut verursacht, physisch traurig macht, der Körper macht sich bemerkbar, das wollte er ja erreichen. Um den ZuschauerInnen ihre Körperlichkeit bewusst zu machen, setzt er die seine ein. „Ich gebe mich Preis, das ist etwas sehr Persönliches, als würde ich mich nackt ausziehen“, beschreibt er es.
(..) der öffentliche Körper/ den ich als Bühne/ ausstelle Frucht/ der Frucht/ des Absenders/ das Innere in der Ferne/ der Haut (…)
Minutenlang atmet er ins Mikrofon, wird schneller, während er auf dem Video liegend, mit nacktem Oberkörper zu sehen ist, unter Wasser, atemlos. Als der Atem ins Mikrofon abbricht, taucht der Körper auf dem Video aus dem Wasser auf.
Eine erotische Szene? Oder ist sie eher beängstigend? „Meine Kunst ist offen“, sagt Domeneck, „Es gibt einen flow, aber keine festgelegte Narration. Und vieles spielt sich beim Zuhörer und Betrachter ab.“
In Brasilien hat er Texte für das Theaterprojekt geschrieben, aber nicht gedichtet. Zu seiner Stimme fand er erst zurück, als er zum zweiten Mal in Deutschland war. 2000 kam er nach München zu seinem Freund, den er in den USA kennen gelernt hatte. Die Erfahrung, ein Ausländer zu sein, überall außerhalb zu stehen, selbst in Brasilien, inspirierte ihn:
Überrascht, wie viel von der Welt/ mir nicht gehört, wie/ lustig, (wieder/ einmal) zu entdecken, dass ein neues Land/ nicht mit einem neuen Körper einhergeht
Doch obwohl er wieder schrieb, fand Ricardo Domeneck die bayerische Metropole schrecklich, weil er keinen Zugang zu den Menschen fand. Ganz anders ging es ihm in Berlin: „Hier war ich ein Ausländer, aber es war okay“, sagt er. Die Stadt gefällt ihm mehr als alle anderen europäischen Großstädte, denn „Berlin ist gleichzeitig provinziell und kosmopolitisch.“ 2004 zog der Brasilianer in die Hauptstadt, seit 2005 veranstaltet er jeden Mittwoch die Berlin Hilton Party in der Kulturbrauerei. Sie entstand als Party für seine Freunde: „Berlin Hilton ist eigentlich eine Verlängerung unseres Wohnzimmers“. Seitdem bewegt Ricardo Domeneck sich kaum noch aus seinem Kiez in Prenzlauer Berg hinaus. Hier sind seine Freunde, seine Party und seine Lieblingskneipe: Das „Wohnzimmer“.
Sein Geld verdient er mit der Kamera in der Hand und vor dem Laptop. Von der Kunst leben kann er nicht. Aber sein Job als Journalist für das Internetmagazin Flasher.com kommt seinen Interessen entgegen: Mit der Kamera interviewt er Künstler, vor allem Musiker. Viele davon sind schon bei seiner Party aufgetreten.
In seiner Kunst bedeutet Ricardo Domeneck die Arbeit mit dem Medium Video viel, denn seiner Ansicht nach interessiert sich niemand mehr für Dichtung: „Wenn die Lyrik überleben will, muss sie vom Papier wegkommen.“ Vielleicht, gibt er nachdenklich zu, sind die Videos auch eine Flucht vor Wörtern. Er will Grenzen auflösen, zwischen Bild und Wort, Geist und Körper. Dazu braucht er keine großen Metaphern und verschlungene Sätze: „Die Welt ist selbstverständlich, aber wir sind süchtig nach Symbolen,“, meint er, „ich lasse diese Symbole weg und rede über die Selbstverständlichkeiten“. Denn was die implizieren, das ist für ihn das Entscheidende. Sie werfen ihn immer wieder auf das Körperliche zurück:
Das plötzliche Straffwerden/ der Angelschnur vom Maul/ des Fisches zur Hand des Fischers: Angelhaken/Köder, Fisch
Aber dieses Bild findet/ keine Entsprechung in meinem Organismus und/ ich schaue erneut/ auf meine Füße

Die Armseligkeit, „ich“ zu sagen

Die Popularität der 1920 in
Montevideo geborenen Idea Vilariño gründet allein auf ihren Gedichten – eine bemerkenswerte Ausnahme im Literaturgeschäft. Die Öffentlichkeit hat sie stets gemieden, Preise abgelehnt, Interviews verweigert (eine lesenswerte Ausnahme findet sich unter www.jornada.unam.mx/2004/ago04/040808/sem-elena.html).
Ihre Gedichte aber sind in aller Munde, vor allem Los orientales, ein Lied gegen die Militärdiktatur von 1973-85, das in der Vertonung von Pepe Guerra zur Hymne des Widerstandes wurde. Die vorliegende Auswahl An Liebe enthält hingegen kaum politische Lieder, sondern Liebesgedichte, die auf ihre Weise nicht weniger intensiv gelesen wurden und werden. Viele von ihnen kreisen um ein Schlüsselerlebnis, nämlich das Ende einer Beziehung und die Einsamkeit nach der Trennung. (Der Geliebte war übrigens der uruguayische Schriftsteller Juan Carlos Onetti; zumindest er ist hierzulande kein Unbekannter.)
An Liebe, der rätselhaft-schöne Titel dieser Ausgabe, der Wörter anklingen lässt wie „Andenken“ oder „Anrede“, heißt im Zusammenhang: „Ich möchte sterben/ jetzt/ an Liebe/ damit du wüsstest/ wie und wie sehr ich dich geliebt habe.“
In immer neuen Variationen benennt Vilariño den Schmerz, sie spricht mit dem Geliebten, erinnert ihn an veraltete Versprechungen, sie lässt ihre Hände den nicht mehr anwesenden Körper fühlen, beklagt die Armseligkeit, „ich“ zu sagen, wo doch das „wir“ verloren ist. Diese Motive sind alles andere als neu, sie bilden als Trias „Liebe, Einsamkeit, Tod“ vielmehr das uralte Repertoire der Lyrik schlechthin. Auch geht Vilariño sparsam mit individualisierenden Details um. Obwohl also nichts besonders auffällt und man meint, das kenne man alles schon, haftet diesen Gedichten nichts Repetitives, Routiniertes an. Präzis wirken sie, stimmig und – einfach. So, als könnte es gar nicht anders gesagt werden. „Ich kenne deine Zärtlichkeit/ wie die Fläche meiner eigenen Hand./ Manchmal, zwischen zwei Träumen, fällt sie mir ein/ als hätte ich sie schon einmal verloren.“
Gut, dass diese Ausgabe zweisprachig gestaltet ist: so kann man sich den Originalklang herbeirufen, der Vilariño sehr wichtig ist. Denn in freien Versen, wie die Übersetzungen suggerieren, ist das Original nicht geschrieben. Das Spanische kennt statt der deutschen Hebungszählung die Zählung der Silben pro Zeile. Die beiden Königsversmaße sind der Sieben- und der Elfsilber. Und sie tauchen immer wieder auf, mal durch Zeilenumbrüche versteckt, mal ganz offensichtlich.
Vilariño schreibt in einer langen Tradition spanischsprachiger Lyrik: die Liebesgesänge des spanischen Barockdichters San Juan de la Cruz tönen ebenso nach wie die modernistische lateinamerikanische Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts – die gerade in Uruguay und dem kulturell verschwisterten Argentinien eine ganze Reihe hervorragender LyrikerInnen aufzuweisen hat. Verwurzelung und Originalität: Hier dürfte der Schlüssel der hohen Popularität liegen. Dem Nachwort ist zu entnehmen, dass von Vilariño sogar an Häuserwänden etwas zu lesen war.

Idea Vilariño: An Liebe. Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Spanischen von Peter Schultze-Kraft, Erich Hackl und Dorothee Engels. Nachwort von Erich Hackl. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2005, 133 Seiten, 11,80 Euro.

Gott malt

Die Kulisse: Tag und Nacht züngeln in einem Kohlebecken auf einem hohen Sockel Flammen in den Himmel. Sie erleuchten die königlichen Gemächer, Hofküchen, Bäder und Gärten der präkolumbischen Hauptstadt Texcoco. An der Ostseite liegen die Archive und die Schulen der von einer hohen Mauer umgebenen Stadt. – So beschreiben es die mexikanischen Archäologen und die Aufzeichnungen, die Franziskaner kurz nach der Eroberung von Nachkommen der heimischen Adelsklasse in deren Sprache, dem Náhuatl, anfertigen ließen. Es ist die Kulisse einer Geschichte, die durch die ebenfalls erhaltene Lyrik ihres Protagonisten, dem Dichter Nezahualcóyotl, einen intensiven Einblick in das Seelenleben eines Herrschers erlaubt.
Nezahualcóyotls Biographie würde Stoff für mehrere Bühnenstücke hergeben. Im Laubwerk eines Baumes versteckt, sah er als Junge die Ermordung seines Vaters durch Krieger der Tepaneken mit an. Zehn Jahre verbrachte er dann auf der Flucht. Seine Haushälterin ließ er hinrichten, weil sie gegen das Gesetz Pulque [alkoholisches Getränk aus dem fermentierten Saft von Agaven, Anm. d. Red.] verkauft hatte oder ihn verraten wollte. Der Herrscher von Chalco, der ihn beschützt hatte, verurteilte ihn deshalb zum Tode. Seine Tanten bewirkten eine Begnadigung und erreichten, dass er nach Texcoco zurückkehren konnte. Endlich Herrscher geworden, verliebte sich Nezahualcoyotl in eine Kindfrau und ließ sie von seinem Halbbruder erziehen. Als dieser starb, heiratete dessen Sohn nichtsahnend die Herangewachsene. Nezahualcóyotl soll daraufhin in tiefe Melancholie verfallen und im Wald von Texcotznico lange an den Ufern eines Sees herumgewandert sein.

