Im Sand rennen

Die schöpferische Euphorie der Gründerjahre, die dem Friedensschluss von 1996 in Guatemala folgte, ließ zahlreiche kulturelle Projekte aus dem Boden sprießen: Die im Januar 1997 von Zwanzigjährigen gegründete Casa Bizarra, ein verlassenes Gebäude im Zentrum der Hauptstadt, entwickelte sich zum hippen Treffpunkt der künstlerischen Studentenschaft. Javier Payeras, Maurice Echeverría, Regina José Galindo oder Ronald Flores sorgten hier erstmalig mit performativen Lesungen des literarischen Salons für Aufsehen. Sie gehören einer urbanen Schriftstellergeneration an, die in den 1970er Jahren geboren wurde und daher den blutigen Krieg, der seinen gewaltsamen Höhepunkt Anfang der 1980er Jahre im ländlichen Hochland hatte, mit gerade einmal zehn Jahren erlebten. Im Februar 1998 gründete der damals 27-jährige Estuardo Prado den Verlag X. Er war von Anfang an als ein subversives Projekt der Gegenkultur konzipiert, das jungen LiteratInnen die Möglichkeit bieten sollte, ihre Erstlingswerke zu veröffentlichen, die vom offiziellen Kulturbetrieb verschmäht wurden. Die kafkaesken Texte handelten von der Liebe in dreckigen Straßenecken, dem Kampf gegen das tägliche Malochen, Protest gegen sterile Einkaufszentren, künstliche Bedürfnisse, Einsamkeit und Selbstmord. Prado selbst veröffentlichte mehrere Kurzgeschichten, in denen er durch ausführliche Schilderungen zahlreicher Drogen- und Gewaltexzesse, oft im Format eines Drehbuchs für Fernsehprogramme, provoziert. In den „Werbepausen“ bieten Sexsklaven, auf Mord und Vergewaltigung spezialisierte Fotoagenturen oder Bars für Kinderschänder ihre Dienste an. Seine ProtagonistInnen sind ausnahmslos gesellschaftliche AußenseiterInnen, wie Transvestiten, Drogenabhängige, SelbstmörderInnen, Monster, klebstoffabhängige Straßenkinder oder Prostituierte, die die verbliebenen Werte des nachkriegsgeschüttelten Guatemalas – den Glauben an Gott, Heterosexualität, Monogamie, Liebe, Gesundheit oder den Wert ideologischer Ansätze – in Frage stellen. Die seltsam winzig gestalteten Ausgaben des Verlags, die in jede Hosentasche passten, nannte er dennoch optimistisch „Nach dem Ende der Welt“. Es roch verheißungsvoll nach einem Neuanfang, doch die Ernüchterung stellte sich rasch ein: Die Casa Bizarra wurde ebenso schnell geschlossen, wie der ambitionierte Verlag pleite ging. Die Freude über eine Unterschrift „X“ unter Friedensverträge, die nicht umgesetzt werden, ist längst verpufft.
2006 wurden in Guatemala 5.885 Morde registriert. 6.055 Menschen wurden durch kriminelle Handlungen verwundet – Tendenz steigend. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung sieht die Gewalt als das herausragende Problem des Landes an. Mafiöse Jugendbanden, die maras, kontrollieren den Drogen- und Waffenhandel und finanzieren sich durch Schutzgelderpressungen, Entführungen und Auftragsmorde. Das Vertrauen der Bevölkerung in Justiz und Exekutive des Landes ist durch schwerwiegende Korruptionsfälle, Straffreiheit und eine geringe Aufklärungsquote stark erschüttert; massive Vorfälle von Lynchjustiz oder Frauenmorden sind die Folge. Frieden ist eben mehr als die bloße Abwesenheit von Krieg und muss nach mehr als drei Jahrzehnten Mord- und Totschlag erst wieder erkämpft werden.
An dieser Stelle wäre die Kunst gefragt, ihren Beitrag zu leisten, doch Guatemalas Literaturbetrieb hat sich im letzten Jahrzehnt wenig entwickelt: Junge SchriftstellerInnen müssen die sehr hohen Produktionskosten oft aus eigener Tasche zahlen, da die Nachfrage auf dem Binnenmarkt aufgrund einer fast 40-prozentigen Analphabetenrate, enormen Bücherpreisen und einer fehlenden Lesetradition sehr gering ausfällt. Hinzu kommt, dass der Staat nach wie vor wenig Unterstützung anbietet, um junge KünstlerInnen zu fördern, was wiederum potenzielle SponsorInnen, VerlegerInnen und LektorInnen davon abhält, sich auf ein nachhaltiges Engagement einzulassen.
Dabei lohnt sich ein Blick hinter die Kulissen. Inzwischen wurden die JungschriftstellerInnen von ihren älteren KollegInnen wahrgenommen, ein Generationskonflikt tut sich auf. Marco Antonio Flores, mit Los compañeros Begründer des neuen guatemaltekischen Romans und ehemaliger Guerillero, beschwert sich öffentlich: „Sie reden nur von sich selbst, dem Einzigen das sie kennen. Es interessiert sie nur ihr Joint, ein guter Schluck, Party, ein paar Weiber und die Kumpels.“ Die vulgären Schilderungen des Nachwuchses von Bordellbesuchen oder suizidalen Drogentrips entsprechen nicht den Erwartungen ihrer älteren KollegInnen, die besonders in den 80er Jahren ihr Leben riskierten, um schreiben zu können. Das Schreiben zu Zeiten des Schweigens, in denen ein Buch unter dem Arm bereits lebensgefährlich sein konnte, hatte eine klare Aufgabe. Der Schriftsteller Luis Arango, vierzig Jahre älter als die ernüchterte Avantgarde, erklärte in einem 1988 veröffentlichten Interview: „Wir müssen jetzt sofort schreiben, was wir morgen vielleicht nicht mehr schreiben können.“
Guatemalas NachkriegsliteratInnen hingegen schweben nicht mehr in Lebensgefahr, nein, sie reisen auf Einladung internationaler Stiftungen und Kulturvereine durch die Welt, erhalten Fördermittel und Stipendien, beherrschen mehrere Sprachen und chatten, bloggen, posten, was das Zeug hält. Sie tragen ihre Bücher auch nicht mehr unter dem Arm, sondern laden sie aus dem Internet herunter.
Der 25-jährige Julio Serrano verkündete im April diesen Jahres die Gründung des Internetverlages libros mínimos, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die Werke zeitgenössischer guatemaltekischer DichterInnen und SchriftstellerInnen der Weltöffentlichkeit zugänglich zu machen – eine Herausforderung, der die einheimischen Printverlage bisher nicht gewachsen waren. Unter www.librosminimos.org finden sich vier Erzähl- und sechs Gedichtbände zum freien Download. Bisher haben 7.000 UserInnen Bücher heruntergeladen; Zahlen, die die regulären Verkaufszahlen in Guatemala um ein Vielfaches überragen. Hier veröffentlichen die inzwischen nicht mehr ganz so jungen NachkriegsautorInnen der „ernüchterten Generation“, wie die Presse sie zu nennen pflegt, was ihnen unter den Nägeln brennt. „Wir sind die Nachnachkriegsgeneration“, behauptet Francisco Alejandro Méndez, dessen Crónicas Suburbanas sich wie scharfe Anklagen gegen eine ewig stumme Außenwelt lesen: Vereinsamte Crackabhängige, die sich damit vergnügen, ihre Katzen Bier trinken zu lassen. Schuljungen einer Eliteschule, die sich bereits beim pubertären Jointrauchen auf der Schultoilette sicher sind, ohne viel Hinzutuns in wenigen Jahren die Fäden dieses Landes in den Händen zu halten – und Recht behalten. Gewaltsamer Beischlaf, MTV, Drogen jeglicher Couleur und immer wieder Langeweile. Anscheinend würde es ihm gefallen, eine Generation überspringen zu können, damit sein Werk nicht mit der Nachkriegszeit und ihren postideologisch zugespitzten Interessenkonflikten assoziiert wird. Auch Javier Payeras, der in libros mínimos seinen Erzählband (…) y once relatos breves publiziert, möchte mit Guerilla, Kommunismus und Massakern scheinbar nichts zu tun haben: Das Sinnieren über eine Benetton-Werbetafel, die einen aidskranken Todeskandidaten abbildet, reiht sich in seinen Kurztexten an die Szenerie ängstlicher Mütter, die fürchten, ihre spielzeuggeilen Söhne könnten sie beim Vater ankreiden. „Nachkriegsliteratur? Mir scheint, der Begriff wird etwas zu oft bemüht. Ich denke, dass der wirkliche Krieg in diesem Land noch gar nicht begonnen hat“, so Payeras in einem Interview. Der wirkliche Krieg, so könnte man vermuten, wird in den Schlachten um das Interpretationsrecht eines nationalen Gedächtnisses geschlagen. Geschichte wird gemacht, doch wer darf dabei mitmachen?
Dritte-Welt-Selbstmitleid, Exzesse, eine arrogante Prise von Ich-bin-längst-aus-diesem-Land-herausgewachsen, etwas übertriebene Coolness und immer wieder rohe Gewalt, die sich in vielen Fällen gegen den eigenen Körper richtet. Gäbe es hässlichere Bilder als diese, um uns die Enttäuschung und Leere fühlen zu lassen, die man empfindet, wenn alle Hoffnung gestorben ist? Bilder, die einen Kloß im Hals hinterlassen, der sich auch mit dem zweiten Glas nicht einfach hinunterspülen lässt. Julio Serrano sagt es auf ambivalent-guatemaltekische Weise: „Guatemala ist roh, ja, es ist das Land der forcierten Kontraste; deine Hände werden rauh, ob du willst oder nicht. Aber ohne Streicheleinheiten können wir nicht leben, der Schmerz zwingt uns zu mörderischen Parties, die alltägliche, fast natürliche Gewalt lässt uns zu schrecklich sensiblen und komplexen Wesen werden. Aber gut, es ist wie im Sand rennen – irgendwann gelangst du auf die Aschebahn und sprintest davon.“

KASTEN:
Leserbrief – LN 408, Juni 2008, Guatemala: Wahrheit und Tod

Sehr geehrte Damen und Herren,

zunächst haben wir uns gefreut, dass Sie auf den Mord an Bischof Gerardi vor 10 Jahren eingegangen sind und die Umstände und die ganzen Probleme bei der juristischen Aufarbeitung dargestellt haben.

Die Überschrift des Beitrages, wonach die Verantwortlichen noch immer auf freiem Fuß seien, ist allerdings zu relativieren und in dieser Form irreführend. Ihnen müsste bekannt sein, dass zwei Angehörige des Militärs und ein Priester seit einem Jahr rechtskräftig in diesem Fall verurteilt sind und im Gefängnis sitzen. Nach unserer Information ist das der einzige Fall, in dem in der Hierarchie höher gestellte Militärs wegen Mordes in einem politischen Fall verurteilt wurden. Das war schwierig und die Probleme, auf die in dem Beitrag verwiesen wurden sind alle zutreffend, aber wir sehen das trotzdem als wichtigen Schritt hin zur Überwindung der nach wie vor weit verbreiteten Straflosigkeit, gerade für Angehörige des Militärs.

Misereor hat das Menschenrechtsbüro ODHAG bei der juristischen Aufarbeitung des Falles unterstützt und tut dies auch weiterhin. Erst das engagierte Eintreten der Mitarbeiter dieser Organisation und das jahrelange Engagement als Nebenkläger vor Gericht haben zu dieser Verurteilung geführt. Darauf sind wir mit ODHAG stolz, während im Artikel dazu kein Wort kommt. Natürlich wissen wir auch, dass die drei Verurteilten wohl nicht alleine gehandelt haben und dass die Hierarchie des Militärs, einschließlich des erwähnten Generals Otto Pérez und des damaligen Präsidenten wahrscheinlich in den Mordplan involviert waren. Von daher soll auch versucht werden, weitere Verantwortliche des Mordes an Bischof Gerardi zu belangen. Aber immerhin sind drei der Komplizen nicht auf freiem Fuß und das finden wir sehr gut.

Eckhard Finsterer, Länderreferent, Bischöfliches Hilfswerk Misereor e.V.

Allein unter Männern

Der frühe Wahltermin soll mobilisieren. Zwei Monate früher als bei den letzten Wahlen sind die GuatemaltekInnen dieses Jahr an die Urnen gerufen. Ein Entgegenkommen an die halbe Million, die normalerweise die letzten beiden Monate des Jahres fern von ihren Wohn- und Wahlorten als temporär Angestellte in der Zuckerrohr- und Kaffeeernte arbeiten. Gelingt es tatsächlich, diese Leute zum Urnengang zu motivieren, könnte einiges in Bewegung kommen: Die Wahlbeteiligung könnte sich um rund 20 Prozent erhöhen und mit ihr sich die ganze Wahl-Soziologie verändern, handelt es sich doch in erster Linie um indigene Bauern und Bäuerinnen aus dem Hochland.
Außen vor bleibt hingegen auf alle Fälle ein anderer bedeutender Sektor: Die guatemaltekischen MigrantInnen im Ausland, die immerhin etwa zwölf Prozent der Bevölkerung ausmachen. MigrantInnenorganisationen in den USA fordern von der Regierung, ein System einzuführen, das ihnen die Beteiligung an den Wahlen ermöglicht. Das Netzwerk für Frieden und Entwicklung (RPDG), eine der großen guatemaltekischen MigrantInnenorganisationen in den USA fordert die Parteien auf, nebst einer Indígena- und einer Frauenquote auch eine MigrantInnenquote einzuführen, damit garantiert ist, dass dieser wirtschaftlich nicht unwichtige Sektor ebenfalls über eine Vertretung im guatemaltekischen Kongress verfügt. Im guatemaltekischen Außenministerium glaubt man jedoch nicht daran, dass eine Stimmabgabe im Ausland organisiert werden kann; es fehle an politischem Interesse.

Einfalt in der Vielfalt

Mindestens 18 Parteien treten zu den Wahlen an und mindestens 15 davon stellen KandidatInnen für die Präsidentschaft. Real haben aber gemäß Umfragen der guatemaltekischen Tageszeitungen bloß vier eine Chance, diesen Posten zu erlangen: Der Textilunternehmer Álvaro Colom von der Mitte-Links-Partei der „Nationalen Einheit der Hoffnung“ (UNE), der pensionierte General Otto Pérez Molina von der „Patriotischen Partei“ (PP), der ehemalige Gefängnisdirektor Alejandro Giammattei für die aktuelle Regierungspartei „Große Nationale Allianz“ (GANA) und die Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú, die für die Partei „Begegnung für Guatemala“ (EG) antritt.
Ohne Gewinnchancen, doch immerhin im Spiel mitzumischen vermag auch die „Republikanische Front Guatemalas“ (FRG) und deren Generalsekretär und Aushängeschild, Ex-Diktator Efraín Ríos Montt. Ihm gelang es, mit der Einschreibung ins Wahlregister erneut die Immunität zu erlangen, womit die beiden gegen ihn angestrebten Klagen wegen Genozid einmal mehr und auf unbestimmte Zeit blockiert sind. Ríos Montt kandidiert als Erstplatzierter auf der Liste der Kongressabgeordneten mit dem erklärten Ziel, Kongresspräsident zu werden.
Beste Chancen auf die Präsidentschaft werden momentan Álvaro Colom eingeräumt, der bereits zum dritten Mal zu den Präsidentschaftswahlen antritt. Im Jahr 1995, als er für die damals noch geeinte Linke kandidierte, vereinte er immerhin zwölf Prozent der Stimmen auf sich. Bei den letzten Wahlen trat er bereits mit seiner eigenen Partei UNE an und schaffte es mit circa 36 Prozent der Stimmen in die zweite Wahlrunde. Colom gewann damals in fast allen Departements des indigenen Hochlands, da er sich unter der Regierung von Alvaro Arzú einen Namen als untadeliger Chef des Nationalen Friedensfonds (FONAPAZ) machte. Ein Teil dieser Stimmen wird ihm in diesen Wahlen die indigene Kandidatin Rigoberta Menchú streitig machen.
Die PP kandidiert mit dem Ex-General Otto Pérez Molina, der in seinem populistischen und militaristischen Diskurs eine soziale Besserstellung der armen Bevölkerung verspricht und damit das Vorgehen mit „harter Hand“ gegen die herrschende Gewalt und die Jugendbanden legitimiert. Eine Mischung, die offenbar ankommt: Mitte Juni wurde ein Busfahrer freigesprochen, der einen Mann erschossen hatte, als dieser den Bus überfiel. Die Begründung: Der Erschossene habe schon rund zehn Mal im Gefängnis gesessen. Weshalb dieser inhaftiert gewesen war, spielt dabei keine Rolle, ebenso wenig die Tatsache, dass Polizei und Justiz von Korruption durchdrungen ist.
Ein pikantes Detail zu seiner Kandidatur ist noch zu erwähnen: In Kürze erscheint das neue Buch des in den USA publizierenden Schriftstellers Francisco Goldmann, in dem dieser Otto Pérez Molina in direkten Zusammenhang mit der Ermordung von Bischof Gerardi bringt, dem Verfasser des von der katholischen Kirche in Auftrag gegebenen Wahrheitsberichts über die Gräueltaten des Krieges. Ob ihm dies im Hinblick auf seine Wahlchancen Kopf und Kragen kosten oder ob es ihm im Gegenteil zu noch mehr Popularität verhelfen wird, ist im Moment noch nicht absehbar.

Gewalt und manipulierte soziale Konflikte

In der Wählergunst gesunken ist Alejandro Giammattei, Präsidentschaftskandidat der GANA. Bei Wahlen im letzten September hätte er eine reelle Chance auf einen Sieg oder mindestens einen Platz in der zweiten Wahlrunde gehabt. Als damaliger Chef des Gefängniswesens ging er als „Held und Retter“ aus der „Rückeroberung“ eines Hochsicherheitsgefängnisses hervor. Dass dabei sieben als Anführer des organisierten Verbrechens und des Drogenhandels bezichtigte Häftlinge brutal umgebracht wurden, akzeptierte die breite Bevölkerung unter dem Motto „der Zweck heiligt die Mittel“. Unterdessen spricht die Sonderstaatsanwaltschaft für Menschenrechte in einem Bericht über den Hergang dieser „Rückeroberung“ über gezielte außergerichtliche Hinrichtungen, ausgeführt von Polizeikräften und deren (zivilen) „Beratern“.
Und dann ist da noch Rigoberta Menchú, die große Unbekannte bei diesen Wahlen. Ihre Teilnahme könnte, ginge es ihr nicht genauso um Macht wie allen anderen, eine Abwechslung in den Wahlkampf bringen. Leider macht sie es aber genauso wie die anderen, ansonsten ausschließlich männlichen Kandidaten: Sie stellt ihre Person in den Vordergrund und hat bisher noch keine Agenda vorgestellt, die interessante politische Inhalte hätte. „Frau und Indígena“ allein reicht nicht für ein Regierungsprogramm und es bleibt zu hoffen, dass Menchú eine Kampagne führt, die am Ende nicht genau diesen beiden Sektoren, den Frauen und den Indígenas, im Hinblick auf zukünftige politische Partizipation schadet.
Inhaltlich bietet der Wahlkampf recht wenig Spannung. Menschenrechtsorganisationen und politische AnalystInnen äußern sich besorgt über die Verstrickung des organisierten Verbrechens und des Drogenhandels in die Parteien und BürgerInnenkomitees sowie über die damit einhergehende politisch motivierte Gewalt. Im Verlauf des aktuellen Wahlkampfes wurden 45 Gewalttaten gegen parteipolitische AktivistInnen verübt, etwa die Hälfte davon endeten tödlich. Die UNE von Álvaro Colom ist die am stärksten betroffene Partei. Schon 14 Parteimitglieder wurden bisher ermordet. Die Attentate konzentrierten sich auf Regionen, in denen der Drogenhandel und das organisierte Verbrechen florieren.
Umgekehrt erstaunt es, dass nach monatelanger Auseinandersetzung zwischen der Regierung und der LehrerInnengewerkschaft über Lehrpläne und Entlohnung plötzlich eine scheinbare Einigung erzielt werden konnte. Die LehrerInnen zückten ihren letzten Trumpf und drohten damit, die Wahlen zu boykottieren. Das hätte verheerende Folgen gehabt, denn landesweit befinden sich die meisten Wahlurnen in Schulgebäuden und es amtieren sehr viele LehrerInnen als WahlhelferInnen.
Auch die ehemaligen Zivilpatrouillen (PAC) treten pünktlich zur Wahlkampagne wieder auf die politische Bühne und fordern endlich die Auszahlung ihrer Entschädigungsgelder, ansonsten würden sie die Wahlen boykottieren. Während Präsident Berger verspricht, bis zum Ende seiner Amtszeit diese bis auf den letzten Centavo auszubezahlen, kritisiert die Menschenrechstorganisation GAM jene Stimmen aus der Exekutive, die die Zahlungen bis in die nächste Regierungsperiode hinauszögern wollen als unlauteren Wahlstimmenfang.
Seit Monaten ist der guatemaltekische Kongress nicht mehr in der Lage, dringend notwendige Entscheidungen vor allem in Sicherheitsfragen zu treffen. Niemand will sich politisch zu weit aus dem Fenster lehnen, was sich auch in den durchwegs sehr mageren Parteiprogrammen der PräsidentschaftskandidatInnen widerspiegelt. Diese politische Zurückhaltung verhindert auch die Einsetzung der Internationalen Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) . Dieses schon lange anhängige Projekt wurde inzwischen so weit abgeschwächt, dass das zuständige Gericht keine Verfassungswidrigkeiten mehr ausmachen konnte und die Einsetzung der Kommission nun vom „Ja-Wort“ des Kongresses abhängig ist. Doch in der aktuellen Konstellation ist keine Entscheidung mehr zu erwarten – die letzte Sitzung zum Thema endete mit Handgreiflichkeiten zwischen den Kongressabgeordneten.