Klage des Einzelnen

Vielleicht vollzog sich hier die Wandlung des Prinzen zum Poeten, der uns als einer der ersten namentlich erwähnten präkolumbischen Dichter bekannt ist: „Kostbar wie Jade sprießen / deine Blüten, du, durch den alles lebt! / Wie duftende Blüten sich vollenden / und ihre Kelche öffnen, gleich wie der bläuliche Makao – / Nur einen flüchtigen Augenblick / ist der Mensch bei dir, an deiner Seite.“
Die Klage über die Flüchtigkeit des Lebens, Flucht, Zweifel an der Existenz Gottes – „Bist du wahrhaftig, hast du Wurzeln? / Nur der, der über alle Dinge herrscht, / ist der Lebensspender. / Ist das wahr? / Ist es vielleicht nicht so, wie man sagt?“ – das sind die Themen, die den Rahmen einer rituellen, kollektiven Dichtung, die sich auf ein mythologisches Fundament beruft, deutlich sprengen. Hier spricht ein Einzelner: Nezahualcóyotl, Dichterfürst, glückloser Herrscher eines den Azteken benachbarten Reiches.
Über 30 ihm zugeschriebene Gesänge wurden von Heiderose Hack-Bouillet zum ersten Mal ins Deutsche übertragen. Sie verglich die Náhuatl-Quelle mit den von den mexikanischen Anthropologen Ángel María Garibay und Miguel León-Portilla erarbeiteten Übertragungen. Dabei hatte sie immer wieder zu entscheiden, inwieweit die Chronisten nach der Conquista in der Wortwahl das Resultat der uns erhaltenen Dichtung beeinflussten.
Manche Verse Nezahualcóyotls erinnern in der deutschen Übertragung fast an japanische Haikus. Eine genau bestimmte Fauna und Flora – ob da nun, wie das sorgfältige Glossar Auskunft gibt, von Rabenblüten oder von dem Lerchen ähnlichen Orangetrupial die Rede ist – gibt den Gedichten eine erstaunliche Präzision und zeugt von einer lustvollen Aneignung des konkreten Moments. Doch der Mensch, so eine immer wiederkehrende Metapher, ist nur ein schnell verblassendes Gemälde. Das passt ins Reich der abertausenden, von den Konquistadoren vernichteten Bilderschriften.

Heiderose Hack-Bouillet: Nezahualcóyotl. Blumen und Gesänge. Leben und Werk eines mexikanischen Dichterkönigs des 15. Jahrhunderts. scaneg Verlag, München 2005, 120 Seiten, 13 Abb., 13,80 Euro

Milchglasfenster zur Welt

Schon 1947, zwei Jahre vor Gründung der DDR, erschien in der Sowjetischen Besatzungszone das erste Buch eines lateinamerikanischen Schriftstellers: Jacques Roumains Herr über den Tau. Mit seiner Handlung – eine von Dürre geplagte Dorfgemeinschaft in Haiti erkämpft sich ein Bewässerungssystem und setzt sich erfolgreich gegen Rassendiskriminierung und obrigkeitliche Bevormundung durch – passte dieser Roman gut in eine Umbruchsgesellschaft hinein, die soeben die Folgen der Bodenreform von 1945/46 zu verarbeiten hatte und einen stalinistischen Kampf gegen „Ausbeuter und Unterdrücker” führen sollte. Literatur galt den Machthabern damals als propagandistisches Instrument, als „Waffe im Klassenkampf”, wie es Friedrich Wolf formulierte. Und verlegt wurde, was in diesem Sinne zu gebrauchen war.
Das war aber nur die eine Seite. Die andere findet sich in einem Tagebucheintrag Viktor Klemperers, dessen Frau Eva Klemperer den Roman übersetzt hatte: „Enthusiasmus um Roumain. Aber man zieht dem Titel ‘Dürstende Erde’ – ‘Herr über den Tau’ vor. Hauptgrund hierfür: weil Dürstende Erde in Verbindung gebracht werden könnte mit der Bodenreform, was manche Leser abstoßen könnte.” Offensichtlich achteten die Verantwortlichen darauf, nicht allzu direkt zu agitieren, sondern dem Niveau der Leserschaft gerecht zu werden. Verlegt wurde also auch, was gefiel, anregte und bildete: Schließlich hatte man im Konkurrenzkampf der ideologischen Lager den Ruf zu verteidigen, dass das „humanistische Erbe” der Weltkultur dem Sozialismus gehörte.

Das Nachwort als
Unbedenklichkeitsnachweis

In diesem Spannungsfeld zwischen Indienstnahme und hohem Anspruch untersucht Jens Kirsten die Publikationsgeschichte lateinamerikanischer Literatur in der DDR. Nachdem in den fünfziger Jahren das Pendel am stärksten in Richtung Propaganda ausschlug und sich Interessanteres eher in der Lyrik fand (Pablo Neruda, Nicolás Guillén), brachten die sechziger Jahre den Durchbruch. Am Beispiel des Romans Der Herr Präsident von Miguel Ángel Asturias im Verlag Volk und Welt 1961 kommt Kirsten zu einem erstaunlichen Ergebnis. Obwohl in der DDR-Kulturpolitik gerade Eiszeit herrschte und die SED-Führung die Schriftsteller auf den „Bitterfelder Weg” in die Fabriken abkommandierte, konnte mit Der Herr Präsident ein Diktatoren-Roman erscheinen, über dessen Übertragbarkeit auf andere Diktaturen sich die Verlagsmitarbeiter durchaus im Klaren waren. Anhand von Verlagsgutachten weist Kirsten nach, dass ein sozialistisch-realistischer Scharfmacher, der den Roman in Bausch und Bogen aburteilte, ihn dennoch nicht verhindern konnte. Statt dessen wurde im Nachwort der historische Hintergrund ausgebreitet und im Klappentext – zur Sicherheit – darauf hingewiesen, dass Asturias den guatemaltekischen Diktator Cabrera zum Vorbild genommen habe.

Stasi ohne viel Einfluss

Ob ein Buch in der DDR erscheinen konnte, lag nicht allein an der Entscheidung der Zensurbehörde, und auch die Staatssicherheit scheint letztendlich nicht stark eingegriffen zu haben.
Von großer Bedeutung war statt dessen, wie geschickt ein Gutachter ablehnungsrelevante Passagen eines „schwierigen” Buches umdeutete und seine Vorzüge herausstrich. Bestimmte Dissidenten – zum Beispiel die Kubaner Reinaldo Arenas, Herberto Padilla oder Guillermo Cabrera Infante – wurden zwar nie publiziert. Aber Octavio Paz, Jorge Luis Borges, José Lezama Lima, Augusto Roa Bastos und Mario Vargas Llosa, alle nicht des sozialistischen Realismus verdächtig, konnten früher oder meist später erscheinen.
Andersherum wurden Bücher aus ästhetischen Gründen abgelehnt, obwohl sie ideologisch auf Linie lagen – geschehen bei Jorge Amado, von dem viel, aber schließlich nicht mehr alles übernommen wurde.
In dem differenzierten Bild, das Kirsten von den Publikationshintergründen zeichnet, liegt eine der großen Leistungen dieses Buches. Es ist aber nicht nur für DDR-Interessierte lesenswert: Flüssig und anregend geschrieben, kann jeder, der sich für lateinamerikanische Literatur erwärmt, beim Stöbern in alten Geschichten sein Vergnügen finden. Man begegnet herausragenden Autoren, die längst vergriffen sind und auf ihre Wiederentdeckung warten: Jacques Stéphen Alexis, Roger Mais. Und merkwürdige Begebenheiten sind zu erfahren, so das Missgeschick, die Übersetzungsrechte an Hundert Jahre Einsamkeit nicht gleich 1967/68 gekauft zu haben, obwohl García Márquez bis dahin nur in der DDR erschienen war. Kiepenheuer & Witsch war entschlossener, und die DDR musste die Lizenz später teuer erwerben. Oder wer hätte gewusst, dass im Verlag Volk und Welt nur fünf lateinamerikanische Bücher pro Jahr erscheinen durften, Nachauflagen inklusive, und dass die Platzhirsche wie Neruda und Amado daher neuen Autoren im Weg standen?
Trotz all dem real Wunderbaren, zu dem auch eine beeindruckend umfassende Bibliographie zu DDR-Büchern aus und über Lateinamerika gehört, hat Kirsten eigentlich nur ein halbes Buch geschrieben, nimmt man den Titel wörtlich: Eine Publikationsgeschichte ist es wohl, aber die Wirkungsgeschichte fällt fast völlig unter den Tisch. Der Weg Nerudas und Ernesto Cardenals in die Lesebücher, die Auftritte diverser Autoren auf Festivals und Veranstaltungen, die Straßen-, Schul- und Klubhausnamen – darüber hätte man nur allzu gern etwas gewusst. Wie lateinamerikanische Bücher schließlich ganz persönlich gelesen wurden, das ist wissenschaftlich sicherlich nicht systematisch aufzuarbeiten. Aber ein paar subjektive Eindrücke hätten sich gelohnt. Haben die DDR-Verlage das Bedürfnis nach Fenstern zur Welt befriedigt? Oder haben sie nicht vielmehr, indem sie mit ihren internationalen Titeln ein paar Milchglasfenster in die Mauer einbauten, eher den Drang verstärkt, die Scheiben rauszudrücken?

Jens Kirsten: Lateinamerikanische Literatur in der DDR. Publikations- und Wirkungsgeschichte. Ch. Links Verlag, Berlin 2004, 45 Euro.

Pablo Neruda wird Hundert

Ich kam hierher, um zu singen/ und auf dass du mit mir singst“, lasen ostdeutsche Jugendliche in den 80er Jahren in ihren Schulbüchern. Ein Vers Pablo Nerudas aus „Ich bin nur ein Dichter“, der freundlich klingt, nur – um welches Lied ging es dabei? Die DDR-Didaktikzeitschrift Deutschunterricht gab verbindliche Auskunft: Neruda diente der „Erziehung zum proletarischen Internationalismus“. Die Schüler sollten die „sozialistische Parteilichkeit (Nerudas) im Sinne konkreter Parteinnahme für die Erfüllung der historischen Mission der Arbeiterklasse“ erkennen. Das haben sie offenbar begriffen. Eine Lehrerin berichtet an derselben Stelle über die Interpretation eines Spanien-Gedichtes in ihrer Klasse: „Als besonders eindrucksvoll wurde die konsequente Parteilichkeit der künstlerisch gestalteten Aussage, dass der Klassenfeind vernichtet werden muss, da er keine menschlichen Züge mehr trägt, hervorgehoben.“
Keinem gelernten DDR-Bürger wäre zu verdenken, dass der Name Neruda für ihn vergiftet ist. Für die DDR war Pablo Neruda schon 1949 ein prominenter internationaler Verbündeter mit Massenwirkung, der bevorzugt publiziert wurde – ganz anders als im Westen, wo die ersten Ausgaben in den 60er Jahren erschienen und er nie in die Schullehrpläne gelangte. In Ost wie West gleichermaßen gewann er enorm an Popularität, als 1970 die Unidad Popular an die Macht kam, Neruda 1971 den Literaturnobelpreis erhielt und er 12 Tage nach dem Pinochet-Putsch im September 1973 einen fast mythischen Tod erlitt. Die solidarische Sympathie machte ihn überall zu einer festen Größe, und auch im Westen verehrten ihn Erich Fried, Günter Grass und Dorothee Sölle in ihren Gedichten.