Kasten:

Zwei Frauen gemeinsam auf dem Vormarsch?

Rigoberta Menchú kandidiert für die Mitte-Links-Partei Encuentro por Guatemala, „Begegnung für Guatemala“ (EG) um die Präsidentschaft. Parteivositzende der EG ist Nineth Montenegro, Gründerin einer der ehemals wichtigsten Menschenrechtsorganisationen. Noch bis vor kurzen verkündete Menchú, dass sie durchaus Regierungsaspirationen habe, aber sicher erst bei den Wahlen 2011 – ein Jahr, dem in der Geschichtsschreibung der Mayas große Bedeutung zugeschrieben wird. Doch plötzlich waren sie und ihre politische Bewegung Wina’q in Verhandlungen sowohl mit dem EG wie auch mit der der ehemaligen Guerilla URNG. Menchús Kandidatur für die URNG hätte auf eine späte Versöhnung hinweisen können. Die Möglichkeit wurde selbst innerhalb der URNG sehr kontrovers diskutiert. Viele Indígenas fühlen sich von „Rigo“ verraten, habe diese doch als das ehemalige Aushängeschild der revolutionären und indigenen Sache durch ihre Teilnahme an der aktuellen Regierung viel von ihrer Glaubwürdigkeit verloren. So erstaunt es denn auch nicht, dass das Ende März in Guatemala durchgeführte 3. kontinentale Treffen der indigenen Völker die Unterstützung von Rigoberta Menchús Kandidatur nicht in ihre Schlussresolution aufgenommen hat (siehe LN 395).
Ihre Kandidatur für die EG lässt hingegen auf Realpolitik auf beiden Seiten schließen. Politisch wird die Konstellation zwischen der EG und Menchú vor allem als Schlag gegen die URNG und die Linke allgemein gewertet. Verzeichnet die URNG seit einiger Zeit aufgrund interner Streitigkeiten ohnehin Verluste, wird das Präsidentschaftsprojekt der zwei bekannten Frauen, die eher der politischen Mitte zuzurechnen sind, potenzielle WählerInnen aus dem linken Lager abziehen. Rigoberta Menchús Kandidatur wird entsprechend auch von den USA begrüßt.

Der mafiöse Staat

Justiça, Paz e Liberdade!“ – „Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit“, so steht es an zahlreichen Häuserwänden in den Armenvierteln von São Paulo geschrieben. Doch ist dies keine Forderung einer sozialen Bewegung. So lautet das Motto der Gefängnismafia Erstes Hauptstadtkommando (PCC). In Rio de Janeiro findet man ähnlich gelagerte Sprüche an den Wänden: „CV ist die Macht der Jugend!“ CV, das ist das Comando Vermelho – das Rote Kommando – die älteste Verbrecherorgansisation Brasiliens. Passend dazu kann man im Internet Hip-Hop-Lieder hören, welche die Gewalt des CV oder des PCC feiern und legitimieren. Nur sie würden sich wirklich um die armen Viertel kümmern, ihre Gewalt sei letztlich eine legitime Selbstverteidigung, so der Tenor dieser Texte.

Moderne Robin Hoods?

Zu gerne geben sich die Drogengangs als Rächer der Enterbten. Allein der Name „Rotes Kommando“ suggeriert, dass dieses sich als eine Widerstandsbewegung präsentiert, die für die unteren Klassen der brasilianischen Bevölkerung kämpft. Ihre Herkunft aus den Armenvierteln passt dabei sehr gut zum romantischen Bild vom Sozialrebellen. Tatsächlich wurden beide Organisationen, CV und PCC, in Gefängnissen gegründet, um sich gegen die brutalen Haftbedingungen gemeinsam zu wehren. Auch außerhalb der Gefängnisse halten die Bandenmitglieder zusammen. In ihren Pressebotschaften sprechen sowohl PCC als auch CV immer vom „Widerstand“ gegen die Polizeigewalt.
Doch die Realität sieht anders aus. Hauptbeschäftigung der Banden ist der Konkurrenzkampf um die in den Favelas angesiedelten Verkaufsstellen für Drogen. Blutige Auseinandersetzungen zwischen den hochbewaffneten Gruppen gehören dabei, insbesondere in Rio de Janeiro, zum Alltag in der Favela. Die Gewalt der Drogengangs richtet sich mitnichten ausschließlich gegen die Polizei. BewohnerInnen der Favelas, die sich nicht dem Willen der Gangs unterwerfen, werden schnell zur Zielscheibe der Brutalität der Jugendbanden. Um gleichzeitig ein wenig Rückhalt in der Bevölkerung zu bekommen, verteilen die Kommandos gelegentlich Essen oder Medikamente in den Favelas. Der hochgehaltene Wert der Solidarität gilt jedoch nur untereinander.

Pervers integriert

Von den – nicht nur brasilianischen – Medien werden die Chefs dieser Banden immer wieder als „Feudalherren“ bezeichnet. Die Bosse werden als souveräne Herrscher über die Favelas dargestellt, die absolute Kontrolle über einen von jeglichem staatlichen Zugriff befreiten, autonomen Raum besitzen würden. PCC, CV und ähnliche Vereinigungen seien ein „Staat im Staat“ oder eine „Parallelmacht“, heißt es oft.
Diesen Mediendarstellungen widerspricht Marcelo Freixo, Aktivist der in Rio de Janeiro tätigen Menschenrechtsorganisation Justiça Global vehement: „Die Drogenbanden stellen keine Parallelmacht dar! Die Macht der Drogengangs ist lokal extrem beschränkt. Sie erstreckt sich ausschließlich auf die Armenviertel.“ Gegen die Polizei hätten sie keine wirklich „militärische“ Chance, sagte er den Lateinamerika Nachrichten.
Der Gedanke einer Parallelität führe in die Irre. Schon allein über die Verbindungen zum internationalen Waffenhandel werden Drogengangs und staatliche Akteure zu Geschäftspartnern. Drogenhandel ist schließlich eines der lukrativsten Geschäfte der Welt. „Die Versorgung mit Waffen funktioniert über korrupte Polizisten“, erklärt Freixo. Die Waffen würden von Netzwerken innerhalb der Polizei und des Militärs vor allem über Paraguay nach Brasilien geschmuggelt. Die moderne Bewaffnung und die lokale Macht der Gangs in den Armenvierteln lässt sich nicht ohne die Beteiligung von Teilen des Staatsapparats erklären.
Zu diesem Schluss kommt auch die Anthropologin Alba Zaluar. Für sie handelt es sich deshalb um eine „perverse Integration“ der Drogengangs in den Staat. So lautet der Titel ihres Buches von 2004, in dem sie die Ergebnisse ihrer jahrzehntelangen Forschung über Armut und Drogenhandel präsentierte. Der Transport der Drogen – vor allem Kokain aus den Andenländern – würde von GroßgrundbesitzerInnen und UnternehmerInnen organisiert. Sie machten den großen Profit. „Die kleinen Dealer aus der Favela, ihrem ganzen militärischen Apparates zum Trotz, helfen in Wirklichkeit nur denen, sich zu bereichern, die tonnenweise mit Drogen handeln und den Waffenhandel kontrollieren: dem Handelsunternehmer, der in illegale Geschäfte involviert ist, dem korrupten Polizisten, dem kriminellen Anwalt und so weiter“, schreibt sie in ihrem Buch.
Dass vermeintliche Sozialbanditen gut in den Staat integriert sind, hat in Brasilien Tradition. Bis heute wird Lampião, ein Bandit, der in den 1920er Jahren im Hinterland des Nordostens aktiv war, von vielen Linken und armen BrasilianerInnen als Held der Armen dargestellt. Letztlich waren die cangaceiros, wie die Banditen des Nordostens genannt wurden, jedoch weniger Sozialbanditen als Banditen zur sozialen Kontrolle, wie der Publizist Julio Chiavenato schreibt. So erhielten die Banditen ihre relative territoriale Kontrolle nur dank Verbindungen mit Großgrundbesitzern und Politikern, welche im Gegenzug für die Freiräume die Banditen als Privatgarde gegen unliebsame Kleinbauern in den Dienst nehmen konnten. Letztlich unterschieden sich Banditen und Polizei wenig in Brasilien, und daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Wer Bandit ist und wer nicht, hat vor allem mit Beziehungen zu tun.
Dies macht eben die brasilianische Staatlichkeit aus: Seit der
Kolonialzeit bediente sich die Administration extralegaler und nichtstaatlicher Gewalt, um die bestehende Ordnung zu verteidigen. Dies war auch nötig, um das große und dünn besiedelte Territorium überhaupt kontrollieren zu können. Im 19. Jahrhundert wurden die Privatarmeen der lokalen Eliten in der Form von Milizen sogar institutionalisiert. Dies führte zu der paradoxen Situation, dass nichtstaatliche Gewaltakteure Teil der brasilianischen Staatsformation sind (Vergleiche den Artikel von Markus-Michael Müller in dieser Ausgabe).
Einen wichtigen Wandel im Verhältnis von staatlichen Sicherheitsorganen und Bevölkerung brachte der Militärputsch von 1964. Ab dieser Zeit bekam die Polizei einen Freifahrtschein für jegliche Gewaltanwendung gegen die politische Linke. „Nach dem Ende der Militärdiktatur gab es keine strukturelle Änderung der Sicherheitsorgane. Die Demokratie hat diese Struktur übernommen“, meint Mauricio Campos gegenüber den Lateinamerika Nachrichten. Er ist in dem Netzwerk Front des Populären Kampfes (FLP) gegen Polizeigewalt in Rio de Janeiro aktiv, die Menschen betreuen, die Opfer von Polizeigewalt wurden und versuchen, Fälle willkürlicher Polizeigewalt aufzuklären.

Polizei außer Kontrolle

Meistens ist die Polizeigewalt Resultat von Streitigkeiten innerhalb mafiöser Strukturen. „Die brasilianische Polizei, insbesondere die in Rio de Janeiro, ist extrem korrupt“, erzählt Campos. 30 bis 40 Prozent der Einnahmen der Drogengangs in den Favelas gingen als Schutzgelder an die Polizei. Diese Zahlen wurden auch von O Globo, der größten Tageszeitung Rio de Janeiros, bestätigt. „Die mafiösen Strukturen brauchen das Klima der Gewalt. Die Polizei muss immer wieder Gewalt ausüben, sonst verliert sie ihre Verhandlungsmasse. Sie muss demonstrieren, dass sie fähig ist, das Geschäft empfindlich zu stören, damit sie Schutzgelder abpressen kann“, erzählt Campos weiter. Außerhalb ihrer Dienstzeit würden viele Polizisten noch bei paramilitärischen Gruppen arbeiten. Diese wurden von Ladenbesitzern gegründet, um als private Sicherheitsfirmen zu agieren, doch mit der Zeit suchten sich diese Gruppen noch andere Geschäftsbereiche wie etwa Schutzgelderpressung oder die Kontrolle von illegalem Glücksspiel. Die berüchtigte Paramilitärische Gruppe Scuderie Detective Lecocq, der vor allem Polizisten, aber auch Staatsanwälte, Richter und Politiker angehören, kontrolliert etwa den gesamten Drogenhandel des Bundesstaates Espirito Santo. In der dortigen Hauptstadt Vitoria existiert einer der größten Fernhäfen Brasiliens, und die Scuderie kontrolliert auf diese Weise auch einen großen Teil des Exports von Kokain aus Brasilien nach Europa und in die USA.

Kontrolle der Überflüssigen

„In Brasilien hat die Polizei nicht die Aufgabe, die Rechte der Bevölkerung zu garantieren, sondern die Armen zu kontrollieren“, meint deshalb Marcelo Freixo. Die Repression der Polizei konzentriere sich auf den schwächsten Teil des Drogenhandels, die Gangs in den Favelas, während der große Reibach an andere ginge. „Eine effektive Verfolgung der Geldströme, die aus dem Drogengeschäft stammen, würde wahrscheinlich viele Politiker, Unternehmer und sogar Richter auffliegen lassen.“
Marcelo Freixo vergleicht das Strafsystem Brasiliens mit dem der USA, wie es der französische Soziologe Loïc Wacquant beschrieben hat: als Strafstaat. „In den neunziger Jahren hat sich in Brasilien mit dem neoliberalen System ein ‚minimaler‘ Staat herausgebildet, der immer weniger in den sozialen Bereich investiert. Allerdings wird er begleitet von einem Staat der maximalen Repression, der totalitäre Züge trägt, dem ‘Strafstaat’“, sagt Freixo. Immer mehr Menschen in Brasilien seien für die kapitalistische Wirtschaft schlicht überflüssig. Diese Bevölkerung gelte es zu kontrollieren. Armut und die Bevölkerung ganzer Armenviertel werde kriminalisiert. Deshalb sei auch der Diskurs, der von einer „Parallelmacht“ in den Händen der Drogengangs rede, so gefährlich. „Jeder Bewohner einer Favela wird als verdächtig angesehen, als potentieller Feind der Gesellschaft betrachtet.“ So werde das extrem brutale Vorgehen der Polizei gegen die FavelabewohnerInnen gerechtfertigt, meint Freixo. „Wir haben es mit einer Ausrottungspolitik des brasilianischen Staates zu tun, die sich vor allem gegen schwarze und männliche Jugendliche aus den Armenvierteln richtet.“
Mauricio Campos sieht das ähnlich. Das brasilianische Justizsystem hilft dabei, die Ungleichheit zwischen Armen, die von der Polizei einfach getötet werden dürfen, und Reichen, die beschützt werden müssen, aufrecht zu erhalten. „Wir haben es teilweise mit Richtern zu tun, die von ‚genetischem Müll’ reden‘ wenn sie über die Bewohner und Bewohnerinnen von Favelas sprechen.“ In Rio de Janeiro unterstützen einige Politiker sogar paramilitärische Milizen, die Sicherheit bei den diesjährigen Panamerikanischen Spielen in Rio de Janeiro „anbieten“. Selbst Bürgermeister César Maia bezeichnete den „Sicherheitsservice“ der Kommunitären Selbstverteidigung (ACD) im Zusammenhang mit den Spielen als „nur ein kleines Problem, ein viel kleineres als etwa der Drogenhandel.“ Den Begriff ACD, der an die berüchtigten Paramilitärs AUC in Kolumbien erinnert, hat der Bürgermeister höchstpersönlich erfunden.

Rebellen ohne Perspektive

Vor diesem Hintergrund erscheint es verständlicher, weshalb es den Drogengangs zum Teil gelingt, sich als Widerstandskämpfer darzustellen. Dennoch ist es falsch, sie als Sozialrebellen zu betrachten. Alba Zaluar hat in ihren jahrelangen Forschungen nachgewiesen, dass die Drogengangs in keiner Weise zu einer Umverteilung des Reichtums beitragen. „Die Jugendlichen sind in einer Ideologie des absoluten Egoismus und Konsumismus gefangen“, schreibt sie in ihrer Studie. Häufig sind sie selbst drogenabhängig, deshalb hoch verschuldet und dadurch gezwungen, in dem Geschäft weiterzumachen, wenn sie ihr Leben nicht riskieren wollen. „Der Drogenhandel hat nichts Revolutionäres“, meint deshalb auch Marcelo Freixo. Vielmehr sei es eine unbewusste Reaktion auf eine Gesellschaft, die die Armen ausgrenze, aber Konsum als das reine Glücksversprechen anpreise. „Die Drogengangs in Rio de Janeiro sind extrem unorganisiert. Ihre Mitglieder werden immer jünger und immer brutaler. Die meisten bocas de fumo [Drogenverkaufsstellen, Anm. d. Red.] machen sogar ein Minusgeschäft. Diese Jungen arbeiten im Drogengeschäft, um etwas soziales Prestige zu bekommen. Sie wollen ein paar moderne Turnschuhe, ein bißchen Macht und mit ihren Waffen vor den Mädchen angeben. Es ist keine soziale Ideologie, die diese Jungen antreibt.“
Zudem ist die Gewalt der Jugendgangs in Brasilien hochgradig sexualisiert und maskulin aufgeladen. Die Jungen treibe eine extreme Form des Machismo zu ihrer Gewalt, schreibt Alba Zaluar. Frauen haben in besonderer Weise unter der Gewalt in den Favelas zu leiden. Denn durch die Abwesenheit oder den frühen Tod der Männer gibt es immer mehr alleinstehende Frauen, die ihre Familien nur auf sich gestellt durchbringen müssen. Diese Frauen müssten extrem viel arbeiten, was nicht selten dazu führe, dass die Kinder verwahrlosten, nicht zur Schule gingen und so auch leichter in die Fänge der Drogenbanden gerieten. So entstehe ein Teufelskreis, meint Alba Zaluar.
Als Lösung sehen Marcelo Freixo und Mauricio Campos nur eine wirkliche Umgestaltung der brasilianischen Gesellschaft. „Innerhalb des kapitalistischen Systems sehe ich keine Lösung für diese Probleme“, meint Freixo. „In Wirklichkeit ist der Staat die Mafia“, resümiert Mauricio Campos. Diese mafiöse Struktur müsse abgelöst werden von einem System, das auf Solidarität basiert. Nur so könnte die marginalisierte Bevölkerung auf eine Weise in die Gesellschaft integriert werden, die nicht pervers ist.

„Gewinnen wir die Empörung zurück“

Aufgrund ihres politischen Engagements ab den 1970er Jahren musste Sandra Morán während des Bürgerkriegs ins Exil. 1994 kehrte sie nach Guatemala zurück. Sie ist Gründerin und heute Vorstandsmitglied des Sector de Mujeres. Diesem Frauennetzwerk gelang es, frauenpolitische Forderungen als Teil der Versammlung der Zivilgesellschaft (ASC) im Friedensabkommen zu verankern.
Außerdem tritt sie seit über 20 Jahren als Percussionistin auf und gastierte bereits bei internationalen Festivals in Mittelamerika, Kanada und Europa. Im März besuchte sie auf Einladung von peacebrigades international mehrere deutsche Städte, um über ihre Arbeit zu informieren.

Mit Jennifer López im Hollywood-Streifen Bordertown gingen die Frauenmorde in Ciudad Juárez in Mexiko durch die internationale Presse. Über Guatemala hingegen spricht keiner. Wie ist die Situation dort?

Zahlenmäßig noch dramatischer. Seit 2000 gibt es nach Geschlecht getrennte staatliche Statistiken über Mordfälle. Dadurch wurde deutlich, dass Frauenmorde Realität sind. Seit 2003 denunzieren wir Frauenorganisationen diese öffentlich. Damals zählten wir 138 ermordete Frauen, 2004 stieg die Zahl auf 383. Im vergangenen Jahr waren es 572 und von Januar bis März 2007 haben wir schon 110 Frauenmorde registriert. Die meisten Opfer sind jung. Ermittlungen werden nur in insgesamt 20 Fällen durchgeführt.

Was sind die Ursachen für diese schreckliche Entwicklung?