Vom einsamen….
Ost und West gleichen sich allerdings auch darin, dass man vor eher unangenehmen Seiten des Dichters die Augen verschloss. Denn immerhin war der Jubilar jahrelang Anhänger Stalins und Propagandist der sowjetischen Sache im Kalten Krieg. Er hat sich nicht besonders glaubwürdig davon distanziert und er schwieg bei der Verfolgung missliebiger Schriftstellerkollegen. Der hundertste Geburtstag am 12. Juli 2004 bietet nun reichlich Gelegenheit, auch den schwierigen Neruda in Augenschein zu nehmen.
Von besonderem Interesse war stets, wie aus dem stillen Eisenbahnersohn, der seine Kindheit im verregneten Süden Chiles verbrachte, ein energisch politisierender Dichter wurde, der schließlich überall auf der Welt volle Auditorien vorfand. Zu Beginn sah es danach nicht unbedingt aus: Neruda studierte in Santiago, schrieb Gedichte und konnte ansonsten knapp überleben. Eine Anstellung als Botschafter in Südostasien versprach finanzielle Abhilfe, aber vier mies bezahlte lange Jahre verschärften vor allem die melancholische Einsamkeit. Hier beginnt er dennoch seinen vielleicht besten, weil am wenigsten auf die Publikumswirkung ausgerichteten Gedichtzyklus Aufenthalt auf Erden (1933/35), der ihm hohe Anerkennung einbringt – höhere noch als die Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung (1924), die heute zu den unbestrittenen Longsellern internationaler Lyrik gehören.
Den Einschnitt brachte Nerudas Ernennung zum Konsul in Spanien im Jahre 1934. Im Bürgerkrieg 1936-39 stellte er seine unbändige Wortmächtigkeit in den Dienst der spanischen Republik, machte er Mut, klagte er an, stellte er bloß, lobte und verdammte er. Der politischen Niederlage der Republikaner stand Nerudas persönlicher Erfolg gegenüber: gefragt zu sein, die Menschen tatsächlich zu erreichen, helfen zu können. Literarisches Zeugnis dieser Zeit ist Spanien im Herzen, das noch heute zu den großen aufrüttelnden Antikriegstexten der Weltliteratur gezählt werden kann.

…zum politisierenden Dichter
1945 lässt er sich in Chile in den Senat wählen und tritt der Kommunistischen Partei bei. Als diese 1948 verboten wird und Neruda verhaftet werden soll, geht er in den Untergrund und kann 1949 schließlich auf Schleichwegen das Land verlassen. In dieser Zeit entsteht Der Große Gesang, ein Epos über Geschichte und Gegenwart Lateinamerikas, in dem Neruda die Lösung aller Probleme bei der Kommunistischen Partei und bei Stalin als ihrem Leitstern sieht. Trotz der sprachlich vielgestaltigen Überzeugungskraft – inhaltlich ist der 600-Seiten-Band eher einfach gestrickt. Die Guten sind die amerikanischen Ureinwohner und alle „einfachen Menschen“; die Bösen kommen stets von außen, zunächst als spanische und portugiesische Eroberer, dann als Yankees. Die „Befreier“ treten hinzu als eine Goldader, die in Gestalt der Kommunisten schließlich zu Tage tritt.
Das Echo auf Der Große Gesang ist gewaltig. Sofort vielfach übersetzt, erscheinen in der DDR Auszüge bereits 1950, die von Erich Arendt besorgte Gesamtübersetzung 1953. Das Buch erschließt dem internationalen Publikum einen bis dahin literarisch und historisch fast unbekannten Kontinent, zugleich reiht er Lateinamerika fest an der Seite der Sowjetunion ein – mitten in der ersten heißen Phase des Kalten Krieges.
Dass Neruda an die Seite Stalins wollte, ist verständlich, wenn man seine persönliche Verfolgungsgeschichte bedenkt – er suchte wohl die größtmögliche Potenz gegen die Feinde des Kommunismus. Was hingegen erstaunt, ist, wie lange es Neruda an Stalins Seite gehalten und mit welcher Konsequenz er die inneren Widersprüche ausgehalten hat. Von 1949 bis 1952 reist er quer durch die Welt und nimmt immer wieder an Veranstaltungen teil, auf denen er sich unzweideutig und undifferenziert äußert – ganz im Sinne jenes Freund-Feind-Schemas von Der Große Gesang.

Keine Solidarität mit Pasternak
Die neue Neruda-Biographie des britischen Publizisten Adam Feinstein macht deutlich, dass Neruda im Kalten Krieg mit zweierlei Maß misst – zum Beispiel im „Fall Pasternak“. Boris Pasternak gehört um 1950 zu den prominentesten Fällen politischer Verfolgung in der Sowjetunion, wovon Neruda selbstverständlich weiß. Schon 1949, auf einem Kongress in Ungarn, weigert er sich, für Pasternak zu sprechen, weil dieser nicht eindeutig genug politisch Partei genommen habe. Und bei einer Rede 1950 in Guatemala äußert er sich zu dem „Gerücht“, dass „in der Sowjetunion Schriftsteller, Musiker und Wissenschaftler ihre Werke nach den Forderungen einiger weniger Machthaber formen müssten: Dies ist eine weitere Verleumdung der internationalen Reaktion.“
Als er in Warschau Ende 1950 den Internationalen Friedenspreis erhält, fordert er in seiner Dankesrede von John Steinbeck den Einsatz, den er selbst abgelehnt hat: „Was kannst du uns über (den in den USA verhafteten kommunistischen Autor) Howard Fast sagen? Bist du einverstanden damit, dass ein großer Schriftsteller aus Jeffersons Land seine Romane in einer Gefängsniszelle schreibt? Steinbeck, was hast du für deinen Bruder getan?“
Frucht der Reisen jener Jahre ist der Gedichtband Die Trauben und der Wind (1954). Dort wird Mao und seine „Partei mit ihrer Strenge und Liebe“ gerühmt, dort werden die „Jungen Deutschen“ auf fast chinesische Weise besungen: „… mit Blüten im Munde,/ erhebt ihr die Liebe über die Erde,/ das Wort Stalin/ auf Lippen-Millionen/ erwachset ihr zum Glück.“ Der Gipfel ist Nerudas Klagelied über Stalins Tod, das an Pathos und Kitsch vieles Vergleichbare übertrifft: „Seine Schlichtheit und seine Weisheit,/ seine Art/ gütigen Brotes und unbeugsamen Stahls/ hilft uns, Mensch zu sein an jeglichem Tag,/ hilft uns jeden Tag, Mensch zu werden.“

Neruda, Sekretär für Phantasie
Ebenfalls 1954 erscheint der erste Band der Elementaren Oden, die in serieller Weise eine neue Ordnung der Dinge errichten wollen. Die menschenfreundliche Phantasie dieser Texte hat viele Liebhaber gefunden, allein die im Vorwort beanspruchte Rolle des Autors stößt bitter auf: Er sei ein „unsichtbarer Mensch“, der von aller Welt gebeten werde, ihr Sprachrohr zu sein („die Menschen/ wollen mir sagen,/ dir sagen,/ warum sie kämpfen“). Es ließe sich das Verhältnis der kommunistischen Parteiführung zu den „Massen“ assoziieren – auch da wussten einige Auserwählte, was alle wollten, und täuschten sich angeblich nie.
Die 1956 von Chruschtschow eingeleitete Entstalinisierung, insbesondere die Enthüllungen über die Stalinschen Lager, erschüttern Neruda und stürzen ihn in eine mehrwöchige Krise. In seinen Memoiren und im autobiographischen Gedichtzyklus Memorial von Isla Negra (1964) legt er schließlich Rechenschaft über sein Verhältnis zum Stalinismus ab. Darin erzeugt er selbst den Eindruck einer von Blindheit geprägten, aber doch bewältigten Phase, der sich bis heute hält. Aber ein Blick in den Memorial-Zyklus lohnt.
In deutlichen Gedichten äußert Neruda sein Entsetzen über Stalin und den Terror, und unter dem Titel „Wir schwiegen“ bekennt er: „Wissen ist Schmerz. Und wir wussten es:/ Jede aus dem Dunkel hervorgesickerte Kunde/ bescherte uns das nötige Leid:/ Jenes Gerücht wurde tausendfach Wahrheit.“ Dann aber folgt in „Die Kommunisten“ ein trotziges Dennoch: „Wir sind das reine Silber der Erde,/ des Menschen wahrhaftes Erz,/ wir verkörpern das Meer, das währende:/ die Feste der Hoffnung:/ eine Minute Dunkelheit macht uns nicht blind:/ wir werden in keiner Agonie mehr hinsterben.“ Nerudas Selbstreflexion reicht insgesamt nicht weiter, als es die offizielle Linie vorgab. Die Verdammung von Stalinkult und Lagerterror und das sehr allgemeine Eingeständnis, selbst involviert gewesen zu sein und geschwiegen zu haben, hat dem „reinen Erz“ des Kommunismus nichts anhaben können.

Wie man Geschichte entsorgt
Dass der 1953 erhaltene Stalin-Preis später rückwirkend in Lenin-Preis umbenannt wird, lässt den Namen Stalin – wie überall – auch aus Neruda-Biographien verschwinden. Damit steht der Osten allerdings nicht allein: Als Neruda in den 60er Jahren im Luchterhand Verlag erscheint, werden dort alle Gedichte mit der Erwähnung Stalins ausgelassen oder gekürzt. Stalin wird aus dem öffentlichen Raum verbannt, und der eigene, mitpraktizierte Stalinismus wird einfach abgelegt. Vom „Fall Pasternak“ oder anderem Verschulden verlautet bei Neruda kein Wort. Er bagatellisiert diese – von so viel persönlichem Engagement getragene – Phase als „Minute Dunkelheit“ und unterscheidet sich von der offiziellen, der verlogenen sozialistischen Welt in diesem Punkt nicht.
In anderen Punkten schon. 1966 reist er in die USA, obwohl ihn die kubanischen Genossen unter Druck setzen, abzusagen. Sie strafen ihn dafür mit einem bitterbösen Brief ab, der ihn sehr verletzt. Und nach der sowjetischen Invasion in die Tschechoslowakei 1968 gibt er in einem Gedicht seine Zerrissenheit zu Protokoll, bleibt aber letztlich loyal.
Dieser Wandel macht es leichter, am 12. Juli 2004 auch dem stalinistischen Neruda in den Erinnerungen Platz zu geben. Denn so selbstverständlich eine Auswahl bei der individuellen Lektüre ist, so fatal ist sie für die umfassende Würdigung Person. Denn man weicht einer Reihe von Fragen aus, die nicht nur biographisch zu klären wären, sondern unsere eigene Identität betreffen, egal ob direkt beteiligt oder nicht: War die Überzeugung sozialistischer Künstler, auf der richtigen Seite zu stehen und die anderen auf der falschen Seite zu wissen, nur ein Betriebsunfall? Waren die Kompromisse mit der diktatorischen Führung unvermeidlich? Und ist das Verschweigen entschuldbar?

Das Brot der Dichtung für die Massen

Schon 1949, im Jahr der Gründung der DDR, gaben Anna Seghers und Stephan Hermlin den ersten Gedichtband von Pablo Neruda heraus, und es folgten rasch viele weitere Neruda-Übersetzungen. Wie erklären Sie dieses frühe und große Interesse der DDR an ihm?

In der Zeit, als Neruda populär wurde, fehlte in der sozialistischen Welt ein Dichter wie Majakowski. Majakowski war in den zwanziger Jahren der große Barde gewesen, und für ihn gab es keinen Ersatz. Die deutschen Lyriker der Emigration, die nach dem Krieg in die spätere DDR zurückkamen, die hatten nicht dieses Format. Hermlin hatte kein großes Werk anzubieten, Johannes R. Becher war ausgelaugt und hat sich dann als DDR-Kulturminister verausgabt. Es fehlte eine Integrationsfigur, die die richtige politische Botschaft massenwirksam unters Volk brachte. Dafür hat sich Neruda gut geeignet. Was ihn zum Volksdichter machte, war das Hymnische. Wenn Sie sich eine Aufnahme von ihm anhören – er trug seine Gedichte fast wie ein Priester vor, der das Brot der Dichtung an die Massen verteilt. Das hatte er mit Majakowski gemein, oder später noch einmal mit Jewgeni Jewtuschenko – ganz im Gegensatz etwa zu Brecht, der ein sehr cooler Interpret seiner eigenen Dichtung war.

Neruda ist ein vielseitiger Lyriker, vor allem thematisch. Mit der politischen Indienstnahme hat das aber wahrscheinlich nicht zusammengepasst.

Zuerst standen Nerudas Texte seit dem Spanien-Krieg im Vordergrund, das heißt, das große antifaschistische und proletarische Element, das Neruda im Dienste der sowjetischen Politik weltweit vertreten hat. Es ist folgerichtig, dass die ersten übersetzten Bücher Der Große Gesang, die Elementaren Oden und Die Trauben und der Wind waren. Da man den großen Neruda nicht nur auszugsweise veröffentlichen kann, gerät man schon bald in Zugzwang mit den Gedichten, die einen eher surrealistischen Ton anschlagen: Aufenthalt auf Erden, darin Gedichte wie „Der Tango des Witwers“ oder „Walking around“. Hier geht Neruda zurück auf die spanischen Traditionen, auf Góngora, auf die französischen Surrealisten, und das zu einer Zeit, wo die DDR-Kulturoffiziellen weit davon entfernt waren, sich mit solchen Dingen zu beschäftigen. Das galt ja als Dekadenz! Insofern war Neruda für uns nicht nur die Fahne, die uns voranwehte, sondern auch jemand, der sich enorm gewandelt hat in seiner Zeit und der einer der ersten war, der die Bürokratie und das Langweilige und Rituelle des sozialistischen Alltags erkannt hat. Ich denke da an die wunderbaren Zeilen in Memorial von Isla Negra, wo er beschließt, angesichts der öden Erste-Mai-Feiern nur noch den 2. Mai zu feiern. Er war uns immer wieder einen Schritt voraus.

Zunächst einmal hat Neruda aber den Ersten Mai – sozusagen – kräftig mitgefeiert. Zumindest verbal war er bis zur berühmten Chruschtschow-Rede 1956 Anhänger Stalins. Wie erklären Sie sich, dass er sich – trotz seiner guten Kontakte zu höchsten politischen Kreisen — so spät vom Stalinismus abgewandt hat?

Ich denke, es dauerte so lange, bis er einen zweiten Mann gefunden hatte, den er verehren konnte – und das war Fidel Castro. Den Kult um Stalin verlagerte er auf die kubanischen Genossen, später dann auf Salvador Allende. Er brauchte wohl einen Politiker, der ihn auf dieser Bühne vertrat. Dass Neruda selbst gerne eine direkt politische Rolle gespielt hätte, hatte sich ja schon 1945 gezeigt, als er für die Kommunistische Partei in den chilenischen Senat ging, und dann noch einmal 1969, als er sich als Präsidentschaftskandidat aufstellen ließ und zugunsten von Allende zurücktrat.

Dennoch: Zu seiner Stalin-verehrenden Phase hat sich Neruda doch reichlich verharmlosend geäußert, zum Beispiel in seiner Autobiographie Ich bekenne, ich habe gelebt. Kann man diesen Neruda verehren?

Ja, selbstverständlich kann man das. Warum haben so viele Menschen, die wussten, was Stalin für ein Schwein war, ihn gelobt und unterstützt? Weil sie wussten, dass nur diese Kraft etwas gegen Hitler und den Faschismus ausrichten kann. Das war bei Neruda nicht anders. Zudem war er vorübergehend Stalinist, nicht bis zum Ende. Die Frage lässt sich verlängern auf Brecht, auf Hermlin, auf eine ganze Reihe von Dichtern, die ja auch in dem Sinne Stalinisten waren.

Gerade Der Große Gesang, das erste umfangreiche Neruda-Buch, das in der DDR erschien, ist inhaltlich ziemlich veraltet: Die Welt wird eingeteilt in Gut und Böse, und die Lösung liegt bei der Kommunistischen Partei und bei Stalin. Wie gehen Sie mit diesen Gedichten um?

Vieles davon lässt sich heute nur noch literaturgeschichtlich lesen. Aber: Neruda hat ein großes, vielfältiges Werk geschrieben, und bei meiner Gedicht-Auswahl für den gerade bei Luchterhand erschienenen Band habe ich keinen besonders weiten Bogen schlagen müssen. Die Stalin-Gedichte haben mich einfach nicht interessiert, und ich habe diese drei, vier Gedichte, in denen das so direkt ausgedrückt wird, einfach überlesen.

Was ist Ihnen statt dessen an Neruda wichtig?

Ein Dichter, der im Namen des Proletariats, der Weltrevolution durch die Welt fährt – der entdeckt plötzlich die Welt, und zwar die Welt, die er selbst mitgebracht hat, die lateinamerikanische! Er ist ein gesamtamerikanischer Erbe von Walt Whitman – historisch gesehen, aber auch, wenn Sie sich die Natur, den Urwald, die ganze Kosmographie dieses Kontinents bei Neruda anschauen. Daraus geht der Sammler Neruda hervor, der alles, was das Meer so anschwemmt, in seinen Häusern versammelt hat. Und schließlich der große Liebende Neruda. Es ist der Neruda der Elementaren Oden, des Extravaganzenbreviers, der mich fasziniert, der Neruda, der versucht hat, die ganze Welt in einer Person zu versammeln. Es gibt für mich keinen Dichter, der so total Welt veranschaulicht, spiegelt, wie Neruda.

Im Westen wurde Neruda zwar schon in den 60er Jahren verlegt, aber erst in der Allende-Zeit und nach dem Pinochet-Putsch wirklich bekannt. Und vor allem die westliche Linke hat ihn gelesen, er war auch dort – in anderem Sinne als in der DDR – ein Parteidichter. Gilt es, Neruda heute neu zu entdecken? Brauchen wir heute eine neue Neruda-Lektüre, und was könnte die bringen?

Natürlich wird jede Generation ihren eigenen Neruda lesen, insofern braucht es immer wieder eine neue Neruda-Lektüre. Die agitatorischen Gedichte, sowohl die für Stalin und China als auch die für die Unidad Popular unter Allende, müssen heute nicht mehr im Vordergrund stehen. Aber wenn Sie ein Gedicht nehmen wie die „Ode auf die Seeaalsuppe“ – das ist ein ganz aktuelles, unvergängliches Stück Literatur. Weder haben andere lateinamerikanische Schriftsteller Neruda überrundet, noch gibt es in der deutschsprachigen Literatur viel Vergleichbares zwischen Enzensberger und Durs Grünbein. Wenn wir behaupten, dass Lyrik vor allem begeistern soll, dann ist Neruda unschlagbar. Bewältigt oder erledigt wird er jedenfalls auch nach seinem hundertsten Geburtstag nicht sein.

Die Welt mit anderen Augen sehen

Wenn von indigener Literatur die Rede ist, herrscht meist der Plural vor. Muss das literarische Schreiben von Indigenen stets zugleich als kultureller Widerstand gelesen werden?

Tatsächlich waren am Anfang die Indio-Bewegungen der Siebzigerjahre diejenigen, die gegen die „Zwangskastellanisierung“ zweisprachige Bildung forderten. In den Achtzigern wurden die ersten Akademien für indigene Sprachen gegründet, 1990 begannen wir Schreibenden uns zu treffen, es gab die ersten Symposien, Stipendienprogramme und Literaturpreise. Einerseits sollten dabei die prähispanischen Traditionen wiederbelebt werden, wie etwa der legendäre Nahua-Dichter Nezahualcóyotl, andererseits ging es um zeitgenössische Manifestation. Zweifellos hatte die indigene Literatur zuerst die Funktion politischer Poesie, die dem Kampf um die eigene Existenz und Anerkennung Ausdruck verleiht. Mit der Zeit und in den neuen Generationen, also denjenigen, in denen die heute zwischen 30- und 40-jährigen sind, wird diese Lyrik reifer. Sie befreit und löst sich von diesen Aufträgen und wird experimentierfreudiger. Die Wunden vernarben allmählich. Diejenigen, die nach uns kommen, sind längst nicht mehr so verletzt, machen nicht mehr so fordernde Literatur und haben die Last des Politischen ein wenig hinter sich gelassen.

Dabei weicht offenbar der Idee einer homogenen Kollektivstimme einer sozial unterdrückten Gruppe zunehmend die Diversität einzelner Stimmen. Ist indigene Literatur überhaupt auf einen Nenner zu bringen?

Wenn überhaupt, sollten wir von einer mesoamerikanischen Literatur sprechen, ausgehend davon, dass wir – über die Sprache hinaus – dem gemeinsamen Nenner der Kulturen Mesoamerikas entstammen. Der Begriff indigen hat diese koloniale Konnotation. Je reifer und souveräner wir werden, desto eher werden wir in der Lage sein, diesen kulturellen Wurzeln auf je eigene Weise in Bilder, Rhythmen, Metaphern und Stilen Ausdruck zu verleihen. Aber das braucht Zeit. Wir haben über 500 Jahre der Leugnung hinter uns und sogar von linguistischer Verfolgung, während derer die Kinder dafür bestraft wurden, die Sprache ihres Dorfes und ihrer Eltern zu sprechen. Da wuchsen Generationen heran, die voller Ressentiments gegenüber ihrer Muttersprache waren. So mussten wir die Dinge lange Zeit hinausschreien. Das muss man heute noch ab und zu, aber nicht ständig. Wir dachten immer, wir befinden uns am Rande der Gesellschaft. Dabei sind wir mitten im Zentrum. Während der nächsten 10, 20 Jahre werden wir eine Blüte indigener Literatur erleben.