Aus dem, was wir feminicidios nennen, ist ein Hass gegenüber dem Körper der Frau ablesbar. Charakteristisch ist nicht nur die Tatsache, dass die Frauen umgebracht werden, sondern wie sie umgebracht werden und wie und wo ihre Leichen hinterlassen werden. Sie wurden vergewaltigt, gefoltert, und mitunter wurden ihnen Gliedmaßen abgetrennt. Das ist anders als bei ermordeten Männern. Ich sehe in Bezug auf den Ort, an dem die toten Körper liegen gelassen werden, eine Kontinuität der 36 Jahre Bürgerkrieg.

Von welcher Kontinuität sprichst du genau?

Aus den 1980er Jahren kennt man den Anblick von Leichen an öffentlichen Orten noch – hinterlassen als Nachricht, um Angst und Schrecken in der Bevölkerung zu verbreiten und Menschen daran zu hindern, sich zu organisieren. Wir glauben, dass die Morde eine Botschaft an uns Frauen sein sollen, ins Haus zurückzukehren. Auch das Radio, die Kirche und Guatemalas Präsident verbreiten diese Botschaften: „Frauen, geht lieber nicht aus dem Haus.“ So sieht es am Ende aus, als seien die Frauen selber schuld, dass sie umgebracht werden. Ein weiteres Stigma ist, dass unter den Ermordeten zahlreiche junge Frauen sind, die laut Presse zu den Jugendbanden maras gehörten. Die Tatsache der Zugehörigkeit einiger Frauen zu den maras wird als ideologische Rechtfertigung ausgelegt, die Frauen zu töten.

Welche Möglichkeiten gibt es, diese Verbrechen aufzuklären?

Anzeigen bei der Polizei bringen fast nichts. Es besteht in Guatemala eine fürchterliche Straflosigkeit: in der Vergangenheit und heute immer noch. Dazu kommt ein allgemeines Klima der Gewalt und Unsicherheit. In Guatemala ist ein Auftragsmord sehr billig. Konflikte werden mit Gewalt gelöst.
Hinzu kommt, dass auch Polizisten des Mordes angeklagt sind. Innerhalb der Polizei gibt es organisierte Banden, die nicht nur mit Drogen handeln, sondern auch Frauen umbringen. Wo sind heute jene Männer, die im Krieg ausgebildet wurden, andere zu foltern und zu töten? Sie sind bei den privaten Wachdiensten, in der Armee und sind Berater der Polizei. Derzeit werden 36 Polizisten angeklagt, Mörder von Frauen oder Vergewaltiger zu sein. Außerdem gibt es von einer Anwältinnen-Organisation Untersuchungen zum Missbrauch von Frauen in Haft durch Polizisten. Hier geht es vor allem um Frauen, die der illegalen Prostitution nachgehen und verhaftet werden. Der Missbrauch geschieht dann häufig zwischen ihrer Festnahme und der Überführung in eine Haftanstalt.

Was macht die Regierung, um gegen diese Verbrechen anzugehen?

Der Staat reagiert auf Gewalt mit Gewalt. Die Armee kommt auf die Straße, die Polizei wird militarisiert, die maras werden verfolgt und die gesamte Bevölkerung wird kriminalisiert. Zu den wenigen positiven Aktionen zählt zum Beispiel der Nationale Plan zur Vorbeugung von Gewalt gegen Frauen, den der Staat ins Leben gerufen hat. So wurde das präsidiale Sekretariat für Frauen-Angelegenheiten geschaffen und die Kommission zur Vorbeugung von Gewalt gegen Frauen. Im Friedensabkommen von 1996 geht es auch um das Schaffen einer demokratischen Sicherheit. Ziel soll es also nicht nur sein, Straftaten zu verfolgen, sondern vorzubeugen. Und an präventiven Maßnahmen fehlt es eben.

Welche Strategien verfolgt das Frauennetzwerk, um auf die Situation der Frauen aufmerksam zu machen?

Die Verantwortung des Staates für Sicherheit zu sorgen, ist in der Verfassung festgeschrieben. Wir richten uns also an die Exekutive und den Kongress, damit notwendige Gesetze auf den Weg gebracht, aber auch Justiz und Staatsanwaltschaft mit dem nötigen finanziellen Budget ausgestattet werden. Und wir fordern mehr Sicherheit im öffentlichen Leben. Desweiteren wenden wir uns mit Sensibilisierungsarbeit und Kampagnen an die guatemaltekische Gesellschaft. Zum Beispiel haben wir T-Shirts und ein Transparent gedruckt mit der Aufschrift „Gewinnen wir die Empörung zurück“. Durch den Krieg haben wir immer noch sehr viel Angst, deshalb halten die Leute den Mund, deshalb gehen die Leute nicht raus. Die Bevölkerung selber muss Forderungen stellen.

Richtet ihr euch auch direkt an die Frauen?

Ja, wir möchten sie vor allem dazu befähigen, Anzeige zu erstatten, andere Frauen zu unterstützen und öffentliche Gewalt anzuzeigen. Trotz aller Kampagnen haben viele Frauen noch immer Angst davor, Fälle häuslicher Gewalt anzuzeigen. In Guatemala gibt es so gut wie keine Frauenhäuser, der Staat hat lediglich fünf Herbergen für sie geschaffen, die Frauenorganisationen drei weitere. Aber das ist alles.

Die Fälle der ermordeten Frauen treten vor allem in Städten auf. Aber ist der Machismus auf dem Land nicht viel stärker verwurzelt?

Ja, die Frauenmorde passieren vor allem in der Stadt, aber sexuelle Gewalt gibt es überall. Ein schreckliches Beispiel ist eine kleine Gemeinde in einer sehr ländlichen Gegend. Frauen von dort berichten, dass es dort üblich ist, dass Mädchen zunächst von ihrem Vater vergewaltigt werden, bevor sie sexuellen Kontakt mit einem Partner haben. Der Vater sagt: „Das sind meine Töchter, deshalb gehören sie mir.“ Dies wird natürlich nicht öffentlich angezeigt, da es als Brauch angesehen wird. Nur innerhalb von Frauenorganisationen wird so etwas bekannt. Was machen wir in so einer Situation? Alle Väter ins Gefängnis stecken? Wir sind der Meinung, dass der Staat nationale Kampagnen durchführen muss, damit sich das Denken wandelt. Denn so ein Denken ist in der machistischen Kultur verwurzelt.

Wie bist du persönlich zur politischen und sozialen Arbeit gekommen?

Meine Familie ist sehr katholisch. Seit meiner Kindheit war mir die Suche nach Gerechtigkeit sehr wichtig ebenso wie anderen zu helfen. Um mich herum habe ich die ganze Ungerechtigkeit dieser Welt gesehen, davor konnte ich die Augen nicht verschließen. Ich hatte als junge Frau einen geradlinigen Lebensplan: mein Studium und dann eine Arbeit finden. Aber plötzlich musste ich von heute auf morgen ins Exil gehen, weil einige meiner FreundInnen verhaftet worden waren. In Mexiko bin ich aber immer mit dem revolutionären Prozess in Guatemala verbunden geblieben und habe die Flüchtlingscamps von der Hauptstadt aus unterstützt. Dort bin ich auch zur Musik gekommen. Meine Musik war immer politisch und solidarisch. Es geht um Hoffnung, Träume, Anklage und Kampf.

Was bedeutet Musik für dich?

Poesie und Musik sind für mich Werkzeuge, die mich „Ich selbst“ sein lassen und die mir Kraft geben, gegen alles Schreckliche zu widerstehen. Heute mache ich vor allem Percussion. Und ich singe – gegen die Straflosigkeit, das Verschwindenlassen von GefährtInnen im Krieg. Ich bin eine Überlebende.

Auf deiner Deutschlandreise triffst du auch VertreterInnen des Bundestags und des Auswärtigen Amtes. In Brüssel bereitet das Europäische Parlament nach einer öffentlichen Debatte im März 2006 nun einen Bericht zur Situation der Frauenmorde in Mexiko und Guatemala vor. Wie wichtig sind internationale Beziehungen und internationale Aufmerksamkeit für den Kampf der Frauen in Guatemala?

Ich halte die internationalen Beziehungen für sehr wichtig. In Guatemala ist die Internationale Gemeinschaft sehr präsent. Sie hat das Leben vieler Menschen gerettet.
Gerade diese Netzwerke der Solidarität waren für Guatemala sehr wichtig. Und daran wollen wir anknüpfen und diese lebendig halten. Ich treffe hiesige VertreterInnen, um ihnen direkte Informationen zu übermitteln, damit sie den internationalen Druck unterstützen, zum Beispiel in bilateralen Verhandlungen. Die Assoziierungsabkommen, über die die EU mit den zentralamerikanischen Staaten seit März verhandelt, dürfen kein Blanko-Scheck sein. Es muss von internationaler Seite auch Druck auf die Einhaltung der Menschenrechte geben.

Wie sieht der Frauensektor die Kandidatur von Rigoberta Menchú für die Präsidentschaftswahlen im September dieses Jahres?

Wir begrüßen ihre Kandidatur. Rigoberta ist eine Kämpferin, eine symbolische Figur für Guatemala, um mit der Diskriminierung und dem Rassismus zu brechen. Doch wir sehen ihre Rolle in der derzeitigen Regierung sehr kritisch. Rigoberta scheint manchmal vergessen zu haben, woher sie kommt.
Die Kandidatur Rigobertas ist sehr wichtig, doch sie geht nicht von einer breiten Bewegung aus, im Unterschied etwa zur Kandidatur Evo Morales‘ in Bolivien. Die linke Bewegung in Guatemala ist noch dabei, nach der Zeit der Repression ihre Kräfte wieder zu sammeln.

KASTEN:
Auf dass die Stille ein Ende hat
(Gemeinschaftsarbeit von weiblichen Gewaltopfern)
Auf dass die Stille ein Ende hat
Auf dass sie ein Ende hat
Auf dass die Mauern der Häuser,
der Gefängnisse, der Straßen fallen,
auf dass die Scham stirbt, bevor sie geboren wird
auf dass das Geräusch der Frauenstimmen
die Schrecken des alltäglichen Schreis erstickt
auf dass die Mauern all der Küchen fallen, in denen gelitten wird.
Auf dass die Stille ein Ende hat
Auf dass die Stille sie hat
Heute wachen wir voller Auflehnung auf
Schütteln die Bettlaken aus
Und stützen die Füße fest auf die Erde
Unser Herz, das zu explodieren schien
Ist gerade explodiert
Auf dass die Stille ein Ende hat
Auf dass sie ein Ende hat.

Der amerikanische Alptraum

Drei Tage und drei Nächte hält er sich fest. An den Türgriff eines Waggons gekrallt trotzt Donar Antonio Ramírez Wind und Wetter des mexikanischen Südens. Ohne Schlaf, in ständiger Angst vor Überfällen und der Migrationspolizei. Bis der Zug kurz vor Oaxaca plötzlich stoppt. Der junge Mann will die Gelegenheit nutzen, sich einen Maisfladen in den Mund zu stecken. Das wird ihm zum Verhängnis. Als der Zug mit einem Ruck wieder anfährt, verliert er das Gleichgewicht, stürzt und gerät unter die Räder. Eine unwirkliche Schrecksekunde lang scheint die Welt still zu stehen. „Das Blut schoss mir aus den Beinen wie Wasser aus einem Gartenschlauch“, sagt der Honduraner und erinnert sich: Wohl eine Stunde lang lag er so am Streckenrand. Gerüche verschwammen, Geräusche verstummten, er verlor das Bewusstsein. Mit den Sinnen schwand auch sein Traum von einem besseren Leben in den USA, „el sueño americano“.
In den krisengeschüttelten Staaten Zentralamerikas träumt ihn fast jeder. Bis zu 5.000 Menschen versuchen Tag für Tag, in die USA zu gelangen: geschätzte 1,8 Millionen pro Jahr. Hungerlöhne und steigende Arbeitslosigkeit lassen die Menschen weiter verarmen, Hurrikane und Überschwemmungen verheeren das Land, zerstören Häuser und Felder. All das fördert den Exodus. Den meisten MigrantInnen geht es dabei wie Donar Antonio: Das Ziel ihrer Träume, die USA, erreichen die wenigsten. Politisch ist das gewollt. Seit Inkrafttreten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA 1994 wurde die US-amerikanisch-mexikanische Grenze hochgerüstet, Posten verstärkt, die Polizei- und Militärpräsenz erhöht, Abschiebeknäste eingerichtet. Aber sie ist porös. Deshalb hat US-Präsident George W. Bush während seiner jüngsten Lateinamerika-Reise mit den Regierungen in Guatemala und Mexiko auch über eine Grenze gesprochen, die nicht die seines Landes ist. Aus Sicht der US-Regierung sollte es ungleich leichter sein, die nur 700 Kilometer lange Grenze zwischen Mexiko und Guatemala zu kontrollieren als die 3.200 Kilometer lange zwischen den USA und Mexiko. In den vergangenen Jahren hat Washington viel getan, mit Geld, guten Worten und Verträgen wie dem Plan Sur, den mexikanischen Staat dazu zu bewegen, seine Südgrenze für MigrantInnen aus Zentralamerika dichter zu machen. Der Deal lautet: Ihr unterbindet den Zustrom von MigrantInnen ohne Papiere, schiebt sie in ihre Heimatländer ab, und wir denken im Gegenzug über eine Verbesserung der Lage eurer „GastarbeiterInnen“ in den USA nach.

Warten auf den „Todeszug“

Donar Antonio Ramírez verließ Honduras im Frühjahr 2005. Ohne Papiere, mit wenig Geld, viel Gottvertrauen und noch mehr Hoffnung. Er durchquerte Guatemala, setzte über den Río Suchiate nach Mexiko über und machte sich auf zum Bahnhof von Tapachula, wo er auf einen der berüchtigten Güterzüge wartete, der ihn seinem Glück näher bringen sollte. Jetzt, zwei Jahre nach seinem Aufbruch, sitzt der 28-Jährige in der schwülen Nachmittagshitze von Tapachula im spärlich begrünten Innenhof der Albergue Jesús el Buen Pastor (Notunterkunft Jesus, der gute Hirte), fährt mit dem Rollstuhl über den ausgetrocknet-rissigen Lehmboden und erzählt uns seine Geschichte. Mit dem Sturz vom Zug hat die Reise ins gelobte Land ein frühes Ende gefunden. Das Leben, das schlichte Noch-am-Leben-Sein, ist alles, was ihm blieb. Und die Erinnerung. An Bilder, die er nicht mehr loswird. Die Erinnerung, heißt es, ist das einzige Paradies, aus dem der Mensch nicht vertrieben werden kann. Für Donar Antonio ist sie die Hölle.
Wie Donar Antonio als blinder Passagier auf einen der Güterzüge aufzuspringen ist die schnellste, die billigste, aber auch die gefährlichste Möglichkeit, das riesige Transitland Mexiko zu durchfahren. Zwei- bis dreimal pro Woche fährt der Zug vom Bundesstaat Chiapas aus in Richtung US-Grenze. Jedes Mal warten die Menschen zu Hunderten in Bahnhofsnähe und entlang der Gleise, um einen Platz auf den Waggons zu ergattern, in denen Treibstoff und Düngemittel transportiert werden. Den Zug, der von einer schweren Lokomotive gezogen, sich auf alten, tief liegenden Gleisen vorwärts schiebt, kennt hier jeder. Die Menschen nennen ihn „tren de la muerte“: Todeszug.
Auch Donar Antonio harrte damals auf dem Bahnsteig aus, schlaflos, um den Zeitpunkt der Abfahrt nicht zu verpassen. Eine unbestimmte Spannung lag in der Luft: Denn alle wollten sie das Gleiche – doch das machte sie nicht zu Freunden, sondern zu Konkurrenten. Donar Antonio war damals 26 Jahre jung, klein, aber von kräftigem Körperbau, ein Familienvater, der sein Geld – „ein paar lumpige Lempiras“ – bis dahin als fliegender Händler und Parkplatzwächter verdient hatte. Doch nicht die Aussicht auf Reichtum lockte ihn in die USA, sondern der bescheidene Wunsch nach „einer anständigen Arbeit, die anständig bezahlt wird“. Um sich, seiner Frau und seinen drei Kindern ein Leben in Würde zu ermöglichen. Ob er, wenn er genug verdient hätte, zurückkommen oder seine Liebsten nachholen würde, darüber hatten sie damals nicht gesprochen, ja nicht einmal nachgedacht. Es galt, die Zukunft bei den Hörnern zu packen. Wozu da viele Worte machen?
Heute wirkt das Bahnhofsgebäude von Tapachula mit seinen blinden Fenstern unwirklich, wie eine Filmkulisse. Nachdem der Hurrikan Stan im Jahr 2005 Gleise und Gleisbett zerstört hat, sind die MigrantInnen gezwungen, in manchmal treckähnlichen Kolonnen ins 50 Kilometer nördlich gelegene Arriaga weiterzumarschieren. Damals aber, als Donar Antonio auf den Zug wartete, rangen drei-, vier-, vielleicht sogar fünfhundert zu allem Entschlossene um die besten Plätze, manche bewaffnet mit Steinen und Stöcken, um sich gegen Überfälle von Jugendbanden wehren zu können, manche allzeit zum Sprung bereit, für den Fall, dass die Migrationspolizei den Zug anhält und nach Papieren verlangt.
Der Zug fuhr, wie meistens, nachts ab. Weil andere schneller reagierten und das Dach der Waggons binnen Kurzem hoffnungslos überfüllt war, klammerte Donar Antonio sich an einen der seitlichen Türgriffe. Bis zu jenem verhängnisvollen Stopp in Oaxaca. Er wäre gestorben, hätte ihn nicht ein Mexikaner gefunden und in ein Krankenhaus gebracht. Dort haben sie ihm beide Beine amputiert.

Neue Grenzregime

Die „Bestie“ ist in den vergangenen Jahren ein eingängiges Kürzel für den Todeszug geworden, fast so locker gebraucht, als handle es sich um den Namen eines neuen Popstars, copyright-geschützt. „Aber“, sagt Pfarrer Guillermo Nieto, „das Problem ist nicht der Zug. Das Problem sind Regierungen, die der Armut nicht Herr werden – und die Migrationspolitik der USA.“ Der Geistliche arbeitet als Migrationsbeauftragter der Caritas in Tapachula. Wie viele, die Bush im März in Mexiko und Guatemala mit Protesten empfingen, stört ihn das Gefühl, Mexiko würde als Türsteher missbraucht. Mexiko habe sich zum willfährigen Instrument der US-Politik degradieren lassen, der man die Schmutzarbeit für ihre Abschottungsstrategie abnimmt, kritisiert er. Tatsächlich werden jährlich um die 200.000 MigrantInnen aus Mexiko abgeschoben. Gleichwohl hat diese Politik noch keinen Ausreisewilligen von seinem Vorhaben abgebracht.
Für den Migrationsexperten Júlio Buendía von der Caritas El Salvador geht es um mehr. Die ganze Welt blicke immer nur auf die Nordgrenze Mexikos – „aber die Südgrenze der USA ist hier: zwischen Mexiko und Guatemala.“ Hier sei die Nahtstelle, die den amerikanischen Kontinent in zwei Welten teile: den reichen Norden und den armen Süden. Hier sei das Nadelöhr, durch das sich die MigrantInnenströme zwängen. „Dies ist eine vergessene Grenze“, sagt er. Die menschlichen Dramen, die sich hier Tag für Tag abspielten, würden gar nicht erst wahrgenommen.
Mehrere tausend Menschen kommen jedes Jahr auf der Route nach Norden ums Leben. Sie ertrinken im Fluss, verdursten auf dem Marsch durch die Wüste, sie ersticken in LKW-Laderäumen, werden von Schleusern im Niemandsland ausgesetzt, von Giftschlangen gebissen oder Opfer brutaler Raubüberfälle, Vergewaltigungen und Morde.
Im ungeschriebenen Lexikon der MigrantInnen heißt der mexikanische Bundesstaat Chiapas deshalb „Friedhof ohne Kreuz“. Dennoch überqueren Zehntausende täglich die Grenze zwischen Guatemala und Mexiko. Die meisten auf legalem, nicht wenige auf illegalem Wege.
Hier arbeitet René Hernández als Fährmann. Arbeitskleidung: nichts als kurze rote Shorts. Arbeitsgerät: ein Floß aus alten LKW-Schläuchen. Kaum 500 Meter von der offiziellen Grenze entfernt, einer streng bewachten Brücke, bringt der 49-Jährige hier, an einer seichten Stelle des sachte dahin fließenden Río Suchiate, Menschen über die Grenze. Vielleicht – wer weiß – war er es, der Donar Antonio vor zwei Jahren auf seinem unter der Last von Kisten und Paketen schwankenden Floß von Tecún Umán in Guatemala nach Ciudad Hidalgo in Mexiko gezogen hat, an einem Seil, das er sich über die muskulöse Schulter wirft, wenn er barfuß, mit kräftigen Schritten durch den milchkaffeebraunen Fluss watet. Vielleicht hat auch damals ein Polizist von einem schattigen Plätzchen am mexikanischen Ufer aus das geschäftige Treiben beobachtet – und sich nicht gerührt. Meistens aber, weiß Hernández zu erzählen, bereichern sich Polizei und Militär an den MigrantInnen, nehmen ihnen, die im Heimatland ihr Hab und Gut verkauft, vielleicht sogar Schulden gemacht haben, das Reisegeld ab und stecken es in die eigene Tasche.