Diese wird in Dutzenden verschiedener Sprachen verfasst. Was bedeutet diese Vielsprachigkeit, die sich paradoxerweise meist nur über das Spanische verständigen kann?

Über Jahrhunderte gab es von oben ein Projekt der Homogenisierung und Standardisierung. Dabei sind die einzelnen Regionen immer schon multikulturell und mehrsprachig gewesen. In meiner eigenen Heimat, der Sierra Huasteca, hätten wir als Nahuas in der Schule Otomi oder auch Huasteco lernen müssen, um mit unseren Nachbarn reden zu können. Diese Mehrsprachigkeit galt lange als Nachteil, mittlerweile sehen wir sie als enormen Reichtum. Denn Diversität ist das Paradigma des 21. Jahrhunderts, nicht nur für Mexiko, für die ganze Welt. Ich denke, die nachfolgenden Generationen werden automatisch in einem mehrsprachigen Kontext aufwachsen. Die Kinder in meiner Gemeinde benutzen heute schon mit sechs oder sieben ganz selbstverständlich, wenn auch mehr im Dorfleben als in der Schule, Spanisch und Náhuatl. Sie wertschätzen ihre Sprache und Kultur, von da aus greifen sie auf das Spanische zu und später wird sich auch das Englische für sie nicht mehr als aufgezwungene Fremdsprache anhören. Sondern als weitere Sprache, die die Welt mit anderen Augen zu sehen erlaubt. Und so wird es einen multilingualen Kontext geben, in dem ein horizontaler Dialog möglich wird – lokal aber ebenso international, also auch mit Englisch, Französisch oder Deutsch.

Sie selbst sind ja Ihr ganzes Leben lang zweisprachig gewesen.

Aber ich selbst habe etwa 45 Jahre gebraucht, um wahrhaft und bewusst bilingual zu werden, denn das Spanisch kann ich erst seit rund zehn Jahren wirklich genießen. Vorher war die Zweisprachigkeit aufgezwungen. In unseren Dörfern mussten Kinder und Frauen, die in ihrer Muttersprache redeten, sich noch zur Strafe mit Steinen in den Händen hinknien. Náhuatl und Spanisch haben immer in mir gekämpft. In den Achtzigerjahren sollte alles in Náhuatl sein. Ich sah gar nicht ein, dass das auch in Spanisch erscheinen sollte, es war schließlich mein Ureigenes. Bis zu meinem ersten Mestizen-Buch, darin gibt es Gedichte, die in Náhuatl zu mir gekommen sind und solche, die in Spanisch kamen. Letztes Jahr habe ich dann einen zweiten Durchbruch erlebt, als einige meiner Gedichte – teilweise sogar direkt – ins Englische übersetzt wurden. Das Buch heißt „Der Kolibri der Harmonie“, und es gibt darin Texte in Náhuatl, in Englisch und Spanisch. Ich will jetzt selber Englisch lernen, das hätte ich schon in der Sekundarschule tun müssen. Und dann muss ich auch Otomi noch besser sprechen lernen. Ich will die Vielfalt endlich leben und genießen.

Ist das Schreiben als einsamer Akt ein Risiko oder auch eine Herausforderung – oder vielleicht sogar eine Art Befreiung vom kommunitären Kollektiv?

Eine Herausforderung ist es auf jeden Fall. Und zwar genau die, die die indigenen Völker heute angesichts der Globalisierung leben. Als man mich vor zwanzig Jahren mit der Frage des Weltbürgertums konfrontierte, habe ich noch gesagt: “Wie grässlich! Ich bin doch kein Weltbürger, ich bin aus einem Dorf in Veracruz.” Heute ist mir klar, dass ich ein Bürger der Welt bin, mit einem eigenen Antlitz, einer Geschichte und einer Sprache. Das ist die Herausforderung für den Schriftsteller: wie kann er das Eigene im globalen Dorf bewahren?
Ich habe von den Banden gesprochen: Seit etwa zwanzig Jahren beteilige ich mich an der traditionellen Zeremonie, die wir Jahr für Jahr in meinem Heimatdorf machen, um den Göttern zu danken, die ihren heiligen Platz in der Huasteca haben. Und da bin ich Lehrling und Helfershelfer der Alten, ich nehme ihre Anweisungen entgegen. Viele sagen zu mir, wie kannst du das machen, wenn du doch längst ein internationaler Mensch bist. Aber das eine schließt das andere nicht aus. Wenn ich alle paar Monate in mein Dorf fahre, werde ich zu einem von ihnen, zum Allerkleinsten und Bescheidensten dieser Gemeinschaft.

Auf diese Differenz, und das Plädoyer für Diversität, wird immer wieder in den Reden der Zapatistas verwiesen. Welche Bedeutung messen Sie diesen bei der Verbreitung dieses Paradigmas bei?

Die zapatistische Armee hat nicht nur die sozialen und politischen Strukturen erschüttert sondern die Strukturen des Bewusstseins, bis in die intellektuellen und akademischen Sphären hinein. Hier ging es um mehr, um einen anderen Diskurs: das hegemoniale Modell ist 1994 wirklich gebrochen worden, die EZLN wird zum Katalysator für diese Reflektion und schafft Räume, für indigene und nicht-indigene Denker, Akademiker und Aktivisten. Die Idee stammt jedoch schon, wenn auch nicht mit diesen Worten, aus den Siebzigerjahren: auf dem ersten Indígena-Kongress 1974 haben wir auch schon Zeitungen in unseren Sprachen gefordert und eine Ausbildung, bei der wir das Spanische lernen, aber eben auch Tzeltal, Tzotzil und Tojolobal.

Seit dem Frühjahr 2001 ist kein öffentliches Wort von den sonst so wortgewaltigen Zapatistas zu vernehmen. Wie lesen Sie dieses Schweigen?

Das ist kein stummes Schweigen, sondern eines, das klingt. Ich denke, dass diese Gesellschaft lernen muss, die Arten von Stille zu entziffern. Das Schweigen der Völker seit vier- oder fünfhundert Jahren ist keine Stille, die nicht erklingen würde, die Menschen sind da, mit ihren Mechanismen des Überlebens und des Widerstands. Auch Chiapas schweigt ja nicht, im Innern gärt es doch. Es reicht nicht, darauf zu warten, dass Marcos spricht, um zu verstehen, was los ist. Man muss sich den Eingeweiden nähern, um dem Lärm dieses Schweigens zu lauschen. Und auch das, was daraus an Vorschlägen entsteht.

Schuld am Schweigen ist die Verfassungsreform über indigene Rechte und Kultur, die im April 2001 vom Kongress – im Vergleich zum ursprünglichen Entwurf der parlamentarischen Friedenskommission COCOPA – so extrem verwässert wurde, dass die Zapatistas und viele indigene Gruppen das Reformpapier als Verrat bezeichneten und jede weitere Verhandlung mit Kongress oder Regierung ablehnen. Sie sind nun einer der Unterstützer der Gesetzesinitiative über „Linguistische Rechte“, die dem Parlament seit ein paar Jahren vorliegt. Widerspricht sich das?

Überhaupt nicht. Die so genannte COCOPA-Initiative ist eine Verfassungsreform, unser Entwurf ist auf einer anderen Ebene angesiedelt, nämlich als Ausführungsgesetz zu der 2001 beschlossenen Reform. Dazu muss man ein bisschen ausholen: Seit den Siebzigerjahren hinterfragt die indigene Bewegung das Modell einer homogenen und hegemonialen Kultur und Sprache. In den Achtzigerjahren tritt das etwas in den Hintergrund, Ende der Achtziger gewinnt die Forderung wieder an Gewicht und wird in der Mobilisierung um 1992 (der 500. Jahrestag der so genannten Entdeckung Amerikas, A.H.) unüberhörbar. Das mündet dann in den Verfassungsreformen von 1992, in der Mexiko erstmals als plurikulturelle Gesellschaft festgeschrieben wird. Doch dieser Paragraph bleibt zunächst folgenlos, nicht so sehr als totes Papier denn als Keimzelle, die auf ihre Zeit wartet, wie der Mais, der auch nicht stirbt, sondern auf fruchtbaren Boden wartet. Es gibt also keine Gesetze zu dieser Reform. Bei dem 1996 mit der EZLN unterzeichneten Abkommen von San Andres wird noch einmal ganz klar festgelegt, dass es ein Gesetz zur Förderung indigener Sprachen und Kulturen geben muss. 1997 gibt es dann einen Aufruf indigener SchriftstellerInnen über ethnische, linguistische und kulturelle Diversität und 1998 beginnen wir, die Initiative für eine multilinguale Staatspolitik auszuarbeiten. Die liegt erstmal in der Schublade, wie auch die COCOPA-Initiative, und erst in dieser Legislaturperiode wird sie wieder aufgegriffen. Es gab 10 Anhörungen zum Thema und gegenwärtig liegen dem Kongress immerhin drei Initiativen vor, eine davon von uns, dem indigenen SchriftstellerInnenverband. Wir gehen davon aus, dass spätestens in ein oder zwei Jahren das Gesetz verabschiedet wird.

Das klingt bei Ihnen alles recht optimistisch, im Unterschied zu den Stimmen, die seit dem Sturz des alten Regimes weit und breit kein „neues Mexiko“ entdecken können. Wie beurteilen Sie den Grad der Erneuerung aus indigener Perspektive?

Es ist nicht einfach, einen Jahrhunderte währenden Prozess der Beherrschung und Diskriminierung umzukehren. Im Kampf zwischen Konservativen und Liberalen im 19. Jahrhundert existiert die Urbevölkerung gar nicht, dasselbe passiert bei der Revolution Anfang des 20. Jahrhunderts. Und ein Wandel hängt heute nicht vom Präsidenten, sondern von der gesamten Gesellschaft ab. Aber ich glaube, dass es unter Fox Bemühungen und Signale gibt. Zum Beispiel unsere Abteilung: wir unterstützen Projekte, die von den Dörfern, ihren SchülerInnen und LehrerInnen, selbst konzipiert und verwaltet werden. Zwei, drei Jahrzehnte lang ging der Kampf nur um die Grundschulen. Heute geht es auch darum, dass indigene Sprachen an den Gymnasien gelehrt werden, dass die Universitäten multilinguale Fachbereiche eröffnen, dass es universitäre Lehrerausbildungen gibt. Und zweisprachige Bildung wurde lange Zeit nur als Angebot für die Indios verstanden – und nicht, wie heute vorgeschlagen wird, als interkulturelle Erneuerung für das gesamte Land. Der größte Widerstand dagegen kommt nicht vom Präsidenten, sondern von den Parteien. Da sind viele noch in den Denkstrukturen des 19. Jahrhunderts verhaftet, und zwar quer zu den politischen Lagern.

Einschließlich der Linken?

Durchaus. Die Parteilinke hat einen sehr ideologischen Diskurs, der die Fähigkeiten indigener Völker noch gar nicht verinnerlicht hat. Nehmen wir die Hauptstadt: dort regiert die Linke und hat kein Bewusstsein für kulturelle Diversität. Vielleicht ein bisschen für Sozialpolitik, aber in der Kulturpolitik handelt sie, als gäbe es die Indigenen gar nicht. Im neu gegründeten Kultursenat gibt es keinen einzigen Zuständigen für indigene Kultur. Und Forderungen nach linguistischen Rechten wird als etwas indio-spezifisches gesehen und nicht als Vorstufe zu einer wirklich plurikulturellen Gesellschaft.

Interview: Anne Huffschmid

Mittelamerikanischer Literaturkongress in Berlin

Die Idee war, die Wahrnehmung der Literaturen der zentralamerikanischen Länder in Europa und insbesondere in Deutschland anzuregen. Also wurde dieses Jahr die Möglichkeit genutzt, als Tagungsort das Ibero-Amerikanische Institut in Berlin zu wählen. Ein Großteil der TeilnehmerInnen hatte sich zuvor schon in Eichstätt zu einem Mittelamerika-Symposium getroffen. Allerdings blieb der große Ansturm europäischer Gäste aus – die Mehrzahl der ReferentInnen waren MittelamerikanerInnen. Hervorzuheben ist, dass drei Studentinnen, Johanna Hopfgärtner, Sara Ferraro und Marianne Koch, des Lateinamerika Instituts von der FU-Berlin Vorträge gehalten haben.

Neue Bewegungen in der Literatur

Die Diskussionen waren trotz des vollen Programms lebhaft und die Stimmung unter den TeilnehmerInnen war gut. Es gab Arbeitsgruppen zur Testimonialliteratur, zum Neuen Historischen Roman, zur gegenwärtigen Poesie in Mittelamerika, zur Kulturwissenschaft und zu den Beziehungen zwischen Stadt, Gewalt und Literatur. Autorenlesungen in spanisch und deutsch, u.a. von Gloria Guardia, Julio Escoto, Carlos Cortés und Ana María Rodas boten ein breites Panorama der heutigen mittelamerikanischen Literatur.
Dass der Kongress gerade in Deutschland stattfand, ist für die hiesige Beschäftigung mit Mittelamerika von besonderer Bedeutung. Das Interesse für die zentralamerikanischen Literaturen war in Deutschland bis in die 70er Jahre beschränkt auf wenige Autoren wie Miguel Angel Asturias oder Rubén Darío. In den 80er Jahren stieg die Aufmerksamkeit insbesondere für politische Literatur Mittelamerikas auf Grund der dortigen politischen Entwicklungen. Mit den Demokratisierungsprozessen in den 90er Jahren verringerte sich jedoch das Interesse, und das trotz reger Entwicklungen in der Erzählprosa und der Lyrik. So zeigen u.a. die provokativen Gedichte der Guatemaltekin Ana María Rodas oder der ironische Umgang mit der traditionellen Geschichtsschreibung in den Romanen der Costa-Ricanerin Tatiana Lobo, wie viel sich in der Literatur der Region bewegt. Die von Werner Mackenbach herausgegebene Erzählanthologie „Papayas und Bananen“, die auf dem Kongress vorgestellt wurde, ermöglicht deutschsprachigen Lesern einen Einblick in die Arbeit einer Reihe von mittelamerikanischen AutorInnen.

Eine neue Generation

Auf dem Kongress wurde auch deutlich, dass die Theoriebildung nicht mehr vorwiegend von Europa und den USA ausgeht, sondern dass eine neue Generation von zentralamerikanischen LiteraturwissenschaftlerInnen, die auch in den USA lehren, die Diskussion selbst trägt.
In diesem Jahr wurde das Thema Gender nicht wie in den Jahren zuvor gesondert behandelt. Zwar verwies die hohe Beteiligung von Autorinnen und Literaturwissenschaftlerinnen auf die zunehmende aktive Teilnahme von Frauen am Diskurs. Dennoch stoßen schreibende Frauen in Mittelamerika noch immer auf Misstrauen in ihren Gesellschaften, eine Tatsache, die eine eigene Diskussion nach wie vor erforderlich macht.

Zugedröhnt und abgedichtet

Slam Poetry, Trash Art, fixen, abziehen, rauben, auf der Straße leben und darüber schreiben: Miguel Piñero hieß der Mann und sein Leben währte nur kurze 42 Jahre.
Der exilkubanische Regisseur Leon Ichazo liefert in seinem Film Piñero die Biographie eines New Yorker Gangsterpoeten puertoricanischer Herkunft. Wegen mehrfacher Raubüberfälle und Drogenhandel für mehrere Jahre in Sing Sing eingeknastet, begann er im Gefängnis, über sein Leben zu schreiben. Sein Theaterstück Short Eyes wurde erfolgreich am Broadway aufgeführt und später sogar verfilmt.
In Piñero wird die Geschichte eines gesellschaftlichen Außenseiters, eines kaputten Typen voller Widersprüche erzählt: ein abgerissener Junky, der in seinen Drogenexzessen ein ums andere Mal zusammenbricht und zugleich ein Poet mit scharfer Zunge, der sich durch seine Begabung selbst im Gefängnis Respekt zu verschaffen weiß. Sein Leben scheint aus einer Kette brutaler Überfälle zu bestehen. Um an Geld zu kommen, ist es egal, ob Miguel Piñero schmierigen Dealern Geld und Heroin abzieht, oder seinem Freund, einem Lehrer, der ihn großzügig bei sich übernachten lässt, die Wohnung ausräumt und dessen Möbel auf der Straße verkauft. Andererseits schenkt er einem alten Ehepaar ein großes Bündel Geldscheine, damit sie ihr Lädchen vor der Pleite retten können. Der Lehrerfreund, der Piñero trotz allem schätzt, kommt auf die glorreiche Idee, das „Nuyorican Poet Café“ zu gründen. In der verrauchten Untergrundkneipe trifft sich die Szene der Slam Poetry Artisten und Musiker, und hier blüht auch Benjamin Bratt in der Rolle des Piñero richtig auf. Auf der Bühne rezitiert er mit Leib und Seele seine Gedichte und zieht, mit dunklen Locken, Bart und Barett zur Che-Guevara-Pop-Ikone stilisiert, seine Show ab. Auf den Kunstbegriff „Nuyorican“ angesprochen, faucht Piñero, er sei halb Puertoricaner und halb New Yorker und jede seiner Hälften sei authentischer als seine bürgerliche Umwelt.
Die Freundin Sugar, gespielt von der bildhübschen Talisa Soto, die erfreulich oft in schwarzer Unterwäsche herum tanzt, bringt ihre Beziehung zu Piñero mit den Worten: „Alles was du willst, Mikey. Ich bin deine Hure,” auf den Punkt. Weder Gefängnisaufenthalt noch Erfolg und Anerkennung als Künstler können Piñero beeinflussen. Sein Leben kennt keinerlei Entwicklung außer dem körperlichen Verfall. Der Dichter und Dealer bleibt beim Leben auf der Straße. Mit Heroin und Koks wird Lyrik produziert, und mit viel Alkohol arbeitet er konsequent an seiner Leberzirrhose, der er 1988 schließlich erliegt. Freunde verstreuen seine Asche in den Straßen der Lower East Side. Soweit erkennbar ist dies ungefähr der Plot des Films.
Regisseur Ichazo ist vollständig auf seinen Helden fixiert: Es gibt fast keine Kameraeinstellung, deren Mittelpunkt nicht Piñero ist. Die anderen Charaktere bleiben infolgedessen erheblich blasser, als sie es verdient hätten. Unübersehbar ist das Bestreben des Regisseurs, eine männliche Kultfigur zu schaffen. Dabei ist fraglich, ob ein Charakter, der zwar Widersprüche aufweist, aber keine Entwicklung durchläuft, dafür überhaupt geeignet ist. Der Regisseur scheint sich der Eindimensionalität seines Helden bewusst zu sein. Schlichtes lineares Erzählen hätte diese grundlegende Schwäche sofort deutlich gemacht. So griff der Regisseur zu filmtechnischen Mätzchen. Zahlreiche Wechsel zwischen Schwarzweiß- und Farbfilm bleiben ohne erkennbaren Grund. Der ganze Film besteht aus einem Übermaß an sinnlosen Zeitsprüngen, zusammenhängende Szenen werden zerschnipselt und willkürlich über den ganzen Film verstreut. Der Handlungsstrang lässt sich nur erahnen, wenn man aus Farbe und Tiefe der Augenringe den ungefähren Abstand zum Ableben Piñeros errechnet. Ein kaputtes Leben als Scherbenwelt zu zeigen, ist durchaus legitim. Eine Story durch die Häckselmaschine zu ziehen und als Film zu präsentieren, um über eine nicht vorhandene Tiefe hinweg zu täuschen, ist allerdings ärgerlich. Um mit Piñero zu sprechen: „Can you dig it?“

Piñero; Regie: Leon Ichazo; USA/Cuba 2001; Schwarzweiß/Farbe; 95min. Der Film wird im Panorama der Berlinale (6.-17.2.2002) gezeigt.

Babylon zum Genießen

Die Stadt wird von der Poesie erobert, ist das Credo der VeranstalterInnen des ersten großen internationalen Literaturfestivals in Berlin. 33 SchriftstellerInnen aus aller Welt wurden für das Festival nominiert, über zwanzig weitere Literaten werden aktiv am Festival teilnehmen. Aufgeteilt ist das Festival in Lyrik- und Prosalesungen, in Gespräche zu Leben und Werk von AutorInnen und in Podiumsdiskussionen zu unterschiedlichen Themen. So ist das Festival eine hervorragende Gelegenheit, neue Literatur kennen zu lernen, und Bekanntes zu genießen. So mancher wird dabei und der Frage nach dem Bezug der Literatur zu sozialen, politischen und kulturellen Konflikten in den Diskussionen zwischen SchriftstellerInnen, ÜbersetzerInnen und KritierInnen aus den verschiedensten Kontexten nachgehen. Begleitend zum Festival erscheint eine „Berliner Anthologie“, in der die Lieblingsgedichte der 33 Autoren abgedruckt sind – ein wahrhaft internationales Souvenir aus erster Hand.