Zuflucht auf Zeit

So kommen viele bereits abgebrannt, hungrig und ernüchtert bei María Esther Rosales Mediana an. Die resolute Frau ist Vize-Direktorin der Albergue Belén in Tapachula. Die kirchliche Herberge für MigrantInnen ist ein Refugium der Ruhe, ein Informations-Umschlagplatz, eine Schlaf- und Raststätte für die indocumentados – MigrantInnen ohne gültige Papiere. Hier können sie sich ausruhen und von einem Arzt behandeln lassen. Im schattigen Patio steigt der Geruch frisch gewaschener Wäsche von den Leinen herab. Die bunt gestrichenen Wände zieren Bibelzitate und Sinnsprüche, Tröstendes, Aufmunterndes, Politisches: „Migration ist nicht das Problem, die Ursachen für Migration sind das Problem.“ Warmes Essen gibt es für die Ausgehungerten, Hosen und Schuhe für jene, denen Jugendbanden bis auf die Unterhose alles geraubt haben.
María Mediana wünschte, die Herberge wäre auch ein Ort des Innehaltens, der Umkehr: Durch die Glasscheibe ihres Büros blickt sie auf eine Landkarte Mexikos an der gegenüberliegenden Wand. Ein aufgeklebter Zettel informiert über die nächste Etappe der Reise: Tapachula – New York: 4.375 km, Tapachula – Los Angeles: 4.025 km, Tapachula – Houston 2.930 km. „Abschrecken lassen sich davon nur wenige“, sagt María Mediana, „die Verzweiflung der meisten ist größer als die Angst ums eigene Leben.“
Wie bei Donar Antonio. Der hatte einmal nur Glück im Unglück: Bevor das Krankenhaus ihn vor die Tür setzte, nahm Olga Sánchez Martínez ihn in der Herberge für Zugopfer auf. „Sie hat mich gerettet“, sagt er über die Frau mit den langen schwarzen Haaren im weißen Kleid. Seit achtzehn Jahren kümmert sich Doña Olga in Tapachula um die Opfer der „Bestie“: Mehr als 5.000 schwer verletzte MigrantInnen hat die 49-Jährige in ihrer Herberge Jesus, el buen Pastor schon verpflegt und medizinisch versorgt. Obwohl sie dafür 2004 von Ex-Präsident Vicente Fox mit dem mexikanischen Menschenrechtspreis ausgezeichnet worden ist, erhält sie weiterhin keinerlei staatliche Unterstützung. Weil Geld knapp ist und Medikamente, Prothesen und Rollstühle teuer sind, ist alles in dieser Herberge einfach: Die Zimmer sind spärlich beleuchtet, die Möblierung beschränkt sich auf einen Nachttisch, die Krankenhausbetten sind eher praktisch als gemütlich, ein kleiner Ventilator kämpft vergeblich gegen die feuchte Hitze. Alles hier sagt: Ich helfe dir, und ich helfe dir gern – aber nur auf Zeit. Ich bin nicht dein Zuhause.
Donar Antonio kann nicht bleiben, wo er ist. Er kann aber auch nicht dorthin zurück, wo er herkommt. Vor einem halben Jahr hat ihn Doña Olga begleitet. Zurück zu seiner Familie. Doch die, sagt er, wollte ihn nicht mehr haben. Sah nur einen zusätzlichen Esser in ihm. Einen Krüppel noch dazu. Wie sollte der ihnen helfen? „Sie waren froh, als ich wieder verschwand“, sagt er. Und lacht. Ein dem Schicksal trotzig abgerungenes, ein deprimierend grundloses Lachen.

Kontakt zu Olga Sánchez:
alberguejesuselbuenpastor@yahoo.com.mx

„Chef, wir haben eine Eselei begangen“

Eduardo D´Aubuisson, William Pichinte und Ramon Gonzalez von der rechten Regierungspartei ARENA aus El Salvador wurden am 19. Februar zusammen mit ihrem Chauffeur in der Nähe der guatemaltekischen Hauptstadt ermordet und mit Folterspuren aufgefunden. Drei Tage später wurden vier Polizisten verhaftet, darunter Luis Arturo Herrera, Chef der Abteilung gegen das organisierte Verbrechen. Zwei weitere Polizisten werden gesucht, darunter Marvin Contreras.
Bis dahin war der einzige Skandal, dass es sich bei den Opfern um Abgeordnete des Parlacen handelte. Dass die Täter hohe Polizeifunktionäre waren, erstaunte in Guatemala erst einmal niemanden. Allerdings erregten die schnellen Ermittlungserfolge viel Aufsehen und auch Ärger, darüber dass polizeiliche Ermittlungen gewöhnlich sehr lang dauern.
Bis heute ist das Motiv für die Morde umstritten. Die gängigste Theorie ist, dass die Abgeordneten, selbst in Drogengeschäfte involviert, von den Polizisten im Auftrag einer anderen Mafia-Fraktion ermordet wurden, die Geld oder Drogen bei ihnen suchten. Die Folterspuren könnten diese Vermutung bestätigen. Sie wird aber von den Regierungen El Salvadors und Guatemalas rundheraus abgelehnt.
Die Morde führten zu diplomatischen Verwicklungen zwischen den beiden Ländern. Weil sie der guatemaltekischen Polizei keine unabhängige Untersuchung zutraute, bestand die Regierung El Salvadors auf der Einbeziehung des US-amerikanischen FBI. Für den 26. Februar wurde das FBI zur Vernehmung der vier Polizisten erwartet. Bereits am 21. Februar, also einen Tag vor ihrer Verhaftung, hatten sie die Tat ihrem Vorgesetzten und Chef der Kriminalpolizei, Victor Soto, gestanden. „Chef, wir haben da eine Eselei begangen.“
Interessant, mit welchen Worten dem Chef ein vierfacher Mord gestanden wurde. Als „Dummheit“ bezeichneten die Polizisten ihre Tat wohl nur, weil sie nicht wussten, dass ihre Opfer Abgeordnete waren.

„Hervorragende Ermittler“ als Mörder

Interessant ist auch die Antwort des Innenministers Carlos Vielmann auf die Frage, warum die Beamten nie entlassen worden waren: „Weil sie hervorragende Ermittlungsarbeit geleistet haben.“ Und als der Reporter nachfragte, ob die hervorragende Arbeit vielleicht darin bestand, dass in den von ihnen bearbeiteten Fällen (z.B. im Fall des Raubs von acht Millionen US-Dollar im Flughafen der Hauptstadt im Jahr 2006) die ZeugInnen systematisch verschwanden oder tot auftauchten, hüllte sich der Minister in Schweigen.
Am 25. Februar erklärte Rodrigo Avila, Direktor der salvadorianischen Polizei, dass Marvin Contreras, einer der beiden noch gesuchten Polizisten, von der guatemaltekischen Polizei verhaftet worden sei. Doch die guatemaltekische Polizei stritt überraschenderweise den Fahndungserfolg ab. Erst drei Tage später habe sich Contreras freiwillig gestellt – jener Behörde, die in Verdacht steht, seine Komplizen ermordet zu haben. Hatte Contreras vielleicht bis dahin mit der Polizei verhandelt, bevor diese ihn „freiwillig“ wieder auftauchen ließ?
Am Montag, den 26. Februar, dem Tag der erwarteten Ankunft der FBI-ErmittlerInnen, wurde eine Nachricht bekannt, die alle bisherigen übertraf: Die vier verhafteten Polizisten, die gegen eine richterliche Anordnung in das Hochsicherheitsgefängnis Boquerón nahe der Stadt Escuintla gebracht worden waren, waren am Sonntag Nachmittag umgebracht worden.

Ein Innenminister mit großer Phantasie

Der Innenminister, der Präsident, und der Polizeidirektor wussten schnell, wie es dazu gekommen war: es müsse ein Fememord der im gleichen Gefängnis untergebrachten Jugendbanden gewesen sein. Zeugenaussagen von Familienangehörigen der Jugendlichen, die zum Sonntagsbesuch dort waren, widersprachen dem aber deutlich. „Plötzlich wurde der Besuch abgebrochen und es drang eine Einheit von außen ein. Wir hörten Schüsse.“
Das war nicht mehr zu ändern, die Presse hatte es publiziert. Aber Polizeileitung und Innenminister Vielmann antworteten einige Tage später mit großer Phantasie: Also, das stimme schon, dass ein Kommando von außen gekommen sei und es auch eine Schießerei gegeben habe. Aber das Kommando sei gekommen, weil es von einer Rebellion der Jugendlichen im Gefängnis gehört habe. Und da die GefängniswärterInnen die PNC nicht reinlassen wollten, hätte diese es eben mit Gewalt versucht. Die Schießerei zwischen Polizei und WärterInnen hätten die Jugendbanden ausgenutzt, um die vier Polizisten zu ermorden.
Der Bevölkerung, die diese Erklärungen lesen musste, blieb nicht mal die berühmte Flucht in den schwarzen Humor. Die Realität übertraf jeden Zynismus. Einigen der ermordeten Polizisten waren die Augen ausgestochen worden und es war auch versucht worden, ihre Zungen zu verstümmeln. Eine klare Botschaft, die sie als Verräter brandmarkt, die erst gesehen und dann geredet haben. Die Messerstiche in die Körper werden von vielen so interpretiert, dass sie eine Ritualtat der Jungendbanden vortäuschen sollen. Fakt ist, dass sie erst nach dem Tod verursacht wurden, wie es auch Spuren gab, die darauf hindeuten, dass der Tatort manipuliert wurde. Auf jeden Fall stimmen nach Aussagen unabhängiger ErmittlerInnen die Spuren nicht mit den Erklärungen der Sicherheitsbehörden überein.
Schließlich wurde am 9. März noch bekannt, wo die drei Abgeordneten vor ihrer grausamen Ermordung gefoltert worden waren: in einer Kapelle der Finca la Parga. Diese Finca, rund 25 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, wird nach Aussagen von Nachbarn des Anwesens seit 2005 von der Polizei für systematische Folterungen benutzt wird. Den Zugang zu der Kapelle hatten die Täter Armando Melgar zu verdanken, einem ehemaligen Militär Cousin des Fincabesitzers. Herr Melgar ist übrigens zufälligerweise Berater des Vizeinnenministers in Sicherheitsfragen.
Täglich tauchen derzeit neue Verwicklungen, Widersprüche und vor allem neue Taten auf, die weitere Enthüllungen provozieren. So wurden am 14. März neun Mitglieder der Polizei für Drogenermittlungen wegen eines Mordes im Januar in Huehuetenango verhaftet und am gleichen Tag in einer Veröffentlichung der Zeitung elPeriódico ein anderer Mord im Mai 2006 mit Mitgliedern der Kriminalpolizei in Verbindung gebracht.
Die aktuellen Enthüllungen haben eine Debatte über die Neugründung der Polizei und des Gefängniswesens, sowie letztlich des gesamten Sicherheitsapparates auf die Tagesordnung gesetzt. Am 13. März hat der Menschenrechtsombudsmann gemeinsam mit dem Rektor der San Carlos Universität und dem Kardinal Quezada Toruño, einen Tag später die Menschenrechtsorganisationen eigene Vorschläge für diesen Prozess vorgelegt.
In den nächsten Wochen wird es darum gehen, Strukturen und Mechanismen zu schaffen, die eine Fortführung des Prozesses sowie vor allem seine Begleitung und Kontrolle durch die Zivilgesellschaft garantieren. Wo die Reise hingeht ist angesichts der katastrophalen Zustände innerhalb des Sicherheitsapparates nicht gesichert.

Stimmen aus Guatemala

Unsere Lage ist schlimm. Die Fincabesitzer wollen nicht bezahlen. Sie sagen, der Kaffeepreis sei zu niedrig. Auf dieser Finca schulden sie uns seit drei Wochen Geld. Viele Leute haben fünf, sechs, sieben, acht Kinder. Die müssen Hunger leiden,“ berichtet die 17-jährige Kaffeepflückerin Saturana Cho in der Reportage Keine Bohne wert – Abgesang auf die goldene Ära des Kaffees.
Mit ihr und vielen anderen Menschen, Angehörigen von Verschwundenen des Bürgerkriegs, Mitgliedern von Jugendbanden, traditionellen Hebammen und MenschenrechtsaktivistInnen, sprach Andreas Boueke im Laufe von fünf Jahren journalistischer Streifzüge. Hunderte von Gesprächen des in Guatemala lebenden Journalisten bilden nun die Grundlage für 16 packende Reportagen, zusammengefasst in dieser 2006 erschienenen Sammlung. Boueke beleuchtet Schauplätze und Nebenschauplätze der aktuellen guatemaltekischen Realität. Einige seiner Recherchen, deren Ergebnisse Boueke auch in Guatemala veröffentlichen konnte, führten dort zu Konflikten mit mächtigen Konzernen und korrupten Staatsangestellten.
Andreas Boueke schaut genau auf die Arbeitsbedingungen in den Sektoren der Hauptexportprodukte Kaffee, Zucker, Erdöl und neuerdings auch Garnelen. Die aufgegriffenen Themen reichen von der Aufarbeitung der Vergangenheit durch Exhumierungen in den Hochlanddörfern über die Situation von Behinderten in Guatemala bis zur Garnelenmafia in Champerico. Boueke beleuchtet aber auch den Zustand des Gesundheitssystems, den Stellenwert traditioneller Maya-Medizin. Außerdem thematisiert der Journalist die Situation von TagelöhnerInnen auf Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen und Ölbohrungen in Alta Verapaz sowie das Erstarken der Bewegung von Homosexuellen, Lesben und Transvestiten. Seine Reportagensammlung fesselt von Anfang an; man mag sie bis zur letzten Seite gar nicht wieder aus der Hand legen.
Zwischen den einzelnen Reportagen erzählen in Stimmen aus Guatemala beispielsweise ehemalige Mara-Mitglieder oder Bürgerkriegsvertriebene von ihrem Leben. Oder María Ixcoy aus einem kleinen Dorf in der Region Kiché. In kurzen Passagen berichten sie sowie ihre Verwandten sowie Freunde undFreundinnen von Marías Lebenssituation und ihrem Werdegang zu einer engagierten wissenschaftlichen Mitarbeiterin in einer der bekanntesten Einrichtungen sozialwissenschaftlicher Forschung, FLACSO.
Mehrere Jahre hat Boueke auch in dem Ölförderstädtchen Rubelsanto in Alta Verapaz recherchiert. Seit 2000 machte er auf die Ölverschmutzung in der Umgebung des Ortes aufmerksam. Er erreichte, dass die guatemaltekische Tageszeitung El Periodico mehrfach seine Enthüllungen publizierte und seine Fotos abdruckte. Direkte Auswirkung dieser Veröffentlichung war, dass die unter Druck gesetzten Ölkonzerne, zunächst BASIC RESOURCES, dann der spätere Betreiber, die französische Ölfirma PERENCO, begannen, die verseuchten Stellen aufwändig zu reinigen. Aber auch, dass die BewohnerInnen des Städtchens starke Repressionen des Konzerns zu spüren bekamen, bis hin zu einem Mord an einem Dorfbewohner. Verdächtigt wurden Sicherheitsleute des Ölunternehmens, doch zu einer ordentlichen Beweisaufnahme kam es nie.
An die Reportage anschließend berichtet der erste und entscheidende Informant Bouekes, wie er kontinuierlich unter Druck gesetzt und sein Leben sowie das seines Sohnes bedroht wurde, nachdem der Ölfirma bekannt geworden war, dass er Informationen über die Öllachen an Boueke weitergegeben hatte. Er musste schließlich aus Rubelsanto flüchten und lebt heute in Mexiko.
An anderer Stelle führt Boueke ein Gespräch mit Doña Marcela, einer traditionellen Hebamme im Kiché, die ihre Tätigkeit mehr als Berufung im Dienst der Gemeinschaft denn als Beruf sieht oder mit Don Apolinario, einem bekannten Heiler der Maya-Medizin. Er führt auf Anfrage Zeremonien durch, deren Ziel es ist, das spirituelle Gleichgewicht im Umfeld des Kranken wieder herzustellen. Ein Heilungskonzept, das eine wichtige Bedeutung neben der westlichen Konzeption von Gesundheit und Krankheit hat, die vom staatlichen Gesundheitssystem vertreten wird. Dessen maroden Zustand lernen die LeserInnen in einer anderen Reportage kennen.

Andreas Boueke: Guatemala. Journalistische Streifzüge. Horlemann Verlag 2006, 238 Seiten, 12,90 Euro

Die vielen Facetten der (Un)sicherheit

Mit dem Ende der lateinamerikanischen (Militär-)Diktaturen seit den 80er Jahren verband sich die große Hoffnung, dass die einsetzenden Demokratisierungsprozesse zu einem weniger repressiven Charakter des Staates und der Abnahme institutioneller Willkür führen würden. Statt der erhofften Rechtsstaatlichkeit ist die gegenwärtige Situation jedoch von Repression, korrupten Polizeikräften und Gewaltkriminalität geprägt, was mit einem wachsenden Gefühl von Unsicherheit in der Bevölkerung einhergeht.
Das Verhalten der staatlichen Sicherheitskräfte bestimmt in entscheidendem Maße den Grad der Rechtssicherheit, der in einer Gesellschaft herrscht. Angesichts des weitreichenden Mangels an Rechts­sicherheit in vielen Staaten Lateinamerikas gibt es Versuche, die Strukturen der Polizei sowie ihr Verhältnis zur Bevölkerung zu verändern. Diesen Versuchen widmet sich Hugo Frühling von der Universität Chile in seinem Beitrag „Bürgernahe Polizei und Polizeireform in Lateinamerika“. Aus Nordamerika und Europa übernommene Konzepte bürgernaher Polizei sind in den vergangenen Jahren in verschiedenen Ländern Lateinamerikas implementiert worden. Studien zeigen, dass diese Programme von den BürgerInnen in hohem Maße positiv
bewertet werden und zu einer Verringerung des Gefühls von Unsicherheit führen. Ob sie jedoch auch zu einer sinkenden Kriminalitätsrate beitragen, ist aufgrund der geringen vorhandenen Datenmenge bisher nicht zu beurteilen. Für die Bekämpfung von Korruption und Gewalt seitens der Polizei seien außerdem breiter angelegte Maßnahmen notwendig, so der Autor. Eine Veränderung der „hierarchischen, zentralisierten, quasi-militärischen“ Organisationsmodelle (Frühling) sei dabei unum­gänglich.
Eine sehr interessante Analyse der Bundespolizei von Buenos Aires als Wirtschaftssubjekt liefert die Politikwissenschaftlerin Ruth Stanley in ihrem Beitrag „Unheimliche Begegnungen“. Die Polizei betreibt in Argentinien ein einträgliches Geschäft – sei es in Form einer policía adicional, einer
„Zusatzpolizei“, die für eine extra Bezahlung angemietet werden kann, durch das Abtreten polizeilicher Autorität in Elendsvierteln gegen Geld, oder durch unzählige unbegründete Verhaftungen, mit denen Bußgelder eingetrieben werden (so standen im Jahr 2.000 nahezu 46.000 Festnahmen wegen Straßenprostitution 72 Verurteilungen gegenüber). Um diese gewinnbringenden, oft korrupten Praktiken nicht zu gefährden und nicht allzu großem Druck von öf­fent­licher Seite ausgesetzt zu sein, betreibt die Polizei Imagepflege. Allerdings nicht in Form tatsächlich gelungener Polizeiarbeit, die sich in sinkenden Deliktzahlen ausdrücken würde, sondern zum Beispiel mittels der Praxis, nichtsahnende Personen in ein ausgeklügelt angeordnetes Verbrechensszenario
hineinzulocken und diese dann vor VertreterInnen der Medien öffentlichkeitswirksam zu verhaften. Das eingenommene Geld dient jedoch nicht nur, wie man vermuten könnte, der Bereicherung höherrangiger Polizeioffiziere, sondern auch der Beschaffung von Arbeitsmaterial der stark unterfinanzierten Polizeikräfte. Hier wird
deutlich, dass allein durch Veränderungen in der Organisationsstruktur und einen ebenso erforderlichen Mentalitätswechsel innerhalb der Polizei das Problem gesetzesbrechender Gesetzeshüter noch nicht gelöst wäre.

Paramilitarismus in Kolumbien

Nicht minder kompliziert ist die Lage, wenn das Militär involviert ist. Raul Zelik gibt einen umfassenden Überblick über die Entwicklung des Paramilitarismus in
Kolumbien. Führten die paramilitärischen Gruppen ursprünglich nur staatliche Anweisungen aus, wurden sie in den 80er Jahren in zunehmender Allianz zwischen Staat, Militär und organisiertem Verbrechen gemeinsam gestützt und aufgebaut. Die verschiedenen Akteure, bei denen es durchaus auch personelle Überschneidungen gab und immer noch gibt, verband dabei das gemeinsame Interesse, die Guerilla und alle anderen Gruppen, die auf die Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen hinwirkten, zu schwächen. Angriffe richteten sich dabei in höherem Maße gegen Zivilisten, die als legaler Arm der Guerilla betrachtet wurden, als gegen die Guerilla selbst. Es existierten jedoch nicht nur gemeinsame, sondern auch widerstreitende Interessen. Dies führte u.a. dazu, dass das in die Finanzierung paramilitärischer Gruppen stark involvierte Medellin-Kartell Ende der 80er Jahre selbst von den paramilitärischen Verbänden vereinnahmt und schließlich zerschlagen wurde. Heute sind die Paramilitärs längst zu einem eigenmächtig handelnden (Unsicherheits-) Akteur geworden.
In den 90er Jahren war unter der Regierung von Andres Pastrana, der Friedensverhandlungen mit der FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) führte, zu beobachten, dass sich Teile des Staatsapparats deutlich gegen den Paramilitarismus wendeten. Dies führte jedoch nicht zu einer Demilitarisierung, sondern zur Forderung nach der Reinstallation des staatlichen Gewaltmonopols und zum Startschuss für den Plan Colombia, in dessen Zuge seit 1999 jährlich mehr als 700 Millionen US-Dollar Militärhilfe an den kolumbianischen Staat gezahlt worden sind. Die daraus resultierende „Modernisierung der Armee (…) und Ausbreitung des Paramilitarismus als umfassendes, auch sozioökonomisches Kontrollregime“, stellen, so Zelik, die Grundlage für Uribes Politik der „Demokratischen Sicherheit“ dar.

Zentrale Einblicke

Sebastian Huhn und Anika Oettler widmen sich in ihrem Beitrag über Jugendbanden in Mittelamerika, den so genannten Maras. Die AutorInnen zeigen, dass zwischen dem wenigen gesicherten Wissen über die Banden und deren medialer Präsentation als transnational organisierte kriminelle Gruppen, die für einen Großteil aller Schwerverbrechen verantwortlich gemacht werden, eine erhebliche Diskrepanz besteht. Anne Huffschmid stellt in ihrem Beitrag über den Feminicidio eine erhellende Theorie zu den seit Jahren zunehmenden Frauenmorden in Mexiko und Mittelamerika vor. Johannes Specht zeigt, wie unterschiedlich die diskursive Konstruktion „illegaler“ MigrantInnen in Mexiko und den USA aussieht. Werden MigrantInnen auf der einen Seite der Grenze als Opfer von Diskriminierung und Staatsgewalt dargestellt und wahrgenommen, dominiert auf der anderen Seite das Bild vom gefährlichen Kriminellen. Lucia Eilbaum beschreibt eine lokale Kampagne der Polizei in Buenos Aires. Hervorzuheben ist nicht zuletzt der Beitrag von Fabrizio Mejia Madrid über Entführung und Straflosigkeit im modernen Mexiko – der Reportagestil macht diesen Text zu einem besonderen Lesegenuss.
Neben den Schwerpunkt-Beiträgen enthält der sehr empfehlenswerte Band eine kritische Analyse der lateinamerikanischen Wirtschaftsintegration (Martin Ling), einen Blick auf die Wasserproblematik in Lateinamerika (Annette von Schönfeld) und, zum 30jährigen Jahrestag des argentinischen Militärputsches, einen Bericht zum langen Kampf gegen die Straflosigkeit (Wolfgang Kaleck).
Natürlich kann das Themenfeld Sicherheit in Lateinamerika auf 200 Seiten nicht erschöpfend behandelt werden. Den HerausgeberInnen und AutorInnen ist es jedoch gelungen, eine Zusammenstellung sehr informativer und spannender Einblicke in zentrale Themen zu bieten. Wer sich also für Fragen der (Un)Sicherheit in Lateinamerika interessiert, dem wird das neue Jahrbuch eine überaus gewinnbringende Lektüre sein.

Karin Gabbert, Wolfgang Gabbert, Ulrich Goedeking, Anne Huffschmid, Albrecht Koschützke, Michael Krämer, Christiane Schulte, Ruth Stanley, Juliane Ströbele-Gregor (Hsg.): Jahrbuch Lateinamerika 30
– Mit Sicherheit in Gefahr. Analysen und Berichte. Westfälisches Dampfboot. Münster: 2006. 195 Seiten.
24,90 Euro

Das Recht auf Kinderarbeit

Es geht Manfred Liebel nicht um Vergleiche, sondern um das Verständnis für das Andere. Unter „Kinder im Abseits“ versteht er Kinder, deren Lebensrealität nicht den überkommenen westlichen Mustern entspricht. Diese Kinder und Jugendlichen haben sich eigene Welten geschaffen, wo sie ihre soziale Anerkennung finden. Liebel gibt hier einen wichtigen Denkanstoß, der das geläufige Verständnis in Frage stellt. Er kritisiert die mangelnde Partizipation von Kindern in unserer Gesellschaft. Wenn sie aber versuchen, Funktionen auszuüben, die der Erwachsenenwelt zuzuordnen sind, heißt es, es hindere sie am Lernen oder sie seien nicht kompetent genug.
Auch andere Jugendkulturen sollten nach Meinung des Autors nicht kriminalisiert werden. So genannte Jugendbanden wie die maras oder pandillas sind mit der hiesigen Jugendsoziologie schwer zu fassen. Denn sie stellen weder den Versuch einer Abgrenzung zur Erwachsenenwelt dar, noch geht es um die „Inszenierung der eigenen Belanglosigkeit“. Liebels Meinung nach schaffen sich diese Jugendgruppen vielmehr eigene Territorien, als Antwort auf strukturelle und soziokulturelle Konstellationen, die sie ausschließen und dienen oft auch zur materiellen Absicherung der Existenz ihrer Mitglieder.
Wenn Kinderarbeit thematisiert wird, sollte laut Liebel nicht nur von Ausbeutung gesprochen werden, sondern von einer Kinderöffentlichkeit, von Qualifizierung durch Arbeit und von Einkommensmöglichkeiten für Selbstachtung. Es sei wichtig, die Kinderarbeit als einen Optionenspielraum zu sehen, um sich nicht ausbeuten zu lassen. Wenn man die Kinderarbeit vom Stigma der reinen Ausbeutung befreie, sei es leichter, soziale Bewegungen der Kinder zu unterstützen, Projekte und Institutionen, die sich für sie einsetzen. Die Lohnarbeit trage zur Autonomie der Kinder bei.
Dazu gehöre es auch sich über die aktive Rolle der Kinder Gedanken zu machen. Kinder seien keine bedürftigen, noch zu entwickelnde Wesen, die man schützen oder ausbilden müsse. In dieser Hinsicht müssten auch Globalisierungskritiker umdenken, um sich für eine rechtliche und soziale Anerkennung der Kinderarbeitsbewegung einzusetzen, statt für Illegalisierung, Diskriminierung und Entlassung (wie es beispielsweise durch Fair-Trade-Gruppen geschieht). Kinder würden eben nur als Opfer, aber nicht als Partner oder handlungsfähige Subjekte anerkannt.
Ein weiterer Schwerpunkt des Buches ist die Situation von Jugendlichen an den Grenzen Mittel- und Nordamerikas. In diesem Zusammenhang stellen sie die besagten Pandillas oder Maras in Zentralamerika, werden vorgestellt: Ihre Geschichte, wie sie leben, ihre Aktivitäten und ihre Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Hierbei geht es um Verständnis, ohne zu stigmatisieren oder zu kriminalisieren. Zudem wirft Liebel noch einen kurzen Blick auf die Rolle der Educación Popular, die auf der Befreiungspädagogik beruht. Die bedeutet selbst organisiert zu leben und ein politisches Bewusstsein zu entwickeln, das die Kinder im Alltag stärkt. Der Autor nennt Beispiele von Lern-Werkstätten aus Nicaragua und Peru, in denen Kinder lernen und arbeiten.
Ganz zum Schluss geht Liebel noch auf die Bedeutung von Prinzipien der Solidarischen Ökonomie für die Kinderarbeit ein: Das Recht, ob und wie man arbeitet, das Recht auf Kinderarbeit und das Recht, selbstbestimmt und füreinander zu arbeiten.
Die im Buch aufgeworfenen Denkansätze sind leider kaum in der gängigen Jugendsoziologie und noch viel weniger in den Kampagnen gegen Kinderarbeit berücksichtigt. Umso wichtiger ist dieses Buch, das wie viele andere Veröffentlichungen von Liebel die Kinderarbeit differenziert betrachtet, und vor allem die Rechte der Kinder in den Mittelpunkt stellt: das Recht auf Arbeit, auf Selbstbestimmung, auf soziale Anerkennung, auf die Anerkennung als aktives Subjekt in der Gesellschaft.

Manfred Liebel: Kinder im Abseits. Kindheit und Jugend in fremden Kulturen. Juventa-Verlag 2005, 280 Seiten, 23,50 Euro

Die Mauer muss her

Als José Jalit Gonzalez in Veracruz von dem Zug absprang, wünschte er sich geradezu, dass die Polizei ihn festnehmen würde. Drei Tage hatte er sich an dem Eisengestänge der Güterwagen festgeklammert und gegen den Schlaf gekämpft. Seine Kleider waren zerrissen, die Schuhe hatte er verloren. Der 22-Jährige dachte an sein Zuhause in Nicaragua, die kleine Rinderfarm seines Vaters, die er einen Monat vorher verlassen hatte, um auszuwandern. Tausende von Dollar hatte er an die Fluchthelfer bezahlt, die ihn in die mexikanische Hafenstadt verfrachtet hatten, von der aus er mit Bussen zur US-Grenze weiterreisen wollte. Als die Polizei ihn in Puebla mit seinem falschen Visum verhaftete, versuchte José gar nicht mehr zu fliehen. Er war zu erschöpft.

Coyoten in der Wüste

Silvia Mercedes Rosa hatte schon eine längere Reise hinter sich, als sie in der Wüste von Arizona vor dem Güterwaggon stand, mit dem sie die letzte Etappe zurücklegen sollte. Sie blickte auf die Ladefläche. Sie war bis oben hin voll mit Kisten, die zur Decke kaum eine Armlänge Platz ließen. „Steig endlich ein, passiert schon nichts“, herrschte sie der „Coyote“ an. So werden die FluchthelferInnen genannt, die lateinamerikanische AuswandererInnen über die Grenze zwischen Mexiko und den USA schmuggeln. Silvia dachte an die Geschichten, die sie gehört hatte von EmigrantInnen, die in solchen Waggons erstickt waren. Doch sie dachte auch an den Weg, den sie zurückgelegt hatte. Sie hatte den Grenzfluss Rio Bravo auf einem Autoreifen überquert und war zehn Tage durch die Wüste in Arizona marschiert. Sie hatte einen Honduraner verdursten sehen. Es gab kein Zurück. Sie zwängte sich zwischen die Kisten. Sie hörte das Stöhnen der Mitreisenden. Mit einem trockenem Knall fiel die Tür zu.
Niemand kennt die genaue Zahl derer, die wie Silvia und José pro Jahr heimlich die Grenze ins vermeintliche Paradies überqueren wollen. 400.000 AuswandererInnen aus Lateinamerika hat die US-Grenzpolizei im Jahr 2005 festgenommen und in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt. Wer es trotz der ständig schärfer werdenden Kontrollen schafft, hat meist einen Weg des Schreckens hinter sich. Für MittelamerikanerInnen beginnt dieser an der Grenze zwischen Guatemala und Mexiko. Die US-Migrationsbehörden haben ihre Kontrollen sozusagen um ein Land nach vorne verlegt, die mexikanischen Grenzposten im Bundesstaat Chiapas werden von US-GeheimdienstbeamtInnen unterstützt – und überwacht. Die eigentlichen Herren des Grenzgebietes jedoch sind die Maras, Jugendbanden, die in Mittelamerika Angst und Schrecken verbreiten und ganze Landstriche terrorisieren. Man erkennt sie an ihren Tätowierungen. Sie sind meist schwer bewaffnet, stehen unter Drogen und gehen mit äußerster Brutalität vor. Vor allem die Zugstrecke vom Bundesstaat Chiapas nach Veracruz sei fest in der Hand der Maras, berichtet die mexikanische Tageszeitung La Jornada. Wenn der Zug langsam fährt, springen die Tätowierten auf und rauben die MigrantInnen aus. Wer sich wehrt, wird vom Zug gestoßen. Viele sterben unter den Rädern oder werden grausam verstümmelt. José Jalit Gonzalez berichtet, wie er an der Strecke zwei abgetrennte Füße sah, die noch in den Schuhen steckten.
Geschätzte elf Millionen Menschen haben es trotz alledem ohne Papiere in die USA geschafft. Nach Recherchen der New Yorker Nichtregierungsorganisation Pew Hispanic Center sind zwei Drittel von ihnen Latin@s. Für konservative Republikaner im US-Kongress eindeutig zu viele. Die so genannten Social Conservatives sehen die Wirtschaft und die Sicherheit des Landes durch die Einwanderung bedroht. Sie behaupten, dass die illegal Eingewanderten den Einheimischen die Billigjobs wegnähmen.

Schlupflöcher stopfen

Deshalb wird derzeit in Washington über ein Gesetz gestritten, das die verbliebenen Schlupflöcher im Grenzzaun stopfen soll. Die befestigten Anlagen, der Berliner Mauer nicht unähnlich, sollen auf die gesamten 3.200 Kilometer Grenze ausgedehnt werden. Erwischte EinwandererInnen ohne Papiere sollen nicht zurück, sondern ins Gefängnis geschickt werden.
Im Herbst sind in den USA Gouverneurs- und Abgeordnetenwahlen, und die Republikaner bangen um die Stimmen ihrer konservativen Klientel. An der Grenze haben sich Bürgerwehren gebildet, die die Regierung der Untätigkeit bezichtigen. Die so genannten Minutemen machen in Texas und Arizona Jagd auf ImmigrantInnen.
Der Umgang mit Aufgegriffenen ist bereits jetzt so hart, dass die Aussenminister der zentralamerikanischen Staaten, Mexikos und Kolumbiens im Januar eine Protestadresse an die USA formulierten, ein ungewöhnlicher Schritt, denn normalerweise stehen die konservativen Regierungen dieser Länder treu zu Washington. Man solle die ImmigrantInnen nicht wie Kriminelle behandeln, es seien Menschen, die Familien hätten und nach einer besseren Zukunft suchten. Man solle sie nicht als Bedrohung, sondern als Chance sehen. Der Appell hatte jedoch nicht nur humanitäre Gründe. Mexikos angespannter Arbeitsmarkt etwa kann die eine Million junger Menschen nicht aufnehmen, die jährlich neu nach einem Job suchen. Noch schlimmer sieht es in den Staaten weiter südlich aus. Ein Viertel aller LateinamerikanerInnen lebt von weniger als zwei Dollar am Tag. In Nicaragua, dem ärmsten Land spanischer Sprache, sind es sogar 80 Prozent. Im vergleichsweise reichen Costa Rica verdient eine Hausangestellte etwa 1700 Dollar im Jahr. Würde sie in die USA auswandern, könnte sie im Jahr 12.000 Dollar verdienen, so viel wie ein Rechtsanwalt in Chile und das Doppelte wie ein Taxifahrer in Uruguay. Selbst wenn sie keine Papiere hätte, könnten ihre Kinder in den USA zur Schule gehen, denn der staatliche Bildungsauftrag gilt dort auch für Illegale. Und sie könnte ihrer Familie Geld schicken. 45 Milliarden Dollar haben AuswandererInnen im Jahr 2005 nach Lateinamerika überwiesen. In Nicaragua ist das inzwischen die einzige Einnahmequelle für einen großen Teil der Bevölkerung. „Menschen sind unser wichtigstes Exportgut“, sagt der Journalist Douglas Carcache aus Managua, der ein Buch über die Auswanderung geschrieben hat.

Illegale Einwanderung amnestieren

Doch nicht nur in ihren Heimatländern, auch in den USA beleben die 50 Millionen dort lebenden Latin@s die Wirtschaft. Ihre Kaufkraft wird auf 700 Milliarden Dollar geschätzt. Zwei Millionen Betriebe hätten EinwandererInnen in den letzten Jahren gegründet, die 300 Milliarden Dollar im Jahr netto verdienten und anderthalb Millionen Jobs geschaffen hätten, meldet die hispanische Handelskammer in den USA. Wirtschaftsverbände weisen daraufhin, dass die nicaraguanischen Kindermädchen, mexikanischen ErntearbeiterInnen und honduranischen Müllfahrer gebraucht würden. Deswegen gibt es Bestrebungen liberaler Abgeordneter, illegale Einwanderung nachträglich zu amnestieren. Derzeit sind sie jedoch in der Minderheit.
Das beste Geschäft freilich machen die Schlepperbanden. Die US-Regierung schätzt ihre Einnahmen auf eine Milliarde Dollar im Jahr. Silvia Mercedes Rosa hatte ihrem „Coyoten“ 4500 Dollar gezahlt, die Ersparnisse eines Lebens. „Was sollte ich machen, ich muss vier Kinder ernähren, mein Mann ist arbeitslos“, sagt sie heute. Die 40-Jährige hoffte auf einen Job als Hausmädchen und wollte später ihre Familie nachholen. Als sie jedoch in der Wüste Arizonas in den Waggon kletterte, dachte sie, „ich werde meine Kinder nie wiedersehen“. Sie erinnert sich nicht, wie viel Zeit sie darin zubrachte, doch als die US-Migrationsbeamten den Waggon öffneten, war sie dem Ersticken nahe. Obwohl ihre Auswanderung damit gescheitert war, sei sie dankbar gewesen. „Die Posten haben mein Leben gerettet.“ In Abschiebehaft in San Antonio stellte sie fest, dass sie sogar Glück gehabt hatte. Die meisten Frauen, die mit ihr einsaßen, waren vergewaltigt worden, von den Coyoten, mexikanischen Grenzposten oder den Maras. Ärzte nahmen Reihenabtreibungen vor.
Fünf Monate nach ihrem Aufbruch in ein neues Leben ist Silvia Mercedes Rosa wieder in Nicaragua und verkauft nun abends Essen auf den Straßen von Leon. Es ist alles wie vorher. „Nur die 4500 Dollar sind weg“, sagt sie und weint.

Kreuzchen zu Ehren Schafiks

Weiß-rot oder blau-weiß-rot. Es gibt kaum einen Laternenpfosten, Strommast oder Baum an einer Straße in El Salvador, der nicht in den Parteifarben der linken FMLN (Nationale Berfreiungsfront Farabundo Martí) oder der rechten ARENA (Republikanisch-Nationalistische Allianz) bemalt wäre. Im Fernsehen wechselt sich die Wahlwerbung der verschiedenen Parteien mit dem Spot des Obersten Wahltribunals ab, in dem fröhlich Fähnchen schwenkende Menschen dafür werben, wählen zu gehen. Der salvadorianische Präsident Elías Antonio Saca macht für seine Partei ARENA Wahlkampf, obwohl ihm dies die Verfassung verbietet. Und die Menschen stehen Schlange, um von der kostenlosen medizinischen Versorgung zu profitieren, die die Ärztin und FMLN-Bürgermeisterkandidatin für San Salvador, Violeta Menjívar, organisiert hat. El Salvador ist in die heiße Phase des Wahlkampfs eingetreten. Am 12. März werden nicht nur die 84 Abgeordneten des Parlaments und die 20 salvadorianischen Abgeordneten des Zentralamerikanischen Parlaments PARLACEN gewählt, sondern auch die BürgermeisterInnen der 262 Kommunen des Landes.