Kurzportraits

Von den lateinamerikanischen und karibischen SchriftstellerInnen kommen gleich drei aus Mexiko (Veranstaltungshinweise siehe Kasten).
José Emilio Pacheco (geb. 1939) ist wohl der bekannteste von ihnen und kann zu den bedeutendsten lateinamerikanischen Lyrikern der Gegenwart gezählt werden. In lakonisch-unprätentiöser Sprache kreisen seine Gedichte immer wieder um die Frage der Zeit, der Vergänglichkeit und des Lebendigen in all seinen Formen. Seine Ethik liegt in der Beachtung des Unbeachteten, des differentiellen Blickes: ein Blick der sich jeder Unbedingtheit verwehrt und die Bewegung bejaht.
Mit dem (Natur-)Dichter und Romancier Homero Aridjis (geb. 1940) wird ein Mexikaner das Festival eröffnen. War er zunächst Weggefährte Pachecos, so wechselte er bald von der Akademie in die Politik und engagierte sich dort in verschiedenen Funktiofür eine ethisch-kritische Umwelt-, Friedens- und Kulturpolitik. Zurzeit ist er Vorsitzender des PEN-Club international.
Die dritte im mexikanischen Bunde ist die Essayistin, Lyrikerin und Übersetzerin Pura López Colomé (geb. 1952). Sie gehört zu einer neuen Generation jüngerer AutorInnen Lateinamerikas, die das literarische und poetische Leben der Metropolen heute entscheidend mittragen.
Mit Hugo Gola ist ein Argentinier auf dem Festival vertreten, der 1976 nach Mexiko ins Exil ging und dort bis heute lebt. Er ist mit 77 Jahren einer der ältesten Autoren des Festivals. Neben dem Schreiben von Gedichten, widmet(e) er sich vor allem der Lehre, der Übersetzung und Verbreitung der Poesie anderer Dichter.
Ein weiterer nominierter Autor des Cono Sur ist der uruguayische Dichter und Literaturtheoretiker Enrique Fierro (geb. 1941). Auch er lebte zur Zeit der Diktatur im mexikanischen Exil, kehrte1985 jedoch nach Montevideo zurück. Heute lehrt er an der University of Texas und arbeitet mit lateinamerikanischen Literaturzeitschriften zusammen. In seinen Gedichten wird die Poesie selbst zum Thema. Mittels experimenteller Sprachspiele versucht er, die Grenzen von Sprache, Schrift und Ausdruck auszuloten.
Aus Chile ist der Schriftsteller und Lyriker Raúl Zurita (geb. 1951) vertreten. Im Protest gegen das Pinochet-Regime gründete er mit Freunden die Künstleraktionsgruppe „Colectivo Acción del Arte“. Ab Mitte der 80er Jahre hielt er sich als Stipendiat und Gastprofessor vermehrt im Ausland auf und wurde 1990 zum Kulturattaché seines Landes in Rom ernannt. Moderiert wird seine Lesung von einem anderen chilenischen Schriftsteller und Diplomaten, Antonio Skármeta. Mit Carlos Franz (geb. 1959) nimmt ein weiterer chilenischer Schriftsteller an dem Festival teil, der der Schriftstellerbewegung „Joven Narrativa Chilena“ angehört, die für eine Prosa ohne Pathos steht.
Aus Brasilien kommt die Schriftstellerin Marina Colasanti. 1937 in Eritrea geboren kam sie mit 11 Jahren nach Brasilien. In ihrem literarischen Werk setzt sie sich kritisch mit der Rolle der Frau und dem bürgerlichen Wertesystem auseinander. Sie arbeitete als Journalistin und schreibt Bücher für Erwachsene und Kinder.
Der angolanische Schriftsteller und Journalist José Eduardo Agualusa (geb. 1960) gehört einer neuen Generation afrikanischer Schriftsteller an, die in ihrem Heimatland heute aus politischen Gründen nicht mehr publizieren können (s. LN 306). Er lebte lange Zeit in Portugal und heute in Brasilien. Zentrales Thema seines Schreibens ist der Kulturmix in Angola und Brasilien und damit auch die Geschichte dieser Länder, vor allem die der portugiesischen Kolonialzeit.
Aus der Karibik stammt der Schriftsteller Raphaël Confiant. 1951 auf der Karibikinsel Martinique geboren, schrieb er seine ersten Erzählungen auf kreolisch – ohne Verleger zu finden. 1988 sattelte er auf Französisch um und ist seitdem mit seinen Romanen sehr erfolgreich. Seine Geschichten sind vor allem im Genre des Kriminalromans und des historischen Romans anzusiedeln.
Es wird also einiges zu erlesen geben auf diesem ersten internationalen Literaturfestival in Berlin.

Überfahrten

Eigentlich war die Revolte von 1946, die zum Sturz des Präsidenten Lescot führte, eine literarische Revolution. Im Anschluss an einen Vortrag des französischen Surrealisten André Breton in Port-au-Prince veröffentlichte die Zeitschrift La Ruche einen Band über den Schriftsteller und den Surrealismus. Der Band wurde beschlagnahmt, die Zeitschrift verboten und die Redakteure, allen voran die späteren literarischen Berühmtheiten René Depestre und Jacques Stéphen Alexis, ins Gefängnis geworfen. Der daraufhin von den StudentInnen organisierte Generalstreik war es, der letztendlich den diktatorisch regierenden Präsidenten stürzte.

Diese Revolte ist nur ein Beispiel in einer langen Reihe von Umstürzen und Revolutionen, die die Geschichte Haitis von Anfang an begleitet und geprägt haben. Eines haben dabei alle ihre Parolen gemein: sie verweisen auf die mythenstiftende Kraft der Revolution der schwarzen Sklaven, die 1804 ihre Unabhängigkeit von der kolonialen Unterdrückung erkämpften. Für Aimé Césaire, einen Lyriker der Antilleninsel Martinique, der einst als Kulturbotschafter in Haiti lebte, ist Haiti sogar dasjenige Land, in dem zum ersten Mal überhaupt Schwarze mit der erklärten Absicht aufgestanden sind, eine neue Welt, eine Welt der Freiheit zu schaffen.

Die mythenstiftende Kraft der Revolution

Doch die politische Unabhängigkeit genügte nicht, um der neuen Republik einen sicheren Start in die Zukunft zu sichern. Zu schwer wog die Hypothek, die Frankreich, das erst 1825 nach langen Verhandlungen Haiti seine Unabhängigkeit zugestand, dem Land aufbürdete. Die Abspaltung des Ostteils der Insel (der späteren Dominikanischen Republik) 1844, die US-amerikanische Besatzung Haitis von 1915–1934 sowie die verschiedenen neokolonialistischen Bestrebungen der Großmächte Frankreich und USA begleiten seit etwa zwei Jahrhunderten den dornenreichen Weg Haitis aus Abhängigkeiten unterschiedlicher Ausprägungen.

Die Probleme, mit denen sich die HaitianerInnen auf kulturellem Gebiet auseinander zu setzen haben, hängen mit dieser geschichtlich begründeten Spannung zwischen revolutionär-stolzer Selbstbehauptung und andauernder faktischer Abhängigkeit eng zusammen. Soll die französische Sprache vorherrschen, die Sprache der Kolonialmacht und der haitianischen Elite, die Voraussetzung für höhere Bildung und internationale Kontakte ist – oder das Kreol, jene traditionsreiche, aber erst 1979 amtlich anerkannte Sprache aus französischen, spanischen und afrikanischen Einflüssen, gesprochen von etwa 90 Prozent der Bevölkerung? Woran soll sich eine kulturelle haitianische Identität orientieren – an Frankreich, an Afrika? Was ist das kulturell Besondere, Originäre an Haiti? Und wie ist die ethnische Spannung auszugleichen, die sich vor allem an Abstufungen der Hautfarbe festmacht – der Spannung zwischen der schwarzen politischen Elite und der sogenannten „Mulattenbourgeoisie“, die auf wirtschaftlichem Gebiet die Fäden in der Hand hält?

Zu diesen Konfliktfeldern Sprache, Identität und Hautfarbe kommen weitere hinzu, so im Religiösen der Zwist zwischen christlicher Amtskirche und Vaudou-Volksreligion. Schließlich wirft die massive Auswanderung seit den fünfziger Jahren Fragen über die Stellung der haitianischen Diaspora in der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Realität Haitis auf.

Wie fast alle Kolonialliteraturen war auch die haitianische Literatur in ihren Anfängen ein Nachhall der europäischen Strömungen, natürlich in erster Linie derer Frankreichs. Doch mit Beginn des 20. Jahrhunderts unternahmen es einige Schriftsteller, die Brücken zu dem französischen Vorbild abzubrechen. Aber erst die US-amerikanische Besatzungszeit und die Verbreitung marxistischen Gedankenguts führten zu einem tiefgreifenden Bewusstseinswandel.

„Haiti“ – was ist das?

Die indigenistische Schule, die sich insbesondere in der 1927 gegründeten Zeitschrift La Revue indigène, später in Les Griots zu Wort meldete, stellte jedwedes importierte literarische Modell in Frage und erklärte den Ausspruch «Être soi-même, le plus possible» zu ihrer Devise. Soweit wie möglich man selbst zu sein, sich selbst zu verwirklichen, das bedeutete, sowohl das afrikanische Erbe wie auch die karibische Realität anzuerkennen und anzunehmen – den Vaudou, die kreolische Sprache und die auf Kreol tradierte mündliche Volkskultur. Insbesondere der Roman Gouverneurs de la rosée (1944) von Jacques Roumain hat zum internationalen Renommee der haitianischen Literatur entscheidend beigetragen.
Der Indigenismus stand – wie in vielen lateinamerikanischen Ländern – auch in seiner spezifisch haitianischen Form politischen Interessen durchaus nahe. Indem indigenistische Autoren danach suchten, woher die Landeskultur kam und wie sie sich ausgeformt hat, gelangten sie nach und nach zu einer Definition nationaler Identität, die von den Mächtigen im Lande schließlich benutzt werden konnte, um die eigene Machtposition zu legitimieren. So ist es kein purer Zufall, dass ausgerechnet der spätere Diktator François Duvalier (“Papa Doc“) der Gruppe um Les Griots angehörte.

Ebenso konträr verlief die Diskussion um den Vaudou. In früheren Zeiten von den frankreichorientierten Schriftstellern als zu volksnah angesehen, betrachtete ihn der Indigenismus als charakteristische Ausprägung der Haitianität: Er versinnbildliche sowohl den Widerstand gegen fremde Einflüsse wie auch den Widerstand gegen die katholische Kirche. Viele Romane greifen auf diese Thematik zurück, so auch René Depestres Hadriana dans tous mes rêves (1988, dt. 1990/97: Hadriana in all meinen Träumen). Allerdings wird der Vaudou seit geraumer Zeit auch als Element des Obskurantismus gegenüber den Kräften des Fortschritts angeprangert, wie dies beispielsweise Gérard Étienne in seinen Romanen Le Nègre crucifié (1974) und Un Ambassadeur macoute à Montréal (1979) vorführt.

Seit den fünfziger Jahren ist die haitianische Literatur nach und nach fast komplett zu einer Exilliteratur geworden. Die Abwanderungsbewegung wurde dabei stets von einem verlegerischen „Exil“ begleitet, ja sogar vorweggenommen. Widrige Umstände haben haitianische Schriftsteller dauerhaft veranlasst, sich auf der Suche nach Publikationsmöglichkeiten ins Ausland zu begeben. Dass das Verlagswesen in Haiti selbst lange Zeit durchaus lebendig war, steht dazu nicht im Widerspruch, denn diese Publikationen beschränkten sich weitgehend auf Zeitschriften und Magazine. Hier konnte Lyrik gut gedruckt werden, für Romane hingegen waren die Kapazitäten zu gering: es dominierten Selbstverlage der Autoren und niedrige Auflagen ohne Nachauflagen. Ein Mangel an Bibliotheken und – aufgrund der hohen Analphabetenrate – schlicht an Publikum taten und tun ihr Übriges. Die politischen Verhältnisse, die die Mehrzahl der Schriftsteller ins Exil zwangen, haben die Tendenz nachhaltig verstärkt, so dass in den letzten Jahren mindestens die Hälfte der haitianischen Gegenwartsliteratur in der Diaspora entstand und verlegt worden ist. Neben der senegalesischen Hauptstadt Dakar und verschiedenen US-amerikanischen Städten haben sich vor allem Montreal und Paris dabei als wichtige Zentren der haitianischen Exilliteratur herauskristallisiert.

Beginnend in den sechziger Jahren sind zum Beispiel in Montreal innerhalb kurzer Zeit mehrere Kulturzeitschriften gegründet worden, darunter Nouvelle Optique, Collectif Paroles, Chemins critiques und Dérives. Verlagsgründungen schlossen sich an, so etwa Nouvelle Optique, der zwischen 1976 und 1980 mehr als 20 Titel haitianischer Autoren verlegte. In den achtziger Jahren wurde das CIDIHCA gegründet, das Centre International de Documentation et d’Information Haïtienne, Caraïbéenne et Afro-Canadienne, das als Informationsbörse, als Archiv und Bibliothek, als Dokumentationszentrum, als Veranstaltungsort und, last but not least, auch als Verlag fungiert. Unter anderem initiiert er heute Ko-Editionen mit Verlagen in Port-au-Prince.

Von besonderer Bedeutung für die Literaturproduktion und -rezeption sind Themenhefte in Literatur- und Kulturzeitschriften. Die kurzlebige Montrealer Zeitschrift Mot pour Mot widmete im Jahre 1983 unter der Federführung des exilhaitianischen Autors und Literaturwissenschaftlers Jean Jonassaint mehrere Ausgaben der haitianischen Literatur. Lettres québécoises weist ständig auf Neuerscheinungen aus diesem Bereich hin. Im Sommer 1995 erschien in der Zeitschrift Les Saisons littéraires eine Arbeit des Exilhaitianers Saint-John Kauss mit dem Titel Portraits d’écrivains haïtiens, die einen Überblick über die bedeutendsten zeitgenössischen haitianischen LyrikerInnen bietet, wobei der Autor nicht zwischen HaitianerInnen, ExilhaitianerInnen oder Québec-HaitianerInnen unterscheidet.
Québec-haitianische AutorInnen sind in das aktuelle Literaturgeschehen Québecs mittlerweile derart integriert, dass einige von ihnen – so Émile Ollivier, Anthony Phelps und der Lyriker Serge Legagneur – Aufnahme in Anthologien frankokanadischer Literatur gefunden haben.

Die Grenzen beginnen zu verschwimmen

Noch in der ersten Hälfte der neunziger Jahre wurden die insgesamt etwa 80 Prosawerke von HaitianerInnen zum größten Teil in Montreal und Paris verlegt. Erst in allerjüngster Zeit scheint sich ein bescheidener Umschwung zu Gunsten Haitis als Produktionsort anzubahnen, ausgelöst von verlegerischen Aktivitäten mancher RückkehrerInnen – so gründete der Romancier und Lyriker Anthony Phelps in Haiti den Verlag Productions Caliban – und von gemeinsamen Editionen zwischen Haiti, Montreal und/oder Paris. Andererseits zeigt die Fortdauer des Exils, wie problematisch es sein kann, einen Autor oder einen Text weiterhin als haitianisch einzuordnen. Ein Schriftsteller, der als Kind nach Paris oder Montreal gekommen und dort aufgewachsen ist – wie beispielsweise der Lyriker Joël Des Rosiers, der nur einige kurze Reisen in das Land unternommen hat, in dem er geboren wurde –, kann er noch in gleichem Maße als Haitianer bezeichnet werden wie jemand, der in Haiti geblieben ist? Zahlreiche emigrierte ForscherInnen und DozentInnen, die in nordamerikanischen Universitäten unterrichten, publizieren auf Englisch. Manche AutorInnen fangen an, desgleichen zu tun, darunter vor allem drei Romanschriftstellerinnen: Yolande Degand, die 1959 in die USA kam, ohne Englisch zu können, hat 1990 ihre romanähnliche Autobiographie veröffentlicht (Always comes the Morning), desgleichen Edwige Danticat, die seit 1980 in Brooklyn lebt und in den neunziger Jahren Breath, Eyes, Memory und The Farming of Bones (dt. 1999: Die süße Saat der Tränen) herausgebracht hat, Romane, die die Kritik begeistert feierte. Es ist bezeichnend für den Wandel, den die Haitianität in den letzten Jahren durchgemacht hat, dass nun Edwige Danticats Erzählungsband Krik?Krak! von 1995, ursprünglich auf Englisch veröffentlicht, in Port-au-Prince ins Kreol übersetzt wird.

Nach wie vor schreiben die SchriftstellerInnen der Diaspora in der Regel über das Land ihrer Herkunft und seine BewohnerInnen. Im Detail jedoch, in der Stoffauswahl und seiner Behandlung, sind gravierende Unterschiede erkennbar. Häufig ist das im Exil erinnerte Haiti ein Schauplatz tropischer Sinnlichkeit und überbordernder Erotik, wie beispielsweise in den schönen Prosatexten und der Lyrik René Depestres. Er ist übrigens einer der wenigen Autoren, bei denen das Haiti der Diktatur, etwa mit seinen Schrecken verbreitenden, mordenden Sonderkommandos, den Tonton Macoute, fast vollständig ausgeblendet ist.

Der Blick auf die Insel

In Émile Olliviers Roman Passages (1991/94; dt. 1999: Seid gegrüßt ihr Winde, vgl. Rezension in diesen LN) stehen sich in zwei Erzähl- und Leidenssträngen die Geschichte der boat people und der ExilhaitianerInnen gegenüber. Dazu gesellen sich junge SchriftstellerInnen, die mit Haiti lediglich der Geburtsort, die Abstammung und die Hautfarbe verbindet. Das Haiti von Stanley Péan beispielsweise ist imaginärer Schauplatz von Auseinandersetzungen mit den Schrecken der Diktatur, Schrecken, die die Protagonisten selbst im sicheren Norden einholen. Seine zahlreichen Kurzerzählungen, beispielsweise sein erster Novellenband La plage des songes (1988) oder die Erzählungen Sombres allées (1992), und die Romane Le tumulte de mon sang (1991) und Zombi Blues (1996) tauchen den Leser in eine Welt der Alpträume und des alltäglichen Horrors, erlebt von den noch einmal Davongekommenen. Denn selbst im Exil wird der Emigrant noch von seinen Träumen geplagt und von den Schrecken der Folter und der Furcht vor Willkür und Tod verfolgt. Dies schildert vornehmlich Gérard Étienne in seinen bereits erwähnten Romanen Le Nègre crucifié (1974) und Un Ambassadeur macoute à Montréal (1979).
Eine ganze Reihe neuerer AutorInnen bleibt noch zu entdecken. Geschrieben wird in einem breiten Spektrum an Genres und Stoffen. Spielt der Roman Louis Vortex (1992) des in Paris lebenden Jean Métellus in der französischen Hauptstadt, so ist Une Haïtienne à New York (1991) von Roger Dorsinville in den USA angesiedelt. Das Genre der fiktiven Autobiographie wird von dem Québec-Haitianer Dany Laferrière genauso gepflegt wie von Émile Ollivier. Als besonders interessant stufte die Literaturkritik den Roman Aube tranquille (1990) von Jean-Claude Fignolé ein.

Auf dem Theater profilierten sich zuletzt Jean-Jacques Dessalines, Frankétienne und auch Jean Métellus mit Stücken, die entweder in der haitianischen Geschichte angesiedelt sind oder, wie Frankétiennes Kalibofobo (1997 in Kanada uraufgeführt), eine neue Perspektive für politisches Engagement aufzuzeigen versuchen. Die haitianische Lyrik schließlich beweist mit René Depestre, Gérard Étienne und Roland Morisseau ungebrochene Vitalität. Lyonel Trouillot, dessen La Petite Fille au regard d’île 1994 in Port-au-Prince erschien, wurde von der Kritik in den höchsten Tönen gelobt.

Seit Frühjahr 1999 hat Haiti einen neuen Kulturminister, den Filmemacher Raoul Peck, der seine Ausbildung in Berlin absolvierte und dessen Filme auf diversen internationalen Festivals zahlreiche Preise erhielten. Dank seiner kulturellen Verbindungen nach Europa könnten sich neue Impulse für die künstlerischen und literarischen Aktivitäten zwischen Haiti und der haitianischen Diaspora ergeben. Vielleicht gibt dies ja auch der fast inexistenten Übersetzung haitianischer Literatur ins Deutsche neuen Auftrieb.

Die in den letzten Jahren gewachsenen Kulturbeziehungen zwischen Haiti und der haitianischen Diaspora sind Brücken zwischen zwei Ufern, die bislang aus politischen oder auch materiellen Gründen weit voneinander getrennt waren. Was den kulturellen und literarischen Austausch anbelangt, spielen Zeitschriften und Verlagskooperationen dabei eine herausragende Rolle.

Allerdings sollte nicht unterschlagen werden, dass für viele AutorInnen aus einem vorläufigen Exil eine definitive Emigration geworden ist. Anstatt sich in das kulturelle Leben in Haiti zu reintegrieren, gestalten viele längst nachhaltig die Literaturproduktion ihrer Exilorte und -länder mit. Was ist normaler für eine Emigrantenliteratur, wenn die Romanprotagonisten dieser Romane die Akkulturationsgeschichten ihrer AutorInnen nacherleben – und wenn Haiti schließlich bei manchen nur noch als Reservoir für Erinnerungen dient, die von Tag zu Tag mehr verblassen?

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