Trauerfeiern für Schafik

Drei Tage stand der Wahlkampf still. Das Parlament verhängte offizielle Trauer für den am 24. Januar an einem Herzinfarkt gestorbenen Fraktionsvorsitzenden der linken Oppositionspartei FMLN Schafik Handal (siehe Nachruf auf Seite 7). Angesichts der großen Anteilnahme, die Schafiks Tod in der Bevölkerung auslöste, ließen selbst ARENA-Angehörige öffentlich versöhnliche Worte über Handal verlauten, der stets das Hauptziel ihrer antikommunistischen Angriffe gewesen war. Die FMLN bemühte sich, jeglichen Anschein von interner Uneinigkeit nach Handals Tod zu verrneiden. Die Partei verkündete, dessen „orthodoxe” Linie fortzuführen, und wählte umgehend Salvador Sánchez Cerén zum neuen Fraktionsvorsitzenden. Trotzdem nahmen ARENA-Angehörige die Situation zum Anlass, um vor einem großen Chaos in der FMLN zu warnen. Die Woche nach Schafiks Begräbnis am 29. Januar fing entsprechend mit Schlagzeilen in der rechten Zeitung El Diario der Hoy an, die linke Oppositionspartei gefährde die Stabilität des Landes. Zahlreiche soziale Organisationen, StudentInnen, GewerkschafterInnen sowie im informellen Sektor Beschäftigte hatten in San Salvador massiv gegen CAFTA protestiert. Das Freihandelsabkommen zwischen den USA, Zentralamerika und der Dominikanischen Republik soll nach mehrmaliger Verschiebung nun am 1. März in Kraft treten.
Wie bei sozialen Protesten jeglicher Art üblich, beschuldigte die Führung der Regierungspartei ARENA postwendend die linke Opposition, im Hintergrund die Fäden zu ziehen. „Schuldig an allem was passiert ist, ist die FMLN“, behauptete Staatspräsident Tony Saca. Der ARENA-Politiker warf der ehemaligen Befreiungsbewegung gar vor, sich mit den gefürchteten Jugendbanden, den so genannten maras, verbündet zu haben. Während ARENA-PolitikerInnen ihre verbalen Angriffe in früheren Wahlkämpfen häufig direkt an das FMLN-Aushängeschild Schafik Handal adressierten, richten sich diese nun gegen die gesamte Partei.
Waren ARENA und FMLN schon zuvor in der öffentlichen Wahrnehmung dominant, so hat sich diese Tendenz seit dem Todesfall noch verstärkt. Die kleineren Parteien PCN (Partei der Nationalen Versöhnung, rechts), PDC (Christlich-Demokratische Partei, Zentrum) sowie das Mitte-Links Bündnis von CD (Demokratischer Wechsel) und PNL (National-Liberale Partei) gehen zwischen linkem und rechtem Extrem nahezu unter.
Die wichtigsten Wahlthemen sind vor allem die ausufernde Gewalt sowie der wirtschaftspolitische Kurs des Landes. Vor allem ARENA setzt auf das Thema Sicherheit. Dabei hat das harte Vorgehen der ARENA-Regierungen gegen die maras in den vergangenen Jahren keineswegs zum Rückgang der Kriminalität, sondern im Gegenteil zu einem Anstieg der Mordrate und einer Häufung von Menschenrechtsverletzungen geführt. Das Jahr 2005 schloss mit einem Durchschnitt von zehn begangen Morden pro Tag und auch im Januar dieses Jahres wurde diese beängstigende Zahl erreicht.

Ökonomische Differenzen

In puncto Wirtschaftspolitik tun sich zwischen den beiden dominanten Parteien tiefe Gräben auf. ARENA steht für freien Markt, und CAFTA, das Anstreben ähnlicher Freihandelsverträge mit anderen Staaten sowie die Privatisierung der noch staatlichen Dienstleistungen wie Gesundheit, Wasser und Bildung. Die FMLN hingegen wendet sich weiterhin scharf gegen CAFTA und fordet die Wiedereinführung der alten Währung Colón, die seit der Dollarisierung 2001 verschwunden ist. Der wirtschaftlichen Abhängigkeit gegenüber den USA soll ein Ausbau der Beziehungen zu Venezuela entgegengesetzt werden. Außerdem fordern die FMLN-AnhängerInnen eine Anhebung des Mindestlohns sowie Preiskontrollen für bestimmte Grundgüter und lehnen weitere Privatisierungen strikt ab.
Noch ist unklar, wie sich der Tod Schafiks auf die Wahlchancen der FMLN auswirken wird. Der Soziologe und Politologe Antonio Martínez-Uribe rechnet vor, dass mindestens 250.000 Menschen an Schafiks Begräbnis teilgenommen haben und insgesamt über eine Million an den zahlreichen Feiern zu dessen Ehren anwesend waren. Dies, so Martínez-Uribe, ist ein „außergewöhnliches soziales und politisches Phänomen angesichts der Tatsache, dass es sich um einen linken Oppositionsführer handelt.“
Der Schafik-Effekt
Die Anteilnahme, die der Tod Schafiks ausgelöst hat, könnte also eine Stärkung der linken Partei bedeuten, wenn diese es schafft, die Unterstützung für den FMLN-Führer in Wählerstimmen umzuwandeln. Entsprechend wirbt die FMLN mit dem Gedenken an das Vermächtnis ihres Fraktionsvorsitzenden um Stimmen zu „Ehren Schafiks “. Die Rechnung könnte aufgehen. Umfragen zufolge legte die FMLN seit Handals Tod in der WählerInnengunst deutlich zu. Lag ARENA seit Monaten in den Umfragen vorn, scheinen der Kampf ums Abgeordnetenhaus und um das symbolträchtige Bürgermeisteramt in San Salvador wieder offen zu sein. Einige sprechen bereits vom „Schafik-Effekt“.
Traditonell ist das Abschneiden der FMLN bei Parlaments- und Kommunalwahlen besser als beim Kampf um das Präsidentenamt. Zwar verfügte die Rechte des Landes in Form von ARENA und PCN im Parlament stets über die absolute Mehrheit. Jedoch erreichte die linke Partei bei den vergangenen beiden Parlamentswahlen jeweils die relative Mehrheit und gewann dreimal in Folge das Bürgermeisteramt der Hauptstadt.
Andererseits ist unsicher, inwieweit sich der Tod des zum traditionellen Flügel der FMLN gehörenden Handals auf die internen Kämpfe in der FMLN auswirken wird. Seit ihrer Gründung als Partei 1992 verzeichnete die ehemalige Befreiungsbewegung zahlreiche Austritte von Abgeordneten, BürgermeisterInnen und Mitgliedern. Der jüngste Parteiaustritt von sozialdemokratisch orientierten Abgeordneten, die die Revolutionäre Demokratische Front (FDR) gründeten, ließ die FMLN mit nur 24 der 31 Parlamentssitze zurück, die sie bei den vergangenen Wahlen im März 2003 gewonnen hatte. Wie sich die Kräfteverhältnisse zwischen „Orthodoxen“ und „Reformisten“ in der FMLN nach Schafiks Tod entwickeln, wird sich nach der Wahl zeigen.

Kasten:
Vergessene Opfer der Naturkatastrophen

Hurrikan Stan? War da was? Schaut man heute in die salvadorianische Tagespresse, findet man nur noch vereinzelt Nachrichten über die Folgen des Hurrikans, der Anfang Oktober letzten Jahres große Teile des Landes verwüstete.
Immerhin liegt seit November 2005 der umfangreiche Schadensbericht des Wirtschaftsrats der Vereinten Nationen für Lateinamerika (CEPAL) über die jüngsten Naturkatastrophen in El Salvador vor. Quantitativ betrachtet ist dem Bericht zufolge der soziale Schaden am größten, vor allem in den bereits benachteiligten und geschwächten sozialen Schichten: der ländlichen Bevölkerung, den Landfrauen und den KleinhändlerInnen. Die Schäden an ihren „Hinterhofwirtschaften“ seien zwar wenig sichtbar, hätten aber erhebliche negative Folgen für das Wohlergehen dieser Bevölkerungsteile. Insgesamt schätzt die CEPAL den Schaden auf 355 Millionen US-Dollar – wesentlich mehr als die 230 Millionen US-Dollar, welche die salvadorianische Regierung unmittelbar nach dem Hurrikan Ende Oktober 2005 bekannt gab. Gelder für den Wiederaufbau werden von der Regierung nicht eingesetzt oder für recht zweifelhafte Studien und Voruntersuchungen verschwendet. Bis zu zwei Drittel aller von der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID) für Mittelamerika bewilligten Gelder sind für Beratungsleistungen drauf gegangen, noch ehe auch nur ein Damm oder eine Stützmauer gebaut oder eine Drainage freigelegt wurde.
Bei Betrachtung früherer Erfahrungen mit der internationalen Katastrophen- und Wiederaufbauhilfe ist es nicht verwunderlich, dass es nach dem Hurrikan Stan keine größeren Lobbying-Anstrengungen aus der NRO-Welt gegeben hat, um aus dem Wiederaufbau zugleich eine strukturelle Transformation zu machen. Hurrikan Mitch forderte 1998 in Mittelamerika 26.000 Menschenleben, vertrieb 2,5 Millionen Menschen und verursachte einen Schaden von fast sieben Milliarden US-Dollar. Damals gab es in Stockholm und Madrid große, von der Weltbank ausgerichtete Geberkonferenzen für deren Vorbereitungen NROen in Mittelamerika hart arbeiteten. Einen Wiederaufbau mit strukturellen Veränderungen hat es dennoch bekanntlich nicht gegeben.
Ulf Baumgärtner

Der CEPAL-Bericht „Efectos en El Salvador de las lluvias torrenciales, tormenta tropical Stan y erupción del volcán Ilamatepec (Santa Ana), Octubre del 2005“ ist abrufbar unter www.cepal.org.mx

„Es gibt keinen Übergang zur Demokratie”

Wie beurteilt ihr die aktuelle soziale und politische Situation in El Salvador? Kann man von einem Demokratisierungsprozess sprechen?

Guadalupe: Die rechten ARENA-Regierungen, die sich seit 16 Jahren an der Macht abwechseln, haben eine Reihe von sozial- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen durchgeführt, die keine Fortschritte bei der Demokratisierung des Landes ermöglichten. Manche Errungenschaften der Friedensverträge wurden sogar wieder rückgängig gemacht. Und auch die sozioökonomische Situation vieler Menschen hat sich in den letzten Jahren verschlechtert. Die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, nach Land, nach besseren Löhnen, die die Ursachen für den bewaffneten Konflikt waren, sind weiterhin aktuell.

Davíd: Meiner Meinung nach gibt es keinen Übergang zur Demokratie in El Salvador. Es gibt einen Teil der Friedensverträge, der sich auf die unmittelbare Beendigung des bewaffneten Konflikts bezog, wie die Verringerung der Streitkräfte, die Auflösung der Eliteeinheiten sowie der Sicherheits- oder Polizeikräfte. Die Abkommen sahen aber auch Verfassungsreformen und Veränderungen bei staatlichen Institutionen vor, um einen demokratischen Machtausgleich zu schaffen. Darunter fallen Veränderungen beim Justizsystem, beim Wahlsystem, die Schaffung der Menschenrechtsombudsstelle und die Gründung der zivilen Nationalpolizei. Aber parallel zu den positiven Veränderungen gibt es einen Prozess der Konsolidierung der Straflosigkeit sowie die Tendenz einer zunehmenden Behinderung und Kontrolle der neuen demokratischen Institutionen durch die Partei der extremen Rechten ARENA. Dieser antidemokratische Prozess hat sich seit 1997 verstärkt, als die Vereinten Nationen leider ihre direkte Überwachung des Friedensprozesses in El Salvador beendeten. So dass viele der Gesetzesreformen seither wieder rückgängig gemacht wurden.

Auch beim Wahlrecht gab es jüngst Reformen. Helfen diese die Mängel im salvadorianischen Wahlsystem zu verbessern?

Davíd: Im Gegenteil, sie verschärfen das Problem noch. Eine grundlegende Schwäche des Wahlrechtssystems ist, dass nie ein unabhängiges Wahltribunal geschaffen wurde. Die oberste Wahlbehörde ist politisiert, das heißt ihre Mitglieder setzen sich aus Personen zusammen, die entweder direkt entsprechend der Parlamentsmehrheiten den politischen Parteien angehören oder durch eine von diesen Parteien dominierte Instanz gewählt werden. Das führt dazu, dass ARENA den Wahlapparat mehrheitlich kontrolliert und Wahlfälschungen möglich sind. Nach den jüngsten Reformen des Wahlrechtssystems können die Entscheidungen des Wahltribunals nun schon mit drei statt vier von fünf Stimmen gefällt werden. ARENA kann also noch leichter mit Hilfe der ihr nahe stehenden Mitglieder Entscheidungen der obersten Wahlbehörde beeinflussen. Auch Manipulationen der Bevölkerung vor den Wahlen sind in großem Stile zu befürchten, da die Wahlbehörde die schmutzigen Kampagnen der Rechten nicht verhindert.

Kann man in der Zeit vor den Wahlen einen Anstieg der staatlichen Repression beobachten?

Davíd: Bei den vergangenen Wahlen ist genau das passiert. Das Problem ist, dass ARENA nicht nur das Wahlsystem kontrolliert, sondern auch andere demokratische Institutionen. So paktiert die Rechte im Parlament mit anderen Parteien oder kauft sogar einzelne Abgeordnete. Auch die Polizei steht unter der Kontrolle von ARENA. Eine Polizei, die systematisch in schwere Menschenrechtsverletzungen verwickelt ist. Der ganze salvadorianische Sicherheitsapparat dient eher der Repression und Kontrolle der Bevölkerung als dass es sich um eine demokratische Instanz zur Verbrechensbekämpfung handelt.
Ein sehr konkreter Fall, wie ARENA diesen Repressionsapparat für sich nutzt, war bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen. Damals hatte die FMLN im Vorfeld bedeutende Wahlerfolge auf kommunaler und Landesebene erreicht. Die sofortige Reaktion der Regierung war, eine Politik der harten Hand gegen die Jugendbanden anzukündigen. In einer Kampagne wurden die Jugendbanden als der große Feind der Nation dargestellt. Ihre Bekämpfung wird dabei von der Regierung als Vorwand für eine erneute Militarisierung verwendet. Grausame Morde, bei denen die Leichen teilweise enthauptet oder verstümmelt aufgefunden wurden, hat man den Jugendbanden in die Schuhe geschoben. Auch wenn diese Fälle nie erfolgreich aufgeklärt wurden, kann sich die Regierung durch ihr hartes Vorgehen gegen die soziale Gewalt profilieren. Angesichts der enormen Unsicherheit, die die Bevölkerung erlebt, verschafft der autoritäre Einsatz der Polizei ARENA Vorteile bei den Wahlen. Die grundlegenden Probleme, die die Ursache für die soziale Gewalt sind, werden nicht diskutiert.
Guadalupe: Die Jugendbanden sind nicht die einzigen Verantwortlichen für die soziale Gewalt. Die Regierung ist direkt verantwortlich für das Töten oder Verschwindenlassen von Personen durch so genannte Säuberungstrupps, die den Todesschwadronen während des Krieges sehr ähneln. Aus meiner Sicht handelt es sich hier um eine organisierte Strategie. Was bringt es, dass zehn Tote täglich auftauchen? Die Leichen, verstümmelt oder ohne Kopf, schaffen ein Klima der Angst und Panik, das die sozialen Bewegungen schwächt. Die Verantwortung für die soziale Gewalt wird der FMLN zugeschrieben. Die Massenmedien gehen so weit zu behaupten, die FMLN stehe hinter dem Phänomen der Jugendbanden.

Wie sind die Erwartungen der sozialen Bewegungen angesichts der Wahlen im März 2006?

Guadalupe: Wir als Bloque Popular Social haben zwei Strategien. Einerseits wollen wir die Unterstützung der Bevölkerung durch eine nationale Kampagne ausweiten. Diese lief am 30. November 2005 mit landesweiten Protestaktionen sehr erfolgreich an.
Unsere Agenda besteht dabei aus fünf Punkten: Erstens die Landfrage. Zweitens die Problematik des Wiederaufbaus nach Naturkatastrophen. Das heißt die mangelhaften Maßnahmen von Seiten der Regierung nach den Hurrikanen, Vulkanausbrüchen und Erdbeben sowie die fehlende Prävention. Drittens das Thema Wasser. Denn in den nächsten Tagen soll dem Parlament der Entwurf für eine Privatisierung der Wasserversorgung vorgelegt werden. Und Viertens eine Sache, die nicht nur El Salvador sondern die ganze Region betrifft: die Treibstoffkrise. Als letzten Punkt fordern wir die Wiedereinführung des Colóns, der nach der Dollarisierung verschwunden ist, das heißt dass beide Währungen wieder im Umlauf sein sollen. Auf Grundlage dieser Agenda wollen wir als soziale Bewegungen aktiv werden, von Haus zu Haus gehen, um bei den Menschen ein Bewusstsein zu schaffen, dass wir diese Probleme nur lösen werden, wenn wir Veränderungen im Land durchsetzen.
Ich denke, dass wir vielleicht nicht nur auf der Ebene des sozialen Kampfes bleiben können, sondern auch einen politischen Kampf führen müssen, da wir es hier mit strukturellen Problemen zu tun haben. In diesem Sinne haben wir entschieden, die Kandidaturen der linken Partei FMLN zu unterstützen. Aber nicht, indem wir auf Wahlstimmenfang für diesen oder jenen Kandidaten gehen, sondern indem wir bei der Bevölkerung ein Bewusstsein für die Problematiken schaffen – und dafür, dass die Politiker der Rechten diese nicht lösen werden. Es ist wichtig, der Bevölkerung eine Analysefähigkeit zu vermitteln, die verhindert, dass sie sich zum Zeitpunkt der Wahlstimmabgabe von den Kampagnen verleiten lassen.
Und andererseits, als zweite Strategie, wollen wir uns als soziale Organisationen für eine transparente Wahl einsetzen. Damit das Wahlergebnis am 12. März 2006 wirklich den Willen der Bevölkerung reflektiert und nicht durch Wahlbetrug manipuliert wird.

Welche Rolle spielt in der aktuellen politischen Situation die internationale Solidarität?

Guadalupe: Wir haben während des bewaffneten Kampfes und während der Friedensschlüsse eine unheimlich große internationale Solidarität erfahren. Und heute in der schwierigen Zeit, in der die Regierung sich wie eine Diktatur aufführt, sind wir auch auf diese Hilfe angewiesen. Die internationale Solidarität ist wichtig, um die Wahlen zu beobachten, damit es keinen Wahlbetrug gibt, oder wenn, dass es Zeugen dafür gibt.

Davíd: Für die Menschenrechtsfrage hat die internationale Solidaritätsbewegung immer eine große Rolle gespielt. Ich denke, es ist wichtig, die internationale Solidarität wieder zu beleben. Vor allem angesichts der unheimlichen Macht, die ARENA und die wirtschaftliche Klasse in El Salvador besitzen.

Kasten:

Hasta siempre, Jon Cortina

Am 12. Dezember ist der Jesuitenpriester und Gründer der salvadorianischen Organisation zur Suche nach „verschwundenen“ Kindern Pro-Búsqueda gestorben. Ein Nachruf von Beat Schmid

Weißhaarig, schlacksig, Zigarette im Mundwinkel und auch mal Kraftausdrücke brüllend. So stand er lachend im Tor in San José Las Flores, als ich Jon Cortina 1990 in der von der FMLN kontrollierten Zone in El Salvador zum ersten Mal sah. Einer aus der Gruppe der baskischen Jesuiten, die vor Jahrzehnten nach El Salvador gekommen waren und ihre Universität UCA zu einem Zentrum des kritischen Denkens und Handelns geformt hatten. Als Ingenieur leitete Cortina den Wiederaufbau der Hängebrücke über den Sumpulfluss und der Wasserleitung für das Dorf Guarjila, als Priester lebte und predigte er die Befreiungstheologie. Während der Großoffensive der FMLN 1989 wollte Jon zu seinen Gefährten nach San Salvador, aber die Leute baten ihn bei ihnen zu bleiben. „Hier bei uns bist du sicher“, sagten sie ihm. Und sie hatten Recht, wurden doch sechs Priester und zwei Hausangestellte von Armeeangehörigen ermordet. Jon lebte bei und mit seinen Leuten, in den ländlichen Gemeinden fühlte er sich zu Hause und wurde geliebt.
Nach dem Krieg setzte sich Jon unermüdlich für die Dörfer in Chalatenango ein, leitete Wiederaufbauprojekte, animierte zu Organisation und Gemeinschaftssinn. Die Pein einer Mutter, deren Kind während einer Antiguerrillaoperation von der Armee verschleppt worden war und deren Suche Jahre danach erfolglos geblieben war, veranlasste ihn die Organisation Pro-Búsqueda zu gründen. Dutzende von Fällen verschleppter Kinder – einige wurden in gutem Glauben auch von europäischen Eltern adoptiert – konnten aufgeklärt werden. Andere Familienangehörige, deren Kinder, EnkelInnen, Nichten und Neffen (noch) nicht gefunden wurden, fanden einen Ort, um ihr Leid zu teilen und neue Kraft zu schöpfen.
Ende November 2005 erlitt Jon eine Hirnblutung und erlangte das Bewusstsein bis zu seinem Tod am 12. Dezember nicht wieder. „Ein Teil der Dorfseele ist von uns gegangen“, schreibt der Dorfarzt.
Mach’s gut, Jon. Du wirst uns fehlen.

Diesseits und jenseits der Grenzen

In einer kleinen Landgemeinde im nordmexikanischen Staat Chi-huahua haben sich trotz klirrender Kälte etwa Hundert Rarámuri unter freiem Himmel versammelt, um einer peyote-Heilung beizuwohnen. Jugendliche im heiratsfähigen Alter, témari und iwé genannt, sitzen zusammen mit „den Alten“, wie Personen gleich welchen Alters, die schon erwachsene Kinder haben, bezeichnet werden. Zum Höhepunkt des Festes , nachdem bereits viel Maisbier getrunken wurde, stimmen Einige sehr persönliche Lieder in ihrer utoaztekischen Sprache an. Ein junger Mann, der mir durch sein aus einem weiten Hemd und einer ebenso sackartigen Hose bestehenden Outfit aufgefallen war, bittet mich plötzlich inständig mit ihm sein persönliches Lied anzustimmen: „Chiquitita“ von Abba. Einige der Beistehenden ziehen ihn als cholo auf und mir schießt das Bild der Jugendlichen durch den Kopf, die seit wenigen Jahren in der Fußgängerzone der Landeshauptstadt ebenso durch weite Jeans-Hosen, XXL-Hemden, tief in die Stirn gezogene Stirnbänder oder Schlapphüte auffallen, während sich die cholas mit tiefschwarz gefärbtem Haar, grell geschminkten Gesichtern und betont gezeichneten Augenbrauen präsentieren. Passend zur Kluft, die die bequeme Kleidung einfacher Arbeiter nachahmt, stehen die Jugendlichen auf Rock n’ Roll, Beat und Pop, auf Oldies, die bessere Zeiten evozieren. Kaum zu glauben, dass die Mehrheitsgesellschaft in diesen cholos/as den Inbegriff von Verbrechen und Drogenmissbrauch sieht.

Import – Export

Der cholismo der Rarámuri ist eine von vielen unterschiedlichen Formen der Aneignung dieser Jugendbewegung, die als die vitalste und langlebigste in der Grenzregion gilt. Bereits in den 1940er Jahren begannen mexikanischstämmige pachucos in Los Angeles und weiteren US-Städten sich dandyhaft in zoot suits zu kleiden und tänzerisches Geschick sowohl zu Rumba- als auch zu Swing-Klängen zur Schau zu stellen. Ihre großflächigen Tätowierungen mit Blumen und katholischen Heiligen zeugten vom Militärdienst oder Gefängnisaufenthalt. Als „exhibitionistische Antwort auf den nordamerikanischen Rassismus“ (Antonio Guerrero) werteten sie Mexikanisches zu einer Zeit positiv auf, als sich die meisten EinwanderInnen aus dem Süden noch bemühten, die ihnen abverlangte Assimilation in die angloamerikanische Gesellschaft zu erfüllen. Bereits diese Vorläuferbewegung zum cholismo war ein grenzübergreifendes Phänomen, das starke Impulse auch von der mexikanischen Seite erfuhr. Der in Ciudad Juárez aufgewachsene Germán Valdés schuf mit dem coolen Leinwand-pachuco Tin Tan einen Gegenentwurf zu dem in Hollywoodfilmen verbreiteten Stereotyp des Mexikaners als schmuddeligem Bösewicht.
Jugendliche aus den Armenvierteln, die sich als cholos/-as begriffen, setzten diesen Trend der lustvollen Kombination von Mexikanischem und Nordamerikanischem in Kleidung, Sprache, Musik und Tänzen fort. Ausgehend von East L.A. fand der cholismo bis nach Mittelamerika Verbreitung. Gerade in den mexikanischen Grenzstädten mit ihrem großen Anteil an landesinternen MigrantInnen und starker Verknappung des Wohnraums fiel die neue Subkultur auf fruchtbaren Boden. Auch die öffentliche Sicherheit wurde hier immer mehr zu einem Problem: Die Kriminalität stieg insbesondere mit der Ausweitung der Drogenökonomie an, dem Anbau von Marihuana und Schlafmohn in Chihuahua und dem Transport in die USA. Die cholos/as wurden und werden weiterhin pauschal mit den sich verschärfenden sozialen Problemen in Verbindung gebracht. So werden in den sensationslüsternen páginas amarillas von Chihuahuas Tageszeitungen Raubüberfälle und Totschlagdelikte gern „wie cholos/as aussehenden Personen“ zugeschrieben. Die pauschale Diskriminierung erstaunt, angesichts des Umstands, dass der Übergang zwischen den kulturellen Ausdrucksformen der cholos/as und den modischen Vorlieben anderer Jugendlicher fließend ist. Dies gilt auch für ihren Slang, den caló, den sie mit dem typischen regionalen Jargon, unter anderem mit englischen Wörtern, anreichern. Andererseits bilden die cholos/as tatsächlich neue Gemeinschaften, so genannte barrios. Sie erheben Gebietsansprüche, indem sie Graffiti, placas, an Stellen anbringen, die möglichst nicht von rivalisierenden barrios übermalt werden können. Ein Teil der cholos/as konsumiert Drogen und ist in Drogengeschäfte verwickelt, mit verheerenden Konsequenzen. Oft jedoch werden institutionalisierte Formen von Rivalität zwischen den Jugendbanden, die nur selten in Gewaltakte eskalieren, pauschal mit der Drogenkriminalität einer Minderheit verwechselt.

Neue Grenzziehungen

Etymologische Interpretationen des Namens cholo/a sind Teil der neuen kollektiven Identitäten. Im Einklang mit ihrer Verehrung der Azteken als indígenas, die ursprünglich aus Nordmexiko stammten, führen cholos/as ihre Selbstbezeichnung am liebsten auf Begriffe aus deren Sprache, dem Nahuatl, zurück. Wahrscheinlicher aber ist, dass der Begriff, der im Andengebiet die mestizos/as bezeichnet, Mitte des 19. Jahrhunderts und versehen mit der Konnotation von arm und ungebildet, seinen Weg in die mexikanisch-US-amerikanische Grenzregion fand. In East L.A. nahmen die so despektierlich bezeichneten Mexikanischstämmigen cholo/a erstmals als Eigenname an und deuteten ihn positiv um.
Die politische Grenze ist im Alltag von Chihuahua allgegenwärtig und doppelgesichtig. Sie wird nicht nur als Schauplatz fortwährender Demütigungen erfahren, als Ort, an dem MigrantInnen aus Mexiko Opfer von Menschenrechtsverletzungen und wirtschaftlicher Ausbeutung werden. Sie wird auch als Arena von sozialer Interaktion und kulturellem Austausch erlebt. Gleichzeitig gibt es auch innerhalb von Chihuahua extreme soziale und wirtschaftliche Ungleichheit. Eine rassistische Ideologie, mit der sich die blancos/as von den Rarámuri als „indios“ und „Menschen zweiter Klasse“ distanzieren, ist Grundlage einer wirtschaftlichen Hierarchie, die die Letztgenannten in allen Bereichen benachteiligt. Die weiße Mehrheit grenzt sich zudem im Zuge eines neuen Regionalismus nach mehreren Richtungen hin scharf ab. Als angeblich unvermischte Nachkommen der spanischen Eroberer ziehen sie auch zwischen sich und den chicanos/as eine strenge Grenze. Diesem Mainstream ist die hybride kulturelle Orientierung von chicanos/as und cholos/as, die Mexikanisches mit Nordamerikanischem verbinden, suspekt: Sie bewerten sie als ein Zeichen von „Kulturlosigkeit“.
Was bedeutet es vor diesem Hintergrund, dass sich indigene Jugendliche in Chihuahua zunehmend für den cholismo als kulturelle Ausdrucksform und als Basis einer Solidargemeinschaft mit Gleichaltrigen begeistern? Wie haben sie sich den cholismo angeeignet? Inwiefern kann es für sie ein Vorteil sein, zwei in der Grenzregion diskriminierte soziale Identitäten, die als indígena und die als cholo/a, zu kombinieren?

Stadt und Land

Ein Hintergrund des indigenen cholismo ist die zunehmende Präsenz von Rarámuri in den Großstädten von Chihuahua. Über drei Viertel der 70.000 Rarámuri leben überwiegend von einer Mischökonomie aus Landwirtschaft und Wanderarbeit in den Städten. Seitdem sich die Bedingungen für die agrarische Subsistenzproduktion im Vorfeld zur 1994 in Kraft getretenen nordamerikanischen Freihandelszone verschlechterten, haben Rarámuri ein neues Migrationsmuster entwickelt: Während es früher vor allem die Männer waren, die saisonal in die nordmexikanischen Großstädte gingen, sind es seit Mitte der 1980er Jahren auch Frauen und Kinder, die zusätzlich die Grenzstädte aufsuchen. Sie erzielen relativ gute Verdienste, indem sie an Straßenkreuzungen die Rotlichtphase abwarten, um AutofahrerInnen mit einem forschen „¡kórima peso!“ (schenke mir Pesos) um eine Geldspende zu bitten. Aufgrund der neuen Geldquelle ist erstmals eine institutionalisierte Migration von Kindern und Jugendlichen entstanden. Neben indígenas, die saisonal zwischen ihrer Landgemeinde und bestimmten Großstädten pendeln, gibt es eine nicht unerhebliche Zahl, die sich auf Dauer in Metropolen niedergelassen hat. In der Landeshauptstadt Chihuahua leben inzwischen ungefähr 4.000 Rarámuri in circa 40 „wilden“ Siedlungen über die vielen Armenviertel verstreut. Die Zahl derer, die in der Stadt geboren werden, nur noch Spanisch sprechen und dort ihren Lebensmittelpunkt sehen, wächst beständig an. Und in fast allen dieser Niederlassungen wächst die Zahl der hauptsächlich männlichen Rarámuri, die sich als cholos begreifen.

Nachgeholte Jugend

Die indigenen Jugendlichen müssen sich in einer komplexen Welt voller Herausforderungen behaupten. So zum Beispiel der neunzehnjährige Bastiano aus der Landgemeinde Narárachi. In den Wintermonaten zieht er zusammen mit seiner siebzehnjährigen Frau und einem Kind in eine improvisierte Unterkunft aus Wellpappe in Colonia Mirador, einem traditionellen Lagerplatz. Bastiano jobbt ähnlich wie andere Pendler tageweise auf Baustellen, während seine Frau an einer nahe gelegenen Straßenkreuzung bettelt. Im Gegensatz zu den älteren Rarámuri-Männern, die in der Stadt gemäß einer früheren Jugendmode Kleidung im Cowboy-Stil tragen, bevorzugt Bastiano eine Armee-Hose in Übergröße, Reebok-Schuhe, ein über die Hose hängendes Flanellhemd und trägt bisweilen eine Fischermütze. In diese cholo-Kluft investiert er einen nicht unerheblichen Teil seines Verdienstes. Abends gesellt sich Bastiano zu den nicht-indigenen cholos/as dieses Stadtviertels. Sie verbringen viel Zeit an einer Straßenecke nahe dem häufig frequentierten Geschäft für Alkoholika und können so den vielen PassantInnen effektiv eine ständige Präsenz suggerieren. Auch prägen sie sich durch forsche Zurufe bis hin zu Drohungen, die sie den FußgängerInnen nachwerfen, in deren Gedächtnis ein. Die Gespräche der BewohnerInnen des Viertels kreisen oft um die als Gefahr empfundenen cholos/as. Diese hingegen eignen sich durch das Besetzen von Raum und Gesprächen eine Definitionsmacht an.
Bastiano erschafft sich in der Stadt eine Jugend, die in seiner ländlichen Gemeinde als eine derart ausgeprägte Phase fehlt. Dort werden Kinder ab dem Alter von sieben Jahren gedrängt, die für den Haushalt relevanten Tätigkeiten zu übernehmen. Mit dem Eintritt ins Arbeitsleben überlassen die Erwachsenen ihnen zunehmend Verantwortung und Entscheidungen. Die Jugendphase, die mit dem Eintritt in die Pubertät beginnt, ist meist kurz. Die Rarámuri dürfen als Jugendliche erstmals Maisbier trinken und Feste besuchen, nicht selten aber werden sie gerade bei diesen Festen durch Geschwister oder Eltern verkuppelt. Mit der bald darauf folgenden Heirat ist die Jugend schon wieder weitgehend beendet.
Dies ist ein Beispiel dafür, wie Rarámuri-Jugendliche die räumlich weit verzweigte subkulturelle Bewegung des cholismo ihren spezifischen Lebenssituationen anpassen. Zum einen machen sie den cholismo zum Bestandteil ihrer täglichen Lebens- und Überlebensstrategien, zu denen Lohnarbeit, Betteln, das Pflegen von Solidarnetzwerken, soziale Rivalitäten und Rauscherlebnisse gehören. Zum anderen setzen die cholos/as der wechselseitigen Verstärkung von wirtschaftlichem Erfolg und ethnischem Stolz im Rahmen des Bettelns der Erwachsenen eine Alternative entgegen. Über den cholismo nehmen sie Bezug auf Bilder, Klänge und Ideen, die auch für andere marginalisierte soziale Gruppen im Kontext der Grenzregion wie die chicanos/as bedeutungsvoll sind. Dieses gemeinsame Referenzsystem erlaubt es den Rarámuri-Jugendlichen auf die mit der Grenze verwobenen Lebenskontexte und Ungleichheiten zu verweisen und auf sie einzuwirken auch ohne dass sie je physisch mit der Grenze in Kontakt gekommen wären. Ihr über kulturelle Elemente manifestiertes Anderssein hat insofern auch eine politische Dimension.

„Bandwurm“ gefasst, „Snoopy“ entwischt

Die Festnahme des Anführers der Mara Salvatrucha (MS), Eber Aníbal Rivera Paz alias „El Culiche“ (Bandwurm), im US-Bundesstaat Texas am 10. Februar erscheint wie der krönende Abschluss einer konsequenten Aufklärung des „Massakers vom 23.“ durch die honduranische Regierung. Am 23. Dezember vergangenen Jahres war in San Pedro Sula, einer Großstadt 200 km nördlich von Tegucigalpa, ein Stadtbus brutal überfallen worden. Als der Bus im Stadtteil Chamelecón gestoppt und von Maschinengewehrfeuer durchlöchert wurde, starben 28 Personen, 24 wurden verletzt. Daraufhin wurden zahlreiche Mitglieder von Jugendbanden, so genannte mareros, als Tatverdächtige festgenommen.
Laut den Ermittlungsergebnissen, die die Polizei inzwischen präsentiert hat, ist „El Culiche“, neben Álvaro Osiris Acosta alias “Snoopy”, einer der Anstifter des Massakers. Damit scheint bestätigt, dass es sich bei der Tat um ein Werk der MS handelt, neben der Mara 18 die wichtigste Jugendbande in Honduras und Zentralamerika. Sicherheitsminister Oscar Àlvarez stellte die Tat von Anfang an als Versuch der MS dar, ihre Stärke zu demonstrieren angesichts der erfolgreichen Regierungspolitik, die die mareros spüren ließe, dass „der Spaß vorbei sei“.

Theorien um maras und organisierte Kriminalität

In einer Nachricht, die die TäterInnen im vorderen Teil des Busses hinterließen, hatten sie den honduranischen Präsidenten Ricardo Maduro, den Präsidenten des Nationalkongresses Porfirio Lobo Sosa, und den Sicherheitsminister Oscar Álvarez, bezichtigt, die Verursacher der Tragödie zu sein. Maduro erklärte jedoch schnell, es handele sich nicht um einen Angriff gegen bestimmte Personen oder eine Partei, sondern um eine Tat, die sich gegen alle HonduranerInnen richte. Die Sonderstaatsanwältin gegen das organisierte Verbrechen, Doris Aguilar, sah in der Tat gar eine klare Absicht, die demokratische Ordnung des Landes zu destabilisieren.
Entgegen der offiziellen Darstellung scheint es jedoch fraglich, ob die beteiligten mareros mit der Gewalttat weitergehende politische Ziele verfolgten. Wie Mauricio Gabori von der Zentralamerikanischen Universität in El Salvador, UCA, betont, stellen die maras keine zentralisierte Organisation dar, sondern bilden vielmehr ein höchst dezentralisiertes transnationales kriminelles Netzwerk. Eine verbreitete Theorie ist, dass hinter den mareros die organisierte Kriminalität als geistiger Urheber der Tat stehe, die mit dem Massaker ein Klima von Angst und Unsicherheit schaffen wollte, um die Regierung davon abzuhalten, weiterhin den Drogenhandel zu bekämpfen. Alfredo Landaverde, ehemaliger stellvertretender Leiter der Direktion zur Bekämpfung des Drogenhandels, ist überzeugt, dass die Tat lediglich die Bevölkerung einschüchtern sollte: „Hier gibt es kein Al Qaeda, wie schon bewiesen wurde, hier gibt es keine Islamisten, was es hier gibt, ist das organisierte, transnationale Verbrechen, das die honduranische Jugend benutzt.“ Nach Angaben Landaverdes sind in Honduras die Mehrzahl der AuftragsmörderInnen Jugendliche, die vom organisierten Verbrechen beauftragt werden, das ihnen Waffen, Geld sowie Drogen verschafft – letzte, um ihnen den nötigen Mut einzuflößen.
Auch der Hilfsbischof der Diözese von San Pedro Sula, Rómulo Emiliani, erklärte in einem Zeitungsinterview, dass seiner Ansicht nach keine der beiden großen maras in Honduras zu dem Gewaltverbrechen in der Lage gewesen sei, sondern die beteiligten mareros womöglich vom organisierten Drogenhandel für dessen Zwecke benutzt würden. Die Marginalisierung von Jugendlichen und die weit verbreitete Armut, Arbeitslosigkeit, Drogenabhängigkeit sowie illegaler Waffenbesitz fördere solche Entwicklungen.

Hochsicherheitsgefängnis statt Problemlösung

Präsident Ricardo Maduro, dessen eigener Sohn 1997 in San Pedro Sula ermordet wurde, nutzte die Gelegenheit, um nach dem Bus-Überfall den Opfern Unterstützung und den TäterInnenn harte Verfolgung anzukündigen. Medienwirksam unterdrückte Maduro Tränen am Krankenbett einer Frau und überreichte gemeinsam mit seiner Gemahlin einem 15jährigen Verletzten großzügige Geschenke. Als der Präsident eine Rede in Tegucigalpa sekundenlang unterbrechen musste, da ihn das Schicksal einer Frau und ihres Sohnes, die beide als Folge des Gewaltaktes ihr Leben lang gelähmt sein werden, zu Tränen rührte, klatschten die Anwesenden anerkennend Beifall.
Ein spezieller Fonds wurde geschaffen, um den Angehörigen der Opfer zu helfen. Maduro versprach Häuser und Stipendien. Für die Opfer und Angehörigen wurde psychologische Betreuung bereit gestellt, während die restliche Bevölkerung mit verstärkten Sicherheitsmaßnahmen beruhigt werden sollte. Über 2000 PolizistInnen und SoldatInnen patrouillieren auf Anweisung Maduros seither in den Straßen von Tegucigalpa und San Pedro Sula. Zügig bewilligte der Nationalkongress die notwendigen Mittel, um noch dieses Jahr den Bau eines Hochsicherheitsgefängnisses zu beginnen. Die Häftlinge sollen dort für ihren eigenen Lebensunterhalt sowie den der Angehörigen ihrer Opfer arbeiten.
Auch in der schon bestehenden nationalen Haftanstalt von Támara wurde mit dem Bau eines Hochsicherheitstrakts begonnen, dessen erste Zellen von Sicherheitsminister Oscar Álvarez inzwischen eingeweiht wurden. Manche der im Rahmen des Massakers in Chamelecón festgenommenen mareros sitzen hier unter teils unmenschlichen Haftbedingungen ein. Beschwerden weist Àlvarez zurück. Man könne nicht erlauben, dass Häftlinge mehr Privilegien genössen, als eine einfache Person in Freiheit.
Während der Kongress spontan neue Mittel für Hochsicherheitsgefängnisse bewilligt, wird das Problem der Zustände in den schon bestehenden Strafanstalten übergangen. Ein Großteil der derzeit über 11.000 Häftlinge in Honduras wartet noch auf ein Urteil. In den oft hoffnungslos überfüllten und heruntergekommenen Gefängnissen kamen in den letzten Jahren zahlreiche Insassen zu Tode, von öffentlicher Seite mitverantwortet oder zumindest billigend in Kauf genommen. Die Entwicklung hatte im April 2003 einen traurigen Höhepunkt erreicht, als Mitglieder der Mara 18 in einem Gefängnis in La Ceiba einen „Aufstand“ auslösten, der mit dem Tod von 69 Personen, mehrheitlich mareros, endete. Offensichtlich war der vermeintliche Aufstand von der Gefängnisleitung provoziert worden. Der Gefängniskommissar Oscar Sánchez wurde vergangenen Februar in diesem Zusammenhang zu 19 Jahren Gefängnis verurteilt.
Im Mai letzten Jahres kamen in der Haftanstalt von San Pedro Sula 103 Gefängnisinsassen, allesamt Mitglieder der MS, bei einem Brand um. Doch zehn Monate nach der schlimmsten Gefängnistragödie in der Geschichte Honduras´ sind die Versprechen auf Verbesserungen der unzulänglichen Infrastruktur nicht eingelöst worden. Die honduranische Zeitung La Prensa spricht angesichts der Zustände in dem für 800 Häftlinge angelegten Gefängnis, in dem 1800 Personen untergebracht sind, von einer tickenden Zeitbombe – vor allem, seit kürzlich einige mareros, die den Brand überlebten, von einem anderen Gefängnis in die Anstalt zurückverlegt wurden.
Die Überfüllung der Gefängnisse ist nicht zuletzt ein Ergebnis der aktuellen Regierungspolitik. Seit im August 2003 das so genannte Anti-Mara-Gesetz in Kraft trat, wurden tausende Jugendliche festgenommen, die oft auf Grund äußerer Kennzeichen, wie Tätowierungen, verdächtigt werden, einer Jugendbande anzugehören (siehe LN 359). Unter dem Eindruck des von der Regierung und in den Medien verbreiteten Bildes der mareros als brutale GewaltverbrecherInnen und organisierte Kriminelle, erweckt ihr Tod wenig Mitleid in der Bevölkerung. Selbst die zahlreichen Morde an Kindern und Jugendlichen, besonders in den Straßen von Tegucigalpa und San Pedro Sula, durch staatliche Sicherheitskräfte oder selbsternannte „Säuberungskomitees“ werden oft hingenommen, da es sich um Mitglieder von Jugendbanden handele, die verdienten zu sterben.

Menschenrechte nur für die Opfer

Amnesty International drängt in einem Bericht auf die Aufklärung dieser Morde, die oft ungestraft bleiben. MenschenrechtsaktivistInnen werden jedoch in dem aufgeheizten Klima schnell verdächtigt, Kriminelle schützen zu wollen. Im Zusammenhang mit dem Bus-Massaker vom Dezember vertrat der honduranische Sicherheitsminister Òscar Àlvarez die rechtsstaatlich zweifelhafte Ansicht, allein der Schutz der Menschenrechte von Opfern müsse Priorität haben. MenschenrechtsaktivistInnen warf er vor, sich zu sehr um die Rechte der TäterInnen zu sorgen und weder am Tag der Gewalttat noch in den Krankenhäusern anwesend gewesen zu sein, um sich mit den Angehörigen und Verletzten zu solidarisieren.
Als symptomatisch für die derzeitige Stimmung in Honduras kann das Ergebnis der Vorwahlen am 20. Februar aufgefasst werden. Porfirio Lobo Sosa, ein strenger Verfechter der Todesstrafe für schwere Verbrechen, konnte die internen Wahlen der Nationalpartei (PN) für sich entscheiden, und wird somit Ende diesen Jahres als Präsidentschaftskandidat seiner Partei antreten. Damit setzte er sich gegen Miguel Pastor durch, der lebenslange Haft für die TäterInnen vom 23. Dezember gefordert hatte, sowie kleine Zellen ohne Tageslicht, Zwangsarbeit und Besuchsverbot.
Nicht einmal einen Monat nach dem Massaker, billigte am 19. Januar der honduranische Nationalkongress eine Verschärfung des so genannten Anti-Mara-Gesetzes, wobei besonders die Strafen für die AnführerInnen von Jugendbanden verschärft wurden. Außerdem kommt niemand mehr in Untersuchungshaft, der einen Kriminellen in Selbstverteidigung tötet.
Trotz der repressiven Maßnahmen der Regierung wurden in den vergangenen Monaten zahlreiche Gewaltverbrechen verübt. Während die Regierung betonte, die Kriminalitätsstatistiken seien gesunken, berichteten die Medien über eine Zunahme der Gewalt in den letzten Monaten. Der positiven Bilanz im Kampf gegen das Verbrechen, die Maduro Ende Januar anlässlich des dritten Jahrestages seiner Regierung zog, widerspricht auch ein Bericht der Zentralamerikanischen Universität in El Salvador, UCA. Während der honduranische Präsident betonte, die Kriminalität sei in seiner Regierungszeit um 70 Prozent zurückgegangen, ist laut der mit UN-Mitteln finanzierten Veröffentlichung der UCA Honduras zum gewalttätigsten Land Mittelamerikas geworden, mit einer Mordrate, die in Lateinamerika nur noch von Kolumbien übertroffen wird.
Die honduranische Regierung wird wohl weiterhin versuchen mit einer möglichst spektakulären Verfolgung der mareros von diesen Tatsachen abzulenken. Um ihre Versprechen einzulösen, nicht zu ruhen, bis die Schuldigen an dem brutalen Gewaltakt von Chamelecón „im Gefängnis verfaulen“, müssten Präsident Maduro und sein Sicherheitsminister Àlvarez den flüchtigen „Snoopy“ wieder einfangen und die Auslieferung von „El Culiche“ von den USA erreichen. Bis zu den Wahlen im November hat die regierende Nationalpartei noch ein paar Monate Zeit, um sich mit hartem Durchgreifen gegen Mitglieder von Jugendbanden in Szene zu setzen.

Angst und andere Wahlhelfer

Die WählerInnenbefragungen am Tag der Präsidentschaftswahlen sahen noch ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den beiden stärksten Parteien El Salvadors voraus. Manche hielten sogar einen Sieg der Ex-Guerillabewegung FMLN für möglich. Doch der Traum, die seit 15 Jahren regierende ARENA, die Partei des salvadorianischen Kapitals, abwählen zu können, war auch diesmal schnell verflogen. Als der Oberste Wahlrat (TSE) am Wahlabend die ersten Ergebnisse bekannt gab, lag Tony Saca deutlich vorn. Die Feier der FMLN auf dem Platz vor der Kathedrale in der Hauptstadt San Salvador wurde daraufhin abgesagt.

Hohe Wahlbeteiligung
Der ehemalige Sportreporter Tony Saca erreichte für ARENA 57,7 Prozent der Stimmen, FMLN-Kandidat Schafik Handal kam auf 35,6 Prozent. Bedeutungslos blieb dagegen die Wahlallianz aus christdemokratischer PDC und der vor allem aus einer PDC-Abspaltung hervorgegangen CDU mit 3,9 Prozent. Auch die „Partei der Nationalen Versöhnung“ (PCN), die während der Militärdiktaturen der sechziger und siebziger Jahre die Regierung stellte, kam auf nur 2,7 Prozent der Stimmen.
Beachtlich ist die hohe Wahlbeteiligung, die mit gut 67 Prozent deutlich besser war als bei den Wahlen der letzten zwanzig Jahre. Mehr als 2,3 Millionen Menschen strömten zu den Wahlurnen, über eine Million mehr als bei den Parlaments- und Kommunalwahlen im Vorjahr. Ein Grund für die hohe Beteiligung ist, dass die Wahlteilnahme einfacher geworden ist. Erstmals reichte der Personalausweis, über den fast alle SalvadorianerInnen verfügen, für die Stimmabgabe. Früher war ein spezieller Wahlausweis nötig, den zu besorgen sehr umständlich war.
Ein anderer Grund ist, dass die Wahlen zu einer Schicksalsentscheidung über die Zukunft des Landes stilisiert wurden. Dabei ist es ARENA gelungen, einen Großteil der Stimmen der NeuwählerInnen auf sich zu ziehen.

Die Angstkampagne von ARENA
Mehrere Faktoren haben zum Wahlsieg von ARENA geführt. Gestützt auf den Regierungsapparat und die finanzielle Unterstützung der salvadorianischen Bourgeoisie entfachte sie eine Werbe- und Materialschlacht, der die anderen Parteien nur wenig entgegenzusetzen hatten. ARENA-Parteihelfer pinselten schon vor dem offiziellen Beginn des Wahlkampfs fast jeden Strommast, jede Brücke und fast alle größeren Steine des Landes, so sie in der Nähe von Straßen gelegen waren, in den Parteifarben Blau-Weiß-Rot. In Fernsehen und Radio waren neun von zehn Spots von ARENA – oder von der Regierung und den verschiedenen Ministerien, in denen die Arbeit der aktuellen Regierung von Präsident Francisco Flores gepriesen wurde. Der FMLN drohte hingegen bereits Wochen vor dem Wahltag das Geld auszugehen, sie musste ihre Fernsehwerbung stark reduzieren.
Der entscheidende Grund für den ARENA-Durchmarsch war jedoch die ausgeklügelte Angstkampagne, mit der die Regierungspartei den Wahlkampf bestritten hat. Diese begann bereits vor rund einem Jahr, zu einem Zeitpunkt, als der Regierung von Francisco Flores eine schlechte Amtsführung und seiner Partei verheerende Umfragewerte bescheinigt wurden. Nach 15 Jahren ARENA-Regierung schien es Zeit für einen Wechsel. Um diesen zu verhindern, machte sich ARENA ein Thema für ihren Wahlkampf zunutze, welches in El Salvador höchst aktuell ist: die Gewalt.

Mit dem Militär gegen Jugendgewalt
Seit dem Kriegsende 1992 sind in El Salvador jedes Jahr mehr Menschen durch Gewaltverbrechen ums Leben gekommen als in den meisten Jahres des Krieges. Insbesondere die Jugendbanden, die so genannten maras, aber auch die teils überzogene Medienberichterstattung sorgten für ein Klima der Unsicherheit und der Angst. In kurzer Zeit entwickelten Regierungsstrategen einen Plan, um das Thema wahlkampftauglich anzugehen. Im Juli 2003 wurde die „Operation harte Hand“ gestartet, eine Art Null-Toleranz-Konzept gegen die mareros. Kern des Konzepts war der äußerst medienwirksame, jedoch klar verfassungswidrige Einsatz des Militärs in den Armenvierteln der Städte. Nur zwei Monate später wurde ein „Anti-Mara-Gesetz“ verabschiedet. Trotz vehementer Kritik verschiedener Menschenrechtsorganisationen wurde die repressive Politik von der Mehrheit der Bevölkerung ausdrücklich begrüßt.
Die Politik der „harten Hand“ zeigte prompt positive Folgen für die Regierungspartei: ARENA lag in der WählerInnengunst um rund zwanzig Prozent vor der FMLN. Doch die Angst-Kampagne griff noch tiefer. Wahlentscheidend war, dass ARENA massive Angst vor einem Wechsel zu einer FMLN-Regierung erzeugen konnte. So wurde argumentiert, dass mit einer Machtübernahme der „Kommunisten“ die remesas, die Überweisungen von in den USA lebenden Familienangehörigen gefährdet seien. Zudem würde die US-Regierung bei einem Wahlsieg der FMLN alle „illegalen“ SalvadorianerInnen ausweisen. Mit mehr als zwei Milliarden US-Dollar sind die remesas die mit Abstand wichtigste Devisenquelle El Salvadors, rund ein Viertel der Bevölkerung ist direkt von ihnen abhängig. Für viele eher unpolitische Menschen war dies vermutlich ein entscheidender Grund, erstmals zur Wahl zu gehen und “konservativ“ zu stimmen.

Wahlhilfe aus den USA
Verstärkt wurde die Angst-Kampagne noch durch Aussagen des US-Vizeaußenministers Roger Noriega und des für Lateinamerika zuständigen Mitglieds des Nationalen Sicherheitsrats, Otto Reich. Beide hatten sich in den 80er Jahren unter Präsident Reagan als Unterstützer der nicaraguanischen Contra einen schlechten Namen gemacht. Von George W. Bush wurden sie nun für die schmutzige Arbeit in Lateinamerika reaktiviert. Noriega und Reich zeigten sich bei Besuchen in San Salvador stets besorgt über die drohende Verschlechterung der US-salvadorianischen Beziehungen, sollte der FMLN-Kandidat Schafik Handal, der ein deutlicher Gegner des US-zentralamerikanischen Freihandelsabkommens CAFTA ist, die Wahl gewinnen.
„Wer nicht ARENA wählt, wird gefeuert“ – mit diesen Drohungen hatten auch einige UnternehmerInnen Anteil daran, einen ARENA-Sieg sicherzustellen. Insbesondere in den fast ausschließlich für den US-Markt produzierenden maquilas wurde den ArbeiterInnen kurz vor den Wahlen propagiert, dass ein FMLN-Sieg den Abzug der Betriebe in die Nachbarländer zur Folge habe. Auch sollen von ArbeiterInnen die für die Wahl nötigen Personalausweise einbehalten worden sein.
Remesas oder Kommunismus – die ARENA-Strategie ist aufgegangen, die Bush-Administration kann zufrieden sein. El Salvador wird weitere fünf Jahre von einer Partei regiert, die auf neoliberale Politikkonzepte setzt und als unterwürfiger Partner der USA agiert. Dies gilt für die Diskussionen um die wirtschaftliche Zukunft Lateinamerikas ebenso wie für die Entsendung von salvadorianischen Soldaten in den Irak. Selbst nachdem in der Folge des angekündigten Abzugs der spanischen Truppen Mitte April auch Honduras und die Dominikanische Republik ihre Präsenz im Irak nicht mehr fortsetzen wollen, zeigt sich El Salvador – neben Nicaragua das einzige in der „Koalition der Willigen“ verbliebene lateinamerikanische Land – weiterhin unbeirrt.

Eine bittere Niederlage
Für die FMLN ist die Wahlniederlage sehr bitter, nachdem sie sich erstmals gute Chancen ausgerechnet hatte, den Wechsel zu schaffen – mit dem zentralen Wahlslogan „el cambio es hoy!“ („der Wechsel steht an“). Die Aufgabe der FMLN in der nächsten Zeit wird es sein, die komplett frustrierte Basis wieder aufzurichten. Angesichts besserer Umfragewerte in den letzten Monaten war die FMLN siegesgewiss. Eine Niederlage, zumal so deutlich, schien ausgeschlossen. Jetzt steht der FMLN eine neue Zerreißprobe bevor.
Im Vorjahr wurde Schafik Handal parteiintern mit knappem Vorsprung vor dem Bürgermeister von Santa Tecla, Oscar Ortiz, zum Präsidentschaftskandidaten bestimmt. Schon am Tag nach der Präsidentschaftswahl am 21. März forderte Ortiz nun vorgezogene Neuwahlen für die Leitungsgremien der FMLN, die Politische Kommission und den Nationalrat. Außerdem solle Salvador Sánchez Cerén, wie Schafik Handal ein historischer Führer der FMLN, vom Parteivorsitz abgelöst werden.
In der Wahlanalyse der Strömung um Ortiz hatten die Manipulationen und die Angstkampagne von ARENA nur geringe Bedeutung. Sie sahen als Hauptgrund für die Niederlage, dass die FMLN mit dem falschen Kandidaten angetreten sei.

Kommunist Schafik Handal
In der Tat: Als überzeugter Kommunist war Schafik Handal für viele Menschen nicht wählbar und eignete sich gut als Angriffsziel für die Schmutzkampagne von ARENA. Zudem wird er mehr als viele andere mit den Zeiten des Krieges in Verbindung gebracht. Auch ist er, meist mit etwas grimmigem Blick und seinen 73 Jahren, längst nicht so telegen wie der deutlich jüngere Tony Saca von ARENA.
Doch ist völlig ungewiss, ob die FMLN mit einem smarteren Kandidaten besser abgeschnitten hätte. Mit Schafik Handal konnte die FMLN ihre Stimmenzahl im Vergleich zu den Parlaments- und Kommunalwahlen im Vorjahr fast verdoppeln, angesichts der ARENA-Kampagne kein schlechtes Ergebnis. Zudem war Handal wie wenige andere innerhalb der Partei ein Garant dafür, dass eine von ihm geführte Regierung sich an die notwendigen Reformen im Land herantraut, die auf den vehementen Widerstand des salvadorianischen Kapitals und der US-Administration gestoßen wären. Dieses Vertrauen hat sicherlich zur Mobilisierung der Parteibasis beigetragen, die sich im Wahlkampf intensiv engagiert hat, unter anderem mit Hausbesuchen.

Richtungsstreit in der FMLN
Die Forderung nach vorgezogenen Neuwahlen der FMLN-Gremien wurde erst einmal abgelehnt, gewählt wird turnusmäßig im kommenden November. Bis dahin steht zu befürchten, dass sich die FMLN – wie schon bei anderen Gelegenheiten – durch internen Streit lähmt.
Die Forderung von Oscar Ortiz, mit neuem, verjüngtem Personal schon jetzt auf die nächsten Wahlen 2006 hinzuarbeiten, vermag nicht zu überzeugen. Viel wichtiger sind die Arbeit mit der eigenen Basis und die Unterstützung von außerparlamentarischen Mobilisierungen. Schließlich hatte die FMLN zuletzt gerade auch deswegen Zulauf, weil sie deutlich auf eine Zusammenarbeit mit den sozialen Bewegungen gesetzt und deren Interessen im Parlament vertreten hat.
Die neue ARENA-Regierung wird sich von der alten kaum unterscheiden. So wird sie beispielsweise einen erneuten Anlauf starten, das Sozialversicherungsinstitut ISSS zu privatisieren. Die Auseinandersetzung um die Privatisierung der Gesundheit war eines der zentralen politischen Themen der letzten Jahre. Hier wie auch bei anderen Konflikten werden die sozialen Bewegungen, etwa die Gewerkschaften, einen Bündnispartner im Parlament brauchen, der, wenn nötig, auch einmal auf Konfrontation setzt.

Das Verschwinden der politischen Mitte
Eine Opposition, die dies nicht zu leisten bereit ist und stattdessen ihr Heil in der so oft beschworenen, in El Salvador aber kaum vorhandenen politischen Mitte sucht, wird konturenlos und unattraktiv bleiben. Mit der Wahlkoalition aus PDC und CDU ist diesmal die politische Mitte untergegangen. Auf Grund des Wahlgesetzes haben beide ihren legalen Status verloren und werden aufgelöst, da sie die als Koalition notwendigen sechs Prozent der WählerInnenstimmen verpasst haben.
Dass CDU und PDC chancenlos sind, hatte sich bereits im Wahlkampf gezeigt. Vor allem das Auftreten von Präsidentschaftskandidat Héctor Silva hat viele enttäuscht. Einstmals FMLN-Bürgermeister der Hauptstadt San Salvador, hatte er Ende 2002 die FMLN im Streit verlassen. Sein Wahlkampf war stärker darauf ausgerichtet, die FMLN anzugreifen, als die verheerenden Auswirkungen der ARENA-Politik zu kritisieren.
Schon hat Silva die Gründung einer neuen Partei der Mitte angekündigt. Doch er weiß, dass dieses Projekt keine Zukunft hat, solange die FMLN halbwegs zusammenhält. So wird er um den Ortiz-Flügel innerhalb der FMLN werben. Dieser wird in den nächsten Monaten alles daran setzen, die Parteilinke, die noch die Mehrheit in den Leitungsgremien stellt, abzulösen.

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